ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: VIII, Stück: 2 (1791)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

Karl Philipp Moritz,
Professor der Theorie der schönen Künste in Berlin.

Achten Bandes zweites Stück.

Berlin
bei August Mylius 1790

[<II>]

Nachricht.

Da ich die Herausgabe des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde nach meiner Zurükkunft aus Rom nun selbst übernommen habe; so ersuche ich diejenigen Wahrheitsfreunde, welche durch Mittheilung ihrer Erfahrungen und Beobachtungen den Endzweck dieses Unternehmens mit befördern wollen, unter der Addresse: An den Professor Moritz in Berlin, ihre Beiträge an mich einzusenden. Berlin, im Dezember 1789.

Moritz.

[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.
Achten Bandes zweites Stück.

Zur Seelennaturkunde.

1.

Wirkung des Denkvermögens auf die Sprachwerkzeuge.

Herz, Marcus

Im August 1785 besuchte ich einen Offizier von der Artillerie, einen Mann von vierzig Jahren, der, wie man mir erzählte, seit einem Jahre, nach vorhergegangener Erkältung und Aergerniß, an der Zunge, den Händen und Füßen völlig gelähmt war.

Er wurde von einem unserer guten Aerzte allhier behandelt, der mich hinzu rief, um Einrichtung zu einer elektrischen Cur zu treffen.

Dies geschah, und so hatte ich den Kranken nicht wieder gesehen bis im folgenden Jahre. Da er mich meines Beistandes halber zu sich kommen lies, weil sein Arzt ihn verlassen hatte.

[2]

Ich fand ihn so weit hergestellt, daß er die Füße vollkommen brauchen konnte, auch die Hände einigermaßen; aber in Ansehung der Sprache fiel mir folgende merkwürdige Erscheinung auf. Er war schlechterdings nicht im Stande irgend ein Wort deutlich und vernehmlich hervorzubringen, weder von selbst aus eigenem Triebe, noch wenn man ihm die Worte laut und langsam vorsagte. Er strengte sich äußerst heftig an, die Zunge und die übrigen Sprachwerkzeuge in Bewegung zu setzen, konnte aber nie etwas anders als ein unverständliches Gemurre von sich geben, das ihm sehr viel Mühe machte und sich dann mit einem tiefen Seufzer endigte.

Hingegen konnte er sehr fertig lesen. Hielt man ihm ein Buch oder etwas Geschriebenes vor, so las er geschwind und deutlich, so daß man kaum einen Fehler an seinen Sprachorganen bemerkte.

Nahm man ihm aber die vorgehaltene Schrift weg, so war er wiederum nicht im Stande die vorigen Worte auszusprechen. Diesen Versuch wiederholte ich sehr oft, in Gegenwart seiner Frau und verschiedener andere Personen, der Erfolg war immer derselbe.

Ich weiß mir von dieser merkwürdigen psychologischen Erscheinung keine andere Erklärung zu geben als folgende: Um unsere Sprachwerkzeuge zur Hervorbringung eines Wortes in Bewegung zu setzen, ist es nothwendig, daß dessen Vorstellung, [3] sie mag nun von selbst in uns oder durch äußere Veranlassung entstehen, vorher in unserer Seele gegenwärtig sey, welche alsdann unsere Willkühr rege macht, und sie bestimmt, in die Nerven der Sprachmuskeln den Nervensaft gerade so hin zu bewegen, als es die Aussprache des ihr entsprechenden Wortes erfordert.

Diese Vorstellung muß einen gewissen Grad von Stärke haben, um die Willkühr in diese Thätigkeit zu versetzen. Ueberschreitet sie denselben, so wirkt sie zu lebhaft, und es entstehet ein geschwindes undeutliches Plaudern oder auch ein Stottern; erreicht sie ihn nicht, so ist sie unvermögend die Wirkung überhaupt hervorzubringen; die Willkühr wird alsdann zwar in einer Art von Bestreben sich befinden, den Nervensaft in Bewegung zu setzen, aber da der Reiz der Vorstellung zu schwach ist; so wird es auch bloß beim unfruchtbaren Bestreben bleiben, ohne daß ein wirkliches Sprechen darauf erfolgt.

Es ergiebt sich aber daraus sehr leicht, daß dieser erforderliche Grad der Vorstellung nicht unter allen Umständen derselbe seyn kann, sondern nach der verschiedenen Beschaffenheit der Sprachorgane verschieden seyn muß. Nachdem diese reitzbarer und beweglicher, oder stumpfer und unbeweglicher sind, wird er kleiner oder größer seyn müssen. Wenn also ihre Nerven in einem widernatürlichen Zustande sich befinden, und dem gewöhnlichen Einströmen des Nervensafts zu großen Widerstand leisten, oder [4]wenn deren Muskeln eine so geringe Reitzbarkeit haben, daß der gewöhnliche Einfluß des Saftes in ihre Nerven in ihnen keine Zusammenziehung hervorzubringen vermag, so muß die Thätigkeit der Willkühr desto größer, ihre Anstrengung, und folglich die Vorstellung, die sie zu dieser Anstrengung spornt, desto stärker seyn, und so umgekehrt.

Es hängt aber die Wirksamkeit einer Vorstellung von zwey Ursachen ab; von ihrer Lebhaftigkeit und von ihrer Dauer. Was die erste betrift, so kömmt diese hier nicht in Betrachtung, da es in Ansehung ihrer keine wesentliche Verschiedenheit unter den verschiedenen sinnlichen Vorstellungen giebt, und bis auf einen gewissen Grad, der ins schmerzhafte Gefühl übergeht, kann eine jede bald lebhafter bald stumpfer als die übrigen seyn.

In Ansehung der letzten aber findet sich ein merklicher Unterschied zwischen den verschiedenen sinnlichen Eindrücken, und also auch zwischen ihren Vorstellungen. Vorzüglich ist er zwischen den Vorstellungen des Gesichts und des Gehörs auffallend. Offenbar sind jene von weit längerer Dauer als diese. Die Vorstellung gewisser Wörter z.B. welche den empfangenen Eindruck derselben durch das Gehör begleitet, sie mag noch so unmittelbar darauf folgen, ist doch immer in der Dauer nur Erinnerung. Der Schall ist vorüber, und den Augenblick darauf muß die erregte Vorstellung sich durch sich selbst, vermittelst der Erinnerung des [5]gehabten Eindruckes, erhalten: Da hingegen beim anhaltenden Sehen au einen Gegenstand die Ursache, welche die Vorstellung unterhält, ununterbrochen gegenwärtig ist.

Und gesetzt auch, daß derselbe Laut oft hinter einander wiederholt wird, so entstehen daraus doch immer nur viele besondere einzelne Eindrücke, die bei weitem keine solche anhaltende stetige Vorstellung in dem Gemüth hervorbringen, als die ununterbrochene Strahlenwirkung eines sichtbaren Gegenstandes.

Im ersten Falle muß also die Macht der Vorstellung geringer, und folglich ihre Wirkung auf die Willkühr schwächer seyn als im letzten.

Dies ist wahrscheinlich mit eine Ursache, warum die Vorstellungen des Gesichts überhaupt fester in der Seele haften, als die des Gehörs; und wir eines einmal gesehenen Bildes noch lange Zeit uns leichter zurück erinnern, als einer einmal gehörten Melodie.

Nun waren bey unserm Kranken die Sprachwerkzeuge offenbar in einem geringen Grade gelähmt, wodurch sie freylich nicht aller Beweglichkeit beraubt, aber doch in einem geschwächten minder reitzbaren Zustand versetzt wurden, und sie konnten nur von einer stärkern Vorstellung und angestrengteren Kraft der Willkühr in Thätigkeit gesetzt werden, welche zwar von der anhaltenden Wirkung eines Gesichts- aber nicht von der verschwinden-[6]den eines Gehörgegenstandes verlangt werden konnten.

Vor kurzem ist mir noch ein ähnlicher Fall bei einer jungen aus Gram melankolischen Dame vorgekommen. Weder das dringendste Bitten, noch die heftigsten Drohungen, waren im Stande einen artikulirten Ton von ihr heraus zu bringen.

Hielt man ihr aber einen Brief oder ein gedrucktes Blatt vor, und ersuchte sie, es zu lesen, so that sie es mit der größten Fertigkeit eines gesunden Menschen. Bey dieser waren die Sprachwerkzeuge im natürlichen Zustande, aber durch die brütende Aufmerksamkeit auf ihren Lieblingsgegenstand wurde wahrscheinlich die gewöhnliche Wirkung jeder andern Vorstellung so sehr geschwächt, daß sie nicht hinreichte den Willen in die Thätigkeit zu setzen, welche zum Bewegen des Nervensafts in die Sprachorgane erfordert wird. Da nun, wie ich schon erwähnt, die Vorstellungen des Sehens, wegen der anhaltenden Gegenwart ihrer Ursache, dauerhafter und stärker sind, als die des Hörens, so ergiebt sich von selbst: warum jene und nicht diese sie zum Sprechen bewegen konnten.

Marcus Herz.

[7]

2.

Fortsetzung des Fragments aus dem 4ten Theil von Anton Reisers Lebensgeschichte. a

Moritz, Karl Philipp

Diese Anrede wirkte so mächtig auf Reisers Phantasie, daß auf einmal das Karthäuserkloster mit seinen hohen Mauern tief im Hintergrunde stand, und die Kulissen mit den Lichtern sich plötzlich wieder vordrängten; da nun O... überdem noch hinzufügte, daß man damit umgehe, in dem Stücke, das man aufzuführen Willens sey, Reisern eine Rolle anzutragen; so war vollends jeder ernste und melancholische Gedanke wie verschwunden.

Das Stück nehmlich, was die Studenten in Erfurt aufführen wollten, hieß Medon oder die Rache des Weisen, und man könnte davon sagen, daß es die ganze Moral in sich enthielte, so erstaunlich viel Tugend wurde von allen Personen darin gepredigt.

In diesem Stücke nun sollte Reiser die Rolle der Klelie, der Geliebten des Medon, übernehmen, weil sich an seinem Kinne noch die wenigste Spur von einem Barte zeigte, und weil auch seine Länge als Frauenzimmer eben nicht auffiel, da der, welcher den Medon spielte, von einer fast riesenmäßigen Größe war.

[8]

Ohngeachtet der auffallenden Sonderbarkeit dieser Rolle, konnte Reiser dennoch seinem Hange, das Theater auf irgend eine Weise zu betreten, nicht widerstehen, um so weniger, da sich ihm die Gelegenheit dazu so ganz ungesucht und von selbst darbot.

Die Vorbereitungen zu der Komödie wurden nun gemacht; Reiser lernte die Rolle der Klelie auswendig, und nun wurden häufige Proben gehalten, wodurch Reiser mit dem größten Theile der Studenten in Erfurt bekannt wurde, die sich alle gegen ihn ganz höflich betrugen, und alle eine vortheilhafte Meinung von ihm hegten, wodurch er sich in eine Welt versetzt fand, die von derjenigen ganz verschieden war, worin er von Kindheit auf gelebt hatte.

Zwischen diesen Komödienproben versäumte nun Reiser nicht, des Doktor Frorieps Predigerkollegium fleißig zu besuchen. Dieses bestand aus einer Anzahl Studenten, die sich in der Kaufmannskirche, in Gegenwart des Doktor Froriep und der übrigen Studenten, bei verschlossenen Thüren, im Predigen übten.

Hier wünschte nun Reiser ebenfalls auftreten zu können, um seine Deklamation hier hören zu lassen, und es war ihm immer eine der reizendsten Aussichten, wenn der Doktor Froriep ihm einmal verstatten würde, hier die Kanzel zu besteigen. Auch hatte er sich schon ein Thema ausgedacht, worin er die Schönheiten der Natur, den Wechsel der Jah-[9]reszeiten mit poetischen Farben schildern, und mit den glänzenden und schimmernden Aussichten in die Ewigkeit auf eine pathetische Weise seine Predigt beschließen wollte. Allein es kamen immer Hindernisse dazwischen, daß ihm dieser Wunsch in Erfurt nicht gewährt wurde.

So wie man nun an allem zweifelt, was man heftig wünscht, so zweifelte er auch immer, ob die wirkliche Aufführung der Komödie zu Stande kommen, und er seine Rolle darin behalten würde. Dieser Wunsch wurde ihm dann gewährt. Er wurde mit aller Sorgfalt als Klelie geschmückt. Die Lichter wurden angezündet, der Vorhang rauschte empor, und er stand nun da vor einem zahlreichen Auditorium, und spielte ganz unbefangen seine lange Rolle durch, ohne daß ihm ein einzigesmal das Unnatürliche davon eingefallen wäre, so sehr war er in dem Gedanken vertieft, daß er in einer theatralischen Darstellung nun wirklich mit begriffen, und daß seine Mitwirkung in jedem Augenblick dazu nothwendig war. —

Dies Vertiefen in seinen Gegenstand machte, daß er sich selbst vergaß, und daß auch die Zuschauer das Unnatürliche der Rolle weniger bemerkten, und er über sein Spiel sogar noch Beifall erhielt. Da er also nun den Schauplatz betreten hatte, und doch dabei Student blieb, so machte ihm dies doppeltes Vergnügen, und er fühlte sich in der Wiedererinnerung an diesen Abend ein Paar Tage über so [10]glücklich, daß ihm alles das, was ihm in den wenigen Wochen, die er nun in Erfurt zugebracht hatte, schon begegnet war, halb wie im Traume vorkam.

