ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Die internationale Rezeption des Magazins

Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde war ein erfolgreiches Unternehmen, das die deutsche Zeitschriftenlandschaft Ende des 18. Jahrhunderts veränderte und an der Begründung und dem Ausbau der anthropologischen Wissenschaften nachhaltig mitwirkte. Schon vor der Wende hin zum 19. Jahrhundert wurden Fallgeschichten aus der Zeitschrift exzerpiert, ins Englische übersetzt und von hier aus nach Frankreich vermittelt.

Die große Popularität vor allem der ersten Bände des Magazins veranlaßte die Gründung einer Reihe von allerdings kurzlebigen psychologischen Zeitschriften, deren Herausgeber in mehr oder weniger direkter Beziehung zu dem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde standen: so publizierte etwa Carl Friedrich Pockels (1757-1814), der zeitweilige Herausgeber des Magazins, nach einem Zerwürfnis mit Moritz Beiträge zur Beförderung der Menschenkenntniß, besonders in Berücksichtigung unserer moralischen Natur (1788/89), und später Denkwürdigkeiten zur Bereicherung der Erfahrungsseelenlehre und Charakterkunde: Ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte (1794). Der Kantianer Carl Christian Erhard Schmid (1761-1812), der einen Beitrag des schillernden Mystikers und Arztes Hermann Jakob Obereit an Moritz und Salomon Maimon zur Veröffentlichung gesandt hatte, gab ein Psychologisches Magazin (1796-98) heraus, dessen Ziel es war, wie Moritz »rohe Materialien« zu sammeln, um sie dann unter allgemeine und systematische Begriffe zu bringen. Immanuel David Mauchart (1764-1826), der drei Aufsätze zum Magazin beisteuerte und als »Schüler« von Moritz gilt,suchte im Allgemeinen Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften (1792/93, 1798/99, 1801) einen Mittelweg zwischen Moritz und Schmid, um dadurch die Anwendung dieser Wissenschaft »auf die gewöhnlichen sowohl als minder gewöhnlichen Vorfälle und Erscheinungen« des Lebens zu zeigen. Der Mediziner Johann Christian Reil (1759-1813) und der Philosoph Johann Christoph Hoffbauer (1766-1827) verstanden ihre Sammlung (Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege,1808-12) als Fortsetzung der durch Moritz begründeten Tradition und werteten Fallgeschichten des Magazins auch in ihren wissenschaftlichen Abhandlungen aus (Hoffbauer, Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandte Zustände, 1802-03, 1807; Reil, Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen, 1803). In seinen Vorlesungen über Psychologie, 1829/30 in Dresden gehalten,rezipierte Carl Gustav Carus das Magazin und zitierte aus vielen Fallgeschichten.

Die Zeitschrift wurde sehr bald im Ausland wahrgenommen. Die britischen Ärzte Alexander Crichton (1763-1856) und Thomas Beddoes (1760-1808) kannten sich bestens in der deutschen Fachliteratur aus und lasen auch das Magazin. 1798 veröffentlichte Crichton eine wegweisende Studie über Geisteskrankheiten, in der die Mehrheit der Fallbeispiele aus der deutschen Zeitschrift entnommen war und mit den Traditionen des britischen Empirismus, der schottischen »Common Sense«-Philosophie und des praktischen »bedside teaching« in der Edinburgh Royal Infirmary vermittelt wurde (An Inquiry into the Nature and Origin of Mental Derangement, Comprehending a Concise System of the Physiology and Pathology of the Human Mind, and a History of the Passions and their Effects, 1798). Durch seine Übersetzung wurde das Magazin auch anderen britischen Kollegen bekannt, wie z.B. Francis Willis Jnr. (1792-1859), Thomas Laycock (1812-1876) und Forbes Winslow (1810-1874). Auch der amerikanische Gründungsvater Benjamin Rush (1745-1813), der in den USA als Vorreiter der Psychiatrie gilt, hatte Crichtons Werk in seiner Bibliothek.

Über den englischsprachigen Umweg lernten französische Kollegen die Zeitschrift kennen. Alexandre Brierre de Boismont (1797-1881) und Jean-Pierre Falret (1794-1870) zitierten die von Crichton ins Englische übersetzten Fallgeschichten des Magazins in ihren Werken über den Selbstmord. Der Phrenologe Franz Joseph Gall (1758-1828) behandelte das Thema Zurechnungsfähigkeit mit Beispielen aus dem Magazin in seiner »Schädellehre«, die er in Paris veröffentlichte (Sur les fonctions du cerveau et sur celles de chacune de ses parties, 1825). Der bekannte Psychiater Philippe Pinel (1745-1826) sowie dessen Schüler Jean Etienne Dominique Esquirol (1772-1840) lobten Crichtons Sammlung und beschritten im Rahmen ihres »traitement moral« denselben Weg, den das Magazin gebahnt hat: den Weg der Beobachtung einzelner Fälle.

Hoffbauer übersetzte Crichtons Werk ins Deutsche als Alexander Crichton’s Untersuchung über die Natur und den Ursprung der Geistes-Zerrüttung (1810), und durch diese Vermittlung wirkte das Magazin in Deutschland vor allem in der Forschung zu Traum und Sprachstörungen weiter. Der theologisch-philosophische Schriftsteller und Arzt Johann Karl Passavant (1790-1857) zitierte Fälle von prophetischen Träumen in seiner Studie über das Hellsehen (Untersuchungen über den Lebensmagnetismus und Hellsehen, 1821); Beispiele von Aphasie wurden von dem vielseitigen Arzt und Schriftsteller Ernst Freiherrn von Feuchtersleben in seinem Lehrbuch der ärztlichen Seelenkunde (1845) ausgewertet.

Jenseits der wissenschaftlichen Rezeption hinterließ das Magazin Spuren in der Literatur. In der Germanistik hat man die Gattung ›Fallgeschichte‹ mit der Kriminalgeschichte und mit der Novelle in Verbindung gebracht und auf Einflüsse von Moritz und seines Magazinsauf das Werk Schillers (1759-1805), Jean Pauls (1763-1825), Tiecks (1773-1853), E.T.A. Hoffmanns (1776-1822) und Büchners (1813-1837) hingewiesen.

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