ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Einführung

»Mit Zittern schreite ich zu der Ausführung eines Unternehmens, dessen Wichtigkeit und Nutzbarkeit mir von Tage zu Tage mehr in die Augen leuchtet, wobei ich aber auch die großen Schwierigkeiten immer deutlicher einsehe.«

So begann Karl Philipp Moritz (1756-1793) die erste psychologische Zeitschrift in Deutschland. Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde mit dem griechischen Obertitel Gnothi Sauton (›Erkenne dich selbst‹) erschien 1783 bis 1793 in zehn Bänden. Mit Recht wird vor allem Moritz’ Name mit dem Magazin in Verbindung gebracht; der Schullehrer und vielseitige Schriftsteller (Sprachwissenschaftler, Reisebeschreiber, Ästhetiker und vieles mehr) war allein verantwortlich für die ersten vier Bände, einen Teil des siebten und den gesamten achten Band. Der Prinzenerzieher und kompromisslose Spätaufklärer Carl Friedrich Pockels (1757-1814) übernahm die Herausgeberschaft während Moritz’ Aufenthalt in Rom (1786-88), zu dessen nachträglicher großer Unzufriedenheit, und der mit Moritz befreundete ›wilde‹ Philosoph Salomon Maimon (1753-1800) brachte die Reihe mit einigen längeren wissenschaftlichen Abhandlungen und einem Generalregister zu einem Schluss.

Für das Vorhaben warb Moritz 1782 in der Zeitschrift Deutsches Museum um Beiträge: Es sollten Beobachtungen von sich selbst oder von anderen sein, die irgend einen Aufschluss über »das Innere des Menschen« geben und so als Material für eine zukünftige Wissenschaft der Erfahrungsseelenkunde nützlich sein könnten.Im anthropologischen 18. Jahrhundert fand es Moritz »fast schändlich, daß man bis itzt noch Schneckenhäuser und Spinnen beinahe mehr als den Menschen seiner Aufmerksamkeit wert gehalten hat«.

Ein Forum für und von Laien: Das war neu. Die wenigsten Autoren dieser Geschichtensammlung waren Ärzte; auch wenn sie Ärzte waren, hatten sie keinen höheren Status als die anderen Beiträger, denn nach Meinung des ersten Herausgebers waren alle aufgeklärten Köpfe imstande, empirisch sich selber und andere Menschen zu beobachten und darüber zu berichten.Die Beiträge im Magazin stammten von Moritz’ Freunden und Bekannten, von Fachleuten und von Laien, auch vielen, die sich nach der Lektüre eines Heftes oder Beitrages einfach bemüßigt fühlten, selber einen Erfahrungsbericht einzuschicken. Einige Beiträge hatten schriftliche Quellen – sehr oft Autobiographien oder Tagebücher, Zeitungsberichte oder Gerichtsakten. Auch ausländische Quellen wurden ins Deutsche übersetzt, z. B. aus dem Gentleman’s Magazine, dem Universal Magazine und dem Mercure de France.

Moritz unterteilte von Anfang an seine Beiträge in Anlehnung an die medizinische Terminologie in die vier Abteilungen »Seelenkrankheitskunde« (Pathologie), »Seelennaturkunde« (Physiologie), »Seelenzeichenkunde« (Semiotik) und »Seelenheilkunde« (Diätetik); beraten wurde er dabei von dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786). Aber schon im dritten Band bemerkte Moritz abschätzig, dass die Rubrik »Seelenkrankheiten« bei weitem die meisten Zuschriften bekam, weil sie beim Beiträger und Leser einen Schauder erweckten und „ein gewisses geheimes Vergnügen mit einfließen“ ließen. Das Studium der menschlichen Seele sollte jedoch ursprünglich ein therapeutisches Ziel verfolgen, denn »die Leiden der Unglücklichen [sollen] den Arzt der Seele anspornen, der Quelle der Heilmittel nachzuspähen«. Parapsychologische Phänomene wie prophetische Träume, Ahnungen,Visionen und religiöse Offenbarungen wurden offensichtlich auch gern um ihrer selbst willen gelesen; es sammelten sich aber doch auch, ganz im Moritzschen Sinne, Diskussionen über Alltagserfahrungen an: Lebensbeschreibungen, Kindheitserinnerungen, Beiträge zur Pädagogik, speziell auch zur Behindertenpädagogik.

Um erfahrungsseelenkundlichen Aufschluss über den Menschen zu gewinnen, musste man laut Moritz ein steter und »kalter Beobachter« des eigenen Selbsts sein: dann erst erkenne man, »wie die ersten Keime von den Handlungen des Menschen sich im Innersten seiner Seele entwickeln«. Um andere Menschen zu erforschen, müsste man dann Schlüsse aufgrund der Selbstbeobachtung ziehen, aber Moritz war sich der Schwierigkeiten dieses Unternehmens sehr wohl bewusst: »[W]ie die ersten Keime [...] sich im Innersten seiner Seele entwickeln [...] dies bemerken wir nur so selten bei uns selber, geschweige denn bei andern«.

Moritz verlangte »Fakta, und kein moralisches Geschwätz«, d. h. keine moralischen Wertungen oder vorschnellen Theorien. Aber die Fakta, die ihn interessierten, waren persönliche Erfahrungen und von Natur aus subjektiv. Fakta mussten sogar auch nicht unbedingt wahr sein – Beiträger lieferten Geschichten über tragische Liebe, über Mord und Selbstmord, die wirklich wie Trivialromane gelesen werden können: Ein Autor beteuert: »so sehr sie [d. i. diese Geschichte] auch einem Roman gleicht, [ist und bleibt] sie doch eine wahrhafte Geschichte«.

Natürlich sind Meinungen und Interpretationen ein grundlegender Bestandteil der empirischen Beobachtungen, und diese sind für Kulturwissenschaftler heute viel spannender als rückwirkende medizinische Diagnosen von moderner Perspektive aus, denn so begreifen wir das Verständnis von Krankheit und Wahnsinn in der deutschen Spätaufklärung. In manchen Fällen findet man »edle Metalle« im Innern des Menschen – eine sehr romantische Vorstellung – z. B. kann ein Professor ein Gedicht im Schlaf zu Ende schreiben, aber die Mehrheit der Berichterstatter weist eine tiefsitzende Angst vor dem auf, was im Innern haust, nicht der Kontrolle der Vernunft unterliegt und deshalb unerwartet an die Oberfläche kommen kann: Es entspinnt sich sogar ein Austausch über Zwangsvorstellungen wie den Drang, von einem Turm zu springen, wenn man von oben nach unten sieht, oder gar seinen Bruder in der Nacht zu ermorden. Es sind gebildete, rationale und aufgeklärte Figuren, die solches an sich wahrnehmen und demnach um den Verlust des eigenen Verstandes fürchten müssen: »[I]ich [...] konnte mir es [den Drang, laut in der Kirche reden zu müssen] durch nichts erklären, als dass der Fall, närrisch zu werden, bei mir eintreten könnte.«

Das Magazin war bahnbrechend, weil es solche Themen zur öffentlichen Debatte stellte. Dass die Zeitschrift zehn Jahre lang eine Leserschaft fand, ist ein Zeichen dafür, dass die Zeitgenossen interessiert, wenn nicht fasziniert waren von diesen nichtrationalen Phänomenen am Rande der Gesellschaft, die in der zeitlichen Folge allmählich weiter in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten. Im Magazin begann die Erforschung des Vor- und Unbewussten, die ein Jahrhundert später Sigmund Freud wirkungsmächtig in die Kulturgeschichte einschrieb.

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde I,3 Innen