Er rückte nun auch in die Wochenschrift der Bürger und der Bauer von Zeit zu Zeit Gedichte ein, wodurch sein Name als Schriftsteller unter den Erfurtischen Bürgern bekannt wurde. Dabey besorgte er Korrekturen für den Buchdrucker G...., und wurde durch diesen mit einem gewissen Doktor Sauer bekannt, den, bey den größten Vorzügen des Geistes und Herzens bis an seinen Tod, ein widriges Schicksal verfolgte, weil er durch den langwierigen ununterbrochenen Druck der Umstände verlernt hatte, seinen Werth geltend zu machen, und gerade die Kraft, wodurch er in der Welt festen Fuß fassen, und seinen Platz behaupten mußte, bey ihm gelähmt war.

Dieser Doktor Sauer hatte für den Buchdrucker G.... eine Wochenschrift geschrieben, unter dem Titel: Medon, oder die drey Freunde, wovon ein Jahrgang herausgekommen war. Man sahe auch hieran, wie er mit dem Druck der Umstände hatte kämpfen müssen; wie schwer es ihm mußte geworden seyn, eine Anzahl trivialer Aufsätze niederzuschreiben, wobey noch immer die Funken des unterdrückten Genies hervorsprühten.

So aber mußte er schreiben, und wöchentlich seinen Bogen liefern, um wiederum ein Jahrlang von seinem mühseeligen Leben zu athmen. Da nun die [11]Wochenschrift aufhörte, so war er genöthigt, wieder von Korrekturen sein Daseyn zu erhalten. Und da er selber dramatische Ausarbeitungen von vielem Werth in seinem Pulte liegen hatte, die er nicht wagte zum Vorschein zu bringen, mußte er für einen vornehmen Herrn in Erfurt, mit aller Sorgfalt und Korrektheit eines Kopisten, ein Trauerspiel für Geld abschreiben, um mit dem Abschreiberlohne wiederum einige Tage lang sein Leben zu fristen.

Als Arzt verdiente er nichts; denn er fühlte einen besondern Hang in sich, gerade den Leuten zu helfen, die der Hülfe am meisten bedürfen, und denen sie am wenigsten geleistet wird. Und weil dies nun gerade diejenigen sind, welche die Hülfe nicht zu bezahlen vermögen, so gerieth der Arzt selber in große Gefahr zu verhungern, wenn er nicht Wochenschriften herausgegeben, Korrekturen besorgt, und Trauerspiele abgeschrieben hätte.

Kurz, er ließ sich für seine Kuren nichts bezahlen, und brachte auch dazu den armen Leuten die Arzenei ins Haus, die er selbst verfertigte, und das wenige was ihm übrig oder nicht übrig blieb noch darauf verwandte. Weil er sich nun dadurch gleichsam weggeworfen hatte, so hatten die Leute aus der großen und vornehmen Welt kein Zutrauen zu ihm; niemand zog ihn zu Rathe, und unter den meisten war sogar sein Name nicht einmal bekannt, [12]ob er sich gleich als Arzt schon keine geringe Erfahrung und Geschicklichkeit erworben hatte.

Er hatte auch in diesem Fache schon einige vortreffliche Ausarbeitungen geliefert, die aber das Unglück hatten sich unter der Menge zu verlieren, und, eben so wie ihr Verfasser, von den Zeitgenossen nicht bemerkt zu werden. Und während, daß er nun seine übrigen medizinischen Ausarbeitungen in seinem Pulte verschlossen hielt, mußte er die Schrift eines Französischen Arztes, der nach Erfurt kam, und besser als der Doktor Sauer sich wußte bemerken zu machen, ins Lateinische übersetzen, um von dem Uebersetzerlohne zu leben, und für seine hülflosen und armen Kranken neue Arzeneimittel zuzubereiten.

Der müßte ganz abgestumpft seyn, der diese Unwürdigkeiten und Demüthigungen vom Schicksal nicht fühlen sollte. Der Doktor Sauer machte eine lächelnde Miene dazu, allein im Innersten seiner Seele untergrub doch jede dieser Demüthigungen und Herabwürdigungen seine Thatkraft, und lähmte seinen Muth. Wie konnte er seinem innern Werthe noch trauen, da die ganze Welt ihn verkannte.

Wegen der Konnexion mit dem Buchdrucker G...., für welchen er die Korrekturen besorgte, gab er nun auch zuweilen Aufsätze in die berühmte Erfurtische Wochenschrift der Bürger und der Bauer; und da laß Reiser einmal ein Gedicht von [13]ihm, auf die freigewordenen Amerikaner, welches wohl verdient hätte, in einer Sammlung von den vorzüglichsten Poesien der Deutschen zu stehen, und nun in einem Blatte sich verlohr, das in den Bierhäusern von Erfurt feil geboten wurde.

Es war als ob in diesem Gedichte sein unterdrückter Geist alle sein Freiheitsgefühl noch einmal ausgehaucht hätte, ein solcher Schwung und feurige Theilnehmung herrschten in den Gedanken.

Ganz entzückt durch dies Gedicht konnte Reiser nicht ruhen, bis er die Bekanntschaft eines so vorzüglichen Mitarbeiters an der Wochenschrift der Bürger und der Bauer gemacht hatte. Es hielt aber schwer, bis er diesen Wunsch erreichte, weil der Doktor Sauer eben keinen großen Hang in sich fühlen konnte, sich noch ferner an irgend einen aus der Klasse von Wesen anzuschließen, die ihn gleichsam ausgestoßen .

Indeß fand sich doch ein Weg dazu, weil Reiser sein Studium der englischen Sprache auch in Erfurt fortgesetzt hatte, daß er sich erbot den Doktor Sauer Englisch zu lehren, da dieser schon einigemal den Wunsch geäußert hatte, mit dieser Sprache bekannt zu seyn. Dies Anerbieten wurde denn angenommen, und so erhielt Reiser Gelegenheit wöchentlich wenigstens ein paarmal mit diesem Manne zusammen zu kommen, an den er sich nun so nahe wie möglich anzuschließen wünschte.

[14]

Bei dieser Gelegenheit wurde er nun immer offner gegen Reisern, und erzählte ihm von den mannigfaltigen Unterdrückungen, denen er von seiner Kindheit, von seinen Anverwandten und von seinen Lehrern ausgesetzt war, und nachher alle die Streiche des Schicksals nach einander, die ihn bis in den Staub darniedergebeugt hatten; so daß Reiser im auffahrenden Unwillen sich nicht enthalten konnte, die Verkettung hämisch zu nennen, worin ein denkendes und empfindendes Wesen gleichsam absichtlich so eingeengt und gequält wird.

Während daß nun Reiser auf diese Art seinen Unwillen äußerte, verzog sich Sauers Mund zu einem sanften Lächeln, wodurch er freylich über diesen Unwillen erhaben, aber auch zugleich von den irrdischen Banden schon gelöst war, und seiner baldigen vollkommenen Befreiung ahndungsvoll entgegen sahe. — Sein Kampf war beinahe durchgekämpft, er brauchte weiter keine widerstehende Kraft, keinen Trotz gegen das Schicksal. —

Demohngeachtet loderte die Lebensflamme noch manchmal wieder in ihm auf. Er hoffte zuweilen noch glückliche Tage zu sehen, und hatte einen großen Eifer zur Erlernung des Englischen, weil er sich von diesem seinem Studium viel versprach, um vorzüglich die in der englischen Sprache geschriebenen medizinischen Werke zu nutzen, und dann auch durch Uebersetzungen aus dem Englischen Geld zu erwerben.

[15]

Dann bot sich ihm auch sogar eine kleine Aussicht zu einer Art von Versorgung in Erfurt dar — und dies war ihm nun schon eine sehr glückliche Wendung, die er besonders seinem Ausharren zuschrieb. Wer in Erfurt zu etwas kommen wollte, pflegte er nun oft zu Reisern zu sagen, der müsse nur lange Zeit ausharren, und die Geduld nicht verlieren! — so bescheiden und mäßig war er in seinen Wünschen, und so sehr war jeder Schimmer eines bessern Glücks ihm schon aufmunternd.

Er wußte nicht, daß alles äußere Glück ihm nichts mehr helfen konnte, weil der Quell des Glücks in ihm selber versiegt, und die Blume seines Lebens zerknickt war, so daß ihre Blätter nothwendig welken mußten.

Reiser fühlte sich von einer solchen Theilnehmung angezogen, als ob das Schicksal dieses Mannes sein eigenes, oder mit dem seinigen doch unzertrennlich verknüpft gewesen wäre. Es war ihm als müßte dieser Mann noch glücklich werden, wenn die Dinge in ihrem Gleise bleiben sollten.

Reisern trog aber diesmal, so wie nachher noch oft, seine Ahndung, und sein Glaube an eine Entschädigung für erlittenen Kummer, die nothwendig noch auf Erden statt finden müsse. — Sauer entschlummerte nach wenigen Jahren, ohne bessere Tage gesehen zu haben. — Da ihm von außen das Glück ein wenig anlächelte, waren seine innern Kräfte zerstört; und er blieb unbemerkt und unbe-[16]kannt bis an seinen Tod; so daß in der kleinen Gasse, wo er wohnte, seine nächsten Nachbarn, als man den Sarg hinaustrug, fragten: wer denn da begraben würde? Ein Grad des Nichtbemerktwerdens, der in einer so unbevölkerten Stadt, wie Erfurt, höchst auffallend ist.

Die wenigen Tage nun, welche Reiser mit dem Doktor Sauer in Erfurt verlebte, waren für ihn höchst wichtig, weil sie seiner Seele einen gewissen neuen Anstoß gaben: Er rafte sich gegen alle die Unterdrückungen zusammen, welche jenen Geist so sehr hatten lähmen können. Und der Unwille, den er darüber empfand, flößte ihm einen gewissen Trotz ein, auch dem Schwersten nicht zu unterliegen, und das gewissermaßen durch Widerstand zu rächen, was jener gelitten hatte.

Sie waren eines Tages nach einem Dorfe vor Erfurt zusammen spatzieren gegangen, und O.... war mit von der Gesellschaft. — Als sie gegen Abend zurückkehrten, kamen sie an ein Gewässer, das mit dickem Gebüsch umgeben war, und schwarz zwischen seinen Ufern hinkroch. Hier blieb Sauer stehen, und suchte mit dem Stocke die Tiefe zu messen, die er aber nicht abreichen konnte. Er blieb stehen, und sahe mit untergeschlagenen Armen in das Wasser, und bemerkte die schwarze Fläche, und wie langsam fließend es dahin kröche.

Das Bild, wie Sauer mit blassen Wangen, und untergeschlagenen Armen, bedeutungsvoll in [17]diesen Stygischen Fluß hinunter blickte, kam Reisern lebhaft wieder vor die Seele, als er einige Jahre nachher die Nachricht von seinem Tode vernahm. — Denn wenn irgend ein bedeutendes Bild sich formte, wo Zeichen und Sache eins wurden, so war es hier.

Für Reisern aber eröffneten sich wieder fröliche Aussichten : denn die Studenten kamen auf den Einfall noch eine Komödie aufzuführen, weil sie an diesem Vergnügen nun einmal Geschmack bekommen hatten.

Die Stücke, welche man wählte, waren der Argwöhnische und der Schatz, von Lessing: b in dem erstern erhielt Reiser wiederum zwei Frauenzimmerrollen, die er mit Umkleidung spielen mußte; und in dem Schatz die Rolle des Maskaril, und nun wurde sein Schauspielerkredit unter den Studenten schon so befestigt, daß man es als eine Gefälligkeit von ihm ansah, wenn er diese Rollen übernehmen wollte, und er sich also auf keine Weise dazu drängen durfte.

Während daß nun die Veranstaltungen zu dieser zweiten theatralischen Vorstellung gemacht wurden, fing Reiser zu gleicher Zeit eine Ausarbeitung über die Empfindsamkeit an, womit er zuerst als Schriftsteller auftreten wollte. In dieser Schrift sollte die affektirte Empfindsamkeit lächerlich gemacht, und die wahre Empfindsamkeit in ihr gehöriges Licht gestellt werden.

[18]

Die seynsollende Satyre gegen die Empfindsamkeit gerieth nun freylich ziemlich grob, indem er sie mit einer Seuche verglich, vor der man sich zu hüten habe, und jedem, der aus einer Gegend käme, wo die Empfindsamkeit herrschte, den Eingang in Städte und Dörfer versperren müßte. — Dieser Unwille war vorzüglich durch die empfindsamen Reisen, die nach und nach in Deutschland erschienen, und durch die vielen affektirten Nachahmungen von Werthers Leiden, bei Reisern erweckt worden, ob er sich gleich selber auch heimlich dieser Sünde anklagen mußte; um desto heftiger suchte er nun auch zugleich zu seiner eigenen Besserung dagegen zu eifern.

Gerade, da er eines Abends an dieser Abhandlung schrieb, trat der Buchdrucker P... aus H.... in die Stube, und brachte ihm einen Brief von Philipp Reisern. Dies war eben der Buchdrucker für den er in H.... eine Anzahl kleiner Neujahrswünsche verfertigt, und sich zum erstenmal in denselben gedruckt gesehen hatte.

