ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: V, Stück: 1 (1787)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

Carl Philipp Moritz,
Professsor am Berlinischen Gymnasium.

Fünften Bandes erstes Stück.

Berlin
bei August Mylius 1787.

[<II>]

Nachricht.

Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stücke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen mäßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stück 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es kömmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beiträge sich anhäufen werden.

[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.
Fünften Bandes erstes Stück.

<Revision.>

Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins.

Pockels, Carl Friedrich

Der – wahrlich sehr unphilosophische – Glaube an Ahndungen ist so alt und allgemein als der Glaube an Gespenster. Die Neigung der Menschen zum Ausserordentlichen und Wunderbaren; die so natürliche Begierde, Andern von sich etwas Sonderbares erzählen zu können, oder von Andern erzählen zu hören; das fürchterlich angenehme Gefühl erschüttert zu werden, und vornehmlich auch die Meinungen von höhern auf uns würkenden Geistern, haben gewiß das Meiste dazu beigetragen, jenen Glauben auszubreiten, wohin man noch die Neigung, seinen Voreltern in Ab-[2]sicht der unter ihnen sich a zugetragenen Ahndungen nicht zu widersprechen, rechnen kann.

Nicht bloß unwissende und gemeine Leute, welche nie über die Natur der menschlichen Seele nach gedacht haben, und jedes sonderbare Phänomen derselben höhern Wesen ausser uns zu zu schreiben sich geneigt fühlen; sondern selbst Leute von Kopf und Geschmack, Philosophen von Profession, – die doch billig an einem Ahndungsvermögen der Seele zweifeln müßten, da es so erstaunlich viel wider sich, und nur wenig für sich hat, – lassen sich den Glauben daran nicht nehmen, und ich habe manche dasselbe mit einem Enthusiasmus vertheidigen hören, als wenn es auf die Untersuchung der allerwichtigsten Wahrheiten angekommen wäre. Ich kenne einige noch lebende Schriftsteller, welche alle ihre zufälligen Amtsveränderungen vorhergesehen zu haben vorgeben, – wozu ihnen eine solche Notiz geholfen hat, wissen sie selbst nicht –, und bei uns lebt noch diesen Augenblick ein Gelehrter, der sich darauf todtschlagen ließe, daß er aus gewissen unerklärbaren Veränderungen, blizschnellen Erscheinungen, und Lichtvibrationen in einem Winkel seiner Stube; aber NB allemahl des Abends, gewisse zufällige Begebenheiten seines Lebens, z.B. den Tod eines Anverwandten vorhersehen könne, wobei ihm denn immer zugleich ein kalter Schauer über die Haut laufen soll. – –

[3]

In den drei ersten Bänden der Erfahrungsseelenkunde sind viele Beiträge über die Ahndungen abgedruckt worden, davon einige in der That sonderbar genug sind; andere enthalten ganz gewöhnliche, und leicht zu erklärende Vorhersagungen unglücklicher Begebenheiten, woran nicht so wohl jenes erträumte Vorhersehungsvermögen der Seele, als eine melancholische Stimmung des Gemüths, und der bloße Zufall Theil hatte. Ich will alle einzelne berichtete Fälle, welche vom Hrn. Prof. Moritz in seiner Revision noch nicht untersucht worden sind, nach und nach durch zu gehen, und nach psychologischen Gesetzen zu prüfen suchen. –

Doch vorher noch Einiges über Ahndungen und ihre Erklärungsart überhaupt.*) 1

Es ist nicht zu läugnen, daß viele Uebel, von denen man eine Ahndung gehabt zu haben vorgab, würklich, und oft mit einer Pünktlichkeit eingetroffen sind, die uns in Erstaunen setzen muß, und dieses Eintreffen ist als ein Allgemeinbeweis eines in uns liegenden, obgleich bei verschiedenen Menschen bald stärkern bald schwächern Vorhersehungsvermögens der menschlichen Seele angenommen worden; – allein ich habe gegen das Daseyn eines solchen Vermögens vornehmlich Folgendes einzu-[4]wenden, wobei ich zugleich auf die vortrefliche Abhandlung von F. G. im ersten Stück des dritten Bandes dieses Magazins, die Nichtigkeit des Ahndungsvermögens etc. betitelt, verweise.

1) Streitet ein solches Vermögen mit der natürlichen, einmahl von dem Schöpfer bestimmten Art und Weise, wie unsere Begriffe und Empfindungen entstehen; mit der Identität unserer Denkkraft, die durch eingeschobene Ideen, welche in der natürlichen Folge und Verbindung unserer übrigen Begriffe keinen Grund hätten, auf eine übernatürliche Art aufgehoben werden müßte; folglich auch mit der Natur derjenigen Schlußfolge, vermöge welcher wir nur das Zukünftige durch Vergleichung der Ursach und Würkung, nie aber etwas blos Zufälliges vorhersehen können.

2) Wird dieses Vermögen bei unzähligen Menschen gar nicht bemerkt, am allerwenigsten aber NB bei aufgeklärten, hellen von Vorurtheilen freien Köpfen, so lange sie sich im Zustande des gesunden Denkens befinden.

3) Würde uns ein solches Vermögen von der Gottheit mehr zu unsrer Qual, c als zu unsrer Glückseligkeit gegeben worden seyn, wie wir von den Leuten wissen, welche sich ein solches Vermögen zu haben d einbilden.

[5]

4) Lassen sich die meisten Ahndungen sehr natürlich und psychologisch erklären, ohne daß man jenes Vermögen, oder wohl gar Einwürkungen höherer Wesen anzunehmen nöthig hat. Dieser lezte Punkt sollte vornehmlich von allen Psychologen ernstlich erwogen werden, und ich will daher meinen Lesern einige Winke mittheilen, wie man billig bei Erklärung einer jeden Ahndung verfahren muß, wenn man sie richtig erklären will.

a) Hat diese und jene Person, deren Ahndungen eingetroffen sind, auf keine Art und Weise ihr Unglück durch vorhergegangene und gegenwärtige Umstände oder auch Gemüthslagen vermuthen können; hat insbesondere in Absicht der leztern die Seele nicht die dunkle Vorstellung eines Unglücks repetirt, das sich schon einmahl mit der Person zutrug, und sich in einer gewissen Zeitfolge wieder zutragen konnte oder mußte?

b) In welchem Seelenzustande befand sich der Ahndende, wenn er ein gewisses Vorgefühl von einem bevorstehenden Unglück zu haben glaubte. Was trug Melancholie, Einbildung, Hypochondrie dazu bei, sich erst ein Uebel überhaupt möglich zu denken, und hinterher sich ein bevorstehendes Uebel insbesondere vorzustellen; – wobei man zugleich genau untersuchen müßte: ob diese Vorstellung ohne ein vorhergegangenes dunk-[6]les Gefühl der Schwermuth blitzschnell; oder die Vorstellung aus diesem Gefühl e erst nach und nach entstanden sey?

c) Wurde nicht manchmahl eine hypochondrische Grille, die eintreffen, aber auch nicht eintreffen konnte, hinterher durch eine zu lebhafte Einbildung wahr? wie es mehrere Beispiele giebt, daß Leute, die sich den und den Tag, Monat, das und das Jahr zu sterben einbildeten, um die nehmliche Zeit würklich starben, und ein Opfer ihrer angestrengten Phantasie wurden.

d) Trägt mancher nicht oft, wenn die Ahndung schon erfüllt ist, in ihr dunkles Vorgefühl durch die Imagination eine Deutlichkeit hinüber, die vorher nicht mit jenem Vorgefühl verbunden war, oder um mich deutlicher auszudrücken, bildet man sich nicht oft nach einem Unglück eine bestimmte Ahndung davon gehabt zu haben ein, die vorher sehr unbestimmt war? Wir finden überall Leute, die nach einem erlittenen Unglück gleich mit der Sprache fertig sind, das hat mir wohl geahndet, es war mir so bange ums Herz, ich hatte an keinem Orte Ruhe. –

e) Welchen nahen oder fernen Einfluß hat der Zufall auf die Erfüllung einer Ahndung gehabt? Ein Umstand, den man aufs genaueste bei der Erklärung der Ahndungen erwägen müßte, selbst da, wo sie auf die pünktlichste Art in Absicht der Zeit und äußerer Situationen in Erfüllung [7]gegangen sind. Es tragen sich Dinge in der Welt oft auf die sonderbarste Art zu; stimmen so genau in Absicht des Orts und der Zeit überein; scheinen so natürlich in einander gegründet zu seyn, – daß man darauf schwören sollte, daß sie in einander gegründet wären, ob sies gleich nicht sind. So kann die menschliche Seele sich ein gewisses Unglück vorher deutlich vorgestellt und vermöge dieser Vorstellung geahndet sieben hundert und mehrere mahle ein anderes Unglück vorhergesehen haben, – und doch ist der strenge Denker noch lange nicht berechtigt zu glauben, daß die Ahndung sich auf ein würkliches Vorhersehungsvermögen der Seele gründe. – –

Wenn man nun alles dieß zusammennimmt, (alle diese Umstände bei einer jeden Ahndung untersuchen könnte oder wollte,) wenn man ferner bedenkt, daß nicht nur zu sehr vielen Ahndungen unwahre Ideen und äußere Lagen hinzugedichtet werden; sondern daß auch die menschliche Seele oft unwillkürlich zu solchen Erdichtungen verführet wird; bedenkt, daß sie oft aus vorhergegangenen Vermuthungsideen, die sie wieder vergessen hat, Schlusfolgen zieht, oder zog, wovon sie selbst nicht mehr recht weis, wie sie entstanden sind, und wenn man überhaupt bedenkt, daß ein Ahndungsvermögen der Seele, das sich nicht auf eine physische Art erklären läßt, etwas Unnatür-[8]liches, wider die einmahl vorhandene Einrichtung unsrer Denkkraft Streitendes, und für unsere moralische Ausbildung Unbrauchbares, – ja vielmehr wegen der Neigung der Menschen zum Aberglauben höchst Schädliches seyn muß; so kann und darf Alles, was Ahndung, Traum, Vision, Weissagung heißt, vor dem Richterstuhle der reinen Vernunft keinen Werth behalten, und die Menschen würden sich tausenderlei Unruhen, Sorgen und lächerliche Grillen erspart haben, wenn sie nie daran geglaubt hätten; doch hievon ein andermahl. –

Ich komme iezt zu den einzelnen Ahndungsgeschichten selbst, welche in die drei ersten Bände der Seelenkunde eingeschickt sind.

Im zweiten Stück des ersten Bandes S. 78 steht ein Aufsatz über das Vorhersehungsvermögen der Seele, welchen der Kirchenrath Hr. Hennig aus Königsberg eingeschickt hat. »Einer Kaufmannsfrau, Nahmens Krausin in Löbnicht zu Königsberg wohnhaft, war 1782 im Monat Januar eines ihrer geliebtesten Kinder gestorben. Schon damahls hatte sie gesagt: daß sie dieß Kind nicht lange überleben würde. Aufs folgende Jahr würde sie im Monat Januar wieder entbunden werden, und in diesen sechs Wochen würde sie sterben«. Dieß war nun freilich ziemlich bestimmt vorhergesagt; allein in der ganzen Prophezeihung, dergleichen viele im gemeinen Leben vorkommen, scheint [9]mir gar nichts Sonderbares zu liegen, so richtig sie auch nachher eingetroffen ist. Wer die lebhaften und schwärmerischen Empfindungen des mütterlichen Herzens kennt, wenn es um den Tod eines geliebten Kindes trauert, wer das andere Geschlecht oft in melancholischen Stimmungen seines Gemüths beobachtet hat, wird bemerkt haben, daß es sich alsdann mit nichts lieber als mit Gedanken an Grab und Tod beschäftigt, und nichts mehr als seinen gestorbenen Lieblingen nachzufolgen wünscht. Ich kenne mehrere vortrefliche Mütter, die in den Empfindungen ihres Schmerzes über den Verlust ihrer geliebten Kinder sich nicht nur selbst sehnlichst den Tod gewünscht; sondern auch geradezu behauptet haben, daß sie jenen gewiß bald nachfolgen würden f – ob diese guten Seelen gleich diesen Augenblick noch leben. Wer würde es einem Psychologen verzeihen, wenn er aus solchen Aeußerungen der zu lebhaft gewordenen Phantasie gleich ein Vorhersehungsvermögen der Seele folgern wollte!

Der Gedanke der guten Mutter, der der Gegenstand des gegenwärtigen Beitrags ist, lag nun einmahl tief in ihrer Seele, daß sie ihrem geliebten Kinde bald nachfolgen werde, und sie vermuthete, daß dieß am wahrscheinlichsten in den nächsten sechs Wochen geschehen könnte; es scheint, als ob ihre Phantasie sich recht mit Fleis diesen Umstand ausgesucht habe, weil eine Niederkunft so leicht eine Veranlassung zum Tode werden kann. Sie fühlte [10]sich einige Monate darauf würklich in andern Umständen – »Sehr oft, heißt es weiter, fand ihr Mann, wenn er von seinen Geschäften nach Hause kam, sie in Sterbensbetrachtungen vertieft, sehr oft auch in vielen Thränen, die sie jedoch nicht eigentlich wegen ihres, wie sie glaubte, bevorstehenden Todes willen vergoß, sondern NB vielmehr um einiger Gewissensangelegenheiten willen, die ihr beständigen Kummer verursachten«. Ein Umstand, der hier sehr mit in Betrachtung kommt, weil er ihren Wunsch zu sterben, worauf sich höchst wahrscheinlich ihre ganze Ahndung gründete, nicht nur erzeugen, sondern auch verbunden mit dem Glauben an eine Ahndung auf die Kränklichkeit ihres Körpers wenigstens entfernt würken half.

Daß sie während ihrer neuen Schwangerschaft auch desto lebhafter an ihr Ende denkt, ist wieder etwas ganz gewöhnliches. Schwangere Frauenzimmer denken sehr häufig an den Tod. Ich kenne verschiedene, die sich würklich jedesmahl dazu vorbereiten, und sogar ihre Sterbekleider dazu zurechte zu legen pflegen.

Noch natürlicher und zuverläßiger mußte ihr Gedanke an einen bevorstehenden Tod vollends dadurch werden, daß sie nach der Geburt ein Geschwür im Unterleibe bekam, und daran die erstaunlichsten Schmerzen empfand. Nun sahe sie ja den Tod gleichsam vor Augen, und es war daher sehr natürlich, daß sie bei dem anhaltenden immer stär-[11]ker werdenden Gefühl ihrer Schmerzen, ihren Kindern versicherte: daß sie gewiß sterben werde. Sie starb auch würklich nicht lange darauf am Brande im Eingeweide.

Am Ende setzt der Herr Kirchenrath hinzu: »Sie war übrigens eine Person von sehr lebhaften Temperament und feuriger Einbildungskraft, schien einen sehr feinen Nervenbau zu haben, mithin sehr empfindsam, ungemein biegsam und weich, und von sehr zärtlichem Gewissen. Ich habe das fast bei allen denen gefunden, die mit ihr ähnliche Vorfälle gehabt, und dieß oder jenes vorausgesehen, oder wenigstens voraussehen zu können geglaubt haben«. Eine sehr richtige Bemerkung, die der Psychologe bei Untersuchung der Ahndungen nie ausser Acht lassen sollte, weil der körperliche Theil des Menschen oft gerade den meisten Antheil an gewissen vorgegebenen Vorgefühlen künftiger Uebel hat. –

Es ist daher auch gar kein Wunder, daß solche Vorgefühle sich am meisten bei dergleichen Leuten äußern; nicht weil sie würkliche Vorgefühle hätten; sondern weil sie sich dieselben leicht einbilden, da denn hie und da einmahl eins in Erfüllung gehen kann. Der Tod ist vornehmlich für lebhafte Leute ein fruchtbarer Gegenstand vieler und oft sonderbarer Gefühle und Einbildungen; sie glauben oft sichere Phänomene an sich bemerkt zu haben, daß sie bald sterben würden, bisweilen bestärken sie die [12] zufälligsten und unbedeutendsten Umstände in ihrer Meinung, sie träumen von allerlei Anzeichen und Ahndungen desselben, und man weiß von Gellert, daß er oft von seinen Freunden Abschied nahm, mit den Gedanken, in der nächsten Nacht zu sterben, sich ins Bette legte, und den andern Morgen – frisch und gesund wieder aufstand.

Eine andere Todesahndung steht im ersten Stücke des zweiten Bandes der Seelenkunde, S. 72.

Den 13ten Junius 1773 starb zu Bleicherode in der Grafschaft Hohenstein ein junger Mensch von vier und zwanzig Jahren. Den lezten Sonntag vor seinem Ende geht er spazieren, er kommt auf den Kirchhof, geht bei seines Bruders Grab, welcher vor sieben Jahren an einem hitzigen Fieber gestorben war, und sagt zu seinen Freunden: »auf künftigen Sonntag könnt ihr mich auch hierher tragen«. Nach seinem Tode, welcher um die vorhergesagte Zeit eintraf, hat man in einem Kleiderschrank von ihm eingeschrieben gefunden, daß ihm geträumt: er werde nach drei Jahren an eben dem Tage und um die Zeit sterben, da sein Bruder gestorben wäre.

Ein solcher Traum, dünkt mich, konnte sehr natürlich entstehen. Seine Seele beschäftigte sich damahls gewiß mit dem Tode seines Bruders; der Tag, die Stunde seines Abscheidens und die Art seiner Krankheit schwebte ihm vor den Augen; er [13]liebte auch wahrscheinlich seinen Bruder herzlich, und wünschte, daß er ihn bald wieder sehen möchte. Aus diesen Vorstellungen und Empfindungen entstand sein angezeigter Traum auf die natürlichste Weise; allein, wird man sagen, der Traum war nichts Sonderbares; aber das genaue Eintreffen desselben. Auch dieß nicht. Der junge Mensch hielt nun einmahl vermöge seines Traums seinen Tod für ein gewisses Ding, der Gedanke, daß er gewiß an dem und dem Tage sterben müsse, lag beständig in seiner Seele, er ängstigte und beunruhigte sich darüber, sein Blut wurde erhizt und nach und nach durch seine ängstliche Phantasie seine Gesundheit untergraben. Seit einem halben Jahre hatte er schon von Kopfschmerzen gelitten. Er kommt an das Grab seines Bruders, nach seiner geträumten Rechnung hatte er nur noch acht Tage zu leben, dieß sezt seine Einbildungskraft vollends in die größte Bewegung, die vielleicht noch entfernt liegende Krankheit seines Körpers wird nun auf einmahl durch den Gang nach dem Kirchhofe beschleunigt, und er stirbt endlich würklich um die bestimmte Zeit, und an der nehmlichen Krankheit wie sein Bruder, – und wer weis denn endlich, wie viel andere Nebenumstände den Tod des Jünglings zufällig befördern halfen? g


Ein sehr sonderbares Beispiel von einem und zwar fürchterlichen Ahndungsvermögen, das sich [14]gewiß kein einziger meiner Leser wünscht, steht im zweiten Stück des zweiten Bandes der Erfahrungsseelenkunde S. 16.

»Ein angesehener glaubwürdiger Mann in St.. kann es einem Menschen aus dem Gesichte lesen, ob er bald und plözlich sterben werde. Für ihn selbst, versichert er, habe eine solche Entdeckung viel Schauderndes, und er vermeide gern große Gesellschaften; wo er's aber nicht könne, so scheue er sich doch jedem dreist ins Gesicht zu sehen, weil er bei solchen Gelegenheiten am ersten befürchten müßte, eine solche unangenehme Entdeckung zu machen.

Die Leute, versichert er ferner, an denen er bisher seine Erfahrungen gemacht, kommen seinen Augen völlig so vor, als ob sie schon ein paar Tage im Grabe gelegen, gelb und todtenblaß, und wenn sie auch für jeden andern wie Rosen blühen.«

Es wird darauf ein Beispiel erzählt, daß er seinem Freunde, der ihn auf einem Spaziergange begleitete, den Tod eines vorübergehenden blühenden Fräuleins vermöge seines Ahndungsgefühls richtig vorausgesagt habe.

Ich muß gestehen, daß ich nie etwas Sonderbareres in dieser Art gelesen habe. In den Augen dieses Mannes kann der Grund seines Vorhersehungsvermögens nicht liegen, denn wie ist es möglich, daß die blühenden Wangen eines bald sterbenden Mädchens, die aber noch völlig gesund ist, einen ganz andern Eindruck in denselben, als diejeni-[15]gen hervorbringen könnten, welche noch nicht sobald ein Opfer der Verwesung werden sollen; alle Anatomie würde freilich hier nichts ausrichten; eher würde ich glauben, daß der Mann vermöge seiner feinen Geruchsnerven vielleicht ein Vorgefühl von dem Tode eines noch gesunden, aber leichenartig ausdunstenden Menschen haben könnte, welches ihm dann die blühenden Wangen durch einen Betrug der Phantasie als todtenbleich darstelle.

Doch ich wage es nicht hierüber etwas mit Gewißheit zu bestimmen, ehe wir nicht folgende Aufschlüsse über die ganze Sache bekommen, worum ich den Herrn Einsender dieses Beitrags ergebenst bitte.

1) Hat der angesehene glaubwürdige Mann würklich schon mehrern Menschen, die völlig gesund aussahen, ihren baldigen Tod vorhergesagt und – ist es eingetroffen?

2) Hat ihn sein Gefühl nie getäuscht?

3) In welcher Entfernung von der bald sterbenden Person fängt ihr Gesicht in seinen Augen bleich zu werden an, und geschieht dieß in einem Augenblick, oder nach und nach?

4) Hat er sich viel mit Physiognomie beschäftigt, und wenn hat ungefähr sein Ahndungsvermögen sich in ihm zu äußern angefangen?

5) Sind seine Aussagen vornehmlich im strengsten Verstande glaubwürdig und ehrlich, und sind mehrere unpartheiische Zeugen, de-[16]nen er sein Vorgefühl entdeckt hat, vorhanden?


Die Seite 99 – 101 angeführten Beispiele eines Ahndungsvermögens enthalten nichts Sonderbares in sich, und ich würde nimmermehr ein Vorhersehungsvermögen der Seele daraus hergeleitet haben, weil sie sich auf gewisse blos dunkle Empfindungen gründen, die wahrscheinlich blos von körperlichen Ursachen veranlaßt wurden.

Daß Herr Kirchner von der Landkutsche springt und aus einem innern Drange zu Fuße geht, daß bald darauf die Landkutsche umfällt und er nicht zerquetscht wird, welches vielleicht auch nicht geschehen wäre, wenn er sitzen blieb; daß die ins Kloster gesteckte Ehefrau eine heftige Begierde zu entfliehen empfindet, würklich entflieht, und endlich auf dieser Flucht ihren Mann als Reisenden in einem Wirthshause findet, – ist eben nichts Sonderbares, und der Zufall hatte gewiß das meiste Spiel in der Sache. Am wenigsten aber kann die im dritten Stück des dritten Bandes angeführte Geschichte S. 20 zu den Ahndungen gerechnet werden.


Im dritten Stük des zweiten Bandes S. 118 erzählt Herr Goekingk Folgendes von sich.

»Schon in meiner frühen Jugend begegnete mir es zuweilen, daß sich meiner Seele ohne die allergeringste äußere Veranlassung, plözlich [17]der Gedanke aufdrang: dieser oder jener Bekannter ist dir nahe, wird jezt gleich zu dir kommen! (– wenn die Ahndung mir im Hause anwandelte – ) oder wird dir begegnen! ( – wenn ich denn grade auf der Straße war).

Zu meiner eignen großen Verwunderung traf dieses nicht selten ein, ob ich gleich von dem, der eine Minute darauf vor mir stand, weder gewußt hatte, daß er in die Gegend kommen würde, noch von ihm gesprochen, noch an ihn gedacht.« u.s.w.

Darauf erzählt er einen neuern Fall seines Ahndungsvermögens. Es fällt ihm zu Leipzig nahe an der Ecke der Heustraße die Idee ein: daß der Rath Bertuch aus Weimar ihm nahe wäre, – und siehe da! Herr Bertuch steht, wie Goekingk um die Ecke gegangen ist, vor ihm.

Herr Goekingk erzählt da eine Erscheinung von sich, welche er mit sehr vielen Menschen gemein hat, und die man in den allermeisten Fällen, ohne sich auf eine andere Erklärungsart einzulassen, dem Zufalle zuschreiben kann. Daß Hr. Goekingk den Rath Bertuch vermöge seines feinen selbst nach einem zwanzigjährigen häufigen Gebrauch des Schnupftobacks nicht verdorbenen Geruchs von ferne gewittert habe, kommt mir um so weniger wahrscheinlich vor, da er ein andermal mit Bertuch an einem Tische sitzt, und seiner im mindesten [18]nicht gewahr wird, auch im Folgenden gesteht, daß er die Personen, deren Nähe sich ihm verrieth, im geringsten nicht durch den Geruch habe unterscheiden können.