Als Reiser den Buchdrucker vor die Thür hinaus begleitete, drückte ihm dieser ein kleines Goldstück in die Hand, welches hinlänglich war, einen Menschen, der nun seit einigen Wochen schon ganz von Gelde entblößt war, und sich doch seinen Mangel nicht wollte merken lassen, auf einmal aus dem Staube zu heben.

[19]

Dies unvermuthete Geschenk erhielt noch einen größern Werth durch die Art, womit es gegeben wurde, indem der Buchdrucker P... die Worte hinzufügte: es sey diese Kleinigkeit eine alte Schuld, die er abtrüge, weil nehmlich Reiser Neujahrwünsche, Gedichte u.s.w. bloß der Ehre wegen in H.... für ihn verfertigt hatte.

In Reisers Umständen hatte ein Goldgulden, woraus dies Geschenk bestand, für ihn einen unschätzbaren Werth, und riß ihn auf einmal aus einer Menge kleiner Verlegenheiten, die er keinem Menschen hatte sagen dürfen. Dies machte daß er nun in Erfurt wirklich einige glückliche Tage verlebte, wo er eben durch nichts weder von innen noch außen gedrückt wurde; und auch in die Zukunft keine trübe Aussichten hatte.

Der Brief von Philipp Reisern war auch interessanter als der vorhergehende; denn er enthielt die Nachricht, daß verschiedene von Reisers Mitschülern, welche mit ihm zugleich in H.... Komödie gespielt hatten, seinem Beispiele gefolgt, und auch zum Theil heimlich fortgegangen waren, um sich dem Theater zu widmen.

Darunter war vorzüglich I..., der im Klavigo den Beaumarchais gespielt hatte; der Sohn des Kantor W...; der Präfektus aus dem Chore, Namens O..., und ein gewisser T..., eines Predigers [20]Sohn, mit dem Reiser vor seinem Abschiede noch einige romantische Spatziergänge bey H.... gemacht hatte. Nun fand Reiser eine sonderbare Art von Stolz darin, daß er doch von allen diesen nachgeahmt war, daß er zuerst den Muth gehabt hatte, einen solchen Schritt zu thun.

Dann schrieb ihm Reiser ferner in seiner überspannten Schreibart, daß der Dichter Hölty in H... c gestorben sey, und schloß am Ende mit den Worten: freue dich Dichter! weine Mensch! — Von dem Fortgange seines Liebesromans enthielt dieser Brief nur wenig.

Während daß nun die Veranstaltung zu der zweiten Komödie gemacht wurde, welche die Studenten in Erfurt aufführen wollten, fand Reiser einen neuen Freund in Erfurt, einen Studenten Namens N..., aus Hamburg gebürtig, der bei dem Doktor Froriep im Hause wohnte, welcher ihm eine Abschrift von Reisers Gedichte: das Karthäuserkloster gezeigt, und dadurch dem Verfasser auf einmal einen neuen Freund verschaft hatte.

Dies wurde nun eine Freundschaft gerade von der empfindsamen Art, wogegen Reiser eine Abhandlung zu schreiben im Begriff war.

Der junge N... hatte wirklich ein gefühlvolles Herz, er ließ sich aber auch durch den Strom hinreißen, und spielte bei jeder Gelegenheit den Empfindsamen, ohne es selbst zu wissen; denn er ei-[21]ferte sehr oft mit Reisern gegen das Lächerliche einer affektirten Empfindsamkeit — weil er aber nicht bloß vor andern empfindsam zu scheinen, sondern es für sich selber wirklich zu seyn suchte, so deuchte ihm das keine Affektation mehr, sondern er trieb dies nun als eine ganz ernsthafte Sache, die keinen Spott auf sich leidet, und zog Reisern allmälig mit in diesen Wirbel hinüber, der die Seele so lange hinauf schraubt, bis sie in den abgeschmacktesten Zustand geräth, den man sich denken kann.

Reisern war es schon aufmunternd, daß, ohngeachtet seiner dürftigen Umstände, sich jemand an ihn schloß, dem es nicht an äußern Glücksgütern fehlte. — Nach und nach aber bildete sich bei ihm eine ordentliche Liebe und Anhänglichkeit an den jungen N..., welche durch dessen wahre Freundschaft für Reisern immer vermehrt wurde, so daß sie sich immer mehr, auch in ihren Thorheiten, einander näherten, und von ihrer Melancholie und Empfindsamkeit sich wechselsweise einander mittheilten.

Dies geschahe nun vorzüglich auf ihren einsamen Spatziergängen, wo sie nur gar zu oft zwischen sich und der Natur eine Scene veranstalteten, indem sie etwa bey Sonnenuntergang die Jünger von Emmaus aus dem Klopstock d lasen, oder an einem trüben Tage Zacharias Schöpfung der Hölle, e u.s.w.

[22]

Vorzüglich lagerten sie sich oft am Abhange des Steigerwaldes, von welchem man die Stadt Erfurt mit ihren alten Thürmen, und ihrem ganzen Umfange von Gärten, kann liegen sehen. Hier hinauf gehen die Einwohner von Erfurt häufig spatzieren, machen sich auch wohl oben selbst ein kleines Feuer an, und kochen sich den Kaffe, um die patriarchalischen Ideen wieder zu erneuern.

Hier saßen nun auch N... und Reiser oft Stunden lang, und lasen sich aus irgend einem Dichter wechselsweise vor; welches die meiste Zeit eine wahre Mühe und Arbeit, und ein peinlicher Zustand für sie war, den sie sich aber einander nicht gestanden, um nur am Ende die Idee mit sich zu nehmen: »wir haben am Steigerwalde freundschaftlich beieinander gesessen, haben von da in das anmuthsvolle Thal hinuntergeblickt, und dabei unsern Geist mit einem schönen Werke der Dichtkunst genährt.«

Wenn man erwägt, wie viele kleine Umstände sich vereinigen mußten, um das Stillsitzen und Lesen unter freiem Himmel angenehm zu machen, so kann man sich denken mit wie vielen kleinen Unannehmlichkeiten N... und Reiser bei diesen empfindsamen Scenen kämpfen mußten: wie oft der Boden feucht war, die Ameisen an die Beine krochen, der Wind das Blatt umschlug, u.s.w.

N... fand nun einen vorzüglichen Gefallen daran, Klopstocks Messiade f Reisern ganz vorzulesen; [23]bei der entsetzlichsten Langenweile nun, die diese Lektüre beiden verursachte, und die sie sich doch einander, und jeder sich selber kaum zu gestehen wagten, hatte N... doch noch den Vortheil des lauten Lesens, womit ihm die Zeit verging: Reiser aber war verdammt zu hören, und über das Gehörte entzückt zu seyn, welches ihm mit die traurigsten Stunden in seinem Leben gemacht hat, deren er sich zu erinnern weiß; und welche ihn am meisten zurückschrecken würden, seinen Lebenslauf noch einmal von vorn wieder durchzugehen. Denn keine grössere Quaal kann es wohl geben, als eine gänzliche Leerheit der Seele, welche vergebens strebt sich aus diesem Zustande heraus zu arbeiten, und unschuldigerweise sich selber in jedem Augenblicke die Schuld beimißt, und sich selber ihres Stumpfsinns anklagt, daß sie von den erhabnen Tönen, die unaufhörlich in ihre Ohren klingen, nicht gerührt und erschüttert wird.

Ob nun gleich N... und Reiser fast unzertrennlich beisammen waren, so sehnte sich der letztere doch wieder nach einsamen Spatziergängen, die ihm immer das meiste Vergnügen gewährt hatten; allein dies hatte er sich nun auch verleidet; denn gemeiniglich versprach er sich von einem solchen Spatziergange zu viel, und kehrte verdrüßlich wieder zu Hause, wenn er nicht gefunden hatte, was er suchte; sobald das Dort nun Hier wurde, hatte [24]es auch alle seine Reize verlohren, und der Quell der Freuden war versiegt.

Der Verdruß, der denn in die Stelle der gereitzten Hoffnung trat, war von einer so groben, gemeinen und widrigen Art, daß auch nicht der mindeste Grad von einer sanften Melancholie oder etwas dergleichen damit bestehen konnte. Es war ohngefähr die Empfindung eines Menschen, der ganz vom Regen durchnetzt ist, und indem er vor Frost schaudernd zu Hause kehrt, auch noch eine kalte Stube findet.

Ein solches Leben führte Reiser, und schrieb dabei immer an seiner Abhandlung gegen die falsche Empfindsamkeit fort, wobey er denn bei seinen einsamen Spatziergängen einmal eine sonderbare Aeusserung von Empfindsamkeit bei einem gemeinen Menschen bemerkte, bei dem er dieselbe am wenigsten erwartet hätte.

Er ging nehmlich zwischen den Gärten von Erfurt spatzieren, und da es gerade in der Pflaumenzeit war, so konnte er sich nicht enthalten, von einem überhangenden Aste, eine schöne reife Pflaume abzupflücken, welches der Eigenthümer des Gartens bemerkte, der ihn sehr unsanft mit den Worten anfuhr, ob er wohl wisse, daß diese Pflaume, die er da abgepflückt hätte, ihm einen Dukaten kosten würde.

[25]

Reiser suchte abzudingen, mußte aber zugleich gestehen, daß er keinen Heller Geld bei sich habe. Um nun aber den Eigenthümer des Gartens wegen der geraubten Pflaume einigermaßen zu befriedigen, mußte er ihm sein einziges gutes Schnupftuch aus der Tasche geben, dessen Verlust ihm sehr Leid that.

Als er traurig wegging, sah er, nachdem er nur einige Schritte gethan hatte, ein schönes Einlegemesser vor sich auf der Erde liegen; er hob es geschwind auf, und rief den Gärtner wieder zurück, dem er einen Tausch antrug, ob er nicht für das gefundene Messer ihm sein Schnupftuch zurück geben wolle?

Wie erstaunte Reiser, als nun der Gärtner, welcher vorher so grob gegen ihn gewesen war, ihm auf einmal um den Hals fiel und küßte, und sich seine Freundschaft ausbat; weil Reiser nothwendig ein Günstling der Vorsehung seyn müßte, da sie ihn grade das Messer habe finden lassen, welches niemand anders als der Gärtner selbst verlohren hatte; der nun Reisern sein Schnupftuch mit Freuden wiedergab, und ihm zugleich versicherte, daß sein Garten ihm zu jeder Zeit offen stünde, um so viel Pflaumen, wie er wollte, zu pflücken; und daß er ihm in jeder Sache dienen würde, wo er nur könnte; denn ein so außerordentlicher Fall sey ihm noch nicht vorgekommen.

[26]

Als Reiser im Weggehen über diesen sonderbaren Zufall nachdachte, fiel er ihm um so mehr auf, weil dies das erstemal in seinem Leben war, daß ihm ein eigentlich glückliches Ereigniß begegnete, wobei mehrere Umstände sich vereinigen mußten, die sich sonst selten zu vereinigen pflegen.

Sein Glück schien sich in dieser Kleinigkeit gleichsam erschöpft zu haben, um ihn im Großen wieder destomehr büßen zu lassen, was er auf keine andere Weise als durch sein Daseyn verschuldet hatte.

Es war, wie bey dem Landprediger von Wakefield, der einen ganz ungewöhnlich glücklichen Wurf mit den Würfeln that, indem er mit seinem Freunde um wenige Pfennige spielte, kurz vorher ehe er die Nachricht von dem Banquerot des Kaufmanns erhielt, durch welchen er sein ganzes Vermögen verlohr. g

Noch eine kleine Weile hielt das Schicksal die Demüthigung zurück, welche es Reisern zugedacht hatte, und ließ ihn noch ungestört in seinem Vergnügen, das ihm nun die zweite Komödienaufführung gewährte, und worin ihm drei Rollen zu Theil geworden waren.

Sein sehnlichster Wunsch war doch also nun einigermaßen erfüllt, ob er gleich in keiner tragischen Rolle hatte glänzen können. Und was noch mehr [27]war, so hatte man eine Art von Zutrauen zu seinen theatralischen Einsichten, man fragte ihn um Rath, und er wurde nun durch seine Theilnehmung an der Komödie sowohl, als durch seine geschriebenen Gedichte unter den Studenten noch mehr bekannt, die ihn mit Höflichkeit begegneten, welches ihm für seine Lage auf der Schule in H.... ein angenehmer Ersatz war.

Dabei besuchte er nun fleißig die Universitätsbibliothek, wo er einen besondern Gefallen daran fand, des du Halde Beschreibung von China h zu studiren, und sehr viel Zeit damit verschwendete.

Gerade damals erschien auch: Siegwart, eine Klostergeschichte, i und er las mit seinem Freunde N... das Buch zu mehrernmalen durch, und beide thaten sich bei der entsetzlichsten Langenweile einen gewissen Zwang an, in der einmal angefangenen Rührung alle drei Bände hindurch zu bleiben.

Am Ende hatte Reiser nichts weniger im Sinn, als die ganze Geschichte in ein historisches Trauerspiel zu bringen, wozu er wirklich allerlei Entwürfe machte, und die schöne Zeit damit verschwendete.

Wenn es ihm denn nicht wie er wünschte gerathen wollte, so hatte er nach jeder vergebenen Anstrengung dieser Art, die trübseeligsten und widrigsten Stunden, die man sich nur denken kann. [28]Die ganze Natur und alle seine eigenen Gedanken hatten dann ihren Reiz für ihn verlohren, jeder Moment war ihm drückend, und das Leben war ihm im eigentlichen Verstande eine Quaal.

Die Leiden der Poesie.

Können daher wohl in jedem Betracht eine eigene Rubrik in Reisers Lebensgeschichte ausmachen, welche seinen innern und äußern Zustand in allen Verhältnissen darstellen soll, und wodurch dasjenige gerügt werden soll, was bei so vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch, ihnen selbst unbewußt, und im Dunkeln verborgen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle ihrer unangenehmen Empfindungen zurückzugehen.

Diese geheimen Leiden waren es, womit Reiser beinahe von seiner Kindheit an zu kämpfen hatte.

Wenn ihn der Reiz der Dichtkunst unwillkührlich anwandelte, so entstand zuerst eine wehmüthige Empfindung in seiner Seele; er dachte sich ein Etwas, worin er sich selbst verlohr, wogegen alles, was er je gehört, gelesen oder gedacht hatte, sich verlohr, und dessen Daseyn, wenn es nun wirklich von ihm dargestalt wäre, ein bisher noch ungefühltes, unnennbares Vergnügen verursachen würde.

[29]

Nun war aber noch nicht ausgemacht, ob dies ein Trauerspiel, oder eine Romanze, oder ein Elegisches Gedicht werden sollte; genug es mußte etwas seyn, das wirklich eine solche Empfindung erweckte, wovon der Dichter gewissermaßen schon ein Vorgefühl gehabt hatte.

In den Momenten dieses seeligen Vorgefühls konnte die Zunge nur stammelnde einzelne Laute hervorbringen, etwa wie die in einigen Klopstockschen Oden, zwischen denen die Lücken des Ausdrucks mit Punkten ausgefüllt sind.

Diese einzelnen Laute aber bezeichneten dann immer etwas Allgemeines von Groß, Erhaben, Wonnethränen, und dergleichen. — Dies dauerte denn so lange, bis die übervolle Empfindung in sich selbst wieder zurücksank, ohne auch ein paar vernünftige Zeilen, zum Anfange von etwas Bestimmtem, ausgeboren zu haben.

Nun war also während dieser Krisis nichts Schönes entstanden, woran sich die Seele nachher hätte festhalten können, und alles andre, was wirklich schon da war, wurde nun keines Blicks mehr gewürdigt. Es war als ob die Seele eine dunkle ahndende Vorstellung von etwas gehabt hätte, was sie selbst nicht sagen konnte, und wodurch ihr eigenes Daseyn ihr verächtlich wurde.

Es ist wohl ein untrügliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichten habe, den bloß eine [30] Empfindung im Allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht die schon bestimmte Sache, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung, oder wenigstens zugleich mit der Empfindung da ist. Kurz, wer nicht während der Empfindung zugleich einen Blick in das ganze Detail der Sache werfen kann, der hat nur Empfindung aber kein Dichtungsvermögen.

Und gewiß ist nichts gefährlicher, als einem solchen täuschenden Hange sich zu überlassen, die warnende Stimme kann nicht früh genug dem Zöglinge zurufen, sein Innerstes zu prüfen, ob nicht der Wunsch bei ihm an die Stelle der Kraft tritt, und weil er diese Stelle nie ausfüllen kann, ein ewiges Unbehagen die Strafe verbotenen Genusses bleibt.

Dies war der Fall bei Reisern, der die besten Stunden seines Lebens durch mißlungene Versuche tödtete, durch unnützes Streben nach einem täuschenden Blendwerk, das immer vor seiner Seele schwebte, und wenn er es nun zu umfassen glaubte, plötzlich in Rauch und Nebel verschwand.

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 390-405 (Ausschnitte) u. 1048-1062.

b: Vgl. KMA 1, S. 1054f.

c: Hannover.

d: Der Messias (1748-1773), Vierzehnter Gesang, Vers 552-782. Vgl. KMA 1, S. 1056f. u. 1058.

e: Zachariäs 1760, S. 27. Vgl. KMA 1, S. 1057f.

f: Vgl. ebenda.

g: Oliver Goldsmiths The Vicar of Wakefield (1766), vgl. KMA 1, S. 1059f.

h: Du Haldes Description [...] de la Chine (4 Bde., 1735) wurde 1747-1749 in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Vgl. KMA 1, S. 1060.

i: Roman von Johann Martin Miller (Miller 1776.) Vgl. KMA 1, S. 1060f. u. 979.

[31]

3.

Vom menschlichen Denken a priori.

Heinicke, Samuel

Die Erfahrungsseelenkunde hat uns schon zu vielen nützlichen Entdeckungen Anlaß gegeben, und wir können noch sehr große Vortheile daraus ziehen, wenn wir uns dadurch unser Denken a priori bekannt machen, und mehrere Helle zur Aussicht in die Ferne, nach allgemeingeltenden Gesetzen im Denken dazu erlangen. Denn die Erfahrung allein kann uns in Wissenschaften nichts Zuverläßiges liefern. Sie zeigt zwar an was da ist, aber nicht das Warum? Folglich kann sie auf apodiktische Gewißheit keinen Anspruch machen.

Eigentlich ist die Erfahrung ein Verstandesfabrikat, daß er a priori formirt, mithin wird sie a posteriori producirt, und es gehören dazu mancherlei Ingredienzien, Funktionen und Mittel, ehe sie nach und nach synthetisch gemodelt, gedacht, und endlich brauchbar werden kann. Beispiele versinnlichen die Begriffe, und ich will hier einen kurzen Versuch dieser Art machen.

Unser Vorstellungsvermögen ist das allerwichtigste — ja wie soll ichs nun nennen: Element oder Werkzeug? — Talent und Mittel zur Erfahrungsproduktion. Dies Vermögen geht vor allen [32]äußern und innern Denkformen, ja sogar vor dem Bewußtseyn der Erkenntniß a priori voraus, und es ist eben so wenig passiv und bestimmbar, als die Vernunft. Ich könnte einen weitläuftigen Aufsatz über das Vorstellungsvermögen allein liefern, und vielleicht geschieht dies irgend hier noch einmal, wo ich nach allgemein gültigen Gesetzen zeigen werde: was dies Vermögen vorstellen kann und nicht kann. Bisher herrscht darüber noch eine barbarische Begriffmengerei und Leerformelei.

Der Leib hat Sinnen und die Seele — die man auch Intelligenz nennen kann — hat eine Vorstellungskraft, Verstand, Vernunft, freien Willen etc. die Sinne recipiren und die Intelligenz denkt. Beide haben also verschiedene Funktionen: Allein, die Intelligenz kann ohne Sinne nichts schauen und empfinden, und die Sinne können ohne Intelligenz nichts erkennen und denken. Ein Beispiel wird dies deutlicher machen. —

A. Die Intelligenz mit ihrer Vorstellungskraft etc.

R. und Z. Raum und Zeit gehen vor ihr her.

B. Einbildungskraft producirt und reproducirt.

C. Die Sinnlichkeit recipirt.

D. Der Gegenstand, z.B. ein Apfel.

Sobald nun der Intelligenz ein sinnlicher Gegenstand vorgestellt wird, und sie dazu Zeit hat — denn das schnelle Vorbeifliegen einer Kanonenkugel erlaubt der Intelligenz keine Vorstellung davon — so macht sie sich den Gegenstand nicht erst deut- [33] lich, nein, sondern erst zu denken möglich, und das geht so zu.

Die Vorstellkraft, oder das Vorstellvermögen, muß man sich als ein ausströmendes, geistiges und lebendiges Wesen denken: kennen kann es a priori kein Mensch; allein, darum bekümmert sich auch kein Logiker, sondern bloß um Prädikate oder Prämissen. Die Intelligenz A. geht also hier gleich auf das Object D. den Apfel loß, und macht ihn zu denken möglich, indem sie seine Form der Sinnlichkeit — des Apfels Gestalt durch C. in die Einbildungskraft B. überträgt. Diese ist das Mittelband zwischen Sinnen und Verstande, und die Zeit ist das homogene Medium dazu, wodurch sich der Verstand versinnlichen kann. Die Einbildungskraft B. producirt nun den Gegenstand D., und hält ihn dem Vorstellvermögen zugleich vor, d.i. sie producirt ihn eine Weile, oder so lange sies soll, bis er nun erst im Bewußtseyn aufgenommen und erkannt, oder als ein Verstandesfabrikat deutlich gedacht werden kann.

Hieraus erhellet nun evident, daß allgemeingeltende Denkgesetze a priori in unsrer Intelligenz vorhanden seyn müssen, die, wenn die Organisation nicht widernatürlich gebildet, mangelhaft oder verdorben ist, der Intelligenz zu Denkmitteln dienen, wie sie ihre Vermögen und Gränzen, und was ihr gesetzmäßig vorgeschrieben ist, dadurch kennen und anwenden lernt.

[34]

Es ist aber auch klar und unwiderlegbar, daß wir mit unsern Denkgesetzen uns von Dingen an sich, z.B. Geistern, Monaden, Göttern, Seelen, als körperlosen Wesen, keine reellen Vorstellungen machen, sondern sie bloß durch Hörensagen, vom Schulmeister, oder von der Großmutter, anfänglich ganz antropomorphistisch (siehe den Erfurter Katechismus, worin Gott im Schlafrocke und in Pantoffeln abgebildet ist) denken lernten.

Es ist demnach ein ungeheurer Vernunftschnitzer, wenn manche sonst sehr hoch gelahrte, galante und kultivirte Leute, die bei einer durch Red' und Schrift geoffenbarten Religion erzogen worden sind, öffentlich vorgeben: daß sie Gottes Daseyn durch Spekulation aus der Natur entdeckt hätten. Die Formel von Gott, die Idee oder der Vernunftbegriff dazu, wurde ihnen durch Instruktion entwickelt. In diese leere Formel setzen sie nun einen Gott, nach ihrem Bilde und ihrer Denkart, dazu gehört aber ein starker Glaube! Es ist schlechterdings nicht möglich, die Einheit Gottes durch Spekulation zu entdecken und zu beweisen.

Die Abiponer, Huronen, Karaiben etc. a haben keine Idee von Gott, nicht einmal ein Wort in ihrer Sprache das Gott bedeutete. Es ist also bloßer leerer Formeltrug, Gottes einziges Wesen und Daseyn durch Spekulation zu entdecken.

[35]

Wir können Gott nur nach Verhältnißähnlichkeiten aus Instruktion kennen lernen, unsre Intelligenz kann sich bloß formale Gegenstände vorstellen, und Intelligenzen als Entia rationis denken. Aus obigem Gange aber des menschlichen Denkens könnten wir auch noch einiges Nützliche ziehen. Es giebt z.B. kranke Menschen, die eine verrückte, zerstörte oder nur verderbte Einbildungskraft haben, die entweder zu schnell producirt, oder auch zu wenig reproducirt. Im ersten Falle reden diese unglücklichen Personen das Hundertste ins Tausende, alles durch einander; denn das Bild verlöscht sogleich wieder, und die Einbildungskraft ist inreproducibel. Im andern Falle aber reproducirt sie wieder zu lange anhaltend, sie fixirt Bilder oder Sachen, und ist nicht davon abzubringen, oder sie treten auch gleich wieder in sie ein. Sollten sich nun keine Mittel für solche bemitleidenswürdige Personen, ihnen dadurch zu helfen, erfinden lassen?

Ich habe zwar einen Mann im Hollsteinischen gekannt, der solche Personen kurirte. Allein seine Methode war grausam. Er legte seinen Patienten, von der ersten Sorte, ein Bild vor, das sie unverrückt anschauen, ganze Stunden davor stehen bleiben, und das Bild beschreiben oder nennen mußten.

Rührten sie sich nun etwa von der Stelle, oder sprachen nicht vom Bilde, so karbatschte er sie, und [36]schrie dazu unmenschlich, und das trieb er so lange, bis endlich die Einbildungskraft des Patienten wieder zu reproduciren anfieng, und die Patienten auswendig eine Beschreibung davon machen lernten. Närrisch darüber werden — sagte er — können sie nicht.

Mit dieser ersten Sorte brachte er aber längere Zeit als mit der letzten zu. Hier nahm er verschiedene Gemälde und Bilder, und die Patienten mußten von einem zum andern mit Geschwindigkeit fortschreiten, und ihre Namen oder Geschichte davon auch auswendig beschreiben lernen.

Selten verfehlte er seines Zwecks, diese Patienten wurden gesund. Allein, sollten denn keine Arzeneien oder andre Mittel vorhanden seyn, solche Unglückliche oder auch boshafte Menschen damit zu kuriren, z.B. manche vom moralischen Todtschlage damit abzuhalten?

Leipzig, im December 1789.

Samuel Heinicke.

Erläuterungen:

a: Die Huronen (auch Wyandot, Wendat), die Abiponen und die Kariben waren Urvölker des amerikanischen Kontinents.

[37]

4.