Daß es aber Menschen von äußerst feinen Geruchsnerven giebt, vermöge welcher gewisse Ahndungsideen in ihnen entstehen können, ist nicht zu läugnen, und Herr Goekingk hat sehr Recht, daß sich dergleichen Ahndungen physisch und ganz natürlich erklären lassen. Er führt davon h Seite 121 ein merkwürdiges Beispiel von einem Manne an, welcher das Vermögen habe zu ahnden, wo ein Körper begraben liegt, und ich wünschte sehr, daß dem Publikum die hierüber versprochene nähere Nachricht bald mitgetheilt würde, – und wenn es möglich ist, mit den Bemerkungen eines Goekingks.

Man erlaube mir bei dieser Gelegenheit eine Stelle aus des Herrn Professor Hennings Abhandlung von Ahndungen und Visionen anzuführen, die obiges Beispiel noch mehr erläutern könnte.

»Herr le Cat hat in seiner Abhandlung von den Sinnen i verschiedene Beispiele angeführt, die es beweisen, daß der Geruch der Menschen oft die Vollkommenheit des Geruchs der Thiere erlangen kan. Man hat auf den Antillischen Inseln Schwarze gesehen, welche andern Menschen auf der Spur wie Jagdhunde nachfolgen und die Spur eines Weißen und eines Africaners [19]gut unterscheiden*) 2. Der Ritter Digby gedenkt eines Kindes, welches in den Wäldern erzogen wurde, und einen so feinen Geruch hatte, daß es durch selbigen die Annäherung eines Feindes entdeckte. Als es nachher seine Lebensart geändert hatte, so erlitte auch diese große Fühlbarkeit starke Veränderungen. Doch unterschied er noch lange Zeit nachher, als er sich verheurathet hatte, seine Frau durch das Beriechen noch gar wohl von einer andern. In der Nacht vertrat seine Nase die Stelle des Gesichts. m Ein Prager Geistlicher, von welchem in dem Journal des Savans 1684. geredet wird, setzt die Philosophen in noch größere Verwunderung. Er kannte nicht nur die Personen, welche ihn besucht, so bald er sie berochen, sondern auch, was noch ausserordentlicher ist, er unterschied eine Jungfrau von einer Frau, und eine keusche Person von einer unzüchtigen. u.s.w. Warum wollte man dennoch zweifeln, daß ein Mensch durch unsichtbare Annäherung seines Freundes, vermittelst des Geruchs eine Idee [20]von selbigen ohne sonderliches Bewußtseyn erhalten könne, wodurch er Veranlassung bekommt von diesem Freunde zu reden, auch wohl dessen Gegenwart zu wünschen. Zeigt sich nun dieser Freund, so hat man sich nicht zu verwundern, wenn man dessen Erscheinung als einen Erfolg von einer Ahndung ansieht. n Hieraus läßt sich auch das Sprüchwort: lupus in fabula o erklären. In solchen und andern ähnlichen Fällen ist zwar würklich ein ganz natürlicher Grund der Voraussehung und Vorauserkennung vorhanden, weil aber derjenige, der eine solche Prävision besitzt, auf diesen Grund nicht verfällt; so bleibt der Zusammenhang und die Folge der Vorstellungen diesem Vorausseher der Zukunft unbegreiflich, und er kann seine Vorausempfindung blos der Ahndung zuschreiben«. p

(Die Fortsetzung folgt.)

C. F. Pockels.

Fußnoten:

1: *) Vergl. Hennings von Ahndungen und Visionen, Seite 330 – 351. b

2: *) Bougainville j erzählt in seiner Reisebeschreibung, k daß die Otaheiter l sogleich ein Mädchen unter seinem Schiffsvolke durch den Geruch entdeckt hätten, welches den Weltumsegeler in Mannskleidern begleitete und bisher von allen Schiffsleuten für eine Mannsperson gehalten worden war.
P.

Erläuterungen:

a: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

b: Hennings 1777-1783, Bd. 1.

c: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

d: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

e: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

f: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

g: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

h: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

i: Le Cat 1744, S. 35-37.

j: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

k: Bougainville 1771.

l: Otahaiti ist eine veraltete Namensform von Tahiti. Otaheiter hießen die Bewohner.

m: Geschichte von 'John of Liege' in Digby 1644, S. 247-249.

n: Journal des sçavans 1684, S. 59. Auch zitiert in Le Cat 1744, S. 37.

o: Entspricht im Deutschen: "Wenn man vom Teufel spricht, ist er nicht weit."

p: Hennings 1777-1783, Bd. 1, S. 190-192.

[21]

Zur Seelenkrankheitskunde.

1.

Unwillkürlicher Hang zum Stehlen und Geldleihen*). 1 a

Pockels, Carl Friedrich

Folgender Aufsatz enthält die Charakterzüge eines der sonderbarsten Menschen, welcher bei uns in B– lebt, und dessen Handlungen zum Theil stadtkundig sind. Dieser Mensch ist einige dreißig Jahr alt, klein und hager von Person, und auf seinem Gesichte drücken sich die Folgen einer heimlichen Leidenschaft ab, deren Ausschweifungen schon so viel tausend junge Leute entweder früh ins Grab [22]stürzten, oder zu kraftlosen, trägen und unnützen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machten. Sein höchstmageres aus Haut und Knochen zusammengesetztes Gesicht, seine tiefliegenden, matten Augen, seine bleichen Wangen, und seine ganze knöcherne Figur flößen Mitleiden gegen ihn ein, und das um so viel mehr, da ihm sein übertriebener hundischer Geitz nicht von einem ansehnlichen Vermögen Gebrauch zu machen erlaubt, wovon er sehr anständig und bequem leben könnte. Jener hohe Grad des Geldgeitzes, womit sein unwiderstehlicher Hang zum Stehlen und Geld zu borgen verbunden ist, macht den Hauptzug in dem Charakter dieses sonderbaren Menschen aus, welcher mit Recht einen Platz in der Erfahrungsseelenkunde verdient.

Ohnerachtet dieser Mensch von seinen Pflegeltern, die man ihm zur Aufsicht gegeben hat, und wegen der Unfähigkeit seine Begierden zu beherrschen, und sich selbst zu leiten, geben mußte, täglich so viel Speise und Trank bekommt, daß er gewiß nie hungern oder dursten darf; so sind doch seine Taschen ein beständig angefülltes Magazin von Speisen, die er heimlich bei Tische einsteckt, und entweder vergräbt, oder des Nachts, weil er selten ruhig schlafen kann, verzehrt. Man hat alle Mittel hervorgesucht, dieses Wegtragen seiner Speisen zu verhindern; man hatte noch neulich seine Taschen geflissentlich zunähen lassen; aber nun steckte er das [23]entwandte Fleisch in seine Beinkleider, oder in die Ermel seines Rocks, oder verbarg es gar unter seinen Haaren. Die lächerlichste Scene fiel vor Kurzen zwischen ihm und seinem Haushunde vor. Er sahe diesen an den ihm vorgeworfenen Knochen nagen, begann mit ihm einen blutigen Krieg, und ruhete nicht eher, bis er dem Hunde seine Knochen geraubt und sie in seinen Vorrathswinkel getragen hatte.

Dieser Vorrathswinkel, welchen er immer wieder anfüllt, wenn er auch noch so oft ausgeleert und gereinigt wird, gleicht einem wahren Saustalle. Verschimmelte Brodrinden, Zucker, faule Knochen, stinkendes Fleisch, Speck, Wurst, Butter, Wein und Kaffe unter einander gegossen, Neigen von Bier und Suppe, Kuchen, Arzeneien liegen da in größter Unordnung unter einander, und er ist nie glücklicher, als wenn er in diesem stinkenden Winkel stundenlang einsam seine Zeit verträumen kann.

Seine Begierde Geld zu leihen ist eine Folge seines unersättlichen Geitzes. Wenn ihm einer seiner Bekannten begegnet, pflegt er ihn gemeiniglich um eine Kleinigkeit an Gelde anzusprechen, und weiß nicht selten auf eine listige Art die dringendsten Gründe seiner Bitte anzugeben. Oft bittet er auch ganz fremde Leute um Geld, und verspricht es ihnen bei erster Gelegenheit wieder zu zu stellen, was er aber nie gethan hat. Er kann diese Begierde Geld [24]zu fodern schlechterdings nicht unterdrücken, wenn er auch positiv weiß, daß er nichts bekommt. Tausendmahl hat er die Magd des Hauses schon um Geld gebeten, er weiß, daß sie ihm durchaus nichts geben darf, und doch ist gewöhnlich sein erstes Wort beim Aufstehen des Morgens eine an die Magd gerichtete Bitte, ihm Geld zu leihen.

Neulich war ich selbst ein Zeuge von dieser seiner unwillkürlichen Begierde zur Bettelei. Er kam, einem jungen Ehepaar, das mit ihm verwandt ist, zu gratuliren. Ich saß bei Tische ihm gegenüber, und hatte also die beste Gelegenheit, ihn selbst zu beobachten und mit ihm zu sprechen, und meine Leser werden aus diesem Gespräch bemerken, daß es diesem Menschen, den man nach dem, was ich bisher von ihm gesagt habe, für völlig unklug halten könnte, nicht an gesundem Verstande fehlt.

Ich fragte ihn gleich anfangs, da ich bemerkte, daß er sich mit mir in ein Gespräch einlassen wollte: womit er sich bei seiner geschäftslosen Lebensart die Zeit vertriebe? und er antwortete mir: mit Lectüre. Ich hörte bald zu meinem größten Erstaunen, daß er mit einer Menge der besten deutschen Schriften bekannt war, noch mehr befremdete es mich aber, daß er sie ziemlich richtig beurtheilte und dabei ein reines Deutsch sprach, ob er gleich nie studirt hat. Er nannte mir sogar französische und englische Schriftsteller, die er gelesen hätte und noch läse, worauf er mit mir, wahrscheinlich um zu zeigen, [25]daß ich ihm hierin Glauben beimessen könne, französisch zu sprechen anfing.

Weil mir vornehmlich darum zu thun war, von ihm vielleicht selbst zu erfahren, wie in ihm nach und nach seine unmäßige Geldbegierde entstanden sei, so lenkte ich unvermerkt mein Gespräch dahin, zumahl da ich sahe, daß er einiges Zutrauen gegen mich gefaßt hatte, indem er mich zu seinem Hofmeister zu haben wünschte, und erhielt darauf aus seinem eigenen Munde folgendes sonderbare und freie Geständniß vor der ganzen Tischgesellschaft:

»Geitz und Geldbegierde, hub er an, sind mir gleichsam angeboren, und es ist mir durchaus nicht möglich, sie abzulegen. Ein innerer, unwillkürlicher Instinkt, wovon ich sehr gut weiß, daß er unrecht ist, treibt mich zum Stehlen an, und macht mich höchst unruhig, solange ich den Gegenstand, zu dessen Besitz ich einige Hofnung habe, noch nicht erlangen kann.«

Ich dachte still über dieses sonderbare Phänomen bei mir nach, als er sich auf einmahl mit leiser Stimme zu mir wandte, und mit sichtbarer Aengstlichkeit im Gesicht fragte: ob ich ihm wohl einige Groschen leihen wolle? Ich war schon vorher von der Gesellschaft gewarnt worden, ihm, im Fall er mich um etwas bitten sollte, durchaus nichts zu geben, daher ich ihm auch seine Bitte mit den Worten: daß er ein reicher Mann sey und von mir nichts bedürfe, geradezu abschlug. Dieß setzte ihn aber [26]nicht in die mindeste Verlegenheit, er schien mir sogar heitrer und ruhiger als vorher zu seyn, und er betheurte mir darauf, daß er nicht leicht mit jemanden ernstlich sprechen könne, ehe er nicht etwas Geld von ihm bekommen hätte, oder ihm sein Gesuch rund abgeschlagen worden wäre.

Was mir ausserdem noch an diesem sonderbaren Menschen auffiel, war dieß, daß er mit einer unbeschreiblichen Ruhe und Gleichgültigkeit hunderdterlei Anecdoten von sich in der Gesellschaft erzählen hörte, und wenn sich der Erzähler in irgend einem Umstande zu irren schien, ihn hinterher gleich zu corrigiren pflegte. – Wie er aber nach und nach einen so gewaltigen Hang zum Geitz angenommen habe, konnte oder wollte er mir nicht sagen; sondern wieß mein weiteres Nachforschen mit einem ernsthaften Gesicht und mit den Worten ab: Mein Vater bestimmte mich zum Kaufmann, und ein Kaufmann muß durchaus geitzig seyn, wenn er durch die Welt kommen will!

Endlich war die Zeit gekommen, daß er von seinem Führer, den man ihm immer mitgeben muß, damit er nicht öffentlich vor den Thüren bettelt oder davon läuft, nach Hause gebracht werden sollte. Er schien die Gesellschaft sehr ungern zu verlassen, zumahl da ein schönes Mädchen nicht weit von ihm saß; hörte einigemahl auf das Dringen seines Onkels nicht, der ihn gern nach Hause schicken wollte, und ließ sich immer wieder mit mir in [27]neue Gespräche über die Litteratur ein. Endlich entschloß er sich zu gehen; aber in dem Augenblicke überraschte ihn wieder seine Geldbegierde. Er fragte die Gesellschaft recht angelegentlich: ob einer darunter ihm vielleicht einige Groschen geben wollte? Alle schrien: nein! Darauf wandte er sich noch einmahl an mich, sah mir ängstlich in die Augen, und fragte: aucune espérance? Ich versicherte ihn aber gleichfalls, daß er nichts von mir bekommen würde. »Wohl! erwiederte er, nun bin ich ruhig. Verzeihen Sie mir aber meine Zudringlichkeit; wenn einmahl mein Körper gesunder und fester werden sollte; so werde ich auch gewiß mehr Herr meiner Begierden seyn können.« Er nahm darauf von der ganzen Gesellschaft anständig Abschied, empfahl sich meiner Freundschaft, und entfernte sich, nachdem er vorher noch ein Stück Kuchen von einem Nebentische heimlich zu sich gesteckt hatte.

Eine große Menge Anecdoten von dem Geitze dieses Unglücklichen und seiner Neigung zum Stehlen sind bei uns stadtkundig, und zeigen zum Theil unwidersprechlich, daß er sie nicht ablegen kann, weil seine Seele durchaus keine Gewalt mehr über eine angenommene Gewohnheit zu haben scheint. Neulich wurde ein Prediger bestellt, der ihm das heilige Abendmahl reichen sollte, weil er einiges Verlangen darnach bezeigt hatte. Der Prediger kam, und gab sich alle ersinnliche Mühe, ihm seine Lieblings-[28]neigungen in ihrer ganzen abscheulichen Gestalt vorzustellen. Der unglückliche Mensch fühlt sich auf einmahl gerührt, gestand es seinem Beichtvater selbst ein, daß er sich durch seine Fehler bei allen Menschen verächtlich mache, und versprach mit reuigen Thränen in den Augen, sich gewiß zu bessern; – aber, kaum sollte man es glauben, wenn es mir nicht auf die glaubwürdigste Art erzählt worden wäre, – in dem nehmlichen Augenblick entdeckte der Prediger die Hand des beichtenden Sünders in der Zuckerdose seines Wirths, die er während daß der Prediger mit ihm sprach, heimlich plündern wollte.

Oft treibt der Geitz den armen Menschen so weit, daß er keine Lebensgefahr, keine Beschimpfung achtet, wenn er dadurch nur einige Pfennige gewinnen oder ersparen kann. Er hat einigemahl bei ungestümen Wetter vor den Thoren der Stadt auf platter Erde Nächte hindurch zugebracht, weil er das geringe Thorgeld nicht bezahlen wollte, welches die zu spät Ankommenden, um eingelassen zu werden, erlegen müssen. Oft hat er für seine Diebereien Prügel bekommen, und er ist sonst überhaupt sehr strenge wegen derselben behandelt worden; allein alles dieß hat seinen Hang zum Stehlen nur gleichsam vermehrt. Fast täglich stiehlt er seinen Pflegeltern noch Kleinigkeiten, als Messer, b Gabeln, Bouteillen u.s.w. weg, und trägt sie, wenn er entwischen kann, oft des Abends unter seinem [29]Schlafrock zum Verkauf aus; ja er sucht sogar die Kinder der Nachbarschaft zu bereden, daß sie ihre Eltern heimlich bestehlen und die Beute mit ihm theilen sollen. Verschiedenemahl ist er heimlich entlaufen, und man hat ihn in den Dörfern um die Stadt herum mit niedergeschlagenem Huthe und umgewandten Kleidern bettelnd gefunden. Ueberhaupt ist seine Begierde zu entlaufen oft sehr stark, er hat schon verschiedentlich die Fenster deswegen eingeschlagen, und Briefe auf die Gasse geworfen, welche an einen Bürgermeister der Stadt addressirt waren, der ihn aus seiner vermeintlichen Gefangenschaft befreien sollte.


Man müßte mit der Erziehungsgeschichte dieses unglücklichen Menschen, und mit allen moralischen und physicalischen Umständen, welche auf seine Bildung einen nähern oder entferntern Einfluß hatten, genau und vom Anfang an bekannt seyn, wenn man c die psychologischen Gründe seines sonderbaren Characters vollkommen richtig angeben wollte. Ich habe nur einzelne Data darüber von seinen Anverwandten erfahren können, und ich will sie so umständlich, als es mir nöthig dünkt, meinen Lesern mittheilen.

Die Eltern dieses Unglücklichen waren Kaufleute in einer kleinen B–schen Stadt, und sehr gute Oekonomen, ob man ihnen gleich keinen übertriebnen Geitz Schuld geben konnte. Ihr Sohn wurde [30]von ihnen von Kindheit an zur größten Ordnung in allen seinen Geschäften, und auch vornehmlich in seinen Kleidern angehalten, jedes mußte seine angewiesene Stelle haben, und er wurde ernstlich bestraft, wenn er darin eine Nachlässigkeit blicken ließ. Nicht weniger aufmerksam waren sie, ihn an eine strenge Sparsamkeit im Geldausgeben zu gewöhnen, und täglich wurde ihm die Lehre vorgepredigt: daß ein Kaufmann ohne eine genaue Oekonomie nicht in der Welt fortkommen könne. Der Knabe war hierin seinen Eltern so gehorsam, daß er schon in seinem zwölften Jahre der ordentlichste Junge von der Welt war.

Seine Garderobe war klein, aber täglich wurde sie mit größter Sorgfalt gesäubert, und es durfte kein Federchen auf seinem Kleide sitzen. Wer ihm daran was verdorb, war sein Todfeind. Diese genaue ängstliche Ordnungsliebe, die ihn seine Eltern lehrten, und ihr eigenes Beispiel in Absicht des sparsamen Geldausgebens scheint mit eine von den gelegentlichen Ursachen seines nachher so stark gewordenen Geitzes gewesen zu seyn, seine Neigung zur Bettelei aber soll, wie mir sein Onkel erzählte, vornehmlich durch folgenden Umstand in ihm rege geworden seyn.

Als er nach B– in die Lehre gethan worden war, pflegte er, so oft es seine Geschäfte erlaubeten, in den fürstlichen Schloßgarten zu gehen, um den Hof an öffentlicher Tafel speisen zu sehen. Er [31]wurde von dem Anblicke einer solchen Tafel, noch mehr aber von den aufsteigenden Wohlgerüchen wie bezaubert, und er wünschte nichts mehr, als einmahl von dem Uebriggebliebenen etwas kosten zu dürfen. Sein Appetit war auch eines Tages so ausserordentlich stark danach geworden, daß er es wagte einen Bedienten der fürstlichen Tafel um etwas Fleisch anzusprechen, welches er auch erhielt. Diese Bettelei setzte er nun von Tag zu Tage fort, und war zufrieden, wenn ihm die Bedienten auch nur bloße Knochen hinwarfen. Was er nicht verzehren konnte, trug er nach Hause, und damahls soll er zuerst sein Speisemagazin zu errichten angefangen haben.

Offenbar bemerkt man bei einiger Aufmerksamkeit an dem armen Menschen eine Lähmung und Schwäche der Seele, welche ohngefähr in seinem vierzehnten Jahre angefangen haben soll, um welche Zeit er oft Schwindel bekam, und bei Tische oft halbe Stundenlang, ohne auf die ihm vorgelegten Fragen zu antworten, still saß. Man sieht es ihm an, daß ihm ein zusammenhängendes Denken nicht selten schwer wird, so gern er sich auch mit andern zu unterhalten pflegt, daß sich seine Begriffe confundiren, und sich unwillkürlich von einander trennen, welches wahrscheinlich alles Folgen seiner äusserst geschwächten und nervenlamen Natur sind.

In dieser seiner geschwächten Natur liegt auch ohnstreitig der Grund, daß er seine Begierden zum [32]Stehlen nicht beherrschen kann, und daß sein Herz so leicht jedem Vorsatze sich zu bessern ausweicht; – ob ich gleich nicht bestimmen kann, in wie fern seine durch heimliche Ausschweifungen erregte Seelenschwäche grade ihre Richtung zu seinem Geldgeitze genommen hat. Ein Tagebuch, welches man über den ganzen Gang seiner Empfindungen und Leidenschaften mit Aufmerksamkeit gehalten hätte, würde vieles aufgeklärt haben, welches mir an ihm noch ganz unbegreiflich vorkommt. Die Aerzte setzen seine Krankheit zugleich mit in ein Austrocknen des Rückgradmarks, eine Krankheit, worin so oft ihre Kunst Schiffbruch gelitten haben soll. Künftig von diesem sonderbaren Menschen ein mehreres.

Fußnoten:

1: *) Man hat mehrere Beispiele eines solchen unwillkührlichen Hanges zum Stehlen. D. Semler erzählte einst in seinen Vorlesungen von einem berühmten reformirten Geistlichen, und zwar, wenn ich nicht irre, von Saurin, daß er gemeiniglich an den Oertern, wo er zu Tische eingeladen war, silberne Messer, Löffel und anderes Geschirr heimlich in seine Tasche gesteckt, und es nachher allemal mit tausend Entschuldigungen an den Eigenthümer zurückgesandt habe.
P.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Wingertszahn 2011, insbes. S. 103-108.

b: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

c: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

2.

Ein Brief an Gaßnern.

Lavater, Johann Caspar

Mein lieber Herr Pfarrer Gaßner!

Sie haben also, mein Freund, einen Seher Gottes und der Wahrheit gesehn! Es freut mich mit jedem Augenblick mehr, und ich weiß nicht wie mir zu Muthe wird, wenn ich denke: so lebt doch zu gleicher Zeit mit dir ein Mann, der mit Kraft zeuget von dem Leben Jesu, und einer von denen [33]Menschen, denen ich am meisten glauben darf, hat mir bezeuget, daß er ist kein Gaukler, kein Betrogener, kein Betrüger. Er glaubt, und lebt seines Glaubens. O Gaßner! Ich weiß, daß ich nicht werth bin an einen Mann Gottes zu schreiben; aber wenn Gottes Barmherzigkeit in Ihnen wohnet – (und ohne diese was wäre denn der mächtigste Wunderglaube – ?) so erbarmen Sie sich meiner, und schreiben mir bald. Aber laßt uns stillestille unsere Seelen einander mittheilen. Ich bin des Geräusches herzlich müde, die Welt ists auch nicht werth, daß wir ihr die Kraft Gottes vor die Füße werfen.

O wie seelig preis' ich Sie, daß Gott Sie in der Stille zurückführt! O daß Ihre Ruhe nun auch mir zum Seegen würde. Lassen Sie mich, bester miskannter Mann, Ihnen oft mein Bruderherz entgegenbringen. Stärken Sie mich oft mit Glauben an den, an welchen ich meiner Unwürdigkeit wegen kaum glauben darf. Sie können kein besser Werk thun, als mir oft schreiben, was Sie wollen.

Unser lieber Kaufmann hat mich Ihrer Liebe gegen mich versichert. Nehmen Sie die Versicherung meiner Liebe zu Ihnen vor Gott mit Einfalt und Liebe an. Bitten Sie Gott, daß wir einander bald sehen können, und daß sich kein Satan zwischen uns hineindränge. Meine Seele dürstet [34] nach einem lebendigen Zeugen des lebenden Jesus. Mit Wort und Schall kann ich mich nicht mehr begnügen. Mein Thun und Lassen, Predigen und Schreiben ist mir unerträglich. O wenn Sie der Christ sind, den unser Freund in Ihnen liebte; wenn Sie Gottes Kraft würklich in Ihnen erfahren, und Demuth und Liebe Christi würklich in Ihnen wohnt, – was habe ich mir nicht von Ihnen zu versprechen!