Beobachtungen über Taubstumme. a

Eschke, Ernst Adolf

Zweiter Versuch.

Wie ich im ersten Stücke des achten Bandes dieses Magazins S. 58. schon erzählte: unser Lebrecht war sehr vom Geniewesen angesteckt, und daher lauter Phantasie, gleich einem mondsüchtigen Dichter.

Lebrecht fand an einem andern Zöglinge im Institute, Christlieb K., den Freund seines Herzens. Mir war diese Freundschaft keineswegs lieb; denn Christlieb war ein widriger konfiszirter Junge, bettelarm an Seele und Leib. Noch bleibt mir es ein unerklärtes Phänomen, wie Lebrecht an ihn sich hängen konnte.

Es ist ausgemacht, daß sowohl kluges Betragen als dumme Aeusserung eben so ansteckend ist als Krankheiten, und Christlieb that unserm Lebrecht unsäglichen Schaden. Das Gute, das ich in diesem mühsam mit Ameisenfleiße zu Haufen schlepte, jagte jener öfters in einem Hui wieder fort.

Lebrecht war nicht allzulange im Churfürstlichen Sächsischen Institute zu Leipzig, b als er die ersten Landkarten bei uns sah. Anfänglich hielt er sich bloß bei den dabei befindlichen Bildern auf, bei den Schiffen, Fischen, Jägern, Schnittern und Thieren. Allein er merkte bald, daß dies nicht die [38]Absicht eines so großen Blattes seyn könne, und fragte mich daher über die Absicht dieser mit so verschiedenen Farben bemalten, und mit so vielen Worten bedruckten Blätter. Ich zeichnete die Stube, worin wir uns befanden, auf ein Blatt Papier; in die Mitte schrieb ich das Wort Tisch, in jeder Ecke Stuhl, an die Seiten Büreau, Thüre u.s.w. Kannst du dir wohl vorstellen, sagte ich zu ihm, daß die vierseitige Figur hier die Stube vorstelle?

Lebrecht.*) 1

O ja! die Figur ist so länglicht, eben als die Stube; die Figur hat die schräge Ecke da auch so eben.

Ich.

Siehst du da in der Ecke, wo der Stuhl steht, habe ich hier auch Stuhl geschrieben; und siehe: hier der runde Fleck in der Mitte, wo ich das Wort Tisch beigeschrieben habe, bedeutet den Tisch. Steht nicht hier in dieser kleinen Figur, welche die Stube vorstellt, der Tisch und der Stuhl auch auf derselben Stelle, als in der Stube selbst?

Lebrecht.

O ja! Sie haben vergessen noch etwas.

[39]

Ich.

Nun was denn Lebrecht?

Lebrecht.

Sie haben gezeichnet den Ofen hierin noch nicht.

Ich.

Wo müßte ich ihn denn wohl hinsetzen?

Lebrecht.

Da, an die Ecke.

Ich.

Du hast ganz recht, Lebrecht. Du siehst also hieraus, daß man einen großen Raum im Kleinen zeichnen, und alles nach Proportion in eben dem Orte darin machen kann, wo es im Großen steht. Nicht wahr?

Lebrecht.

O ja! ich sehe das deutlich recht.

Ich.

Glaubst du denn wohl, daß ich auch das ganze Haus so zeichnen, und in meiner Zeichnung alle Stuben und Kammern dahin setzen könne, wo sie im Hause liegen?

[40]

Lebrecht.

O! Sie thun es doch!*) 2 zeichnen Sie dies Haus einmal.

Ich.

Siehe hier, dies stellt die vier Hauptmauern des Hauses vor: da ist die Hausthüre; wenn man da hereintritt, so ist linker Hand die Stube, wo wir drinnen sind; hier neben an ist meine Bücherkammer, und daneben die Schlafkammer, und dann meines Vaters, des Herrn Direktor Heinike, Studierstube. Meinst du, daß ich alles in der Ordnung gezeichnet habe, in der es sich im Hause befindet?

Lebrecht.

Richtig; die Plätze viereckigte liegen in der Ordnung eben hier an einander, als die Zimmer im Hause.

Ich.

Eben so wie ich hier die Stube und das Haus im Kleinen gezeichnet habe, kann man auch die ganze Stadt im Kleinen zeichnen. Man nennt eine solche [41]Zeichnung, die eine Stadt mit ihren Straßen, Plätzen und Hauptgebäuden vorstellt, einen Grundriß.

Lebrecht.

Ach! wir hätten einen Grundriß von Leipzig doch so wenn!

Indem ich ihm erklärte, warum er sagen müsse: »Ach! wenn wir doch so einen Grundriß von Leipzig hätten!« holte ich meinen Atlas, und zeigte ihm denselben.

Lebrecht.

O! da ist abgemalt die Stadt ganz!

Ich.

Dabei wollen wir uns nicht aufhalten! dies hier unten ist nur die Stadt von außen abgezeichnet: das da oben aber ist der Grundriß.

Lebrecht.

Ey, was ist das?

Ich.

Das sind die Strassen.

Lebrecht.

O! die Strassen aussehn nicht so.

[42]

Ich.

Bist du schon einmal auf meinem Thurm gewesen?

Lebrecht.

Nein. Ach! Sie mit nehmen mich einmal.

Ich.

Ja, künftigen Donnerstag sollst du mit. Dann wirst du sehn, daß von oben herunter die Straßen eben so anzusehn sind, als hier; daß sie sich eben so durchschlängeln, und so krumm und unordentlich durch einander laufen, als hier auf dem Papier die schmalen weißen Streifen da zwischen dem Rothen.

Lebrecht.

Ach! der große Platz ist der Markt wohl?

Ich.

Ganz recht, Lebrecht! nun suche mir auch das Rathhaus.

Lebrecht.

Das Rathhaus ist hier. Das Rathhaus ist der große dunkelrothe Fleck. Ach! warten Sie, lassen Sie aufsuchen mich den neuen Kirchhof. Auf dem neuen Kirchhof ich wohne. Herr Direktor Heinike wohnet auf dem neuen Kirchhof; und Herr Eschke wohnet auf dem neuen Kirchhof auch. [43]Bei ihnen wohnen die Frau Direktorin Heinike, Madame Eschke, Mademoiselle Heinike, Mienchen, Malchen, taubstumme Brüder Gottlieb, Adam, Friedrich, Bachmann, Irmscher, Christlieb, Gustav, Georg und Johann, taubstumme Schwestern: Lore und Ernestine auf dem neuen Kirchhof auch. Sie sehn: der grüne Fleck bedeutet den neuen Kirchhof gewiß?

Ich.

Richtig, mein lieber Lebrecht! du glaubst es also wohl, und kannst dir es recht gut vorstellen, daß man einen großen Raum, eine Stadt im Kleinen auf dem Papier mit allen seinen Theilen vorstellen kann?

Lebrecht.

O ja! ich sehe das hier ja!

Ich.

Ein Land ist ein noch viel größerer Raum, als eine Stadt, seine Theile sind Städte, wie Leipzig, Wittenberg u.s.w. Dörfer, wie Schönfeld, Raschwiz, Gohlis u.s.w. Flüsse, wie die Pleisse, Elbe u.s.w. Berge, wie der Borsberg, Blossin u.s.w. Wälder, wie der Harzwald u.s.w. Glaubst du wohl, daß man es auch im Kleinen auf dem Papier abzeichnen könne?

[44]

Lebrecht.

O ja!

Ich.

So wirst du auch begreifen können: was diese bemalten und mit Wörtern bedruckten Blätter bedeuten. Dies sind Landkarten u.s.w.

Ich habe von Lebrecht noch Vieles auf dem Herzen: das Auffallende seiner Gesichtsbildung und körperlichen Bewegung; sein Betragen, wenn er wegen Nachlässigkeit oder Muthwillen ernsthafte Verweise erhält, oder wegen seines Fleißes und seiner Ordnung gelobt wird. Aber ich will hievon erst im dritten Versuche handeln.

Eschke.

Fußnoten:

1: *) Ich lasse seine Wortfügung unabgeändert.
Eschke.

2: *) Man merkte an Lebrecht's Stimme, daß dies keine Frage, sondern daß sein Syntax fehlerhaft; und er sagen wollte: »Thun Sie es doch!«
Eschke.

Erläuterungen:

a: Eschke publizierte anschließend weitere Beobachtungen zu Lebrecht F. in der Berlinischen Monatsschrift (Eschke 1795/1796,) 'Erster Versuch', Bd. 26, S. 535-547 und 'Zweiter Versuch', Bd. 27, S. 336-356.

b: die erste Taubstummenanstalt in Deutschland, 1778 von Eschkes Schwiegervater Samuel Heinicke gegründet.

[45]

5.

Die Wirkungen der äußern Sinne in psychologischer Rücksicht.

K. St.

Ueber das musikalische Gehör.

Die Verhältnisse, die in Ansehung der Größen dem Auge angenehm sind, lassen sich in dem Grade, worin sie es sind, leicht mit dem Verstande begreifen, man kann sie sich leicht in Gedanken vorstellen.

Die Verhältnisse, die in Ansehung der Töne dem Ohre angenehm sind, lassen sich in dem Grade, worin sie es sind, auch leicht mit dem Verstande begreifen, man kann sie sich auch leicht in Gedanken vorstellen.

Die Vorstellungsart beider in der Seele, muß doch aber wohl verschieden seyn, indem man sich bei der Vorstellung der erstem einbildet, man sähe etwas; hingegen bei der Vorstellung der letztern, man höre etwas, und man sich doch eigentlich von einem Tone kein Bild machen kann, als welches etwas Sichtbares aber nichts Hörbares darstellet.

Da es also scheint als ob einbilden das rechte Wort, für die Vorstellung eines Tones in der Seele, nicht sey, so scheint auch für diese Vorstel-[46]lungsart der Seele noch kein Wort vorhanden zu seyn. Ja man kann wohl eigentlich nicht einmal sagen, daß die Seele sich einen Ton vorstelle, weil auch dies schon auf etwas Sichtbares Bezug zu haben scheint.

Es würde daher, um doch für beides ein, und wo nicht bedeutendes, doch wenigstens nicht unrichtiges Wort zu haben, weiter nichts übrig zu bleiben, als: die Seele denkt sich eine Größe, sie denkt sich einen Ton.

Wie denkt sich nun aber die Seele eine Größe, und wie denkt sie sich einen Ton?

Ueberhaupt könnte man wohl sagen: die Seele denkt sich eine Größe als etwas Sichtbares, sie denkt sich einen Ton als etwas Hörbares. Man könnte wohl sagen, da das Denken doch bloß in ihr vorgeht: Sie sieht in sich eine Größe, sie hört in sich einen Ton.

Wie geht es aber zu, daß sie in sich eine Größe sieht und einen Ton hört?

Man könnte sagen: sie stellt sich eine Größe vor, oder sie stellt eine Größe vor sich und sieht sie; sie bringt einen Ton hervor und hört ihn.

Wie kann man aber zu gleicher Zeit sagen, sie stellt sich eine Größe vor, und sie stellt sie in sich; denn wenn man sagt, sie stellt sich eine Größe in sich vor, so will das doch wohl so viel sagen, als, sie stellt dieselbe vor sich, und stellt sie auch zu gleicher Zeit in sich.

[47]

Scheint es doch gleichsam, als ob man sich die Seele unter dem Mittelpunkte eines Kreises denken könne, welcher mit dem Kreise eins ausmacht, und nun in diesem Kreise, also in sich selbst, sich etwas vorstellt und sieht, welches denn freilich der äußere Sinn nicht sehen kann, weil solcher, wenn man sich die Seele unter diesem Bilde denken wollte, seinen Sitz alsdann etwa an der Peripherie dieses Kreises nach außen zu haben würde, und daher nur die äußern Gegenstände und Eindrücke wahrnehmen und empfinden könnte.

Auf die Art könnte dann auch der äußere Sinn nicht hören, was die Seele in sich hört, nicht fühlen, was die Seele in sich fühlt; da hingegen die Seele alles, was der äußere Sinn sieht, hört und fühlt, auch sehen, hören und fühlen könnte.

Was nun aber der äußere Sinn in verschiedenen Punkten sieht, hört und fühlt, das würde dann in der Seele in einem Punkte zusammentreffen. In ihr würde also der Unterschied von sehen, hören und fühlen wegfallen, sie würde sich alles Verschiedene des äußern Sinnes auf eine Art denken können. Und daher wäre es ja auch wohl nicht unrecht, wenn man von ihr sagte: sie stellt sich einen Ton vor, sie stellt sich ein Gefühl vor, so wie man sagt: sie stellt sich eine Größe vor.

So wie nun aber die Radien des Gesichts und Gehörs vom Mittelpunkte aus von einander abweichen, so würde die Seele auch anfangen dieselben zu [48]unterscheiden. Und es scheinet auch fast, als ob sie sich bei einer recht lebhaften Vorstellung von etwas Sichtbarem oder Hörbarem jedesmal den eingebildeten Gegenstand dem äußern Sinne, welcher denselben von außen wahrzunehmen oder zu empfinden fähig ist, von innen so nahe wie möglich denkt, weil doch da der Unterschied am größten seyn müßte.