Ach! Gaßner, mir ist recht um Erfahrung, um Gewißheit zu thun. Ich hofte sie von Ihrer Seite zu finden. Ists Ihnen möglich; so nähern Sie sich; aber so unbekannt und verborgen als möglich nicht nur meinem Herzen, sondern auch meiner Person. Eine persönliche Zusammenkunft würde gewiß zur Erweckung unseres Glaubens und unserer Liebe gereichen; gewiß nachher vielen 1000 Seelen zum Seegen werden.

Sagen Sie nicht zu geschwinde: nein! Machen Sie möglich, was möglich ist; aber nur in der Stille. Jesus Christus, dessen Nahmen ich auszusprechen unwerth bin, leite Ihr Herz und Ihre Person zu mir. Sagen Sie mir bald, was ich thun kann, um unsere Zusammenkunft zu beschleunigen, und dann habe ich noch viel mit Ihnen zu reden. Sagen Sie mir alles, was Sie wollen! Wer aus der Wahrheit ist, der hört der [35]Wahrheit Stimme. Rede Knecht des Herrn*) 1 ! ich will hören. Mehr jezt nicht. Ich zähle Tage und Stunden, bis ich weiß, Gaßner ist entschlossen mich zu sehen, und das bald. Die Gnade Jesu Christi sey mit uns!

Zürich den 3ten May 1777.

J. C. Lavater.
Pfarrer am Waisenhause.

Fußnoten:

1: *) Gaßner, der elende Schwärmer, der Betrüger – ein Knecht des Herrn? ein Mann Gottes? O was glaubt der Mensch nicht Alles, wenn erst seine Einbildungskraft seine Vernunft geworden ist. <P.>

[36]

Zur Seelennaturkunde.

1.

Ueber die unwillkürliche Abneigung gegen gewisse Menschen. – Moralische Antipathie.

Pockels, Carl Friedrich

Es giebt Leute, die durch ihren bloßen Anblick unser Herz an sich ziehen, und uns, ehe wir sie noch genauer kennen lernen, durch eine unbegreiflich schnelle und unwiderstehliche Sympathie unserer Empfindungen für ihr Interesse einnehmen.

Es giebt aber auch Andere, welche für uns, ohne daß wir allemahl eine bestimmte Ursach von unserm Gefühl anzugeben wissen, etwas Unausstehliches an sich haben, und uns schon durch ihren Anblick höchst gehässig werden können. Es wird unserm Herzen nicht nur leicht mit jenen Erstern vertraut zu werden; sondern wir fühlen auch sogar ein inneres Bedürfniß, einen Seelendrang, uns ihnen zu nähern, und es ist uns nichtsweniger als gleichgültig, welchen Eindruck unsere Person auf ihr Herz gemacht hat, oder machen könnte. Ihnen zu gefallen, scheinen wir oft unsere ganze Denkungsart [37]zu ändern; suchen uns wenigstens zu der ihrigen gefällig herabzustimmen, und opfern ihnen nicht selten sogar unsere Lieblingsgrillen und Schoosneigungen auf, wenns darauf ankommt, ihr Herz zu gewinnen.

Ganz anders sind wir gegen diejenigen, gegen welche wir eine unwillkürliche Abneigung haben, gesinnt. Wir fühlen es nur zu deutlich in uns, daß wir mit diesen nie eine vertraute Freundschaft errichten würden; unsere Seele schaudert gleichsam vor ihnen zurück; wir sind mistrauisch gegen sie, und können leicht dahin gebracht werden, ungerecht und lieblos gegen sie zu handeln. Je mehr sie sich uns zu nähern suchen, destomehr entfernen wir uns von ihnen; unsere Höflichkeit gegen sie ist Verstellung, und das Lob, welches wir ihren Talenten und Verdiensten ertheilen, nicht selten erzwungen.

Ich habe schon oft über dieses sonderbare Phänomen der menschlichen Seele nachgedacht, und ich will nachher versuchen, ob ich davon einige psychologische Gründe angeben kann. Die alten Physiker, welche so viel von verborgenen Kräften der Natur zu schwatzen wußten, nannten jenes widerliche Gefühl, welches durch den Anblick gewisser Menschen in uns hervorgebracht wird, Antipathie, ohne es zu erklären. Neuere Philosophen haben jenes Gefühl aus einer Ungleichheit und Disharmonie des Naturells verschiedener Menschen herleiten wol-[38]len; allein, wie mich dünkt, haben sie nicht ganz Recht, wenigstens kann ihre Erklärung nicht als eine allgemein richtige angenommen werden. Es giebt Menschen von einem durchaus verschiedenen Naturell, welche sich demohnerachtet aufs zärtlichste lieben, und wie sie selbst gestehen, eben durch eine Verschiedenheit des Naturells die wärmsten Freunde geworden sind. Es ist ferner bekannt, daß ganz verschiedene Charactere oft einer viel längern und dauerhaftern Sympathie gegen einander fähig sind, als die, welche die Natur gleichsam nach einem Modell geschaffen zu haben scheint, und wer kennt nicht Ehen, worin die liebenswürdigste Eintracht herrscht, so sehr auch Mann und Frau in Absicht ihres Naturells von einander abgehen?

Ueberdem verstehe ich hier unter der Antipathie gewisser Menschen gegen einander eigentlich nicht die, welche durch eine genauere gegenseitige Bekanntschaft ihrer verschiedenen Temperamente und Denkungsarten, oder gar durch persönliche Beleidigungen; sondern durch den unwillkürlichen Eindruck gewisser Gesichtszüge und der körperlichen Form Anderer auf unsere Phantasie hervorgebracht wird, wobei die Verschiedenheit des Naturells nur in so fern in Betrachtung kommt, als es gewisse Gesichtszüge veranlassen kann, die etwas Widerliches für uns an sich haben.

So unsicher überhaupt die Regeln eines physiognomischen Gefühls seyn mögen, sobald man da-[39]durch den moralischen Werth eines Menschen, oder wohl gar den Umfang seiner Geistesfähigkeiten und Kenntnisse bestimmen will*) 1 und so unwahr der Satz eines alten Weltweisen ist: daß in einem schönen Körper auch eine schöne Seele wohnen müsse; so unläugbar ists doch auf der andern Seite, daß wir vermöge eines auf physiognomisches Gefühl gegründeten Triebes, der freilich bei Einigen stärker, bei Andern schwächer, und noch bey Andern gar nicht vorhanden seyn kann, zu gewissen Menschen gleichsam unwillkürlich hingezogen, und von Andern zurückgestoßen werden, je nachdem wir bald mehr bald weniger Uebereinstimmung ihrer [40]Herzen mit dem unsrigen in ihrem Gesichte zu lesen glauben.

Aber es ist uns oft eben so unmöglich, den psychologischen Grund dieser bald einladenden, bald zurückscheuchenden Gesichtssprache deutlich anzugeben; so leicht es auf der andern Seite unserm Herzen wird, ihren Ton und Unterschied nach seinen feinsten Nüancen zu bemerken. Am allerwenigsten aber hat es bisher der speculativen Seelenlehre glücken wollen, die Gesetze genau zu bestimmen, nach welchen die Gesichtssprache sympathetischer Gefühle Anderer, ähnliche Wirkungen in dem Innern unserer Natur hervorbringt, und noch ehe wir wollen, uns entweder mit Liebe oder Haß gegen gewisse Menschen erfüllt.

Ich glaube nicht, daß die menschliche Seele in dieser Art der Sympathie, oder Antipathie, welche sich nach der Gesichtssprache Anderer richtet, überhaupt nach unverletzlichen psychologischen Gesetzen handelt. Jedes Individuum geht hiebei unwillkürlich seinen eigenen Weg, weil jedes seine individuellen Gefühle, und eine darauf gegründete individuelle Empfänglichkeit hat, dießmahl so ein andermahl anders im Gesichte vernünftiger Wesen zu lesen.

Die Empfindungen, welche der Gesichtsausdruck Anderer in uns hervorbringt, können aber auch deswegen nicht nach einerlei Gesetzen erfolgen, weil die Natur den Einen mit einem gröbern, den [41]Andern mit einem feinern physiognomischen Gefühl begabt hat; weil der Eine mehr, der Andere weniger Einbildungskraft zu seinen Beobachtungen bringt, und weil sich überhaupt unsere Vorstellungen so genau nach der jedesmahligen Beschaffenheit unserer Organe zu richten pflegen. Ausserdem hat die gute oder böse Laune, die Gesundheit oder Krankheit des Bluts und die Verschiedenheit des Alters einen erstaunlichen Einfluß auf die Sympathie oder Antipathie unserer Empfindungen.

Es giebt offenbar Augenblicke worin unser Herz durch eine innere Verstimmung der Seele veranlaßt, mehr zur Gefühllosigkeit als zur Theilnehmung geneigt ist, und worin sich unsere Vorstellungen gleichsam verschworen haben, uns jede Sache von ihrer schwarzen Seite darzustellen. So erschlafft wir uns in diesem Zustande zur Thätigkeit und Geistesanstrengung fühlen, so geschäftig ist doch alsdann unsere Einbildungskraft, uns gegen die unschuldigsten Gegenstände zu erbittern, und uns an jedem Menschen seine schlimsten Seiten sehen zu lassen. Unsere besten Freunde haben alsdann etwas Widerliches an sich, und unser durch die Galle gleichsam geschärftes Auge entdeckt Fehler an ihnen, die wir sonst nicht bemerkten. Besonders stark würkt auf uns in solchen Augenblicken der übeln Laune der Gesichtsausdruck Anderer. Wir können uns alsdann über eine bloße Miene, die uns nicht gefällt, so entrüsten, als ob man uns die größte Beleidigung an-[42]gethan hätte; ja man fühlt sich nicht selten geneigt, den zu beleidigen dessen Gesicht auf uns in einer übeln Laune einen widerlichen Eindruck hervorbringt. – Wie viele Ungerechtigkeiten werden in dieser Absicht von Eltern und Erziehern gegen diejenigen ihrer Zöglinge begangen, welche sich ihnen nicht durch eine gefällige Physiognomie empfehlen! Sie werden gemeiniglich zurückgesetzt und oft bei den kleinsten Fehlern bestraft, indessen ihre wohlgebildeten Geschwister die zuvorkommensten Liebkosungen genießen.

Wenn es wahr ist, daß viele häßliche Leute würklich in Absicht ihres Characters nicht viel taugen sollen; so liegt der Grund davon gewiß mit in der Behandlungsart, wie sie erzogen wurden, in der Verachtung die ihre Eltern gegen sie blicken ließen, in den stummen und lauten Vorwürfen, die man ihnen in Absicht ihrer Gestalt oft auf die unvernünftigste Art zu machen pflegt, und überhaupt in der Vernachlässigung ihrer Ausbildung, deren so viele Eltern, wie ich aus mehrern Erfahrungen weiß, ihre häßlichen Kinder für unfähig, und was noch abscheulicher ist, – für unwürdig halten.

Die Verschiedenheit des Alters hat ferner einen großen Einfluß auf die Antipathie gegen gewisse Menschen. Ich habe bemerkt, daß Kinder, sonderlich wenn sie kränklich sind, gemeiniglich mehr von den Empfindungen der Antipathie als ältere Leute beherrscht werden, und ich kenne einige Kna-[43]ben, die unter zwanzig Leuten gewiß immer einen antreffen, der für ihre Phantasie etwas Widerliches an sich hat. Der Grund worin Kinder mehr von den Empfindungen einer unwillkürlichen Abneigung gegen gewisse Menschen als ältere Leute beherrscht werden, scheint mir vornehmlich darin zu liegen, weil ihr Herz mit jenen nicht immer auf die Art sympathisiren kann, als es seinen jugendlichern und lebhaftern Gefühlen angemessen ist. Das ernsthaftere Gesicht älterer Leute, ihre gröbere Sprache, ihr größerer Körper kann in hundert Fällen für die Einbildungskraft des Kindes etwas Unangenehmes an sich haben, was ältere Leute gegen einander nicht fühlen, –und bisweilen scheint sogar das Auge junger Kinder auf dem Gesichte Anderer mehr als der Blick jener zu lesen, welcher durch die Gewohnheit vielleicht schon viel von seiner physiognomischen Schärfe verlohren haben kann. –

Doch es ist Zeit, daß ich auf die psychologische Erklärung meines Gegenstandes komme, und die Gründe anzugeben versuche, von welchen jene unwillkürliche Abneigung gegen gewisse Menschen, ob wir sie gleich nicht genauer kennen, sie uns auch nie beleidigt haben, abhängt.

Ich habe schon im Vorhergehenden zu verstehen gegeben, daß unsere Antipathie gegen manche Menschen vornehmlich durch ihre Gesichtszüge veranlaßt wird, die, ohne daß wir es uns erklären können, für unsere Phantasie etwas Unleidliches an [44]sich haben; – ob ich gleich nicht läugnen will, daß manchmahl auch ihre körperliche Form, ihr Gang, ihre Sprache, ihr Gliederbau und selbst ihr Anzug dazu etwas beitragen kann. Eigentlich ist aber doch das Gesicht der Ort, wo wir die Seele des Andern zu lesen glauben, und wonach wir gleichsam durch einen in uns liegenden Trieb den Character des Menschen zu beurtheilen aufgefodert werden.

Unter den Gesichtszügen Anderer, die uns eine unwillkührliche Abneigung gegen sie einflößen, bemerke ich nur als die vornehmsten den satyrischen, den brüsken, oder hochmüthigen, und endlich den Gesichtsausdruck der Einfalt und Dummheit. Von den Würkungen der Häßlichkeit auf unsere Einbildungskraft will ich noch etwas zum Beschlusse dieses Versuchs sagen.

Der satyrische Gesichtsausdruck, welcher entweder erzwungen, angenommen, oder natürlich seyn kann, zeichnet sich durch einen schelmisch verzogenen Mund, und durch eine Miene aus, welche die Tochter des Lächelns und der Verachtung zu seyn scheint. Sie ist nicht ganz der Ausdruck des bittern Höhngelächters, auch nicht der, eines bloßen Lächelns, welches sich allemahl durch eine stille Freundlichkeit des Auges auszeichnet; sondern ein Mittelding von beiden, so wie der satyrische Gedanke selbst oft ein Gemisch einer zweifachen Empfindung wird, nehmlich 1) der natürlichen und an [45]sich unschuldigen Freude über das Auffallende, Lächerliche und Kontrastirende eines Satzes und 2) jenes versteckten boshaften*) 2 Vergnügens, etwas Bitteres und Beissendes gesagt zu haben. Sonst rechnet man noch zur Physiognomie des Satyrikers ein hervorgebogenes spitzes Kinn, eine in die Höhe geworfene, oder auch zugespizte Nase, und ein hinter den Augenliedern lauschendes Auge.

Diese Gesichtszüge zusammengenommen, welche einzeln keinen Eindruck auf uns machen würden, bringen nun in uns jene unwillkürliche Abneigung gegen den Satyriker hervor, die selbst bei dem größten Wohlgefallen an seinen Einfällen fortzudauern pflegt. Es ist gar kein Beweis, daß wir uns dem Herzen des Satyrikers nähern, wenn wir über seinen Witz lachen und ihm lauten Beifall zuklatschen. Heimlich empören sich unsere Gefühle gegen ihn, und wir fühlen uns in Absicht seines Characters gemeiniglich um so viel mistrauischer, je treffender und beissender seine Gedanken sind. Wir glauben nicht, daß ein solcher Mann unser vertrauter Freund seyn könne, und wir fühlen es gleichsam im Voraus, daß wir in einer nähern Verbindung mit ihm oft seine giftige Zunge erfahren, und [46]daß uns die Stunden seines Umgangs lästig seyn würden. Vornehmlich aber fürchten wir uns, daß sein spähendes Auge an uns Fehler und Schwachheiten entdecken dürfte, die wir gern verbergen möchten, und wir zweifeln nicht, daß er uns in den Augen Anderer ohne Zurückhaltung lächerlich machen wird, sobald ihn seine spöttische Laune überfällt.

Je geneigter daher unser Herz zur Liebe, Freundschaft und Geselligkeit ist; je mehr wir unsere sittlichen Gefühle durch den Umgang mit edeln Menschen verfeinert haben, je lieber es uns ist bei allen Menschen so viel möglich in gutem Kredit zu stehen, und je empfindlicher wir vornehmlich in Absicht unserer Selbstliebe sind, je abgeneigter müssen wir uns auch gegen Menschen fühlen, welche die Kennzeichen eines spöttischen Characters so deutlich im Gesichte tragen, und vor welchen wir, wie es uns scheint, von der Natur gleichsam selbst gewarnt werden.

Mehr als alle andere Gesichtsausdrücke reizt unsere Antipathie die Miene des aufgeblasenen und stolzen Mannes. Der Satyriker kann uns doch noch, auch bei seinem zurückscheuchenden Gesichtsausdruck durch seinen Witz eine angenehme Unterhaltung verschaffen; kann uns, wenn wir ihn gleich fürchten, aufheitern; allein dem Stolzen bleibt bei seiner brüsquen und hochmüthigen Miene kein Weg übrig, auf welchem er sich unsern Herzen nähern könnte, gesetzt, daß er auch die vortreflich-[47]sten Talente besitzen sollte. Der kalte Blick der Verachtung, den er auf uns wirft, oder welches für unser Gefühl einerlei ist, auf uns zu werfen scheint, sein hochtrabender Gang, seine süffisante Miene, sein adliches steifes Kopfnicken beleidigt unsere Eigenliebe, wenn wir auch in keiner Verbindung mit ihm stehen, und scheucht uns von sich zurück. Unter allen Arten der Behandlung, die uns von unsern Nebenmenschen widerfahren können, tragen wir Verachtung am ungernsten, daher wir auch mit denjenigen am schwersten ausgesöhnt werden können, die einmahl eine Art von Verachtung, oder nur Geringschätzung gegen uns haben blicken lassen. Jeder Mensch träumt sich nun einmahl seine eigenen Verdienste, und jeder fühlt einen angelegentlichen Wunsch in seinem Herzen, daß man sie wenigstens nicht ganz verkennen möchte; aber der Stolze spricht uns schon durch seine Miene alle Verdienste ab, indem er sich immer allein als den Mann der Bewunderung aufstellt, und aller Augen allein auf sich richten will.

Sein befehlhaberischer dictatorischer Blick bringt uns aber auch noch deswegen gegen ihn auf, weil er unser Freiheitsgefühl empört. Unsere Seele stellt sich nehmlich beim Anblick des Stolzen auf eine dunkele Art vor, wie sklavisch er uns behandeln würde, wenn wir von ihm abhängen sollten, und weil wir glauben, daß er uns beleidigen würde; so empfinden wir auch sogleich bei [48]seiner Gegenwart das, was wir beim Anblik derjenigen empfinden, die uns würklich beleidigt haben.

Die Miene der Einfalt und Dummheit hat gleichfalls etwas Widerliches für unsere Phantasie an sich, ob sie uns gleich gemeiniglich mehr zum Mitleiden und Bedauren, als zu Erbitterungen reitzt, – und doch giebt es Fälle, wo uns unsere Empfindungen täuschen und in eine Art von Verdruß über den Einfältigen übergehen können, indem wir ihn für den Urheber der Eingeschränktheit seines Verstandes halten; aber dieß allein würde uns nicht so leicht gegen ihn aufbringen, uns nicht so sehr von ihm zurückstoßen, wenn wir es nicht zugleich deutlich in uns fühlten, daß seine Seele für uns so gut als tod ist, und daß wir unmöglich mit seinem Herzen sympathisiren können. Sein kaltes kraftloses Auge, sein dummer und starrer Blick, seine alberne Sprache, seine kindischen Handlungen und sein ganzes äusseres Wesen sagen uns dieß gar zu deutlich, und unser Mitleid selbst, welches uns so leicht in andern Fällen an Menschen anzieht, uns für sie erstaunlich interessirt, trägt das Seinige dazu bei, unser Herz von ihm zu entfernen; – denn wir können die nicht lieben, gegen welche unsere Seele bloßes Mitleiden, und zwar immer empfindet; wir können endlich auch mit denen nicht sympathisiren, deren Umgang uns Schande machen würde. So wohlwollend auch jedes Gefühl der Sympathie auf der einen Seite zu seyn scheint, und so uneigen-[49]nützig dieses Gefühl von Hutcheson vorgestellt worden ist, a so wenig Nahrung findet es doch gemeiniglich da, wo es nicht durch irgend einen versteckten oder nicht versteckten Sporn der Eitelkeit gleichsam beseelt wird.

Es ist überhaupt durch unzählige Erfahrungen bewiesen, daß ohne eine innere Harmonie unserer Gedanken und Empfindungen, die sich entweder auf ihre eigentliche Natur, oder auf das Homogene ihres Ausdrucks, oder auf die Gleichartigkeit der Absichten gründen können, unsere Herzen keiner Sympathie fähig sind. Diese Harmonie, welche sich viel besser empfinden als beschreiben läßt, muß gleichsam von und durch sich selbst entstehen und unterhalten werden; sie kann oft das Werk eines glücklichen Zufalls seyn, in welchem zwei sanfte Seelen an einander stoßen, und gleichsam ohne allen Zwang als zwei vorher getrennte Wesen nun mit dem innigsten Gefühl des Wohlwollens in einander übergehen. Sobald wir sie zu erkünsteln suchen, sobald wir zu ihrem Daseyn nicht alles aus unserm Herzen schöpfen; sobald wir sie überhaupt allein zur Tochter der Vernunft machen, um ihre Rechte auf unser Herz zu bestimmen, sobald wird sie auch nicht mehr auf eine so leichte und bezaubernde Art die himmlischen Empfindungen einer gegenseitigen Theilnehmung in uns hervorbringen können, die so oft die süßesten Freuden des Lebens ausmachen. Das menschliche Herz ist hierinn so deli-[50]cat, und handelt bei seiner Sympathie oft ohne alle augenblickliche Anleitung der Vernunft nach so richtigen und abgemessenen Gesetzen, daß jene Harmonie nicht einmahl statt finden kann, wenn nicht die homogenen Empfindungen zweier Menschen zu gleicher Zeit zusammentreffen, um sich gleichsam in einem gemeinschaftlichen Brennpuncte zu vereinigen. Ich nehme an, daß in dem Gesichtsausdrucke zweier sympathisirender Seelen Etwas liegt, wodurch dieses Zusammentreffen ihnen auf eine bezaubernde Art sichtbar wird, und was unser Herz vielleicht nur allein lesen kann. Auf dem Gesichte des Einfältigen lieset unser Herz – nichts, indem es uns entweder gleich einer Bildsäule anstarrt, oder uns auf eine eckelhafte Art entgegen lächelt, wodurch in uns ohnmöglich ein Funke von Sympathie entstehen kann.


So verschieden auch die Meinungen und Empfindungen der Menschen in Absicht der Schönheit und Grazie eines Gegenstandes seyn mögen; so unläugbar ist es doch, daß der menschlichen Seele ein inneres (vielleicht blos auf körperliche Organisation gegründetes) Gefühl für Schönheit und Harmonie mitgetheilt sey. Unsere Imagination wird auf eine angenehme Art beschäftigt, wenn wir an einem körperlichen Gegenstande ein richtiges leicht zu unterscheidendes Verhältniß seiner Theile zum Ganzen sowohl, als unter sich bemerken. Ein nach den Regeln der Schönheit gebautes Gesicht gefällt nicht [51]nur unserm Auge, indem die Natur mit eigener Selbstzufriedenheit daran gearbeitet zu haben scheint; sondern erregt auch oft in unserm Herzen die süßesten Empfindungen der Liebe, die nicht selten alsdenn noch in uns fortdauren, wenn wir über den moralischen Character eines Frauenzimmers wichtige Zweifel bekommen haben. – Häßlichkeit hingegen stößt unser Herz von sich zurück, oder wir bleiben wenigstens beim ersten Anblick kalt dabei; allein so wie nicht immer Schönheit auf unser Herz auch bei der richtigsten Proportion ihrer Theile würkt; so glaub ich auch, daß nicht blos das unrichtige von der Natur verfehlte Verhältniß eines Gesichts uns eine Antipathie gegen den Gegenstand selbst einflößt, sondern daß unsere Seele gemeiniglich durch eine dunkle Schlußfolge gegen einen häßlichen Menschen eingenommen wird.