Ja sie scheint sich denselben gleichsam durch den äußern Sinn wahrnehmend zu denken. Man kann sich ja etwas dem äußern Sinne von innen so nahe vorstellen, daß einen fast unwillkürlich der Ausdruck entfährt: es ist mir als sähe ich u.s.w., als hörte ich u.s.w., als fühlte ich u.s.w., ja die Vorstellung kann so lebhaft werden, daß einer wirklich durch den äußern Sinn wahrzunehmen glaubt, was er sich doch bloß nur einbildet.

Es würde also nun heißen können: die Seele denkt sich eine Größe, als etwas durch den äußern Sinn des Sehens wahrnehmend, sie denkt sich einen Ton, als etwas durch den äußern Sinn des Hörens wahrnehmend. Es scheint gleichsam, als ob sie die äußern Organe zwingen könne, ihr diejenigen Bilder vorzustellen, die sie ihr darstellen würden, wenn sie dieselben von außen empfangen hätten.

Wenn die Seele sich aber die Bilder, welche sie verlangt, in sich selber vorstellt, ohne die äußern Sinne dazu zu gebrauchen, woraus formt sie denn dieselben anders als aus sich selbst? — Sie kann [49]dann doch etwas aus sich formen und in sich darstellen, wie das große Ganze der Natur aus sich formt und in sich darstellt.

Sie scheint daher gleichsam ein Spiegel zu seyn, worin das Ganze der Natur sich abbildet und siehet, welchen dasselbe aber gleichwohl aus sich geformt und in sich dargestellt hat, und zwar nicht um seine Umrisse, sondern sein Wesen selbst darin zu sehen.

So wie nun also das große Ganze der Natur aus sich formt und in sich darstellt, so würde auch die Seele aus sich formen und in sich darstellen. Sollte sie nicht auch wiederum einen Spiegel aus sich formen und in sich darstellen können, wie die Natur, um sich auch darin abbilden und sehen zu können?

Für einen solchen scheint man fast dasjenige zu halten, welches man den Verstand nennt. Wenn man von jemand sagt: er hat einen guten Verstand, so denkt man sich darunter etwas in dem Menschen. Man sagt aber auch: er hat einen hellen, einen klaren, einen richtigen Verstand, welches alles Benennungen sind, die man auch den Eigenschaften eines guten Spiegels giebt. Man sagt auch wohl von jemand: er hat einen scharfen Verstand, aber hat man auch schon untersucht, ob man diese Eigenschaft nicht auch einem guten Spiegel beilegen könne?

[50]

In diesem Spiegel wird dann die Seele alles wahrnehmen, was sie aus sich formt und in sich darstellt, alle Bilder des Sehbaren, Hörbaren, Fühlbaren u.s.w.

Wie schaft sich nun aber die Seele ihre Vorstellungen und Bilder? — Wird es damit nicht eben so zugehen, als wenn das große Ganze der Natur etwas hervorbringt? — Dieses setzet nun zusammen, es formt, die Materie, der Grundstoff ist schon in ihm, es ist ja der Grundstoff selbst. Sollte es nicht auch also mit der Seele seyn? — Die Natur bringt aber auch nichts unmittelbar und auf einmal hervor, sondern läßt immer eins aus und nach dem andern entstehen, selbst ihr Wille scheint nicht unmittelbar da zu seyn. Sollte das nicht auch bei der Seele zutreffen? —

Dies auf die Vorstellung des Verhältnisses zweier Dinge, z.E. zweier Größen, in dem Verstande angewandt, ist es ganz natürlich, daß sie sich, verfahre sie auch noch so schnell, doch erst die beiden Dinge, die sie mit einander vergleichen will, neben einander wird vorstellen müssen, ehe sie das Verhältniß derselben gegeneinander wahrnehmen kann.

Wie kann sie sich aber z.B. die Hälfte gegen das Ganze anders vorstellen, als wenn sie sich erst ein Ganzes vorstellt, und dann selbiges in zwei gleiche Theile theilet?

[51]

Wollte sie sich das Verhältniß eines Drittheils zum Ganzen vorstellen, so müßte sie schon eine Theilung einer vorgestellten Einheit in drei gleiche Theile vornehmen, welches doch schon weitläuftiger als die Theilung in zwei seyn, und welche Weitläuftigkeit bei zunehmender Kleinheit des Verhältnisses zunehmen, und ihr folglich mehr Mühe machen würde.

In wie fern und warum nun aber diejenigen Verhältnisse, welche die Seele sich leicht vorstellen kann, ihr in dem Grade, worin sie sich dieselben leicht vorstellen kann, angenehm sind, bedarf wohl einer besondern Erörterung.

K. St.

[52]

6.

Ueber die Sprache.

Eschke, Ernst Adolf

Unmaßgeblicher Vorschlag zu einer neuen Lehrart fremder Sprachen.

Eine doppelte Art der Betrachtung herrscht bei den Dingen, die einen Vorwurf menschlicher Erkenntniß abgeben. Die eine betrift die natürliche Art der Beschaffenheit einer Sache, die andre beschäftigt sich mit der Geschichte ihres Gebrauchs. Ist nun die Sprache eine so wichtige Angelegenheit, daß das ganze menschliche Leben daraus seinen Vorzug erhält, so ist es auch billig der Untersuchung werth, theils welches der natürliche Bau der Sprache, theils wie die Sprache von Zeit zu Zeit in Uebung gebracht und erhalten worden sey. Dieses will ich die Geschichte, jenes die Geburt der Sprache nennen.

Die Erkenntniß der natürlichen Beschaffenheit eines Dinges erwächst aus dem, was wir bei der Empfindung, die wir von ihm haben, und bei dem Gebrauch, den wir davon machen, gewahr werden. Bei der Sprache bemerken wir erst die Gliedmaßen des menschlichen Leibes, eigentlich nur des Mundes, der dieselbe hervorbringt; darnächst die Geberden des Gesichts und die Stellung des Leibes bei dem [53]Gebrauch der Sprache; drittens ihren innern Geist, so nenne ich die innre Verbindung der Gedanken mit den Worten. Diese gründet sich darauf, daß der Mensch fähig ist einerlei Empfindung durch einerlei Schall auszudrücken, und ihn als den ersten Anzeiger der nehmlichen Empfindung zu betrachten. Daraus entsteht endlich eine Gleichförmigkeit, nach welcher der Gebrauch der Schalle, und folglich das, was uns Sprache ist, beständig und gewiß gemacht wird. Dies ist der Verstand der Sprache. Sobald man ein Wort, als einen Theil der Rede, hört oder liest, stellt man eben die Empfindung sich vor, hat man eben den Gedanken, den der hatte, dessen Mund oder Feder das Wort entsprang.

Der Bau des Mundes ist ein Meisterstück des Schöpfers. Die Hölung zur Formirung des Schalles: die mannigfaltige Eröffnung und Schließung erzeugt die Verschiedenheiten des Schalles, und die Zunge mit den Zähnen ist Regierer und Begleiter vieler aus der Gurgel durch die Kehle hervorgehender Töne. Sie bestimmt solche auf eine und eben dieselbe Art. Nicht mehr und nicht minder veränderte Schalle sind möglich, die eigentlich einzeln, durch den Verstand aber in ihrer vielfachen Versetzung und Zusammenfügung geordnet worden. Daraus entsteht also eine so vielartige Anwendung, die eine Sprache formirt, und sie unzählig verändert. Alle Menschen haben zwar einen gleichförmigen Bau des Mundes, und einen ihnen allen gleichen Ver-[54]stand, sie machen daher einen ähnlichen Gebrauch davon. Dies heißt im Allgemeinen die Sprachfähigkeit. Sie wird aber nach verschiedenen Umständen so verschieden angewandt, daß daraus mancherlei Sprachen quellen, wie aus einem Strome die Flüsse. Darin harmoniren alle Sprachen der Erde: sie werden aus dem menschlichen Munde hervorgebracht auf ähnliche Art, in Rücksicht der Formirung der Schalle und Wörter. Darin disharmoniren alle Sprachen der Erde: ihre Bedeutung kann, insofern sie von Willkühr der Menschen abhängt, auf mancherlei Weise bestimmt und festgesetzt werden. Hieraus folgt nothwendig: daß der natürliche Bau der Sprache an sich einerlei ist, die verschiedne Anwendung aber verschieden, und also viele Sprachen erzeugt.

Das desto deutlicher zu verstehn, nehme ich eine Erläuterung aus der Mathematik, in welcher Rechenkunst und Feldmeßkunde die eigentlichen Grundwissenschaften sind. In jener haben wir die Zahlen und ihre Zeichen, die alle verschieden können angenommen werden, und doch im Grunde eine und eben diese Art des Zählens ausmachen. In dieser haben wir Linien, die auf so vielfache Art können zusammengesetzt werden; es bleibt aber immer im Grunde nur Eine Art der Zusammensetzung möglich. Obgleich die Zeichen der Zahlen und die Benennung der Linien nach jedes Menschen Willkühr können angenommen und bestimmt werden, so ge-[55]schieht doch das Messen und Zählen auf eine Art; an welchem Orte der Erde, in welchem Planeten oder Weltraume man auch zählt oder misset (aus dem Zusammenhange kann geschlossen werden, welches Zeichen eine Einheit, und was für Eine es sey. Sobald man das Verhältniß der gebrauchten Zahlzeichen weiß, und sobald man eine Figur erblickt, deren Linien mit gewissen Namen belegt worden sind, kann man wissen: welcher Name einer bestimmten Linie gegeben worden ist).

Eben so verhält es sich mit der Tonkunst, die im Allgemeinen nur auf Eine Art bestimmt, aber im einzelnen auf unzählige Weise metamorphosirt wird. Sie bleibt immer eine und eben dieselbe Musik, die aus sieben ganzen und fünf halben Tönen besteht, wenn sie gleich noch in so verschiedne Oktaven zerfällt.

Auf die nehmliche Weise bilde ich mir den natürlichen Bau der Sprachen ein. Gewisse Empfindungen des Körpers, gewisse Bewegungen der körperlichen Gliedmaßen verursachen einen Schall des Mundes, oder begleiten dessen Ausbruch. Die letztre Wiederholung giebt ihm die beständige Bedeutung. Bei dem Gebrauche merkt man immer mehr Veränderungen, man setzt aus einfachen Schallen doppelte, aus einzelnen mehrere zusammen. Dem Munde wird das Sprechen geläufiger. Mehrere Vorfallenheiten erregen mehrere Empfindungen. Mehrere Dinge fodern mehr Bezeichnun-[56]gen; man merkt außer sich mehrere Schalle, man ahmt sie nach mit dem Munde, und belegt die Dinge und Gegenstände mit dem Schalle zum Zeichen ihrer Benennung. Man giebt ähnlichen Dingen ähnliche Namen, und so wird allmälig eine bestimmte Sprachgewohnheit, die man Sprache nennt. Mit der Zeit merkt man, wie bei ähnlichen Dingen und Zufällen ein und eben dieselben Schalle gebraucht und verändert werden, und so entstehn nach und nach Regeln. Diese machen eine Wissenschaft der Sprache aus, und das ist die erste allgemeine natürliche Grammatik, die die Regeln anzeigt, nach welchen die Sprache zu beurtheilen und zu lernen ist.

Aus dieser Vorstellung folgt, daß nur eine Grundsprache existire, die allen Menschen gemein ist; so wie es nur eine Fähigkeit zu sprechen, einen menschlichen Verstand, und eine Beschaffenheit, einen Bau der Sprachorganen giebt. Vermöge dieser allgemeinen Grundsprache schreien bei der Geburt alle Kinder na. Durch diese allgemeine Grundsprache sagen alle Kinder tata und mama, ehe sie deutlich sich vorstellen können, was für Objekte sie einst mit den Schallen oder Silben bezeichnen. Allenthalben recken die Kinder ihre Hände aus nach diesen Vorwürfen, und es ist willkührlich, ob sie den Vater ta und die Mutter ma nennen, oder umgekehrt.

[57]

Dies applicire man auf alle übrigen möglichen Schalle, sowohl im Einfachen als Zusammengesetzten, und man wird unzählige Sprachen in einer Sprache finden. Alle besondre Sprachen werden Dialekte seyn, in einer Grundsprache, als im Mittelpunkte der ganzen Sprachfähigkeit, zusammen treffen.

Die Richtigkeit dieser Gedanken führt mich auf eine andere Vorstellung, die daraus folgt, und sehr natürlich zu begreifen ist. Sie lautet also: Alle Wörter scheinen unter einer und eben derselben Hauptbedeutung in allen Sprachen, und bloß in ihren Nebenbedeutungen gänzlich von einander unterschieden zu seyn. Eine genaue Betrachtung der allgemeinen und besondern Begriffe erkennt endlich wohl: in welcher Verwandschaft die Wörter in ihren verschiedenen Bedeutungen mit einander stehn. Sobald als gewisse bestimmte Begriffe mit gewissen bestimmten Schallen verbunden werden, bekommt die Sprache eine philosophische Gestalt, die Deutungen der Wörter werden in Aehnlichkeit gesetzt, gewisse Wörter werden mit allgemeinen Begriffen verknüpft, und die Verschiedenheit ihres Gebrauches und ihrer Zusammensetzung oder Versetzung bestimmt die darunter begriffenen einzelnen Vorstellungen. Kurz, es wächst aus der Sprache eine Philosophie. Nun bin ich im Stande, die Wörter in ihre ersten Grundschalle und in ihre erste Bedeutung aufzulösen, die zusammengesetzten Vorstellungen in ihre [58]einfachen, daraus sie entstanden sind, zu reduciren. Nun wird mir der Satz als Wahrheit deutlich: jedes Wort hat nach seinen natürlichen Schallen, woraus es formirt ist, seine möglichen Grundbegriffe. Was aber für eine bestimmte Bedeutung durch den Gebrauch in einzelnen Fällen mit jedem Worte verknüpft wird, das muß die Geschichte der Sprache zeigen, in der man es braucht. Folglich philosophire ich bei der Sprache nicht anders, wenn ich die mögliche Grundbedeutung eines Worts bestimme, und den historischen Gebrauch in seiner besondern Bedeutung erkläre, als ich in der Naturlehre, mittelst der Scheidekunst, verfahre, und in der Grundlehre allgemeine Begriffe in einzelne zergliedre, oder wie ich das ganze Weltgebäude in die Theile mit meinen Gedanken trenne, aus denen es zusammengeflossen ist.

Nunmehr, hoffe ich, wird Jedermann verstehn, was ich mit dem natürlichen Bau der Sprache anzeigen will, und was man sich von einer allgemeinen Grundsprache vorstellen soll, in die alle besondre Sprachen zusammen stoßen. Wie nun die menschliche Erkenntniß von den besondern Begriffen zu allgemeinen schreitet, die einzelnen Theile der Welt zuerst erkennt, und dann zu den zusammengesetzten Körpern fortgeht, Erfahrungen von den Wirkungen der Dinge abstrahirt, und alsdann auf ihr innres Wesen schließt; so handelt auch der menschliche Verstand in Untersuchung der diversen [59]einzelnen Sprachen, Redensarten, Ausdrücke und Worte. Wir lernen nunmehr a posteriori aus der Erfahrung, wie a priori eine Sprache und ein Wort dem Wesen nach entstanden sind. Wir erforschen und bestimmen, aus was für Elementen, die wir Buchstaben nennen, ein Wort bestehe, aus was für Wörtern eine Sprache komponirt sey, in welchem Sprachgebrauche dieses oder jenes Wort willkührlich angewandt werde, was es für Aenderungen der Aussprache und Bedeutung leide. Und dies alles heißt mit einem Namen: Etymologie oder Wortforschung. Diese schließt eine doppelte Beschäftigung in sich: erstens zeigt sie die Elemente, aus denen ein Wort besteht, und was für Grundbegriffe sie an die Hand geben; zweitens den bestimmten Begriff, den das Wort durch den Gebrauch hat. Daraus folgt: bei welchem Volke, zu welcher Zeit, unter welchen Umständen das Wort entstanden, und wie es theils in der Aussprache, theils in Nebenbedeutungen verwandelt worden sey. Dieses nennen wir die historische, jenes die grammatikalische Wortforschung, die um der Genauigkeit willen beisammen bleiben müssen. So habe ich z.B. das Wort stumm in meinen

kleinen Rapsodien über Denk- und Lehrart der Taubstummen, 1ste Raps. 8.

historisch und grammatikalisch untersucht. Auch dieses Wort stumm dient vorzüglich sehr zu meiner Behauptung.

[60]

Aus solchen allgemeinen Begriffen von dem natürlichen Bau, von dem Wesen und von der Einrichtung der Sprache, von der Beschaffenheit der Bedeutung der Wörter bilde ich den Begriff: daß alle Sprachen eigentlich nur eine Sprache sind. Alle Völkerschaften des Erdballs reden also eigentlich nur eine Sprache, die aber in eben so viele Abänderungen ausgeartet ist, als verschiedne Völker sich von einem menschlichen Geschlechte gesondert, und in einzelne Glieder des allgemeinen Menschenstaats vertheilt haben.

Ich lernte viele Sprachen, nach dem gewöhnlichen Schlendrian, buchstäblich, und ich fand: viele Wörter machten unter eben den Begriffen in verschiednen Sprachen sich kenntlich, und wenn gleich einige Verschiedenheit der Aussprache und der Begriffe existirte, so war sie doch nicht essentiel, nicht beständig, sondern bloß zufällig, veränderlich und äußerst selten. Ich bildete daher, mir däucht, ziemlich richtig die Schlußfolgerung: daß solches im Grunde nur ein und eben dasselbe Wort, unter einer und eben derselben Grundbedeutung sey. Ich begann, mir Regeln davon zu drechseln, und ich merkte, daß die Anwendung derselben ein unglaubliches Hülfsmittel für das Gedächtnis gebe, eine fremde Sprache bald zu lernen.

Ich glaube also, daß man eine wildfremde Sprache so am leichtesten fasset, wenn man sich [61]vorstellt: man lerne nicht nur Wörter, sondern eben die, so*) 1 man in seiner Muttersprache schon weiß, nur etwa mit einer kleinen Aenderung des Schalles und der Bedeutung. Letztere läßt sich nach den bekannten Figuren der Metapher, Metonymie und Synekdoche leicht begreifen. Und erstere kann nach den bekannten grammatikalischen Figuren des Wegwerfens oder Zusetzens erklärt werden. Dabei würden sich mehrere Regeln hervorschwingen, die man gelegentlich anwenden und deutlicher bestimmen könnte.

Mir geriethen ein spanisches und ein polnisches Buch unter die Augen, und da ich eben damals [62]Musse hatte, dachte ich: siehe du wähnst, daß alle Sprachen aus einer erlernt werden können; mache nun die Probe! Spanisch und Polnisch sollen mit dem Teutschen keine Verwandschaft haben. Versuche, ob du es verstehst, ohne es gelernt zu haben. Ich war muthig genug, meinen angenommenen Satz zu zernichten oder zu bauen. Ich fing meinen Weg an, wie mit Spornen getrieben; und ich entdeckte ein Wort nach dem andern, wie es im Grunde, und nach dem Hauptbegriffe teutsch, und nur nach der Aussprache und in zufälliger Bedeutung sich spanisch oder polnisch darstellte, das ist anders, als ich bisher im Teutschen gewohnt war. Ich konnte hiebei unmöglich gleichgültig seyn. Ich freute mich, wie ein Wandrer, der auf ungewissem dunkeln Pfade irrt, und dem plötzlich ein Lichtstral schimmert. Ich schaffte mir ein spanisches und polnisches Wörterbuch an, und sah was diese Sprachen mit der teutschen oder andern bekannten Sprachen gemein haben. Ich beobachtete, wie die Begriffe sich bei den Worten aus allgemeinen in besondre, und umgekehrt, verändern. Ich legte den Grund zu einer systematischen Erkenntniß der Sprache, welche die Sprache in Philosophie verwandelt, und die Philosophie in Sprachen darstellt.

Ich bin bekanntlich Lehrer am Königl. Preuß. Institute für Taub- und andere Stumme; die Stummen lernen gewöhnlich nur eine Sprache, [63](ein Taubstummer hat gar keine Muttersprache) also kann ich meine Theorie nicht praktisch betreiben und ausüben. Doch zweifle ich nicht im mindesten, daß sie praktisch anwendbar sey. Aber auf allen Kloster- und Fürstenschulen nach altem Schnitte, wird man sie nicht adoptiren, und wenn sie noch so gegründet, brauchbar und ersprießlich wäre.

So gut ich es wußte und verstand, habe ich es hergeschrieben, und daß die einzigste Absicht dabei war: meinen Mitmenschen zu nutzen, weiß Niemand so gut als ich.

Berlin, am 11. Oktober, 1789.

Ernst Adolf Eschke.

Fußnoten:

1: *) Ich weiß wohl, daß dieses relative so in unserm Zeitalter Feinde in Riesengröße gefunden hat, deren Zwergmagen es schlechterdings nicht verdauen kann, und die es aus der teutschen Sprache völlig verbannen wollen. Das arme so! Ich sehe keinen Grund: warum wir es in's Exil schicken wollen. Selbst die besten Schriftsteller brauchen es unzähligemal. Und ich habe noch dazu einen Grund, dieses unschuldige Relativum nicht zu verstoßen. Dieser Grund ist dessen Abstammung. Denn es ist mit dem Artikel oder vielmehr dem demonstrativen Pronomen der, die, das, genau verwandt. Dieses der, die, das, heißt bei dem Ulphilas = sa, so, thata, im Ißländ. sa, su, that, Hebr. וה, ור, ורת u.s.f. Und überdies ist es in dieser relativen Bedeutung älter als in allen andern.
Eschke.

[64]

7.

Sonderbare Zweifel und Trostgründe eines hypochondrischen Metaphysikers.

Moritz, Karl Philipp

Die Ewigkeit, welche wir uns bei Gott denken, ist wesentlich von derjenigen unterschieden, welche wir hoffen. Denn dieses ist immer nur Zeit. Immer nur eine Folge vom Denken, die Gott mit einemmale zusammenfaßt, so daß seine Ewigkeit in einem Augenblick zusammenfließt. Bei ihm ist keine Folge. —

Dies ist einer der erhabensten Gedanken, den die menschliche Seele denken kann. Wie kam sie zu diesem Gedanken? Und enthält er keinen Widerspuch? Ist es wohl möglich, daß man sich das, was aufeinander folgt, als nebeneinander denken könne?

Daß uns die Dinge in der Welt aufeinander zu folgen scheinen, ist das Resultat unsrer Unvollkommenheit. Weil wir uns nicht mehrere Dinge auf einmal vorstellen können, so müssen wir warten, bis das eine erst vorüber ist, ehe wir das andre betrachten können. Die Folge der Dinge wäre also bloß ein Verhältniß gegen uns, und eigentlich nichts Wirkliches. Wenn ich eine Stadt besehen will, und befinde mich unten an dem Ende, so muß ich eine Straße nach der andern durchgehn, und es [65]abwarten, bis ich sie nach und nach kennen lerne. Wenn ich aber auf einem Thurme stehe, so sehe ich dasjenige nebeneinander, was ich vorher nacheinander sehen mußte. Was wir die Folge der Dinge nennen, ist also bloß die Folge unserer Vorstellungen von diesen Dingen. Aber hierin giebt es doch wohl eine wirkliche Folge? Für einen eben so eingeschränkten Verstand, der sie eines nach dem andern betrachten muß wohl, aber nicht für einen vollkommnen der sie nebeneinander siehet.

Alles was künftig ist, wäre also wirklich schon da, nur für uns noch nicht.

So müßte auch unsere Vorstellung davon schon da seyn, das ist sie aber wirklich nicht, und jene Behauptung ist folglich ein Widerspruch. Unsere Vorstellung davon ist auch schon da. Wir müssen nur erst warten, bis sie an uns kömmt.

Aber wie ist es denn mit den Bewegungen? Wie kann der Mann, welcher ietzt noch hier steht, in diesem Augenblicke schon eine Meile weit entfernt seyn?

Wie kann auch der allumfaßendste Verstand mein Hierstehen und Dastehen nebeneinander stellen? Wo ich gestanden habe, stehe ich doch jetzt nicht mehr — das wäre also aufs neue ein Widerspruch.

Wenn ich ein Feuerrad mache, oder einen Funken schnell umher drehe, so scheint er da zu seyn, wo er doch nicht ist, anstatt eines Punktes be-[66]merkt unser Auge einen Cirkel, welcher stille zu stehen scheinet. Weil die Bewegung sehr schnell ist, so können wir uns auf einige Augenblicke, die Dinge welche aufeinander folgen, als nebeneinander vorstellen. Wir erblicken den Funken an allen Orten, wo er hinkömmt, wo er jetzt ist, und wo er war, zugleich, und umfassen gleichsam im Kleinen das Gegenwärtige, das Vergangene und das Zukünftige mit einem Blicke.

Wenn wir uns also die Erde wie einen sich fortbewegenden Punkt gedächten, so müßte sie sich in dem göttlichen Verstande wie ein Cirkel darstellen.

Wenn wir sehen, daß sich etwas bewegt, so verändert sich bloß unsere Vorstellung von der Person oder Sache. Ein Mann steht unter einem Baume. Er geht weg. In meiner Seele bleibt noch das Bild von dem Manne der unterm Baume steht. Der Funke bewegt sich fort, an dem Orte aber, wo er selbst nicht mehr ist, ersetzt sein Bild in meiner Seele seine Stelle.

Wenn ich mir den Mann zugleich unterm Baume und in seinem Hause vorstellen wollte, so müßte der Baum und sein Haus eins seyn.

Das Bild des Untermbaumstehens liegt aber noch immer in der Seele, wenn auch der Mann schon wieder in seinem Hause ist.

Das Untermbaumstehen war eben so wirklich als das Zuhauseseyn ist.

[67]

Aber ich kann mir doch unmöglich beides auf einmal denken?

Gott aber muß sich beides auf einmal denken können. Bei ihm ist keine Veränderung.

Die Bewegungen des Menschen kann man nicht anders als durch Veränderungen seiner Vorstellungen erklären, denn daß sie das sind wissen wir alle gewiß. Nun liegen alle Vorstellungen, die der Mensch haben soll, schon nebeneinander da, und der Mensch muß sie eine nach der andern durchgehen. Und selbst dieses Durchgehen ist bei Gott schon nebeneinander da.