Wir haben nehmlich oft bemerkt –; oder welches hier einerlei ist, uns zu bemerken eingebildet, daß ein häßliches Gesicht mit einem häßlichen Character verbunden war; bemerkt, daß oft die regelmäßigsten Gesichter durch Laster und Leidenschaften bis zur Scheuslichkeit entstellt wurden, – nun sehen wir ein anderes häßliches Gesicht, das eine vielleicht auch nur entfernte Aehnlichkeit mit der Physiognomie jener schlechten Menschen hat, und gleich machen wir den übereilten Schluß, dergleichen unsere Phantasie unzählige macht, daß auch dieses Gesicht mit einem verachtungswürdigen Charakter [52]verbunden seyn werde. Wir schließen hiebei freilich oft sehr unrichtig und lieblos; allein wir schließen nun einmahl so, weil es die Analogie unserer Ideen mit sich bringt, und weil wir uns geneigt fühlen, das zu verachten, was uns nicht gefällt.

Ein häßlicher Mann fällt uns nie so auf, als ein häßliches Frauenzimmer, und ich glaube aus folgenden Gründen. Wenn es gleich eben so gut eine männliche Schönheit, als eine weibliche giebt; so setzen wir doch immer die letztere als ein besonderes Eigenthum des andern Geschlechts voraus, wozu uns schon der feinere Gliederbau und das sanftere Colorit des weiblichen Gesichts berechtigt. Die Natur hat in der That den weiblichen Körper mit mehrern Reitzen als den männlichen begabt; allein der Mangel desselben würde uns nicht so sehr auffallen, wenn wir nicht sogleich für jene Reitze ein geheimes Interesse fühlten, was uns unaufhörlich zu dem andern Geschlechte hinzieht. Dieses Interesse, welches wir gegen keine Person unseres Geschlechts, selbst bei der wärmsten Freundschaft nicht empfinden, wird durch ein häßliches weibliches Gesicht aufgehoben, unsere sympathetischen Gefühle werden dadurch unterbrochen, unser Herz in seinen süßen Neigungen eingeschränkt, und es ist uns unmöglich, ein solches Frauenzimmer auf den ersten Anblick lieben zu können.

Diese Einschränkung unserer zärtlichen Gefühle, die immer auf eine dunkle Art in uns verborgen lie-[53]gen, diese Gegenwürkung unserer Phantasie auf einen in uns liegenden allgemeinen Trieb der Geschlechtsliebe scheint mir eine der vornehmsten psychologischen Ursachen zu seyn, warum der Anblick eines häßlichen Frauenzimmers uns so sehr auffällt.

Durch einen nähern Umgang, durch Bekanntschaft mit einem sanften weiblichen Herzen, welches so oft hinter einer häßlichen Gestalt verborgen ist, kann jener in uns liegende von einem geheimen Interesse genährte Geschlechtstrieb wieder so lebhaft werden, als er vorher durch den Anblick eines häßlichen Gesichts unterdrückt wurde; ja er kann alsdann oft das Auge so sehr täuschen, daß wir das Frauenzimmer für schön zu halten anfangen, was uns vorher sehr häßlich schien, indem wir die Schönheit ihres moralischen Charakters gleichsam in die Züge ihres Gesichts hinübertragen.

Fußnoten:

1: *) Lavater, welcher noch iezt behauptet: daß ihm von Natur ein besonderes feines Gefühl, auf dem Gesichte eines Menschen seine Seele und Seelengröße zu lesen, mitgetheilt sey, legte bei seiner Anwesenheit in B.. ein neues Zeugniß seiner physiognomischen Prahlerei durch folgende laut gesagte Versicherung ab: »Wenn mir, sagte er, Jerusalems Kopf, wie das Haupt Johannis auf einer Schüssel, abgesondert vom Körper, presentirt würde, und ich wüßte nicht, daß es der Kopf des großen Jerusalems sey; nicht, daß aus ihm das Werk von den Wahrheiten der Religion hervorging; so würde ich ihm doch gleich beim ersten Anblick zurufen: Du bist und mußt Jerusalems Kopf seyn«! – Solche zum Theil noch sinnlosere Sentenzen stehen auf mehr als einer Seite seiner Physiognomik, als eben so viel Beweise, daß man mit dergleichen declamatorischen und übertriebenen Sätzen oft – nichts sagt.

2: *) Wir haben kein Wort im Deutschen, welches das französische malicieux, das ich hier eigentlich meine, genau ausdrückt.

Erläuterungen:

a: Vgl. Hutcheson 1742, Lib. I, Cap. 1 zum 'sensus communis'.

2.

Beispiel einer schnellen Liebe.

Pockels, Carl Friedrich

Es ist nichts Besonders, und eine Alltagserfahrung im menschlichen Leben, daß die Liebe oft das Werk eines einzigen Augenblickes ist. Lebhafte Leute können sich in einem Tage zehnmahl verlieben; ihr Herz steht jeder Schönheit offen, und ihre Phantasie flattert gern von einem Gegenstande der Zärt-[54]lichkeit zum andern. Aber merkwürdiger und sonderbarer scheint mir die Art Liebe zu seyn, welche nach einem langen völlig gleichgültigen Umgange zweier Personen sich, gleich eines schnellen elektrischen Schlages, ihrer Herzen bemächtigt. Hievon kann ich folgendes zuverläßige Beispiel mittheilen.

Die liebenswürdige Gattin eines unserer vortreflichsten tragischen Dichter, kannte ihren Mann lange vorher, ehe sie wußte, daß er um ihre Hand anhalten würde. Sie hatte ihn oft in Gesellschaften gesehen; aber sie hatte auch nie auf die entfernteste Art eine zärtliche Neigung gegen ihn empfunden; im Gegentheil war er ihr, da er selbst etwas kalt gegen das schöne Geschlecht zu seyn schien, auch immer ganz gleichgültig gewesen; sie hatte sich sogar oft über seinen Anstand, der selten bei großen Köpfen der beste ist, mit ihren Freundinnen lustig gemacht, und das war noch an dem Tage geschehen, als sie auf einmahl für ihn, ohne seine Veranlassung, eingenommen wurde. Er war mit ihr in Gesellschaft, die Gesellschaft hatte sich in dem Garten zerstreut, und das liebenswürdige Mädchen wollte eben die Allee hinaufgehen, als er ganz nachläßig in derselben heruntergeschlichen kam. In dem Augenblick machte er einen tiefen Eindruck auf ihr Herz, sie fühlte, daß sich ihr Gesicht mit einer plötzlichen Röthe überzog, – und wünschte ihm ihre Hand geben zu können.

[55]

Es sind mir mehr dergleichen Beispiele bekannt. Ich kenne Frauenzimmer, die Männer gar nicht ausstehen konnten, welchen sie hernach auf einmahl aus wahrer Liebe ihr Herz schenkten. Vornehmlich hab ich das bemerkt, daß weibliche Herzen aus einer kalten Gleichgültigkeit auf einmahl in heiße Liebe übergehen können, wenn ihnen ein Heurathsantrag geschieht. Dieser schnelle unerklärbare Uebergang ihrer Empfindungen macht sie oft alsdann gegen die sichtbarsten Mängel ihrer Liebhaber – blind, für die sie vorher Argus-Augen hatten.

3.

Ein sonderbarer Traum.

Seckendorf, Siegmund Freiherr von

Folgenden Traum hat der den 26ten April 1785. verstorbene Siegmund, Freiherr von Seckendorff, *) 1 welchen er ein halb Jahr vor seiner Krankheit und seinem Tode hatte, von sich selbst mehrmahls erzählt, und schriftlich aufgezeichnet.

[56]

Es erschien ihm nehmlich im Traume ein Mann von gewöhnlicher Gestalt und Kleidung, welcher ihm sagte: daß er sich etwas von ihm ausbitten möchte, und daß er nach seinem Gefallen Eins von Beiden wählen könnte,– entweder seine vergangenen oder künftigen Schicksale sich der Reihe nach vorgestellt zu sehen. Die Zukunft, erwiederte Seckendorff, wolle er Gott überlassen; aber angenehm würde es ihm seyn, wenn er noch einmahl sein ganzes vergangenes Leben wie in einem Gemählde vor sich sehen könnte. Sein Wunsch wurde ihm sogleich gewährt. Der erschienene Mann gab ihm einen Spiegel, und hierinn erblickte er nun die Scenen seines vergangenen Lebens, deren er sich im Wachen kaum mehr bewußt war, mit einer Deutlichkeit und Lebhaftigkeit vor sich, als wenn sie den Augenblick erst geschehen wären. Er sah sich als ein Kind von drei Jahren aufs genaueste mit allen Umständen seiner Erziehung. Jede Schulscene mit seinen Erziehern, jede verdrüßliche Begebenheit, die er in seiner Jugend erlebt hatte, ging in dem Spiegel lebhaft vor seinen Augen vorüber.

Bald darauf stellte ihm der Zauberspiegel in der Folge seines Lebens auch seinen Aufenthalt in Italien vor. Dort hatte er eine Geliebte zurückgelassen, die er gewiß geheurathet haben würde, wenn ihn nicht sein Schicksal aus Italien gerufen hätte. Dieses Frauenzimmer erblickte er auch während seines Traums auf einem Bette liegend. Sie winkte [57]ihm freundlich zu, und er näherte sich ihr. »Wir müssen uns trennen, sagte sie; aber nicht lange, lieber Seckendorff, – denn ohne Sie kann ich nicht lange seyn! jetzt aber müssen Sie mich auf einige Augenblicke verlassen!«

Ein Liebhaber ist auch im Traume gegen seine Göttin erstaunlich artig und gehorsam. Seckendorff ging sogleich aus dem Zimmer, als er aber einige Minuten nachher wieder hereintrat, lag sie weit schöner und einer Verklärten gleich, auf dem Bette. An ihren Füßen that sich jetzt ein Vorhang auf, hinter welchem Seckendorff einen unbeschreiblichen Glanz hervorstrahlen und sich eine Menge schöner und verklärter Geschöpfe bewegen sah, welche ihm alle sehr vergnügt zu seyn schienen. Sein Auge wurde von dem Zauber ihrer Schönheit ganz verblendet. Eine von diesen verklärten Schönen faßte endlich seine Geliebte bey der Hand, zog sie mit sich fort, der Vorhang fiel nieder, – und er erwachte.

Bald nachher schlief Herr von Seckendorff wieder ein. Der nehmliche Mensch, welcher ihm den Zauberspiegel gegeben hatte, erschien ihm noch einmahl, und fragte ihn: ob er mit dem, was er ihm gezeigt habe, zufrieden sei, und ob er auch noch einmahl die Menschen, welche er in seinem Leben gekannt, zu sehen wünschte? Seckendorff erwiederte, daß ihm dieß Vergnügen verursachen würde, und erhielt nun aufs neue einen Spiegel, indem er würk-[58]lich alle seine Bekannte, todte und lebende der Reihe nach, aber mit dem Unterschiede vorübergehen sah, daß die noch lebenden Glücklichen seiner Bekannten ihn alle freundlich ansahen und stehen blieben; diejenigen aber, von denen er schon wußte, daß sie unglücklich und mißvergnügt lebten, alle mit der Hand vor den Augen schnell, ohne sich umzusehen, in dem Spiegel vorübergingen. Ihnen folgte noch eine Anzahl, welche gleichfalls die Hand vors Gesicht hielten, von deren unglücklichen Schicksalen er aber keine Kunde hatte. (Er schrieb hernach an mehrere von diesen Letztern seinen Traum, und erkundigte sich nach ihren jetzigen Lagen, welche auch alle richtig mit seinem Traumgesicht übereintrafen.)

Die Verstorbenen, die er in diesem Spiegel sah, hatten eine ganz eigene und einförmige Kleidung, blieben einige Augenblicke vor ihm stehen, und winkten ihm freundlich mit der Hand zu. Einige aber schwanden, die Hand vor ihre Augen haltend, blitzschnell vorüber, doch so, daß er sie erkennen konnte. Dieses war ihm das Schrecklichste bei seinem Traume gewesen, und er brach immer, wenn er auf diesen Punkt kam, schnell in seiner Erzählung ab, so wie er überhaupt den ganzen Traum nicht leicht ohne einige Herzensrührung und ohne Thränen erzählen konnte.

Jetzt wachte er zum zweitenmahl auf. Seine innere Bangigkeit, die er fühlte, trieb ihn aus dem Bette, er ging ans Fenster und suchte sich zu zer-[59]streuen. Es schlug eben drei Uhr, und er legte sich etwas beruhigt wieder nieder. Dießmahl nahm seine Phantasie eine andere Richtung, er dachte jetzt im Traume über seinen Traum nach, und verfertigte im Schlafe folgendes Gedicht,*) 2 welches er [60]auch zugleich componirte. Er erwachte aufs neue, stand auf, ließ sich Licht bringen, und schrieb den ganzen Traum, nebst dem Gedicht und der Composition noch in der nehmlichen Nacht auf, wie es im October des Merkurs 1784. steht. d

Ich kann in dem uns mitgetheilten sonderbaren Traum des Herrn von Seckendorff eben nicht viel Sonderbares finden, außer, daß er im Schlafe ein würkliches e Gedicht, und noch dazu eine Composition desselben machte, wovon aber doch auch in der psychologischen Geschichte der Träumereien mehrere Beispiele vorkommen. Was war natürlicher, als daß einem Manne, der gewiß oft über die Reihe seiner Schicksale nachgedacht hatte, auch sie wohl einmahl noch ganz wie in einem Spiegel zu überschauen wünschte, im Traume ein anderer mit einem Spiegel erschien, und ihm darin die Folge seines Lebens vermöge seiner lebhaften Einbildungskraft deutlich sehen ließ? Es ist bekannt, daß diese Seelenkraft im Schlafe, wenn unsere Sinnen ruhen, und sie ungestöhrt und ganz allein würken kann, oft mit der größten Lebhaftigkeit uns an Begebenheiten erinnert, die wir lange schon vergessen hatten. Es war also eine gewöhnliche und natürliche Folge dieser Lebhaftigkeit, daß er sich als ein Kind in dem Spiegel mit einer Menge von Umständen wiedererblickte, die er schon längst vergessen haben konnte, – und was war vollends natürlicher, als daß man seine ehemalige Geliebte auf ei-[61]nem Bette liegen sieht? – Wie oft mochte der Herr von Seckendorff, da er sich von ihr trennen mußte, daran gedacht haben, daß er sie gewiß einmahl als einen verklärten Engel wiederfinden würde, dergleichen Ideen sind ohnedem schon einer Dichterseele sehr geläufig und natürlich, – so sah er sie in seinem Traum, und dieß ging nach den Gesetzen der Einbildungskraft eben so natürlich zu, als daß er in seinem zweiten Traum, welcher eine Fortsetzung des erstern war, alle seine Bekannten wiedererblickte. Die Unglücklichen unter ihnen sah er die Hand vor die Augen halten, weil er sie wohl oft in dieser Stellung, welche gemeiniglich ein Ausdruck unseres Schmerzes ist, beobachtet hatte, oder weil auch noch lebhafte Eindrücke von dergleichen Bildern und Kupferstichen in seiner Seele vorhanden seyn mochten, die sich mit der Vorstellung ihres Unglücks durch die Ideenassociation verbanden. Sonderbarer als alles Vorhergehende scheint die Bemerkung zu seyn, daß einige, von deren Schicksalen er nichts wußte, gleichfalls mit der Hand vorm Auge vorübergingen, und daß er nach genauer Erkundigung würklich erfuhr, daß sie unglücklich lebten, allein wie zufällig konnte auch dieß zugehen, und wie viele seiner Bekannten konnten sich unglücklich zu seyn einbilden, ob sies gleich nicht waren.

Durch eine natürliche Folge seiner Ideen, wobei seine Phantasie immer ein gemeinschaftliches Endziel hatte, sahe er nun auch seine verstorbenen [62]Bekannten und Freunde. Ein Theil derselben winkte ihm freundlich zu, ein anderer Theil lief blitzschnell, die Hand vor die Augen haltend, vorüber, – eine offenbare Wiederhohlung des ersten Traums! Seine Seele dachte gewiß auch im Traume daran, ob jene alle jenseit des Grabes glücklich seyn würden, und sein erster Traum mußte ihn auf die Idee bringen, daß sie es nicht alle seyn könnten. Er sah sie in der nehmlichen Stellung, wie die erstern, die Hand vor dem Auge, und dieser Theil seines Traums mußte ihm denn freilich schrecklich vorkommen, weil er ihn für eine Revelation über den unseeligen Zustand seiner verstorbenen Freunde zu halten schien. Ganz mag er auch das Lied nebst seiner Composition wohl nicht so geträumt haben, wie es gedruckt ist, wenigstens hat es im Wachen erst seine Feile erhalten.

P.

Fußnoten:

1: *) Starb als Königl. Preuss. Gesandter an den fürstlichen Höfen des Fränkischen Kreises zu Anspach, und war 1744. zu Erlangen geboren. Viele Liedercompositionen und Gedichte von ihm stehen im deutschen Merkur. a S. seine übrigen Schriften in Meusels gel. Deutschland. b

2: *) Holde, süße Phantasei!
Immer würksam, immer neu.
Dank sei deinen Zauberbildern,
Die mein hartes Schicksal mildern!
Dank dir, daß mir deine Kraft
Freude noch zum Leben schaft!
O! wie manchen langen Tag
Irr' ich deinem Blendwerk nach!
Im Vergangenen verlohren,
In der Zukunft neu gebohren,
Wachend, träumend, dort und hier!
Folg ich immer freudig dir.
Ein Gesicht verschwindet kaum,
Winkt mir schon ein neuer Traum,
Sink' ich kraftlos und beladen.
Reichst du mir den goldnen Faden,
Der mein traurendes Gemüth
Sanft zu dir hinüber zieht.
Holde, süße Phantasie!
Täuscherinn! verlaß mich nie!
Nur im Kreise deiner Kinder
Eilt die Zeit mir hin geschwinder,
Weiche nimmermehr von mir!
Auch im Tode folg ich dir. c

Erläuterungen:

a: Der Teutsche Merkur 1778-1785.

b: Meusel 1784, S. 517.

c: Die Geschichte von Seckendorfs Traum erschien vor dem MzE-Beitrag im Journal von und für Deutschland (Anonym 1785), und mit Bezug darauf auch in Chronik für die Jugend (Anonym 1786). Der Herausgeber des Journals, Siegmund Freyherr von Bibra, merkte in einer Fußnote an, dass er für "die Gewißheit dieser Nachricht [...] nicht stehn kann". Auf Befragung wüsste der Bruder Seckendorfs nur durch die Erzählungen anderer von dem Traum und er habe nichts unter den Papieren des Verstorbenen vorgefunden (S. 370).

d: Im 4. Vierteljahresheft des Teutschen Merkurs vom Oktober 1784 erschien Seckendorfs Komposition 'Zum Abschiede', S. 288. Zum Thema passt eher 'Antwort im Traume', im 1. Vierteljahresheft 1785, S. 289 erschienen.

e: Korrigiert im Druckfehlerverz. MzE V,3,[125].

4.

Stärke der Einbildungskraft.

St--

Vor einigen Jahren waren zu ... in Westphalen mehrere Prediger auf einem Convent zusammengekommen. Einer von ihnen verließ einige Minuten die Gesellschaft, um vor sich im Stillen über etwas nachzudenken, und wählte dazu eine nahelie-[63]gende Allee, in welcher ihn seine Confraters bedächtig auf- und niedergehen sahen. Einer unter ihnen ein lustiger Kopf, beschloß einen Spaß mit ihm zu machen, welchen er auch sogleich ausführte, und der darin bestand, daß er sich hinter ein Gesträuch an der Allee versteckte, und wie jener vorbei kam, ihm mit einer dumpfen Stimme zurief: Bestelle dein Haus, denn du mußt sterben! Der Wanderer ging vorüber, ohne merklich erschrocken zu scheinen. Er kehrte um, und die hohle Stimme des Spaßmachers ließ sich noch einmahl hören, und endlich zum drittenmahle. Es ist gut, antwortete der auf- und niedergehende Prediger, als ihm jener Ton noch einmahl entgegenkam, den er bei einer dreimahligen Wiederhohlung endlich für eine würkliche göttliche Stimme, und für ein deutliches Omen seines nahe bevorstehenden Todes betrachtete.

Er kam in die Predigergesellschaft merklich verändert zurück. Sein Gesicht war leichenblaß, er sprach nicht mehr, und schien äußerst bedächtig zu seyn. Die Gesellschaft erkundigte sich nach der Ursache seines jetzigen finstern in sich gekehrten Betragens, und erfuhr von ihm zum größten Erstaunen, daß sein Ende nahe sei, weil er eine außerordentliche Stimme darüber vernommen habe. Seine Collegen fingen laut zu lachen an, verwiesen ihm seine Leichtgläubigkeit, und entdeckten ihm den ganzen Handel. Allein – vergebens. Der Prediger glaubte nun einmahl, daß jene Stimme vom Him-[64]mel gekommen sey. – Man machte die ihm vorgesprochenen Worte genau nach, nannte ihm die Zeit, den Mann, der mit ihm seinen Scherz getrieben habe; alles half nichts. Der Prediger hielt alles dieß für erfundene Kunstgriffe, ihn von seiner Meinung zu befreien, blieb dabei, daß er gewiß bald sterben werde, – – – und wurde in kurzer Zeit auch würklich ein Opfer seiner Einbildung*) 1.

St--

Fußnoten:

1: *) Ich glaube, daß man in der That mit solchen Späßen, dergleichen man dem Prediger spielte, äußerst behutsam verfahren müsse. Unsere einmahl verschrobene Phantasie nimmt selten Vernunftgründe an, womit man sie heilen will; und man weiß, zu welchen Ausschweifungen sie vornehmlich Hypochondristen verführen kann.
Man hat sehr viele Beispiele, daß Leute blos dadurch sich ihren Tod zugezogen haben, weil sie ihn sich einbildeten. Sie glaubten irgend eine Ahndung, einen Traum davon gehabt zu haben. Noch vor wenigen Jahren starb hier in Braunschweig ein Prediger, wahrscheinlich an eben einer solchen Phantasie. Er kündigte mehrere Jahre vorher seinen Freunden seinen Tod an, ob er gleich ganz gesund war, hielt einige Zeit vorher öffentlich eine Abschiedsrede an seine Gemeine, und starb endlich würklich um die vorhergesagte Zeit. Von diesem Vorfall werde ich in einem der nächstfolgenden Stücke mehrere Nachricht geben.
D. H.

[65]

5.

Fortsetzung der Fragmente aus dem Tagebuche des verstorbenen R...

R***

(S. Moritz Magaz. 4ter B. 3tes St. S. 33, fgg.)

Daß ich von einem Laster zurückkam, welches meinen Körper sowohl als meinen Geist zerrüttete, dies hatte ich großentheils meiner erlangten bessern Einsicht von der Natur und Folgen des Lasters und aufgeklärtern Begriffen von Tugend und Religion zu verdanken. Doch kann ich nicht läugnen, daß hiezu auch Liebe zu einem Mädchen das Ihre beitrug. In meiner Nachbarschaft wohnte ein Mädchen, das ich öfters zu sehen Gelegenheit hatte, und das mich Neuling in der Liebe durch ihre Reitze ganz einnahm. Ich hatte sie nie gesprochen, aber ihre sanften Züge schienen mir Unschuld der Sitten, zartes Gefühl für Tugend, Sanftmuth der Seele zu verrathen. Ich schuf mir nach meinem Gutbefinden, und so wie es mein Interesse foderte, ein Ideal meiner Einbildungskraft, und diesem gab ich des Mädchens Namen. So oft ich bei ihrem Hause vorüberging, machte ich, wenn sie am Fenster stand, eine Verbeugung, und wenn sie diese etwas höflich erwiederte, glaubte ich schon darin ihre Liebe, ihre Sympathie mit mir, ihr Schmachten nach mir zu lesen. Kurz, ich bildete mir ein, ihr Herz müßte gerade so stark für mich, als das meinige für sie, schlagen. [66]Zu furchtsam mich ihr zu entdecken, dachte ich weiter nicht auf Gelegenheit sie näher kennen zu lernen, sondern lebte der Zuversicht, für einander geschaffne Seelen fänden sich schon von selbst. Indeß sprach ich mit ihr auf meinen einsamen Spaziergängen, ohne sie bei mir zu haben, ich schrieb Briefe an sie, ohne sie abzuschicken, setzte meine Empfindungen auf, die mir beim Spazierengehen einfielen, und zerriß sie wieder. Kurz, ich liebte einen Schatten, ein Bild, das sich meine Einbildungskraft mit allen Farben der weiblichen Tugend, nach meinen damaligen freilich sehr eingeschränkten Begriffen davon, ausmahlte. Ich verließ das Gymnasium und die Stadt, ohne den Gegenstand meiner Liebe gesprochen zu haben. Ich hatte doch den Vortheil von meiner Leidenschaft für dieses Mädchen, daß meine Triebe eine andre Richtung bekamen, daß mir mein voriges Laster immer abscheulicher wurde; denn um ihr zu gefallen, lebte ich so ordentlich, daß ich glaubte, ihr vor jedem meiner Gedanken und Handlungen Rechenschaft geben zu müssen. Sie war also in allem Betracht mit eine Ursache zu meiner Genesung, ich wurde dadurch wieder ein Mensch, und zwar ein vernünftiger Mensch. Jene Empfindungen der Theilnahme an der menschlichen Gesellschaft wachten in mir wieder auf, und machten mich mehr als bisher gesellig.

Ich bezog die Universität, und mit dieser Veränderung meiner Lage änderte sich denn auch meine [67]ganze Denkungsart. Die schwachen Spuren der vormaligen Leidenschaft wurden durch die Zeit ausgetilgt, und ich lag die ganze Zeit meiner akademischen Laufbahn den Studien ob, ohne je wieder in Versuchung zu kommen, mich zu verlieben. Aber die Liebe war deswegen nicht aus dem Herzen des Jünglings entflohen, die vorigen Triebe schlummerten blos eine Zeitlang, und wurden durch andre entgegengesetzte stärkere geschwächt und zurückgehalten. Es war einer Stunde oder vielmehr einem Augenblick vorbehalten, meine Leidenschaft wieder anzufachen.

Ich kam, nachdem ich ausstudirt hatte, zu dem würdigen Mann in Condition, der mich auf Schulen und Universitäten von Zeit zu Zeit mit Geld unterstützt hatte. Hier fing ich erst wieder an meines Lebens recht froh zu werden, hier erhub sich der Geist wieder einigermaßen, der bisher von der Armuth und Sorgen, mit denen er unaufhörlich zu kämpfen hatte, darniedergedrückt worden war. Ich hatte einen Winter bei ihm und seiner Familie – den ersten meines Lebens, den ich ohne Harm und Kummer verlebte – zugebracht. Die Ankunft des Frühlings, dessen Schönheiten ich aus natürlichen Gründen noch nie so wie itzt empfunden hatte, und ein benachbartes ländliches Fest ruften uns nach L... Wir zogen alle, Alt und Jung, dahin, und freuten uns unterwegs der Natur und ihrer Herrlichkeit. Die Alten giengen Hand in [68]Hand, und die Kleinen hüpften froh um uns herum, und sprangen über Berg und Thal. Nur ich hatte ganz andre Empfindungen, als jene. Ich ward still und traurig, aber so, daß ich himmlische Wonne in dieser traurigen Stimmung genoß. Ich hätte gleich, ohne zu wissen warum, weinen mögen, mußte aber die Thränen unterdrücken. Ich fand ein Sehnen in meinem Herzen, ein Verlangen, das ich mir nicht zu nennen wußte. Es war eine Zeit der Empfindung, die uns, glaub ich, nur einmahl in unserm Leben zu Theil wird. Man ist so ganz der gefühlvolle Jüngling, ist so ganz von unaussprechlichen Gefühlen durchdrungen, daß nichts seeligers gedacht werden kann, es ist einem so wohl und so weh, so weh und so wohl! Dies war jetzt mein Zustand, als ich durch eine plötzliche Erscheinung aus meinem Traume erwachte. Wir waren während, daß ich der Gesellschaft nachging, bis ans Ende des kleinen Wäldchens gekommen, an dessen Ausgang wir in ein Thal hinabsahen, das uns auf einmahl die reitzensten Scenen, die der Wald bisher vor unsern Augen verborgen hatte, darstellte. Schon sahen wir das kleine, aber niedliche Landhaus, das uns heut beherbergen sollte, und bald darauf erblickten wir von weitem die Familie jenes Hauses, die uns entgegen kam. Ein alter ehrwürdiger Greiß, seine Frau, und eine Muhme, die sich bei den kinderlosen Alten aufhielt, und die einzige Freude ihres Alters war, empfingen uns. Deutscher [69]Biedersinn, Rechtschaffenheit, Vertraulichkeit und glückliche Einfalt der Sitten zeichneten diese würdige Familie aus. Schon im voraus kam ich durch die Schönheit der lachenden Gegend, deren Bewohner ich mir nicht anders als ͷαλͼύς νάι αγαδͼύς denken konnte, mit dem besten Vorurtheil hieher, und meine Erwartung ward nicht getäuscht. Ob das Mädchen, liebevoll, sanft und blühend wie die ganze Natur, Eindruck auf mich machte? Meine Seele war durch die Scenen dieses Tages schon so sehr zu sanften Empfindungen gestimmt, daß es nur dieses Gegenstandes bedurfte, um mich auf einmahl zum feurigsten Liebhaber zu machen. Diese Liebe war unschuldig, und machte in der Folge das Glück meines Lebens.

6.

Einzelne psychologische Beobachtungen und Bemerkungen, zu weiterm Nachdenken aufgesetzt.

Pockels, Carl Friedrich

Jemehr unsere Leidenschaften aufgebracht sind, destomehr gefällt es uns, wenn sie andere billigen. Auffallend ist diese Bemerkung vornehmlich bei dem Zornigen. Der ist uns alsdenn besonders willkommen, welcher uns Recht giebt, und wir können [70]durch einen Zuwink, den wir erhalten, leicht zu Freunden des unsern Zorn billigenden gemacht werden. Weil unsere Eitelkeit gemeiniglich mit bei unserm Zorne interessirt ist, und weil wir nicht selten uns mitten in unserer Hitze etwas zu vergeben glauben; so muß es uns allerdings sehr angenehm seyn, wenn ein Anderer unsere Parthie nimmt, und uns vor den ahnenden Gedanken sichert, als ob wir in den Augen Anderer durch unsern aufgebrachten Muth verlieren würden.

Unser Zorn nimmt gemeiniglich in dem Maße zu, als der andere, den er betrift, kaltblütig und gleichgültig bleibt. Dies kommt wahrscheinlich daher, weil wir dadurch von ihm überwunden zu werden fürchten, weil jener uns zu verachten scheint, und weil überhaupt jede Gleichgültigkeit gegen unsre Leidenschaften etwas Unausstehliches für uns hat.


Viele Leute, die sonst eben nicht sehr gesprächig und lebhaft sind, oder sich darin einzuschränken wissen, wenn sie in eine Gesellschaft kommen, werden von einer ganz ungewöhnlichen Lebhaftigkeit und Sprachseligkeit überrascht, wenn sie das erstemahl in ein fremdes Haus introducirt werden. Ihre Zunge läßt die Anwesenden nicht zu Worte kommen, und nicht selten wird der angestrengtere Ton ihrer Stimme jenen sehr lästig, ohne daß diese es merken. Die Neuheit der Gegenstände kann viel [71]zu jener Lebhaftigkeit beitragen; allein, ich erkläre sie mir mehr aus einer versteckten Neigung gefallen und unterhalten zu wollen.


Es giebt wenige Menschen, – das delikate weibliche Geschlecht nicht ausgenommen, wenn es gleich oft eine äußere Schamhaftigkeit affektirt, – welche nicht an verschiedenen schmutzigen Ausdrücken einen, – wenigstens heimlichen Gefallen haben sollten. Der Witz der Kinder fängt sich hieran gemeiniglich zu üben an, und ich habe manchen hochgelahrten Mann gekannt, welcher darin Meister war; sonderlich wenn die Tafel – zu Ende ging. Aber woher jene geheime Neigung des Menschen zu schmutzigen Ausdrücken? Man muß mehrere physische und moralische, – oder besser, unmoralische Ursachen zusammennehmen. Oft kann uns schon die lächerliche Aufmerksamkeit Anderer, die gleich aufhorchen, sobald etwas Schmutziges gesagt werden soll, dazu anreitzen; noch öfter aber liegt der Grund der Anreitzung in dem Lächerlichen, welches ein schmutziges Wort, ein schmutziger Gedanke in sich schließt, obgleich der Grund des Lächerlichen nicht immer nach psychologischen Regeln angegeben werden kann. Manchmahl kann uns auch das lästige Gefühl eines Verbots, wovon wir uns so gern befreien, zu jenen Ausdrücken leicht verführen.

[72]

Die D. G., ein Weib von sehr lebhaftem Geiste und ausgebildeten Verstande, kann sich keinen ihrer entfernten Freunde vorstellen, wenigstens ist nur ein äußerst dunkles Bild von ihnen in ihrer Seele vorhanden; lebhafter und viel deutlicher hingegen kann sie sich Leute vorstellen, welche ihr vollkommen gleichgültig sind, auch nur von diesen, und nicht von jenen, pflegt sie zu träumen.


Es ist uns oft im Traume schlechterdings nicht möglich eine angefangene Handlung zu Ende zu bringen, die doch sonst ohne alle Schwierigkeit zu seyn scheint. Es quält uns, daß wir zaudern müssen, a wir entdecken keine Ursache davon, und doch scheinen uns, vermöge eines dunkeln Gefühls, eine Menge Hindernisse im Wege zu liegen. Man will auf die Kanzel steigen; aber in dem Augenblick sehen wir, daß wir noch keine Beinkleider anhaben; man will das vorzulesende Evangelium suchen; – allein es ist nirgends zu finden; man will ein Thema wählen – aber es will uns keins einfallen. So findet der Verliebte oft in der Gegenwart seines Mädchens unübersteigliche Hinderniße, sie zu umarmen, die ihm im Wachen nimmermehr einfallen würden. Warum scheint hier das Handlungssystem der menschlichen Seele zu stocken, einen heterogenen Gang zunehmen, warum handelt sie nicht so, wie sie auf die natürlichste Weise im Wachen [73]handeln würde, wenn alle Umstände so wie im Traume gereihet und gestellt wären? Es lassen sich gewiß hievon mehrere psychologische Gründe angeben, und vielleicht wäre es besser, jeden einzelnen Fall einzeln, als nach allgemeinen Regeln zu beurtheilen. Der vornehmste Grund hievon, so wie überhaupt aller Bilder und Handlungen, die uns im Traume vorkommen, liegt in der Stärke einer unwillkürlichen Ideenassociation. Wir werden alle Augenblicke zu Nebenbildern unserer Phantasie hingerissen, und selten geschieht eine Handlung im Traume, die einige Weile erfodert, nach ihrer ganzen natürlichen Folge, die sie im Wachen haben würde. Oft kann aber auch gerade eine gewisse Mittelidee fehlen, ohne welche in der Handlung des Träumenden nothwendig eine Lücke entstehen muß, wodurch die natürliche Folge der Handlung unterbrochen wird, die wir im Wachen, weil uns jene Mittelidee gegenwärtig war, richtiger beobachten würden. Sollte nicht auch bisweilen ein dunkles Gefühl des Träumenden, daß sein Körper ruhet, nicht den völligen Entwickelungen seiner Plane hinderlich seyn?


Daß die menschliche Seele oft an ihrem eigenen Kummer einen Gefallen findet, ihn lieber zu haben, als nicht zu haben wünscht, [74]lehrt die tägliche Erfahrung. Aber wie ist dieses Phänomen zu erklären, da wir sonst natürlicherweise nichts wollen, als was uns Vergnügen macht? – sollte es nach Home b würklich Triebe zu Handlungen in uns geben, die vom Vergnügen oder Mißvergnügen gänzlich unanbhängig sind? – Ich glaube nicht. Unsere Seele befindet sich, wenn sie einen Gefallen an ihrem eigenen Leiden findet, in dem Zustande gemischter Empfindungen. Es schmeichelt ihrer Eitelkeit, ihren Begriffen, die sie von Duldung, und vornehmlich von der Wichtigkeit des Gegenstandes hat, um dessentwillen sie leidet; auch das dunkle Gefühl, wie wohl ihr seyn wird, wenn ihre Leiden sich endigen werden, Zurückerinnerung, wie wohl ihr dabei schon mehrmahls zu Muthe gewesen ist, kann es verursachen, daß sie den Kummer haben will. Man setze: in diesem gemischten c Empfindungszustande wären die angenehmen mit dem würklichen Schmerzensgefühl verbundenen Vorstellungen a + b + c + d. u.s.w., und diese würkten mit einer Lebhaftigkeit = A auf die Seele; die unangenehmen Ideen wären aber entweder kleiner als a + b + c + d, oder ihre Lebhaftigkeit und Stärke = B wäre kleiner als A, so wird zwar die Seele immer noch ein starkes [75]Gefühl dieser unangenehmen Ideen behalten; aber sie wird sie nicht wegwünschen, weil sie mit a + b + c + d der angenehmern und mit der Lebhaftigkeit A verbunden sind. Ist der Fall umgekehrt, so ists begreiflich, daß die Seele sich auf die andre Seite neigen und ihren Kummer nicht länger wünschen wird. Man lese hierüber das d nach, was Feder in seinen Untersuchungen über den menschlichen Willen I Th. pag. 466 sq. mit der ihm eigenen Deutlichkeit und Beobachtungsgabe gesagt hat. e

Erläuterungen:

a: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

b: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

c: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

d: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

e: Feder 1779-1793, Erster Theil, Kapitel V, Abschnitt 119 'Ob der Mensch die Begierde nach Schmerz haben könne, und Neigung sich selbst zu quälen', S. 466-471.

[76]

Zur Seelenzeichenkunde.

- A - J - K - Bekenntnisse.

- A - J - K -

Ich glaube, daß viele Leser des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde in diesen Bekenntnissen frappante Züge ihres eigenen Herzens antreffen werden. Sie sind mit gewissenhafter Ehrlichkeit und Wahrheitsliebe geschrieben, und rühren von einem aufgeklärten Manne her, den ich aber nicht nennen darf, weil er sichs ausdrücklich verbeten hat; – errathen wird ihn gewiß niemand.

Aufsätze dieser Art, welche den Menschen mehr im gesunden Zustande seines Denkens und Wollens darstellen, uns nicht blos gewöhnliche Seelenkrankheiten schildern, woraus bisher so wenig erhebliche Resultate für die Psychologie in unserm Magazin gezogen werden konnten, sollen uns künftig besonders willkommen seyn.

Wenn in jenen Krankheitsgeschichten der menschlichen Seele nicht zugleich ihre eigentümliche auf die Natur unserer Vorstellungen gegründete Heilart mit angegeben wurde, wenn man dabei nicht aufmerksam auf den würklichen Ursprung, auf die Analogie, auf den sonderbaren [77] Zusammenhang dieser und jener stätigen oder unterbrochenen Ideenreiche eines Wahnsinnigen oder andern Seelenkranken war, woraus gewisse neue oder noch nicht genug ins Licht gestellte psychologische Wahrheiten erlernt werden konnten; kurz, wenn sie nicht mit dem philosophischen Geiste geschrieben waren, mit welchem uns der Herr Hofrath Marcus Herz seine sonderbare Krankheitsgeschichte im zweiten Stück des ersten Bandes der Erfahrungsseelenkunde, Seite 44 u.s.w. geschildert hat; so konnten sie wohl für die Wissenschaft nicht von großem Nutzen seyn. – – – Doch hier sind die Bekenntnisse.

P.


Eine meiner Hauptleidenschaften, mit der ich zu kämpfen habe; – aber nicht gerne kämpfe, die mich oft unendlich glücklich, noch öfter aber unbeschreiblich unglücklich macht, – ist Ehrgeitz, Sucht nach Beifall, Eitelkeit.

Ich fühle in dem Augenblick ein unnennbar süßes Vergnügen, wenn man mich vorzieht, wenn ein angesehener Mann mit mir in Gesellschaft spricht, wenn man mich mit Aufmerksamkeit anhört, wenn ein Zweiter, Dritter, Vierter meinen Behauptungen, (denen ich oft den Anstrich des Paradoxen zu geben suche,) nachgiebt, nichts mehr darauf zu antworten weiß; wenn ich einem Andern einen Sieg der Vernunft über den Glauben abgewinnen kann; – ein inneres Gefühl von Denkkraft [78]und Selbstzufriedenheit, das ich keinem beschreiben kann. Die ganze Welt wird ein Paradies um mich her, ich fühle mich zu allem Guten stark, ich könnte alles andere verläugnen, wenn nur jene meine ehrgeitzige Leidenschaft genährt und gesättigt werden kann; aber ich gerathe in eine demüthigende Kleinmuth, in einen unglücklichen Zwist zwischen natürlicher Menschenliebe und Menschenhaß, meine liebsten Freunde werden mir unerträglich, wenn man mich verkennt. Schon dadurch bin ich mehr als einmahl in eine innere Wuth gerathen, wenn keiner auf mich Acht gab, wenn ich meine Worte in den Wind sprach, wenn die Gesellschaft sich um einen andern herumdrängte, seine Aussprüche bewunderte, belachte, beklatschte und mich gleichsam ganz vergaß. Oft hab ich mich dann in den entferntesten Winkel der Stube gesetzt, und fest beschlossen, die Menschen auf immer zu fliehen; allein eben die Leidenschaft, die mir dies eingab, trieb mich auch wieder zu ihnen hin, weil ich mir das Gefühl, sich allein zu bewundern, bei allem meinen Ehrgeitze für das armseligste Ding von der Welt hielt.

Ich schätze große Männer, erleuchtete Köpfe unendlich; aber ich kann sie nie ohne Zwang meines Herzens loben, und noch unausstehlicher wird mir oft das Lob, welches ihnen Andere ertheilen. Ich empfinde dabei nicht selten einen unwiderstehlichen Ekel, der mich Stundenlang unglücklich macht; ich wünsche, daß der Lobredner mit sammt seinem [79]Helden nicht existiren möge, ich habe manchem hochgerühmten Mann schon den Tod gewünscht, und habe die Nachrichten von seinen Krankheiten mit einer süßen heimlichen Freude angehört*) 1.

Neid ist gemeiniglich, oder ich will lieber sagen, allemahl der Sohn einer heftigen unregelmäßigen Selbstliebe; es giebt und kann keinen Menschen geben, der von jener Leidenschaft ganz frei wäre, weil jeder Mensch einen Trieb zum Mehrhaben besitzt, und doch kann ich betheuren, daß ich keinen Menschen beneide, welcher auf eine andere Art, als durch Gelehrsamkeit mehr als ich ist. Reichthum, glänzende Bequemlichkeit, sinnlicher Genuß, äußere Pracht, hohe Ehrenstellen, schöne Weiber, – alle diese Dinge haben meinen Neid nie erregt; aber der Gedanke, daß Andere viel mehr als ich wissen, daß ich ihnen nicht nachkommen werde, daß mein Name unter der Menge der Ihrigen vielleicht ewig vergessen wird, liegt oft wie ein Gebürg auf meiner Seele, und verscheucht gleich einem boshaften Dämon die süßesten Freuden meines Lebens.

Von jener Leidenschaft des gelehrten Neides angespornt, mache ich mir oft ein heimliches Vergnügen, die Unvollkommenheiten und Schwächen in den angebeteten deutschen Dichtern und Pro-[80]saisten aufzusuchen, und über sie im Stillen oder in Gegenwart eines Freundes ein unbarmherziges Gericht zu halten. Meine Critik trift vornehmlich die, welche sich – so mittelmäßig sie auch immer seyn mögen – sich (vielleicht durch ihre Mittelmäßigkeit allein) sehr berühmt gemacht haben. Es kostet mir Mühe und Ueberwindung, ihre Blößen nicht öffentlich aufzudecken, und ich kann mich im Voraus schon herzlich auf ein künftiges Zeitalter freuen, welches ihnen die Larve kühn vom Gesicht reißen, und sie der Geißel der Critik übergeben wird.

Gegen diejenigen Menschen, welche mich auf irgend eine Art vorzuziehen scheinen, fühle ich eine unbegränzte Zärtlichkeit meines Herzens. Ich könnte mich für sie ganz aufopfern, ganz für sie leben; meine Dankbarkeit gegen sie erwacht mit mir des Morgens, und ist mein letzter Abendgedanke; ich kann ihnen nichts abschlagen, sie beherrschen mich, und erst der Tod wird meiner unermüdeten Dienstfertigkeit gegen sie ein Ende machen. Wenn ich bisweilen unter dem Gebürge meiner Hypochondrie vergraben liege, wenn ich glaube, daß mich die ganze Welt verlassen und vergessen hat; so eile ich zu diesen mir so schätzbaren Menschen, und hohle bei ihnen Trost gegen den vielfältigen Kummer meines Herzens, dem die Menschen so oft, ach so oft! wehe gethan haben. Ihr freundlicher Blick gießt neues Leben in meine Seele, – ich fühle mich [81]wieder beruhigt; – denn diese wenigstens verachten mich doch nicht.

Hierin liegt eigentlich der psychologische Grund meiner unauslöschbbaren Zuneigung gegen das andere nachgebendere Geschlecht. Es hört mich aufmerksamer an, es bleibt nicht, wie die kalten Männer, taub und stumm bei meinen Klagen, es widerspricht mir nicht, wenigstens nicht auf eine so rüde Art, wie jene, nicht mit der imposanten Miene der Rechthaberei und des gelehrten Stolzes – ein Ding, wovor ich den allergrößten Abscheu habe, – sondern es giebt den meisten meiner Gedanken Beifall, es scheint sich zu freuen, wenn es mit mir auf eine schelmische oder auch ernsthafte Art über Gegenstände der Untersuchung streiten kann. Daher auch meine Bereitwilligkeit, mich von ihm belehren zu lassen, mein starker Glaube an die Güte seines Herzens, und seine Tugend, (ob ich mich gleich hierin nicht selten betrogen habe,) und mein Bemühen – aus Dankbarkeit – mich in seine Launen zu schicken, was mir bei meinem Geschlecht fast unmöglich ist. Nichts unterhält aber meine zärtliche Zuneigung gegen dasselbe mehr, als der Umstand, daß ich es nicht in Absicht seiner Kenntnisse beneide, daß ich es darin vielmehr weit zu übertreffen glaube; – aber das unausstehlichste Geschöpf von allen unter der Sonne ist mir ein Weib, welches eine tiefe Gelehrsamkeit affectirt. Eine Minute in ihrer Gesellschaft wird mir zu einer langen [82]Ewigkeit; ich fühle mich dann oft geneigt über eine solche Unnatürliche laut zu spotten; aber mein Unwille fesselt meine Zunge, meine Begriffe verwirren sich, und ich muß mich entfernen.

Noch denke ich mit Schrecken an die Stunde, die ich einst mit einem solchen von Gelehrsamkeit strotzenden Weibe zubringen mußte. Sie rezensirte einen Pindarischen Hymnus, davon eine bekannte Uebersetzung erschienen war; sie sprach von dem Feuer des Poeten, von seiner Versart, von dem griechischen Heldengesange wie ein Professor der morgenländischen Literatur mit einer so abscheulichen Selbstgnügsamkeit, daß ich alle Geduld verlor, und endlich – fortlief, so willkommen mir ein Gespräch über den Pindar mit einem gescheiten Manne gewesen wäre.

Ich habe schon verschiedene Widersprüche in meinem Character flüchtig berührt. So sehr es meinem Herzen schmeichelt, wenn ich von andern vorgezogen werde, so lieb ich die Menschen habe, die dieses thun; so unangenehm ist es mir, wenn man mich ins Gesicht lobt. Meine Verlegenheit dabei hat nicht selten seltsame Rollen gespielt, welche noch mehr dadurch veranlaßt wurden, daß ich nun auch dem andern etwas Schönes sagen wollte, welches mir erstaunlich schwer wird, wenn ich eine Mannsperson vor mir habe. Ich mag es unendlich lieber haben, wenn ich durch den dritten, vierten Mann ganz von ohngefähr erfahre, daß von mir [83]auf eine mir rühmliche Art die Rede gewesen ist, als wenn man mich gerade ins Gesicht lobt; oft bin ich mißtrauisch dabei, ob auch das Lob Wahrheit und nicht Ironie ist; noch öfter glaube ich, daß mein Lobredner mich nicht genug beurtheilen könne, sein Lob thut mir also gewissermaßen nicht Genugthuung, und ich wünschte lieber, daß er ganz geschwiegen hätte.

Noch sonderbarer ist mir aber die Erscheinung in meinem Character vorgekommen, daß ich nicht selten eine Neigung über mich selbst zu spotten empfunden habe. Es sollte mir nicht die mindeste Ueberwindung kosten, die beißenste Satyre auf mich zu machen; aber ich halte dieß doch selbst wieder für Stolz. Es gefällt mir nehmlich, daß ich dadurch einiges Aufsehen, einige Bewunderung über meine seltsame Laune erregen könnte, nicht zu gedenken, daß uns das Lächerliche an uns oft selbst gefällt, und daß ich von Jugend auf die unglückliche Neigung gehabt habe, an jeder Person zuerst das Lächerliche aufzusuchen; – eine Neigung, welche man ja so früh als möglich bei jungen Leuten schwächen sollte, wenn man sie nicht ganz tödten kann.

Ich habe mein Lebtage wenig Freunde im eigentlichen Sinne des Worts gehabt, es ist mir immer nicht sehr natürlich vorgekommen, mehrere Menschen würklich zu lieben, und ich habe diejenigen oft für halb verrückt gehalten, welche jedem ihrer zahlreichen Freunde mit einer Inbrunst um den [84]Hals fallen können, als wenn sie ihr Mädchen umarmten; ich habe sogar diesen Enthusiasten nie recht getrauet, und sie mir so viel als möglich vom Leibe gehalten. – – – Aber die wenigen Freunde meines Lebens habe ich unaussprechlich geliebt. Einige deren sind schon in eine glücklichere Welt hinübergegangen, meine Seele weint noch um sie, und wird ewig um sie weinen, wenn ich sie nimmer wiederfinden sollte. Ihr Tod hat mich auf die Unsterblichkeit der menschlichen Seele wieder sehr aufmerksam gemacht ; eine Lehre, deren Gewißheit ich für die spekulative Philosophie einmahl beinahe völlig aufgegeben hatte, – selbst der Meister in der Kunst, abstracte Wahrheiten auf die liebenswürdigste Art zu versinnlichen, Mendelssohn, schien mir falsche Schlüsse aus noch nicht ganz bewiesenen Theoremen gezogen zu haben.

Die Briefe jener Seeligen sind mir noch jetzt ein sehr werthes und liebes Heiligthum; ich kann sie nie sehen, ohne zu weinen, ich schöpfe aus ihnen Trost gegen meine Leiden, und Belehrung zu meinen Geschäften; eine unbeschreiblich süße Wehmuth überrascht mich dann oft, meine Phantasie führt mich auf ihren Fittigen in eine idealische Welt der Vollkommenheit hinüber, wo ich meine Freunde in dem Schooße eines unaussprechlichen Glückes wiederfinde, und unter ihrer Anführung das Universum durchwandle.–

[85]

Bis in mein vierundzwanzigstes Jahr wurde ich von einer Leidenschaft gefoltert, die – ein Jeder kennt, bei welcher aber tausend weniger furchtsam sind, als ich es war, – von der Liebe. Nach dieser Zeit habe ich fast nichts mehr von ihren Stürmen empfunden, obgleich nicht die mindeste Veränderung in meiner Gesundheit vorgegangen war, ich auch gewiß nicht die Ursache davon, wie Cardan a (in vita propria) b in der Constellation der Planeten suchen konnte, – kurz, ich wurde auf einmahl gegen die Liebe kalt, und mich interessirte nichts weniger in der Welt als ein – Weib.

Nie ist mir bei aller Lebhaftigkeit meines Temperaments und bei einem nicht geringen Maße von Phantasie der Gedanke eingefallen, ein Mädchen unglücklich zu machen, ob mir gleich dazu oft die Gelegenheiten nahe gelegt wurden. Ich gestehe, daß es bei mir nichtsweniger als ein hoher Grad des moralischen Gefühls oder Religion war, welche mich davon abhielt; – diese Bewegungsgründe haben selten stark auf mich in meiner Jugend gewürkt; aber meine Furchtsamkeit, verbunden mit einem erstaunlich zärtlichen Gefühl des Mitleids gegen gefallene Mädchen, ist der Wächter meiner Tugend gewesen. Selbst die freiwilligen und verachtungswürdigen Schlachtopfer unserer Sinnlichkeit sind für mich ein Gegenstand meines herzlichen Mitleids, – und ich denke noch mit Schrecken meiner Seele an ein solches Mädchen, welches in [86]einem Gasthause einer Anzahl Studenten gleich einer Bachantin mit den wollüstigsten Stellungen in die Arme lief, sich auf ihren Schoos setzte, und endlich mit ihnen verschwand. Es hätte mir wer weiß wie viel geboten werden können, ich wäre nicht mitgegangen. Lange Zeit beschäftigte ich mich einst mit einem statistischen Plane, wie alle Mädchen im Lande, um den Ausschweifungen der Jugend Einhalt zu thun, ehrlich verheurathet werden könnten; – allein mein armer Plan war nichts, als – Ideal.

Man sagt, daß Sprödigkeit ein probates Mittel sei, wodurch unsere Schönen nicht selten männliche Herzen zu fesseln wüßten, – und ihr Betragen scheint sich auf den psychologischen Grundsatz zu beziehen, daß das, was uns schwer gemacht wird, unser Verlangen dennoch nur desto mehr reitzt; – allein nie hat Sprödigkeit eines Frauenzimmers obige Würkung, sondern vielmehr das Gegentheil bei mir hervorgebracht. Ich werde gegen keinen Menschen mehr in Harnisch gebracht, als gegen ein sprödes Mädchen, ich habe dabei oft die Gesetze der Höflichkeit übertreten, und habe mich lieber mit einem alten Weibe unterhalten, als jene Närrinn meiner Unterredung zu würdigen. Ich habe daher auch immer gegen verheurathete Frauenzimmer eine stärkere Zuneigung als gegen Mädchen empfunden, weil jene gemeiniglich das zippe und spröde Wesen abgelegt haben, was diesen so oft [87]eigen ist. – Doch hievon noch viel Besonderes im Folgenden.

Religion und Christenthum ist mir auf keine angenehme Art vorgetragen worden, ich mußte ein theologisches Compendium (voll Unsinn) auswendig lernen, mußte des Abends mit meiner Mutter und meinen Geschwistern lange Tischlieder singen, und nichts war daher natürlicher, als daß mir, wie den meisten jungen Leuten, die Religion bis in mein zwanzigstes Jahr ein völlig gleichgültiges Ding war. Hier sind einige Data, wie ich nach und nach darüber zu denken anfing, und welche Wendung meine Religionsbegriffe annahmen.

Mein Vater war ein Mann von vielen theologischen und philologischen Kenntnissen; aber zugleich ein Feind aller Neuerungen in der Religion – nicht grade deswegen, weil er die Bemühungen der neuern Gottesgelehrten, die Religionswahrheiten durch Philosophie und Critik aufzuklären verachtete, sondern weil er glaubte, daß dadurch bei schwachen Leuten dem Unglauben ein neuer Weg eröfnet würde. Bis in mein achtzehntes Jahr glaubte ich alles, was mein Vater glaubte, und ich kann mich nicht erinnern, daß ich damahls gegen irgend einen Glaubensartikel einen Zweifel gehabt hätte, als gegen den von der Ewigkeit der Höllenstrafen, gegen welchen sich mein Gefühl der Menschlichkeit zu laut empörte.

[88]

Ich hatte noch nicht lange die Akademie bezogen, als ich eine kleine gelehrte Gesellschaft errichtete, worin über Gegenstände der Philosophie und Religion disputirt wurde. Mein Ehrgeitz spornte mich an, jedesmahl einen neuen, und wo möglich, ziemlich paradoxen Gegenstand zum Disputieren vorzuschlagen, worauf ich mich schon immer präparirt hatte; daher ich denn gemeiniglich den Sieg davon trug. Meine Disputirsucht nahm täglich zu, ich bemerkte bald in mir eine Neigung alles zu bestreiten. Das Aufsehn, das ich erregte, reitzte mich noch mehr dazu, und nun saß ich ganze Stunden lang, und sann auf allerlei sophistische Einwürfe gegen gewisse einzelne Lehren der Offenbahrung, ob ich gleich an einer Offenbahrung überhaupt nicht zweifelte, nicht weil ich die Sache für demonstrativ gewiß hielt, sondern weil der Einfluß eines solchen Unterrichts aufs Wohl der Menschheit mir ausgemacht schien.

Meine Zweifelsucht wurde täglich größer, und ich fühlte ein gewisses angenehmes und ehrsüchtiges Vergnügen dabei, daß ich mich von einer Menge geglaubter Wahrheiten nicht überzeugen konnte, die meine Lehrer gar nicht bezweifelten.

Aber lange konnte mein Geist in diesem ungewissen Zustande der Zweifelsucht nicht ausdauren, zumahl da ich kein demonstratives System des Scepticismus in der philosophischen Litteratur vorfand, an das ich mich hätte halten können. Ich [89] bemühete mich daher, das wieder nach und nach aufzubauen, was ich bisher eingerissen hatte.

Nächst der Uberzeugung von meiner eigenen Existenz, die mir durch den Beweis meines Bewustseyns vollkommen deutlich war, schien mir die von dem Daseyn einer ersten Ursache aller Dinge unumstößlich gewiß zu seyn; allein es war mir durchaus nicht möglich, Gott und die Welt in Absicht auf Zeit und Raum von einander zu trennen. Wenn ich gleich beide nicht in Absicht ihrer individuellen Eigenschaften mit einander verwechselte; so hielt ich sie doch für zwei von einander abhängende Begriffe. Gott und die Welt waren nach meiner Meinung gleich ausgedehnt, gleich ewig, und Gott die Seele der letztern, deren Denkkräfte sich ohngefähr so in die Materie, wie die der menschlichen Seele in den Körper ergoßen. Ich war auf alle diese Ideen durch eigenes Nachdenken gekommen. Ich hatte damahls noch nichts von Plato, Timäus Locrus c und Spinoza gelesen. – Die Vernunft war mir jetzt das einzige Principium aller Erkenntniß und Wahrheit geworden – – – – – – – – – – Hier müssen wir verschiedene freie Religionsideen des Verfassers der Schwachdenkenden wegen unterdrücken, so lehrreich sie auch für den unbefangenen Denker seyn würden.

Nichts hat meine Phantasie mehr in Bewegung gesetzt, als die mannigfaltigen Hypothesen von der Beschaffenheit eines zukünftigen Lebens. In mei-[90]ner frühesten Jugend hatten schon die Beschreibungen meiner Mutter von den prächtigen, sonnenhellen Kleidern der Seeligen, von ihren Hallelujagesängen, ihren goldenen Kronen und Harfen für mich einen unbeschreiblichen Reitz, und ich beneidete sie oft, wenn sie mir ihre öftern Träume von der Herrlichkeit des Heilandes auf einem Regenbogen, vom jüngsten Gericht u.s.w. erzählte, und ich wünschte nichts mehr, als einmahl einen solchen Traum zu haben.

Als ich älter geworden war, verschwanden zwar nach und nach diese schönen Bilder; aber die Lehre von der Seelenwanderung trat in ihre Stelle, worauf ich zuerst durch eine Erzählung von den Verwandlungen der Menschen in ihnen gleichartige Thiere gebracht wurde. Es war mir immer sonderbar vorgekommen, daß die menschliche Seele nach ihrem Abschiede von dem Körper so grade zu in den Himmelsraum hineinflattern, oder, welches mir noch schwieriger schien, in Abrahams Schoos getragen werden sollte, und ich war daher höchst erfreut, da ich in der Lehre von der Seelenwanderung doch wieder einen Körper vor mir hatte, wo sie hineingesteckt werden konnte. Ich erinnere mich, daß ich hierüber nach und nach in eine Menge der albernsten Hypothesen einer menschlichen Glückseligkeit in den Leibern der Thiere verfiel, und mir war es nicht unwahrscheinlich, daß wir auch in dieser Situation unsres Daseyns eine Menge der richtigsten Erfah-[91]rungsbegriffe erhalten könnten, welche vielleicht in Zukunft in die größere Entwickelung unsrer geistigen Natur keinen geringen Einfluß haben dürften.

Diese Meinungen, welche noch jetzt für meine Einbildungskraft viel Anziehendes haben, brachten mich auf eine andere, daß wir nehmlich lange vor unsrer Geburt existirt haben könnten; und hier fand ich ein neues Feld von Vermuthungen vor mir, das mir ganz unabsehbar schien. Endlich folgerte ich daraus eine ewige Präexistenz meiner Seele, und wer war glücklicher als ich, da ich dadurch alle meine Zweifel über den ersten Ursprung der Menschen besiegt zu haben glaubte! Zweifel, die bei mir aber nachher desto stärker wurden, je mehr ich einsehen lernte, daß uns grade über diesen Punkt die Geschichte nichts sagen könne.

In meinem einundzwanzigsten Jahre fielen mir in dem Hause meines schwärmerischen Freundes zu – in Lavaters Aussichten in die Ewigkeit in die Hände. d Ich habe nie ein Buch mit solchem Heißhunger verschlungen, als dieses, und ohnstreitig ist es wohl das beste, was aus dem glühenden Gehirne Lavaters hervorgekommen ist. Ich las es mehr als einmahl, ich glaubte, indem ich las, daß alles sehr ausgedacht und wahr seyn müsse; ich machte mir von der Schöpferkraft der Seeligen, von ihren Lichtkörpern, von der unendlichen Ausdehnbarkeit ihrer Seelen, und ihrer Zusammenziehung in einen Punkt, von ihrer Durchdringlichkeit, [92]und was Lavater mehr durch seine Einbildungskraft über sie ausgedacht hat, die erhabensten Begriffe; ich hatte Lavatern damahls so lieb, daß ich blos ihm zu Gefallen hätte ein Schwärmer werden können – aber Mendelssohns Phädon riß mich auf einmahl aus diesem Gebiete der Einbildungskraft heraus; sein Beweis von der Unsterblichkeit der Seele, e der mich zwar nicht ganz überzeugte, brachte mich auf die Gedanken, daß wir nach unserm Tode wohl schwerlich gleich so vollkommen seyn dürften, als wie wir es uns gemeiniglich einbilden, und daß unser dortiges Glück, unsere neuen Fortschritte, doch vornehmlich von unserer Selbstanstrengung, wie hier auf der Erde, abhängen müßten.

Eben so gewiß kam es mir nun auch vor, daß ein vollkommner Zustand des Glücks für ein endliches Geschöpf etwas Unnatürliches und moralisch-Unmögliches sey, und daß wir nach unserm Tode vermöge der Natur unsres Geistes noch mancherlei Schmerzen und Leidensgefühlen, selbst zur Beförderung unsrer Fortschritte im Guten, unterworfen seyn würden.

Gegen den Gedanken, daß wir einmahl unsere Freunde wiedersehen würden, fiel mir damahl nicht der geringste Zweifel ein, und mein Glaube daran wurde durch eine der liebenswürdigsten Weiber unterhalten, die ich je habe kennen lernen. Diese schätzbare Frau, welche ewig vor meinen Augen [93]als das schönste und erhabenste Muster der weiblichen Tugend stehen wird, die ich nie zu lieben aufhören werde, ob wir gleich weit von einander getrennt sind, und vielleicht nie in diesem Leben einander wiedersehen dürften, war es, die mich vornehmlich auf eine künftige Wiedervereinigung mit meinen Freunden aufmerksam machte.

Die Unterhaltungen mit diesem himmlischen Weibe über Tod und Ewigkeit rechne ich zu den glücklichsten Augenblicken meines Lebens, – und ihr, ihr habe ich einen sehr großen Theil meiner moralischen Bildung zu danken. Meine Gemüthslage, mein Character war verstimmt, als ich die Akademie verließ, ich schied von ihr mit einer Menge reuiger Empfindungen, daß ich so viele Stunden meines akademischen Lebens müßig zugebracht, und viel viel Zeit mit den armseligen Tändeleien der Liebe verschwendet hatte. Mein erster Gedanke, als ich auf den Postwagen stieg, war ein ernster und gesetzter Mann zu werden. Wie ein Traum lag die ganze Folge meines Studentenlebens jetzt vor meinen Augen; ich kam mir als ein sehr verächtlicher Mensch vor; ich zweifelte, ob ich meinem neuen Amte gewachsen seyn würde; ich bedurfte sehr viele Ermunterungen, um nicht zu verzweifeln, – und ich fand sie in dem Umgange mit jenem edeln Weibe. Tausend weibliche Gestalten hatten schon sonst in mir zärtliche Gefühle hervorgebracht; aber noch nie hatte ich das Herzliche, Innige, Erhebende und [94]Große in meinen Zuneigungen, als jetzt empfunden. Die Frauenzimmer, die ich sonst geliebt hatte, verschwanden aus meiner Seele gleich schwachen Sternen vor dem aufgehenden Lichte des Vollmonds. Sie stand in allen meinen Arbeiten mir vor den Augen, ich hätte um alles in der Welt damahls nichts Böses thun können, um nicht die Freundschaft dieser himmlischen Seele zu verlieren. Meine Liebe machte mich stark gegen jede Verführung der Jugend, und es wäre mir unmöglich gewesen, ein einziges unbescheidenes Wort in ihrer Gesellschaft zu sagen, da sie ein unbegränztes Zutrauen in meine Tugend setzte. So viel auch von Vielen über die sogenannte platonische Liebe gespottet wird, so sehr ich sonst selbst darüber gewitzelt hatte; so geistig war doch jetzt würklich das Gefühl meiner wärmsten Zuneigung gegen die junge Witwe. Ich brachte manchen Abend mit ihr in ihrem Zimmer, oder auf einsamen Promenaden ganz allein zu; aber ich kann mir nicht erinnern, daß ich eine einzige unerlaubte Empfindung gegen sie gehabt hätte. Sie war ein würklich frommes Weib –und ich wurde es in ihrer Gesellschaft auch. Unsere Phantasie nahm ihren Flug gemeiniglich bei unsern vertrauten Gesprächen zum Himmel, und ich wäre der glücklichste Mensch auf der Erde gewesen, wenn sie immer die Führerinn meines Lebens hätte seyn können. Ich trennte mich mit unnennbaren Schmerzen von ihr, [95]und ich glaub, daß ich sie dereinst gewiß in einer andern Welt antreffen werde.

Ich halte es für eine Schwäche meiner Seele, daß ich gegen meine Freunde eine zu leichte Nachgiebigkeit und Geschmeidigkeit besitze, mich nach ihnen zu accommodiren. Ich nehme nach und nach gleichsam ganz ihre Person unwillkürlich an; ich bilde meinen Gang, meine Geberden, meine Stimme, meine Denkungsart sehr leicht nach der ihrigen, – so unausstehlich mir auf der andern Seite der Gedanke einer begangenen Nachäffung ist. Meine Neigung, gefällig zu seyn, hat mich schon zu mancher Thorheit verleitet, mich in sehr unangenehme Verlegenheiten gesetzt. – Ich kann schwerlich einem meiner Bekannten etwas abschlagen, ich verspreche, – und kann hinterher mein Versprechen nicht halten; – ich versprach, ob ich gleich schon in diesem Augenblick einsahe, daß ich nicht würde Wort halten können. Ich habe daher oft von mir hören müssen, daß ich ein leichtsinniger Mensch sey, ob mir gleich in der Welt nichts Bittereres hätte gesagt werden können; schon das Wort Leichtsinn empört mich, und ich gerathe in die allergrößte Verlegenheit, wenn man mir auf die entfernteste Art zu verstehen giebt, daß ich von jenem Fehler angesteckt sey.

Ich danke es der Güte des Himmels, daß sie mich immer in die Hände guter Menschen geführt hat, meine erstaunliche Nachgiebigkeit gegen meine [96]Bekannten würde mich leicht ins größte Verderben gestürzt haben, wenn sie schlechte Menschen gewesen wären. Den meisten Gefahren, verführt zu werden, bin ich durch den Umgang mit vornehmen und gesitteten Frauenzimmern entgangen, die größtentheils älter als ich waren, und eine Art Autorität über mein Herz hatten. Eben dieses Gefühl von Autorität hielt mich zurück, mich verschiedenemahl nicht zu vergessen, als einige meiner Freundinnen mir gewisse Schwächen verriethen, wogegen unser Geschlecht nicht weniger als gleichgültig zu seyn scheint, zumahl wenn die Eindrücke der Liebe durch die Einsamkeit des Orts, durch die völlige Sicherheit, und durch die Lage des weiblichen verführerischen Körpers begünstigt werden. Ich dachte mir immer noch zu lebhaft die Verlegenheit, in welche ich kommen würde, wenn ein Frauenzimmer meine zärtlichen Anträge zurückwiese, und mir vielleicht auf ewig ihren Umgang untersagte; ich schämte mich schon vor den Gedanken einer zu weit getriebenen Berührung des weiblichen Körpers, – und dennoch habe ich nie meine Neugierde unterdrücken können, schlafende Frauenzimmer wenigstens in der Ferne zu beobachten. Ich habe mich dadurch oft in die augenscheinlichsten Gefahren gestürzt, aber ich habe mich lieber den größten Ausschweifungen meiner Phantasie überlassen, als auf eine leichtsinnige Art meine Hochachtung gegen das andere Geschlecht zu beleidigen f – selbst da bin ich standhaft geblieben, [97]wenn Frauenzimmer in eine Art Ohnmacht in meine Arme sanken. – –

Meine Eltern waren mir, so lange ich in ihrem Hause wohnte, so wie meine Geschwister, gleichgültige Menschen. Fremde Leute waren mir viel angenehmer, und ich hielt es nicht der Mühe werth, jene zu vertheidigen, wenn sie belästert wurden. Die Hitze meines Vaters war mir oft unerträglich, und wenige seiner Handlungen gefielen mir, so ein vortrefflicher Mann er auch war. Ich habe mir über diese Gleichgültigkeit nachher die bittersten Vorwürfe gemacht, und das Andenken an dieselbe wird mir noch manche heiße Thräne der Reue kosten; – aber ganz anders wurde ich gegen meine Eltern und Geschwister gesinnt, als ich sie verlassen hatte. Kaum war ich einige Meilen von meinem väterlichen Hause entfernt, als mich eine Wehmuth überfiel, die ich nicht beschreiben kann. Ich hätte jeden meiner gegen sie begangenen Fehler g mit meinem Blute abbüßen mögen, meine Briefe an sie waren die heftigsten Ergüsse meiner Zärtlichkeit und Liebe. Meinen Vater habe ich nie wiedergesehen, aber sein Bild, wie er mir bei meiner Abreise aus seinem Fenster noch mit seinem weißen Nachtmützchen nach winkte, steht hell und klar vor meiner Seele, und nichts kann es daraus verscheuchen. Die Nachricht von seinem Tode machte mich völlig untröstbar, und oft kommt es mir noch [98]jetzt so vor, als ob sie mir immer von neuem laut ins Ohr riefe, obgleich der gute liebenswürdige Vater schon seit mehrern Jahren in seinem Grabe ruhet. Ach! mit wie viel Thränen habe ich dieses Grab benetzt! welche himmlische Sehnsucht nach dem Seeligen habe ich darauf empfunden; – hätte ich nie an eine Unsterblichkeit der menschlichen Seele geglaubt: so würde ich sie da zu glauben angefangen haben.

Die Gewohnheit, welche alle Menschen mit einem eisernen Zepter beherrscht, und gegen die sanftesten Gefühle des Herzens uns nach und nach ganz gleichgültig machen kann, ist wohl die vornehmste Ursache, warum wir gegen unsere Eltern in unserm täglichen Umgange mit ihnen nicht immer die Zärtlichkeit fühlen, die wir billig gegen sie, als unsere ersten Wohlthäter des Lebens, empfinden sollten; – ein Hinderniß, welches durch den Eindruck, den ihre Fehler auf uns machen, und durch die Züchtigungen, welche wir oft von ihnen empfangen, noch sehr vergrößert werden muß. Trennen wir uns aber von ihnen; so wachen die unterdrückten Gefühle der Sehnsucht und Kinderliebe wieder in uns auf, und wir fangen sie dann nicht selten destomehr in der Ferne zu lieben an, je gleichgültiger sie uns vorher bei einem täglichen Umgange waren. O könnte ich meinen guten Vater noch im Grabe diese Gleichgültigkeit abbitten, könnte ich einen jeden gegen ihn sonst geäußerten unartigen Gedanken, jedes [99]Wort der Rechthaberei, des Trotzes, der übeln Laune, des Muthwillens aus meiner Seele auf ewig vertilgen! Nichts quält mich mehr, als daß ich manchmahl ihm eine bittere Minute gemacht habe; nichts kann mich jetzt mehr gegen einen Menschen aufbringen, als wenn ich sehe und höre, daß er gegen seine Eltern – nur gegen ihr Andenken gleichgültig ist, – ich erbebe, wenn ich daran denke: daß es wohl einmahl meine Kinder gegen mich seyn könnten.

Noch einen höhern Grad der Gleichgültigkeit, als ich sonst gegen meine Eltern fühlte, habe ich lange Zeit gegen meine Geschwister empfunden. Sie hatten mich oft, ehe ich mich zur Wehre stellen konnte, hart behandelt, und die Eindrücke davon konnte ich durchaus nicht in meiner Seele verlöschen. Mein Witz fand tausenderlei Lächerlichkeiten an ihnen, und ich beneidete sie wegen der geringsten Vorzüge, ob ich gleich mich manchmahl heimlich freuen konnte, wenn sie von Andern vorgezogen wurden. Nichts habe ich in meiner Jugend mehr gewünscht, als daß meine Schwestern reiche Männer heurathen möchten, und meine Phantasie war geschäftig genug, mir die schönsten Luftschlösser deßhalb aufbauen zu helfen.

B. am Rhein.

(Die Fortsetzung folgt.)

Fußnoten:

1: *) Doch wahrscheinlich nur in finstern hypochondrischen Launen?
P.

Erläuterungen:

a: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

b: Cardano 1643.

c: Eine Figur in Platons Dialogen. Angeblich ein Philosoph und Gesprächspartner des Sokrates.

d: Lavater 1768-1773/1778.

e: Mendelssohn 1767.

f: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

g: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

[100]

Aus einem Briefe. a

N-kirch

Der Recensent der Berliner Bibliothek, 69sten Bandes 1tes Stück, Seite 236 b hält es für eine Uebertreibung, daß der Gegner des Herrn Salzmann behauptet hat: daß Eltern und Erzieher, männliche sowohl als weibliche, oft nicht nur selbst das Laster der Onanie ausübten, sondern auch ihren Zöglingen beibrächten. Ein in der That abscheulicher Gedanke! – und doch will ich Ihnen hierüber eine Erfahrung mittheilen, die wahrscheinlich in Ihrem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde nicht am unrechten Orte stehen wird, und zeigen kann, auf welch eine verschiedene Art junge Leute mit jenem Leib- und Seele-verderbenden Laster bekannt werden können.

Meine Eltern haben mich freilich nicht dazu verführt, denn diese waren die keuschesten von der Welt; aber doch ein intimer Freund meiner Eltern, der sogar meines Vaters Beichtkind, und ich schäme mich es beinahe zu sagen, – ein alter Geistlicher war.

Dieser Mann wohnte nur eine kleine halbe Stunde von meinen Eltern entfernt, und ich pflegte ihn als ein Knabe oft zu besuchen, weil er mir gemeiniglich Obst oder sonst etwas zu schenken pflegte, und weil mir vornehmlich sein weißes Brod ganz [101] herrlich c schmeckte, da ich zu Hause gewöhnlich nur grobes und schwarzes Brod zu essen bekam.

Der alte Mann hatte mich sehr gern um sich, und ich mußte ihn überall hinbegleiten, wenn ich bei ihm war. Er zeigte mir dann jedesmahl den Vorrath seiner Victualien, seines Getraides, und wenn diese kleine Reise durch Stuben und Kammern gemacht war, setzten wir uns in sein kleines Stübchen, wo ich denn Obst schmaußte, während er mir allerlei Geschichtchen aus seinem Dorfe erzählte. Eines Tages kam ich zu ihm, und er empfing mich mit ausserordentlicher Freundlichkeit, gab mir Kaffe zu trinken, und bath mich, daß ich mich auf seinen Schoos setzen möchte. Ich that es mit vielen Freuden, und er fing mich darauf zu schaukeln an*) 1. Er setzte dieses Schaukeln einige Zeit fort, küßte mich, und fragte mich mit einer lächelnden und zugleich ermunternden Miene: ob ich mich nicht ein bischen entblößen wollte? Ich that es gern; was konnte ich als ein unverständiges Kind einem Mann abschlagen, der mir von je her so viel Aepfel geschenkt hatte,ob mir die Zumuthung gleich etwas sonderbar vorkam. Er schaukelte mich immer mehr, [102]ich litte seine unanständigen Berührungen, – und verlor durch ihn – meine Unschuld. Mehr Aufklärung über die Sache kann ich Ihnen nicht geben, genug daß sie sich so verhält, wie ich sie erzählt habe. Erlauben Sie mir, daß ich zum Beschluß dieses Briefes noch eine Frage an Sie thun darf. Finden Sie es nicht auch unvorsichtig, daß jetzt soviel, so laut und öffentlich von den geheimen Sünden der Jugend geschrieben wird? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen mehrere Beispiele mittheilen, daß junge Leute durch dergleichen freilich wohl gut gemeinte Bücher würklich erst jene Sünden gelernt haben. Noch unvorsichtiger und unverzeihlicher ists mir aber vorgekommen, daß unsere Herren Journalisten die Ankündigungen jener Bücher auf den bunten Umschlagstitteln ihrer Schriften so oft haben abdrucken lassen. Ueberall liegen dergleichen Journale, weil jetzt alles liest, was lesen kann, in den Stuben und auf den Toiletten herum, das Kind greift gern nach den bunten Sachen, liest, und es wird vielleicht durch diesen einzigen Umstand ein unglückliches Opfer seiner Neugierde.

N–kirch.

* * *

Fußnoten:

1: *) Eine böse böse Gewohnheit so vieler Wärterinnen und derer, welche mit Kindern umgehen. Vorsichtige Eltern sollten dies Schaukeln durchaus nicht erlauben, besonders wenn die Kinder etwas heranzuwachsen anfangen. <P.>

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Goldmann 2015, S. 99-101.

b: 'Rezension der Schrift Ists recht über die heimlichen Sünden der Jugend öffentlich zu schreiben? Schnepfenthal 1785, beantwortet durch C. G. Salzmann.' Allgemeine Deutsche Bibliothek 69 (1786), 1. St., S. 236.)

c: Der erste Wortteil "herr-" steht als Kustode auf der vorhergehenden Seite.

[103]

Nachtrag zur Seelenkrankheitskunde.

Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung

Bernd, Adam

Dieser Gelehrte, welcher 1676 zu Breslau von geringen Eltern geboren war, und 1748, nachdem er mehrere Jahre vorher seine Predigerstelle wegen verschiedener Irrlehren hatte niederlegen müssen, zu Leipzig starb, gehört mit zu den sonderbarsten Hypochondristen, deren Geschichte der Welt bekannt geworden ist. Er hat sein Leben selbst (Leipzig 1738. in 8) a mit Rousseauischer Genauigkeit, und zwar, wie auf dem Titel seines sonderbaren Buchs steht, den Unwissenden zum Unterricht, den Gelehrten zu weiterm Nachdenken, den Sündern zum Schrecken, und den Betrübten und Angefochtenen zum Troste beschrieben. Er erklärt sich in der langen, mit vieler Laune und Menschenkenntniß geschriebenen Vorrede zu seinem Buche noch näher, warum er es, – so viel man auch dagegen sagen werde, – herausgegeben habe: »nehmlich um den leiblichen und geistlichen Aerzten Materie an die Hand zu ge-[104]ben, bei erbärmlichen Leibes- und Seelenzufällen, so ihnen vorkommen, weiter nachzudenken, und desto geschickter zu seyn, ihre Patienten zu kuriren, und sie von ihrem jammervollen Zustande zu befreien«. »Auf meiner Seite, fährt er fort, scheint die Sache von solcher Wichtigkeit, und, wo nicht von absoluter Nothwendigkeit, doch von solchem ersprießlichen Nutzen zu seyn, daß ich nach aller Schmach und Schande nichts frage, so ich dadurch meinem Namen in größerm Maaße, als jemahls geschehen, ohnfehlbar zuziehen werde. Niemand ist geschickter, Ehre und alles zu verläugnen und in Wind zu schlagen, als der nichts mehr in der Welt sucht, und der wenig zu verlieren hat. Nun bin ich, nach Vieler Urtheil, einmahl schon vor der Welt zu Schanden worden, (er versteht hier wahrscheinlich seine Absetzung vom Predigtamte, welches er lange Zeit wegen seiner Kanzelberedsamkeit mit größtem Beifall geführt hatte,) und also werde ich nicht viel darnach fragen, ob jetzt meine Schmach noch eine höhere Staffel erreichen sollte.«

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Man kann den Hypochondristen auf keiner Seite seines Buchs verkennen. Der übrige Theil seiner Vorrede ist mit vieler Animosität gegen seine Feinde geschrieben; oft stichelt er sogar auf sich selbst; noch öfter bricht er aber in laute, jammervolle Klagen über seinen unglücklichen Gemüthszustand aus; – aber diese sind es nicht, welche sein [105]Buch merkwürdig machen. Es enthält eine Menge sehr wichtiger psychologischer Bemerkungen über den Ideengang der menschlichen Seele, über die Gewalt früher Jugendeindrücke, über die Natur der Einbildungskraft und über die Schwächen der menschlichen Vernunft in sich. Doch der Verfasser mag von jetzt an selbst reden.


»Um dir Anfangs, geliebter Leser, einen generalen Begriff und summarischen Abriß von meinem miserablen und jammervollen Leben zu machen; so findest du hier ein Exempel eines Menschen, bei dem Gottes gewöhnliches und großes Hauptwerk vom zwölften Jahre an bis ins Alter, und schier bis diese Stunde gewesen, ihn zu tödten und wieder lebendig zu machen; ihn in die Hölle und wieder heraus zu führen. Oder die Sache noch mit mehrern Worten auszudrücken; so liesest du hier das Leben eines Mannes, der wegen der schrecklichen Verderbnisse, so in seiner Seele zu finden gewesen, und gegen welche er sich nicht eifrig genug gesetzt, noch männlich genug wider solche gestritten, sich durch eigene Schuld und Saumseligkeit, und Mangel der geistlichen Wachsamkeit bald selbst, so zu reden, getödtet, bald aber durch Gottes große und unaussprechliche Gnade wieder lebendig gemacht; sich bald in die Hölle schwerer Anfechtungen selbst hineingeführt, bald durch Gottes Erbarmen wieder herausgeführt worden; der bald dem [106]Tode im Rachen, und dem Satan in seine Klauen sich gestürzt, bald aber durch die mächtige Hand Gottes wieder erlöset und herausgerissen worden; dem die Sünde sein ganzes Leben, wie Lutherus redet, zu Schanden gemacht; der jederzeit die Sünde, und derselben nicht nach Wunsche los werden zu können, vor das größte Creutz der Christen auf Erden gehalten; der sich über der Sünde und bei dem göttlichenTrost, womit er wieder aufgerichtet worden, die Augen schier aus dem Kopfe geweint; der in dem Ofen des Elendes unter seltsamen Leibes- und Gemüthsplagen, ja unter den schrecklichsten Versuchungen, die nur jemahls einem Menschen begegnet oder in Büchern aufgeschrieben zu finden, beinahe Geist und Blut ausgeschwitzt«.

»Mein Vater konnte zwar weder schreiben noch lesen; doch so einfältig er war, so war er gleichwohl in der Religion ein guter, oder noch vielmehr ein vollkommener Indifferentiste. Die Mutter hingegen war eine eifrige Lutheranerinn, und dem Leben nach eine rechte Pietistinn, obwohl dieser Name damahls noch nicht bekannt war. Ich durfte in ihrer Gegenwart weder als ein Knabe noch als ein Jüngling Scherz und Narrentheidung treiben, sie strafte mich deswegen allemahl mit Nachdruck. Ich besinne mich, daß es mehr denn einmahl geschehen, daß sie bei Tische auf die Juden und Papisten zu reden kam, und zu uns Kindern sagte: daß diese Leute alle einst würden verdammt werden und in [107]die Hölle kommen; mein Vater aber sprach: ihr seyd doch ein rechter Narr, daß ihr solches glaubet; es heißt: verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt! Wüßten sie es besser; so glaubten sie anders. Gott wird ihnen ihre Unwissenheit und Einfalt nicht zurechnen, wenn sie nur bei ihrem Glauben fromm gelebt haben« (Gesinnungen, die der orthodoxe Verfasser nicht billigt, ob er gleich hinterher gesteht, daß er hoffe, daß sie seinem Vater an seiner Seeligkeit nicht würden geschadet haben.)

»Die ersten Tage meines Lebens waren wohl ein recht Vorbild aller andern Tage und Jahre meines Lebens, die darauf folgen sollten. Wie mir meine Mutter und Geschwister vielmahls erzählt; so habe ich das erste halbe Jahr auf der Welt nichts anders gethan, als Tag und Nacht geweint und geschrien«. (wahrscheinlich, weil dem armen Jungen immer etwas fehlte. Er führt im Folgenden noch andere zum Theil abergläubische Omina b seiner künftigen Leiden an, worunter das wohl das lächerlichste ist, daß er sich oft geneigt gefühlt, das Ungeziefer, womit ein Bettelweib sein Haus angesteckt, für eine Vorbedeutung seiner vielen Fehler, Verbrechen, Verderbnisse, Sünden und Unarten zu halten.)

Aus dem zwölften Jahre seines Lebens führt der Verfasser eine sonderbare Beobachtung von sich an, die einen Beweis von der ausserordentlichen Stärke unwillkürlicher Ideen abgiebt, und es [108]uns ziemlich anschaulich macht, wie natürlich in dem Innern unsrer Seele durch den Kontrast, durch dunkle sinnliche Bilder, durch die Neigung zum Verbotenen gewiße Vorstellungen entstehen können, die man wegen ihres auffallenden und garstigen Eindrucks so oft dem Teufel zuzuschreiben pflegt*) 1.

»Ich hatte, fährt der Verfasser fort, um diese Zeit (wie vorhergesagt, in seinem zwölften Jahre) einen verdrüßlichen Zufall, der mich im Gemüthe [109]sehr plagte, und den ich beinahe vor die erste schwere Anfechtung halten möchte. Es ist bekannt, was die Leute, so doch Christen heißen und seyn wollen, vor eine schändliche Gewohnheit im gemeinen Leben an sich haben, daß sie, wenn sie nur das Maul aufthun, den Teufel im Munde haben, bei demselben, als ob er ihr Gott wäre, schwören, und sich erklären, daß er sie hohlen solle, woferne sie nicht die Wahrheit reden! Ich erschrecke noch vor diesem Schwur, so oft ich ihn höre, habe auch niemahls einen Wohlgefallen daran gehabt, auch mich dessen die Zeit meines Lebens, so viel ich weiß, niemahls bedient, noch solchen Schwur weder äußerlich mit dem Munde, noch innerlich in Gedanken gethan und ausgesprochen, – und dennoch ist mir solcher damahls wider meinen Willen eine Zeitlang bei allerhand Gelegenheit öfters eingefallen, doch ohne meine Zustimmung, und so, daß er mir zu einer rechten Qual und Marter worden. Nahm ich mir etwan was zu thun vor, mit dem Vorsatz, vor Abends, oder in zwei Stunden damit fertig zu werden; so fiel mir wie ein Pfeil so schnell und wider meinen Willen ein: und wenn ich nicht fertig werde, soll mich der Teufel hohlen! Sollte ich zu jemanden um diese oder jene Zeit kommen, und ich versprach solches, und sagte mit dem Munde ja! gleich war der innere Gedanke dabei: und wenn ich nicht komme, will ich des Teufels seyn! In Summa bei allem, was ich beschloß, oder vor-[110]nahm, oder zusagte, hatte ich diese Gemüthsplage dabei, und je mehr ich vor meinen eigenen Gedanken und vor solchen Einfällen erschrack, je öfterer und ärger ward ich damit vexirt. Mir wurde dabei Angst, und ich wußte nicht, wem ich es klagen sollte; denn ich fing an in der Rede zu stocken, so oft ich etwas sagen wollte, und diesen Einfall dabei heimlich leiden mußte. Jetzt, da ich nach der Philosophie solches betrachte, kann ich es leichte aus der Natur und aus den Kräften der Imagination, wie solche bei schwachen Leibern und Gemüthern, so temperamenti melancholici und zur Furcht sehr geneigt sind, anzutreffen, auflösen. Dazumahl aber dachte ich nicht anders, als daß der Satan allein sein Spiel mit mir hätte, und mich mit solchen Einfällen quälte«.

So unphilosophisch hinterher unser Hypochondrist urtheilt, daß er die Mitwürkung eines Teufels bei dergleichen Zufällen keineswegs in Zweifel zu ziehen gesonnen sei, eine so richtige Anmerkung macht er bei Gelegenheit seines von einem alten Weibe mit Ungeziefer angesteckten Hauses: »daß die Obrigkeiten ein löbliches Werk thun würden, wenn sie das, was sich in einer Stadt außer dem gewöhnlichen Laufe der Natur zutrüge, vor ihr Forum zögen, die ganze Sache untersuchten, und dem Publiko und der gelehrten Welt, sonderlich den Theologen und Philosophen vorlegten, damit sie desto geschickter wären, von solchen Dingen zu urtheilen, und entweder dem heidnischen Aberglauben unter den Christen, von [111]dem sie so so lange sind geäft worden, zu steuren, oder die Grundsätze der Religion außer der Schrift auch noch durch die Erfahrung desto besser zu befestigen«.

Im Folgenden führt er einige Träume an, die richtig eingetroffen sind, und wobei er die wahre Bemerkung macht, daß eine Präscienz der menschlichen Seele durchaus etwas Unerklärbares sei, indem man darin nichts anträfe, ans welchem man den Schluß machen könne, daß sie eine natürliche Kraft habe, zu weissagen und zukünftige NB zufällige Dinge vorher zu wissen. Eine solche Präscienz, sagt er vorher mit Recht, kann nicht einmahl in Gott a priori demonstrirt werden, sondern nur a posteriori, und aus dem absurdo, so auf Seiten Gottes daraus fließen würde, daferne man solche läugnen wollte.

Das, wodurch sich das Leben unsers Hypochondristen mit am meisten auszeichnet, sind die schrecklichen Gewissensempfindungen über seine Jugendsünden*) 2, die er aber nicht hat nennen wollen, und die Mittel, welche er oft auf die lächerlichste Weise angewandt hat, sich davon zu befreien. Verschiedenemahl haben ihn Stellen aus der Bibel, sogar einmahl auch das Lied eines Bettlers beruhigt; aber er wird doch immer wieder von neuem von seinen Seelenleiden c befallen, bis er auf den Gedanken kommt, Gott ein Gelübde zu thun, und alle [112]Woche einen Tag vom Morgen bis an Abend zu fasten. (Welche alberne Grillen sich doch nicht die menschliche Einbildungskraft erfindet! und doch war grade diese Grille eins der größten Beruhigungsmittel des Verfassers.) »Der unvermuthete und erwünschte Effekt dieses Gelübdes, sagt er, ist eines von den curieusesten Avantüren meines Lebens, worüber ich jederzeit erstaunt bin, denn alsdann fing dasjenige an durch Gottes Gnade möglich zu werden, welches ich schier für unmöglich gehalten. Die Sünden ließen nach, und blieben aussen.« (Auf eine ganz natürliche Weise, weil der lebhafte Gedanke an das Gelübde, welches wöchentlich wiederhohlt werden mußte, die Gedanken an seine Sünden schwächte, und weil durch einen mäßigen Gebrauch der Speisen seine Seele, wie er selbst gesteht, immer heiterer wurde.) Aber nicht lange drauf fing die Milzsucht d in dem Verfasser wieder mit aller Stärke zu wüthen an. »Nun fährt der arme Mann fort, da die sündlichen Werke aussen blieben, und dem Verstande je mehr und mehr die Augen aufgingen, mein ehemaliges Leben recht einzusehen; so fing die Sünde mir erst an recht häßlich vorzukommen, und in ihrer schädlichen Gestalt zu erscheinen. Meine Traurigkeit wurde noch größer, als ich Lipsii Buch de constantia e in die Hände bekam, und solches durchlas. Der melancholische Stilus, in welchem das Tractätlein geschrieben, und insonderheit das Kapitel, in welchem von einem bösen Gewissen ge-[113]handelt wird, waren fähig meinen traurigen Humeur noch mehr zu erregen; und noch einen grössern Eindruck in meine betrübte und bekümmerte Seele machte das verlorne Schäflein des Herrn Scrivers. f (Daß doch alle solche abgeschmackte Bücher, welche schon manchen Menschen wo nicht ganz, doch halb verrückt gemacht haben, auf immer verbrannt werden möchten!) Das schreckliche Exempel des Menschen, der sich dem Teufel verschrieben, und kümmerlich wieder zurechte gebracht worden, und doch hernach wieder zurückgefallen, imgleichen die andern Historien von entsetzlichen Sündenfällen großer Uebelthäter, die zum Theil ein Ende mit Schrecken genommen etc., waren ein rechtes Oehl in das Feuer meines Gewissens. – Wer weiß, wie es dir noch gehen wird, dachte ich, und ob es nicht auch einmahl mit dir ein solches Ende nehmen wird. (Eine fast allgemeine Gewohnheit des Hypochondristen, sich alle die Leiden einzubilden, die Andere gehabt haben.) Eine von meinen Schwestern, fährt er fort, hatte Hochzeit. Mitten unter der hochzeitlichen Freude der andern Gäste überfiel mich eine heftige Traurigkeit. Die Wehmuth nahm je mehr und mehr bei mir zu, ich konnte unmöglich länger bei der Compagnie bleiben; sondern stahl mich von den Hochzeitgästen weg, und ging auf das freie Feld, und ließ meinen Thränen freien Lauf, die auch so häufig waren, daß ich mich darinnen hätte baden können. Es war nichts auf [114]Erden, was mich in diesem Zustande hätte erfreuen können, keine Musik ergötzte mich mehr, und kein Spiel erquickte mich mehr. Ich ging in der Hitze der Anfechtung hin und her, lief aus einer Kirche und Predigt in die andere, Trost und Linderung für meine geängstete Seele zu suchen«. Endlich wird der Verfasser in einer Predigt getröstet. »Es fehlte nicht viel, sagt er, daß ich nicht in der Kirche überlaut vor Freuden zu schreien anfing. – Da erfuhr ich das erstemahl in der That, wie einem zu Muthe, dem das Herz vor Freuden zerspringen will.«

Dieser qualvolle Gemüthszustand des Verfassers dauerte noch einige Zeit fort, und wurde wahrscheinlich durch die Abwechselung und Neuheit der Gegenstände in Leipzig, wohin er sich bald darauf des Studirens wegen begab, erhalten. Hier studirte er sehr fleißig, und wurde endlich mit vielem Beifall Magister. Aber die Rückfälle der Hypochondrie sind bei gemüthskranken Leuten gemeiniglich stärker und heftiger, als ihre vorhergehenden Anwandelungen, und so ging es auch unserm Verfasser. Seine Gewissensangst trat auf einmahl wieder mit der größten Wuth ein, und das Entlaufen eines Famulus aus seinen Diensten, von dem er nicht wußte, wo er hingekommen war, mußte Veranlassung dazu werden. Er hatte diesen Menschen wegen seiner Lüderlichkeit mit Worten hart bestraft, der Bube war darauf davon gelaufen, und dem armen Bernd lag es nun immer in dem Sinne, [115]daß er an allem Elende, welches jenen treffen könne, Schuld sey; noch mehr geräth er aber in Unruh, da er die Nachricht bekommt, daß sich ein Junge ohnweit Leipzig ersäuft habe, ein Umstand, welcher den gesetztesten Mann, geschweige einen an Leib und Seele kranken Milzsüchtigen erschüttern mußte. »O mein Gott! hebt der unglückliche Mann an, was soll ich von dem folgenden 1704ten Jahre sagen, und welche Feder ist fähig, die Seelennoth und Höllenangst zu beschreiben, in welche ich gerathen bin. Ich hatte einen habituellen, eifrigen, beständigen, täglichen Vorsatz, etwas nimmermehr einzugehen; und siehe! so sehr ich neben diesem guten Vorsatz auch eifrig gebetet, in einer gewissen Sache mein Jawort nicht dazu zu geben; so wurde ich doch bei der sich dazu ereignenden Gelegenheit schnelle, und in der Hitze des Affects willens, meinem Vorsatze conträr zu handeln.« Der Verfasser nennt dieses Etwas eigentlich nicht; wahrscheinlich war es die aus seinen Erzählungen sehr hervorleuchtende Neigung zu heimlichen Sünden. Er geht, um sich von seiner Seelenangst zu befreien, zum heil. Abendmahl, und zwar nicht bei seinem gewöhnlichen Beichtvater, bei welchem er erst vor 6 Wochen gebeichtet hatte, und dem er durch ein so oftes Abendmahlgehen nicht gern als ein frommer Sonderling vorkommen wollte; allein durch den Gebrauch des Abendmahls wurde seine Angst noch größer, weil er es unwürdig genossen zu haben [116]glaubte. »Essen und Trinken, fährt er fort, schmeckte mir nicht mehr, und wenn ja die große Angst des Gemüths zuweilen Hitze und Durst im Leibe machte; so hatte ich zum wenigsten doch vor den Speisen einen Ekel. Dachte ich, mein Lager sollte mir's lindern; so erschreckte mich Gott durch Träume. Bald schwamm ich in großen Wassern, bald brannte mir mein Hauptküssen, oder ich befand mich sonst in Feuersnoth, bald soff ich die allerabscheulichsten Getränke im Traum. –Ich fing an abscheulich im Gesichte auszusehen, so daß ich nicht mehr das Herz hatte, in den Spiegel zu sehen. Meine Schüler erschracken über meine Gestalt. Einer meiner Auditoren hatte gar das Urtheil von mir gefällt: daß ich im Gesichte aussähe, wie man die Verdammten in der Hölle manchmahl zu mahlen pflegte, welches mich schrecklich peinigte, und welches ich als lauter Merkmahle meiner Verdammniß ansahe«. Durch eine Predigt, die er zu halten übernimmt, wird er wieder etwas ruhig; aber er sinkt in seinen traurigen Zustand bald wieder zurück, da er eine melancholische Magd trösten will, die neben ihm an wohnt. »Ich erschrack über sie, sagt er, daß mir alle Glieder meines Leibes zu zittern und zu beben anfingen. Es war, als spräche jemand zu mir, oder der Satan selbst: du unterstehest dich Andere zu trösten, und steckst selbst im Koth der Sünden bis über die Ohren, ich will sie verlassen, und dich baß g plagen! Ich konnte [117]fast kein Wort mehr reden, absonderlich da sie abscheuliche Gotteslästerungen ausstieß. – Ich fing schon an auf der Gasse zu erschrecken, wenn mir Leute von häßlichem Angesichte vorkamen, und zu denken, als ob es der Teufel selbst wäre. Dienstags frühe konnte ich vor Schwermuth nicht zu Hause bleiben, sondern lief vor Angst in das philosophicum, und die Disputation, so gehalten wurde. Es war mir höchst heiß um den Kopf, und das Herze auf das höchste zusammengepreßt. Ich stehe und höre der Disputation zu, und siehe, ehe ich michs versahe, so kriege ich die Idee und das Bild eines Messers, das mir an die Gurgel gesetzt wird. Nicht als ob ich, (wie Menschen etwa aus Ungeduld, die des Lebens überdrüssig sind, zuweilen thun mögen) bei guter Ueberlegung gedacht und beschlossen hätte: weil du in so schreckliche Noth und Angst gerathen, so willst du dich umbringen, so kommst du von der Marter los! Keinesweges, sondern dieß begegnete mir schnell, wie ein Pfeil, ohne alles Denken, Raisonniren, ohne allen Schluß und Vorsatz, und wollte es dir eher mündlich erklären und zeigen, wie dies zugeht, als mit Worten beschreiben. Wie einem etwa, der ein Lied oder ein musikalisch Stück gehört, hernach, ehe er sichs versiehet, ohne Vorsatz und Entschluß daran wieder zu denken, ihm doch solches wider seinen Willen wieder einfällt, so schnell entstund ein dergleichen schreckliches Bild in meinem Gehirne. So stark, [118]so unvermuthet, und so lebhaftig diese Idee und Einbildung war, so tief schnitte sie in das Gehirne ein, und legte einen Grund zu dem Gedanken und zu der Furcht, das zu thun, wofür ich doch den größten Abscheu hatte, mit der ich hernach lange Zeit bin geplagt worden. Je mehr ich vor diesem selbstmördrischen Bilde erschrack, je tiefer imprimirte es sich, und je öfter mußte es mir natürlicherweise wieder einfallen. Doch blieb es nicht blos bei dieser Gattung und Specie; sondern ich wurde eben so stark hernach mit den Ideen von stürzen, ersäufen und hängen gemartert, wobei ich am Leibe abzehrte, und ganz zu verdorren anfing. Immer war eine unaussprechliche Furcht da, daß dergleichen noch geschehen möchte, und durch diese Furcht aus Aberglauben entstand die festeste Einbildung, daß es noch geschehen und dazu kommen werde. Man hat keine Lust und Reitzung dazu, wie einer, der zum Stehlen oder zum Ehebruch gereitzt wird, und solches zu begehen Lust bekommt; sondern man hat die größte Furcht und Abscheu vor der Sünde des Selbstmordes, und gäbe die ganze Welt darum, um nur versichert zu werden, daß solches nicht geschehen würde*) 3. – Doch das war noch nicht alles. Zu [119]allem Unglück erzählte mir die Bettfrau (auf dem rothen Collegium zu Leipzig) h eine Historie von einem, welcher sich am Charfreitage selbst umgebracht habe. Kaum hatte ich diese Historie mit Furcht und Zittern angehört, so überfiel mich den Augenblick die Angst, Furcht und Einbildung, es würde mit mir auch dahin kommen, daß ich an diesem Tage auf eine so miserable Weise mein Leben enden würde. Mein Gott! dachte ich oft bei mir selbst, sollst du an dem Tage so jämmerlich sterben, an welchem du Gott allezeit am inbrünstigsten geliebt, und Gottes [120]Liebe im hohen Maße geschmeckt hast! Doch das half nichts. Das zaghafte Fleisch und Blut und das aufgewachte Gewissen wollte sich solches nicht ausreden lassen. Ich konnte nicht leicht ein Messer sehen, ohne davor zu erschrecken, und wenn ich aß, so mußte ich es mit ganzer Gewalt feste halten, damit ich nicht schnelle zuführe, oder wenn die Speisen zerschnitten, solche mit der Hand fassen und in den Mund stecken. Die Feder, mit der ich schrieb, das Federmesser, womit ich die Feder besserte, die Tobackspfeiffe, die ich in den Mund nahm, die Lichtscheer, i womit ich das Licht schneutzte, den Degen, den ich ansteckte, die Thurmspitze, die ich sahe,– ja den Finger, [121] den ich nahe zum Munde brachte, setzte ich mir durch einen schnellen Gedanken, der schneller als ein Pfeil entstand, an den Hals. Des Nachts deuchte mich oft halb wachend und halb schlafend, als ob die Kammer ganz voller Messer wäre, und als ob ich sie klitschen j hörte«. – – –

»Auf die selbstmörderischen Gedanken, oder auch zu denselben kamen nun auch die abscheulichsten und unflätigsten Gedanken, so von natürlichen Dingen und Excrementis hergenommen, und, welches erschrecklich zu sagen, auf göttliche Dinge im Gemüthe schnell applicirt wurden. Ich mag sie nicht specificiren, um keines Menschen Imagination dadurch zu vergiften und etwa anzustecken. Die, so mit dergleichen Plagen behaftet, werden schon wissen, wie diese garstigen und abscheulichsten Gedanken, vor welchen das ganze Herz erschrickt, und schon bebet, wenn man sie auch nur von Ferne sieht aufsteigen und anmarschieret kommen, beschaffen gewesen. Es fallen mir auch zuweilen noch jetzt dergleichen Gedanken, Kraft der Imagination bei gewissen Gelegenheiten, insonderheit wegen schwächlicher Disposition meines Kopfs wieder ein, nur daß ich es nicht mehr achte, noch wie dazumahl davor erschrecke«.

Der Verfasser suchte sich nun allerlei Zerstreuungen zu machen, um seine finstern Grillen zu bekriegen; aber alles war vergeblich; seine Phantasie war einmahl im höchsten Grade erhitzt. Man höre nur, wie der arme Mensch seinen ferner Gemüthszu-[122]stand beschreibt. »So geschickt ich nun auch sonst war ziemlich fertig zu reden, so oft ich docirte und Andere lehrte, so turbirten mich doch ungemein sehr die gewöhnlichen schrecklichen Gedanken, die mir mitten im Dociren einfielen, (er hatte ein Collegium hebraicum zu lesen angefangen) und die schier der Verzweiflung immer mehr den Weg bahnten. Sagte ich etwa im collegio hebraico und unter dem Dociren: diese Litera wird im Lesen absorbirt, gleich fiel mir auf die lebendigste Weise ein, wie du von der Hölle wirst absorbiret werden. Sprach ich: finale abjicitur, den Augenblick hörte ich, als ob es jemand anders als ich selbst in mir spräche: so wie du von Gott weggeworfen bist. Sprach ich: künftigen Montag wollen wir v.g. zum 6ten Capitel schreiten, den Augenblick fiel mir ein: ja den Montag wirst du schon in der Hölle seyn. Sagte ein Anderer: Uebermorgen wollen wir da und dorthin spatzieren gehen und den Herrn Magister abholen, gleich dachte ich: ja da werdet ihr mich in meinem Blute liegend antreffen«.

»Mein höchst schwaches Haupt und Imagination war auch Ursache, daß mir Bilder von andern Thaten und Werken einfielen, die ich mit gutem Gewissen nicht hätte thun können, auch zu thun keinen Vorsatz noch Lust, sondern den größten Abscheu davor hatte, so daß ich mich recht zwingen mußte, nicht nach dem deutlichen Bilde zu handeln, was mir vorkam. Wenn auch mein Zustand sonst leidlich war; [123]so durfte ich keinem Ofen zu nahe kommen; denn ich hatte eine solche lebendige Idee und Bild bei aller sonst ruhigen Gemüthsdisposition, als ob ich mit dem Kopfe wider denselben liefe, daß ich mir auch den Kopf mit der Hand, oder etwas vor dem Kopf im hin- und hergehen vorhalten mußte, damit ich nur den Ofen nicht sehen dürfte. Wäre damahls der Verstand durch schlaflose Nächte, oder durch andere Ursachen verloren gegangen; so bin ich gewiß, daß ich mechanice und brutaliter nach diesem Bilde der Imagination würde agirt und gewürkt haben, v.g. wider den Ofen gelaufen seyn, so man mich demselben nahe kommen lassen, und der Natur der Lauf wäre gelassen worden. Denn wo keine Vernunft ist, da agirt ein Thier mechanice und physica necessitate nach den Bildern, die ihm eingedrückt sind. So lange aber noch Verstand und Vernunft vorhanden, so hat ein Mensch noch Macht, durch dieselbe die Phantasie zu überwinden, und doch nicht nach dem Bilde zu handeln, das er im Gehirne hat; es müßte denn die allzulebhafte Vorstellung eine Uebereilung verursachen. Saß ich damahls, oder stand nahe bei Einem, so mußte ich mir oft den Mund zuhalten, daß ich ihn nicht anspiee, wenn er gleich mein Freund war, und ich alle Liebe zu ihm hatte, so daß ich gar nicht wußte, warum ich ihn anspeien sollte; denn das Anspeien kam mir so deutlich vor, als ob es geschähe; oder ich schlug ihn in Gedanken mit der Hand in's Ange-[124]sicht, so daß ich die eine Hand mit der andern halten mußte, damit es nur nicht würklich geschehen möchte. Ich konnte nicht ohne innerlich Auffahren eine große Ziffer sehen v.g. eine 6 oder 9; ein Spatium, wo drei oder vier Bücher gestanden, machte mir schon Aengstlichkeit, und konnte ich nicht ruhen, bis der Raum wieder mit Büchern ausgefüllt wurde. Ich bebte vor einem Zeddel, wenn derselbe auf einem Fenster lag, wo er sonst nicht zu liegen pflegte, und konnte nicht ruhen, bis ich ihn an seinen ordentlichen Ort wieder gelegt. Ich betete, doch meistens ohne sonderbare Bewegung, und zuweilen, wenn ich dazu schritte und niederkniete, wurde mir das Angesicht wider meinen Willen in eine solche Gestalt gebracht, wie diejenigen haben, denen ein Ding lächerlich vorkommt«.

»Doch meine Plagen waren damit noch nicht alle, sondern es war noch die Spitze und der höchste Grad der Anfechtung zurücke. Nun folgten auf die mörderischen und unflätigen Gedanken die gotteslästerlichen. Es fand sich im Herzen wie ein heimlicher Grimm gegen Gott, daß ich selbst nicht wußte, ob es mein Ernst wäre, oder nicht. Ein kleiner Trost, der dabei noch übrig blieb, war, daß ich mich darüber entsetzte, und wünschte, daß dieser Grimm mit allen lästerlichen Gedanken wieder vergehen möchte. Doch das geschahe nicht bald, sondern es währte wohl bis 3 Wochen, daß mir oft wider meinen Willen unversehens einfiel: Verflucht [125]ist etc. – so daß ich alles verfluchte und verwünschte. Ich mag das Objectum dieser innerlichen Action nicht ausdrücken, um niemanden damit zu erschrecken oder einem Schwachen einen Anstoß zu geben. Die Imagination stellte mir diese Gedanken so lebhaftig in meiner Seele vor, daß ich mir oft den Mund mit der Hand zuhalten mußte, damit mich das lebendige Bild nicht verleitete, die Lästerung auszusprechen. Weil ich vielmahl gehört, daß dieses die Verdammten in der Hölle einst thun würden, so fing ich an mich schröcklich zu fürchten, daß dieses nicht Vorboten der völligen Verzweiflung und der ewigen Höllenpein seyn möchten. Wenn die Angst und das Herzdrücken am größten war, so fiel mir zuweilen wider meinen Willen schnell ein: Ja! wenn du nur schon in der Hölle wärest, so wüßtest du doch, wie viel es wäre, was du jetzt noch zu fürchten hast; welches derjenige Einfall ist, der unter allen andern meiner Seele am wehesten gethan. Donnerstag oder Freitag vor Trinitatis, k ehe ich einschlief, kriegte ich einen lebendigen Eindruck vom höllischen Feuer. Es schien, als ob ich nichts als Feuer um mich sähe, und da es mir vorkam, als ob nun die Gluth um und um über mich zusammenschlagen wollte, so fing ich an zu schreyen: O Jesu hilf mir, nun ist es Helfenszeit! In dem Augenblick aber fiel ich in den tiefsten Schlaf, und ich nahm es, da ich wieder erwachte, vor eine handgreifliche Hülfe Gottes und Merkmahl an, daß er [126]mich noch nicht ganz verworfen hätte. Inzwischen ließ ich nicht ab, Gott inbrünstig im Gebet, obwohl mit beklemmtem und hartem Herzen anzurufen, und nach meiner Erlösung zu seufzen. Ach mein Gott! sprach ich oft, wenn wird doch der Knabe kommen und mir sein Stäblein reichen, und mir aus der tiefen Grube helfen, aus welcher ich keinen Ausgang finden kann. Denn vor den Feiertagen träumte mir einstens zur Nacht, als ob ich in einer tiefen Grube steckte, und nicht die geringste Möglichkeit sähe, heraus zu kommen. In der Angst arbeitete ich, und kletterte bald hier, bald dahin; aber alles Bemühen war vergebens. Indem deuchte mich, als ob auf der Grube und am Rande ein kleiner schöner Knabe stünde, der mir ein Stäblein reichte, unter dem Schein, als ob er mich damit heraushelfen wollte. Ach du armes Kind, fing ich an, mit diesem Stäblein wirst du mich nicht herausziehen; ich würde dich eher zu mir herunterreißen. Es sagte aber: ich sollte mich nur anhalten, es würde schon angehen. Kaum hatte ich das äußerste Ende seines Stabes angerührt und gefaßt, so wußte ich nicht, wie mir geschahe; denn in dem Augenblick befand ich mich außer der Gruben oben bei dem Knaben«. Dieser Traum, noch mehr aber die sonderbare Beichtabsolution, die ihm ein Leipziger Prediger ertheilt, fing auf einmahl unsern unglücklichen Hypochondristen zu beruhigen an. Sein Herz fängt jetzt wieder ruhiger zu schlagen an, seine [127]bisherigen Schreckbilder der Phantasie verlassen ihn, – und zwar auf eine lange Zeit, er vergießt Freudenthränen, seine Gestalt wird wieder menschlicher, – und das alles aus einem sehr richtigen psychologischen Erfahrungsgrunde: daß die Seele nach langem ausgestandenem Kummer oft in dem Augenblicke, da sie noch davon gedrückt wird, durch eine Art eigener Spannkraft sich davon befreiet, und nun in einen desto stärkern und lebhaftern Genuß der Freude übergeht. Daß die Seele dazu erst gewiße Veranlassungen, gewiße Hülfsbilder haben müsse, ist natürlich; – aber unnatürlich wäre es, wenn man annehmen wollte, daß der Uebergang von Seelenleiden in ruhigere und angenehmere Gefühle durch unmittelbaren Einfluß der Gottheit verursacht würde.

P.

(Die Fortsetzung folgt.)

Fußnoten:

1: *) Ich kenne mehrere recht brave und gute Leute, die mit solchen garstigen und unwillkürlichen Ideen sehr oft wider ihren Willen geplagt, und oft in ihren ernsthaftesten und frömmesten Geschäften, z.B. beim Gebet, beim heil. Abendmahl, davon überrascht werden. Ich habe selbst einmahl lange den Namen der Gottheit nicht ohne gewisse schmutzige Epitheta denken können, ich habe mir alle Mühe gegeben, ihren Eindruck aus meiner Seele zu tilgen; allein, ehe ich michs versahe, stand der häßliche Ausdruck wieder vor meinen Augen; um ihn nicht so lebhaft zu fühlen, fing ich als Knabe oft erstaunlich geschwind mein Gebet abzuplappern an, und ich glaubte damahls so gut, wie der Hypochondrist Bernd, daß der böse Feind sein Spiel mit meinem Gehirn haben müsse. Neulich gestand mir noch ein gescheuter, sehr angesehener Mann, daß er seinen Glauben an einen Teufel gleich aufgeben wolle, wenn man ihm unwillkürlich böse Gedanken auf eine natürliche Art in Absicht ihres Ursprungs erklären würde.
Anm. des H.

2: *) Man erräth leicht, daß es heimliche Sünden der Wollust gewesen sind. <P.>

3: *) Es ist aus unzähligen Erfahrungen bewiesen, daß wir in gewißen Gemüthszuständen eine Sache sehr verabscheuen, und sie doch zu gleicher Zeit begehren können; Erfahrungen, welche dem psychologischen Satze eben nicht günstig sind: daß wir nur das begehrten, was wir für gut, vollkommen oder angenehm hielten. Der menschliche Wille wird offenbar nicht immer nach den Schlüssen der Vernunft von der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit einer Sache; sondern sehr oft von dunkeln Instincten, von Ueberraschungen unserer Leidenschaften, von unwillkürlichen Bildern der Phantasie bestimmt, ohne alle vorhergegangene Ueberlegung und Reflexion. Die Neigung zum Selbstmord, wenn auch die Seele auf der einen Seite den größten Abscheu dagegen vermöge gewisser Vernunftgründe haben kann, wird mir vornehmlich durch ein inneres Bestreben der Seele nach Freiheit, nach Entfernung der Lasten, die uns drücken, wogegen die Vernichtung unserer Existenz das beste Mittel zu seyn scheint, sehr erklärbar. Der Hypochondrist fühlt, daß er im höchsten Grade unglücklich ist, alle Bilder, die sich seine Seele schafft, sind fürchterlich und schwarz, er denkt nur, um sich zu quälen, er wünscht lieber, einige Augenblicke nicht zu existiren, und wie leicht ist die Neigung erweckt, sich auf einmahl von allen Uebeln zu befreien. Ganz natürlich stellt ihm seine Vernunft den Selbstmord als etwas Abscheuliches vor, seine Liebe zum Leben, die nie in einem vernünftigen Wesen ganz verlöscht, spricht auch wenigstens dunkel dazwischen; – er findet seine mörderischen Gedanken verachtungswürdig; aber er kann nicht Herr über sie werden, denn sein Freiheitstrieb, sein Wunsch, sein Sehnen nach Ruhe ist stärker als seine Vernunft, und aus diesem abwechselnden Zustande muß nothwendig eine solche Gemüthslage entstehen, wie sie uns der unglückliche Verfasser geschildert hat, und mit welcher die Einbildung: du wirst dich gewiß noch einmahl umbringen, natürlich verbunden ist.
P.

Erläuterungen:

a: Bernd 1738.

b: Lat. Plural von 'Omen'.

c: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

d: Die Hypochondrie (Adelung 1811, Bd. 3, Sp. 213).

e: Lipsius 1584

f: Scriver 1672

g: Veralteter Komparativ von 'besser' (Adelung 1811, Bd. 1, Sp. 743).

h: Gebäudekomplex der Universität Leipzig.

i: Lichtschere oder Lichtputze: "ein Werkzeug in Gestalt einer Schere, woran der eine Arm hohl ist, das Licht damit zu putzen, d. i. die Schnuppe von dem Lichte wegzunehmen" (Adelung 1811, Bd. 2, Sp. 2054).

j: klatschen (DWb Bd. 11, Sp. 1211).

k: Dreifaltigkeitsfest (DWb Bd. 22, Sp. 545).

[<128>]

Inhalt.

Seite
Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins. 1.
Zur Seelenkrankheitskunde.
1. Unwillkürlicher Hang zum Stehlen und Geldleihen. 21.
2. Ein Brief an Gaßnern von Lavater. 32.
Zur Seelennaturkunde.
1. Ueber die unwillkürliche Abneigung gegen gewiße Menschen. – Moralische Antipathie. 36.
2. Beispiel einer schnellen Liebe. 53.
3. Ein sonderbarer Traum. 55.
4. Stärke der Einbildungskraft. 62.
5. Fortsetzung der Fragmente aus dem Tagebuche des verstorbenen R... 65.
6. Einzelne psychologische Beobachtungen und Bemerkungen, zu weiterm Nachdenken aufgesetzt. 69.
Zur Seelenzeichenkunde.
– A – J – K – Bekenntniße. 76.
Aus einem Briefe. 100.
Nachtrag zur Seelenkrankheitskunde.
Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung. 103.
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<Verlagsankündigung.>

Bekanntmachung einer Monatsschrift unter den Titel: Bildungsjournal für Frauenzimmer zur Beförderung des Guten, für beide Menschen-Geschlechter.

Diese Schrift wird vom Herausgeber und dessen Freunden, in Verbindung mit geschickten und aufgeklärten Frauenzimmern bearbeitet, und in folgende Fächer oder Klassen getheilet. 1) Praktisches Religionsfach: dahin gute religiöse Abhandlungen, moralischen Karakter, zur Erweckung für die Tugend, und Warnung fürs Laster, auffallende Begebenheiten: so weit sie auf Herz und moralische Verhältnisse einen guten Einfluß haben etc. gehören. 2) Eheliches Fach: dahin Vorbereitungsmaterien für die Pflichten im Ehestande, und Ermunterungsstücke für die Ausübung derselben gerechnet werden. 3) Oekonomisches Fach: darinnen alles was in die Oekonomie, und deren Ordnung gehöret bearbeitet werden soll. 4) Erziehungsfach: darzu wieder Vorbereit. Mater. und Ermunterung zur Ausübung gehören. 5) Annehmlichkeitsfach: dahin gute Briefe zur Bildung im Styl, Frauenzimmer Litteratur, die vornehmsten Geschichts- Erdberschreibungs- und Natur-Sachen Staatsneuigkeiten schöne Wissenschaften, Bekanntmachung unschädlicher Körperübungen Moden und andre Sachen gezählt werden. 6) Vermischte angenehme und nützliche Unterhaltungen andrer Art. Ich nehme auf dieses Journal bis Ende Januars 1787 bis dahin das erste Stück in farbigen Umschlag erscheint, und alle Monate damit fortgefahren wird, auf den Jahrgang einen halben Louisd’or Pränumeration an, nachher kostet der Jahrgang 3 Rthlr. Sächsisch Geld, und kann[<130>] die Pränum erst aufs folgende Jahr wieder statt finden. Daher ich diejenigen so daran Theil nehmen wollen, ersuchen muß, ihre Pränumerations Gelder bis Ende benannten Monats einzusenden, sonst sie als Nicht-Pränum. anzusehn sind. Man kann, wer sich nicht directa an mich wenden will oder kann, in allen Buchhandlungen Deutschlands, denen ich billige Vortheile verspreche, in welchen auch das ausführliche Avertissement zu haben ist, pränumeriren. Wo jedoch keine Buchhandlungen sind, verspreche ich denen, so sich mit Pränum. Sammlung befassen wollen, das 10te Exemplar gratis oder die Hälfte des fünften. Beiträge, wenn sie in Plan passen, werden mit Dank unter meiner Adresse, oder unter Adresse derer so im Avertissement genannt worden, angenommen. Die Namen der Pränumeranten werden vorgedruckt. Zittau im Nov. 1786.

Johann David Schöps.

Buchhändler.