Das Nebeneinandervorstellen Gottes muß aber auch von dem unsrigen sehr verschieden seyn, denn wir haben doch immer die Begriffe von Nähe und Entfernung. Bei ihm muß sich alles auf einen Punkt reducieren.

Wenn wir das Gegenwärtige sehen, so behalten wir noch immer das Bild von dem Vergangnen. Es ist aber bei uns nicht mehr wirklich. Bei Gott hingegen muß es noch eben so wirklich seyn, wie das Gegenwärtige. Dies ist vielleicht bei uns ein Theil des göttlichen Ebenbildes.

In ihm steht das ganze Leben des Menschen, ewig wie ein Gemälde nebeneinander da. Der Mensch muß es erst durchleben.

Und giebt es denn einen solchen vollkommensten Verstand? —

[68]

In ihm freut sich noch der erste Mensch seines Daseyns; genießt noch immer die frohen Augenblicke im Paradiese, und freuet sich seiner reitzenden Gehülfin. In ihm verscherzt er noch sein Glück, und bauet mit Mühe den Acker u.s.w., welch ein erstaunlicher Gedanke, daß alles nebeneinander wie Licht und Schatten zu sehen, welch ein unbegreifliches Gemälde.

Ach also ist von dem Vergangenen nichts vergangen, so ist noch alles so da, wie es war, aufbewahrt in dem allumfassenden Gedanken des Ewigen. Wie tröstlich! Wie es mich manchmal kränkte: wenn ich dachte, mit dem ists nun vorbei, das ist nun auf ewig dahin!

Darum klage nicht, daß dein Freund im Staube modert! er blühet noch in seiner schönsten Jugend. Die Jahre seiner Kindheit sind noch nicht verflossen, ob er gleich jetzt im Staube verweset.

Du bist nur gerade jetzt in solchem Verhältniß gegen ihn, daß du den gegenwärtigen Punkt seiner Veränderungen, Verwesung im Grabe, bemerken kannst. Das Verhältniß des Ewgen gegen ihn ist so, daß er sein Verwesen im Grabe und das Aufblühen seiner Jugend jetzt zugleich bemerkt, und daß auch schon sein verklärter Körper wirklich da steht. Wo dein Verhältniß aufhört, das scheint dir vergangen zu seyn. Du täuschest dich aber. Vielleicht wird uns einmal die Wonne gewährt unser Daseyn so nebeneinander zu sehen, vielleicht [69]hört bei uns einmal im eingeschränktern Maße die Folge auf, so daß auch wir alles was wir sind auf einmal sind, und unsre Ewigkeit zur immerwährenden Gegenwart wird.

Wenn sich ein Rad schnell umdreht, so macht jeder hervorragende rauhe Punkt einen Cirkel, und das Ganze bekommt ein schönes, ebenes und wohlgeordnetes Ansehen.

Bei Gott kann nicht das kleinste Bild von dem Vergangenen zurückbleiben, sonst müßte man sich eine Zeitfolge bei ihm gedenken.

Gott hat einen unendlich vollkommnern Begriff von uns als wir selbst von uns haben. Jemehr wir uns mit ihm vereinigen, desto mehr werden wir uns selbst kennen lernen.

Da wir uns dies vollkommenste Wesen denken können, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß wir dereinst genauer mit ihm vereiniget werden.

Würden wir wohl etwas verlieren, wenn wir in diesem Fall auch unser Selbst aufopfern müßten?

Abends.

Wenn bei Gott das Vergangene nicht gegenwärtig bliebe, so wäre zu wenig Wirklichkeit in der Welt. Denn alles was wir sehen hat eigentlich nur ein anscheinendes Daseyn. Dieser Tag ist [70]nun verflossen, und also nicht mehr wirklich, wann war er aber wirklich? eigentlich gar nicht. Tage und Jahre giebt es nicht, sondern nur unmerkliche Augenblicke. Die Bilder aber, welche von den vorübergehenden Dingen in uns zurück bleiben, machen, daß sie etwas der Wirklichkeit Aehnliches bekommen. Uns ist dasjenige nur wirklich da, was von uns unmittelbar empfunden wird. Die unmittelbare Empfindung dauert aber nur eine unendlich kurze Zeit; so ist schon die Sache selbst nicht mehr, sondern bloß das Bild von ihr in unsrer Seele noch da. So klein ist also der Kreis unsrer wirklichen Dinge.

Bei Gott sind alle diejenigen Dinge wirklich, die er weiß, und also ist bei ihm alles wirklich. Können wir aber wohl, auch nur ohngefähr wissen, wie sich der göttliche Verstand die Dinge vorstellt? — Wenn wir es wissen könnten, so müßten wir sie uns im Kleinen eben so vorstellen können, wie er im Großen. Wir thun dieses vermittelst der Worte. Den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Theil des Tages fassen wir unter dem Worte Heute zusammen. Was wir uns aber eigentlich als wirklich vorstellen, ist doch immer nur der gegenwärtige Augenblick. Daß ich heute Abend in B....s Garten spatzieren gieng, kann doch nie zu derselben Zeit wieder geschehen. — Bei Gott geschiehet es noch, bei Gott denke ich noch eben den Gedanken, den [71]ich damals dachte, und denke zugleich den gegenwärtigen Gedanken.

Bei ihm steht die Sonne noch eben da, wo sie damals stand, und doch ist sie auch zugleich bei ihm schon untergegangen. Denn wirklich ist alles das bei ihm, was er weiß, nicht was er empfindet. Wir denken uns die Ewigkeit Gottes als einen Augenblick, weil der Zeitpunkt unsrer Wirklichkeit nur ein Augenblick ist. Und das ist der Augenblick des Empfindens. Was ist nun mehr, Denken oder Empfinden? Welches von beiden sollen wir Gott zuschreiben? Vielleicht keins von beiden?


Wer weiß denn, ob Gott denkt, ob selbst unser Denken nicht etwas Unvollkommenes ist, das bei uns den Mangel einer höhern Fähigkeit nur einigermaßen ersetzt. Es kann ja wirklich außer dem Denken noch eine Eigenschaft geben, die eben so verschieden von diesem ist, wie das Sehen vom Hören.

[72]

Zur Seelenheilkunde.

1.

Beispiel eines Mannes, welcher von seinem dreißigsten bis vier und funfzigsten Jahre ein recht eifriger Mystiker gewesen, nachher aber nach und nach davon losgekommen, und von seinem sechszigsten bis vier und sechszigsten Jahre, ganz von Vorurtheilen frei, noch glücklich gelebt hat. a

K. St.

(Fortsetzung.)

Er (wir wollen ihn in der Folge N.... nennen) reißte wieder nach Haus, aber in einer ganz andern Gemüthsverfassung als auf der Hinreise.

Es wurde ihm während der Rückreise schon auffallend, daß mit dem natürlichen Tode seines geistlichen Führers auch das innere geistliche Leben der geistlichen Zöglinge desselben einen Stoß bekommen zu haben schien.

Es wurde ihm ferner auffallend, daß die Prophezeihungen in den ihm von seinem geistlichen Führer empfohlnen Schriften, welche derselbe auf die [73]Zeit des siebenjährigen Krieges gedeutet hatte, nicht eingetroffen waren; indem sich die Zahl der Mystiker dieser Art, statt daß die Mystik sich überall hätte ausbreiten sollen, vermindert hatte.

Es fiel ihm endlich auf, daß ihn sein geistlicher Führer, bei aller seiner Treue und Aufrichtigkeit, am Ende doch verkannt, und hingegen andere, die es gewiß nichts weniger als treu und aufrichtig gemeint hatten, dafür gehalten, und ihren Verläumdungen gegen ihn, ihren geistlichen Mitzögling, Gehör gegeben hatte.

Dies alles kam N.... sehr wunderbar vor, und er konnte gar nicht begreifen und keinen Grund finden, warum es so wohl sey.

Anfänglich hielt er diese Gedanken für Versuchungen, und suchte ihnen zu widerstehen, er vermochte dies aber immer weniger, und mußte ihnen nach gerade vielmehr gänzlich nachgeben und nachhängen.

In diesem Zustande kam er wieder zu Hause, wo er nun den Druck seiner häuslichen Lage um so viel stärker fühlte, als er ihm, weil er sein Gefühl durch die Abwesenheit während der Reise etwas davon entwöhnt hatte, wieder neu geworden war.

Wie gewöhnlich fieng er auch jetzt wieder an, in den ihm empfohlnen Schriften zu lesen, um daraus Trost und Erquickung in seinem Leiden zu schöpfen; aber er fand den gewohnten Trost nicht mehr darin, denn ernstere Gedanken verscheuchten die [74]Bilder der Einbildungskraft, weil seine Seele sich nicht mehr damit beruhigen konnte.

Er war nun in einer üblen Lage, weil er nichts hatte woran er sich halten, und wenn er fiel, wieder aufrichten konnte; denn was sollte ihn nun vor Fehltritten behüten, und ihn wieder aufrichten und trösten, wenn er gefehlt hatte?

Wollte er andere Schriften lesen, was sollte er dann aus so vielen für welche wählen, da ohnedem die bishergelesenen alle andern Arten ohne Unterschied ausschlossen, und sie ihn aus Gesichtspunkten betrachten gelehrt hatten, woraus sie ihm nicht anders als schlecht und schädlich erscheinen konnten?

Und daß er von allen bisherigen Vorurtheilen sogleich auf einmal hätte frei seyn sollen, war ganz natürlicher Weise nicht möglich, weil zwischen diesen Vorurtheilen doch viel Wahres und Gutes enthalten, und damit nun einmal verwebet und in ein System gebracht war, daß es also erst viel Zeit erforderte, das Gute von dem Schlechten zu sondern und zu ordnen.

Unterdessen war ihm doch nun einmal alle Neigung, in den mystischen Schriften zu lesen, vergangen, und da er nun nicht gleich etwas anders hatte, was er in dessen Stelle hätte setzen können, so hätte er leicht von einem Extreme auf das andere, und in Ansehung seiner Lebensart auf allerlei Excesse verfallen können, wozu er vielfältig Gelegenheit hatte, und wodurch er sich so hätte verschlimmern [75]können, daß es für ihn und seine Familie weit besser gewesen, wenn er ein Mystiker geblieben wäre.

Aber dies geschahe nicht, sondern er hütete sich um so viel mehr vor Fehltritten, da dasjenige, was ihn sonst wieder darüber beruhigen konnte, jetzt von ihm bezweifelt wurde.

Auf solche Art lebte er nun wohl ein paar Jahre fort, da er sich denn endlich entschloß, ein gutes moralisches Buch zu lesen, nachdem er vorher noch einen Brief von einem seiner alten mystischen Freunde erhielt, welcher ihm unter andern schrieb: »Ich lebe so in der Stille hin, und gebe mich in Glaubenssachen fast gar nicht bloß. Wenn ich mich aber an die vorigen Zeiten erinnere, so scheinen mir die damaligen Meinungen mehrentheils mit starken Einbildungen verwebt gewesen zu seyn.«

Derselbe hatte ihm schon einmal wegen eines seiner Söhne geschrieben: »Ihr C.... wird wohl schwerlich in der guten Gesinnung gegen der Madam Guion Schriften (dies waren die erwähnten mystischen Schriften) bleiben, denn man findet jetzt fast gar keine, so etwas davon halten, auch die besten nicht, wenn die Jahre zunehmen, so verändert sich dieses alles.« —

Was nun aber seinen Entschluß, ein gutes moralisches Buch zu lesen, betrift, so besaß ein guter Bekannter von ihm einige Bände von einer gesammelten periodischen Schrift, der Mensch betitelt.

[76]

Diese lieh er sich, und das war denn seine erste sogenannte moralische Lektüre wieder. Zwar eine Lektüre, die nach seinem sonstigen System verdammlich war, worin er aber jetzt in allem Betrachte weit mehr wieder fand, als er an der vorhergehenden verlohren hatte.

Er laß jetzt diese Schriften aber nicht sowohl, um nur Trost und Erquickung in seinem Leiden daraus zu schöpfen, sondern vielmehr um sich daraus zu belehren, was er als ein rechtschaffener Mann dabei zu thun habe. Und dieses Ziels verfehlte er auch nicht.

Hierin wurde ihm der Mensch in seiner wahren Gestalt und Würde gezeigt, hieraus lernte er einsehen, daß der Mensch keinesweges ein solches Wesen sey, das Ursache habe sich selber für nichts zu achten. —

Gleich das erste Stück dieser periodischen Schrift enthielt eine allgemeine Betrachtung über den Menschen, und was derselbe vermöge, und wie die Werke des Alterthums in Künsten und Wissenschaften zeigten, daß der Mensch nicht allein selbst seiner vorzüglichen Betrachtung werth, sondern sogar über sich selbst erhaben, ja unsterblich zu nennen sey. Dies war nun auf eine solche einleuchtende und einnehmende Art geschrieben, daß N.... sehr bald einen großen Unterschied zwischen dieser und der vorhergehenden Lektüre fühlen mußte.

[77]

Er setzte diese neue Lektüre nun fleißig fort, und befand sich sehr wohl dabei, denn er machte sich nach derselben die feste Regel: in seinem leidenden Zustande weder die Geduld zu verlieren, noch seine Kräfte, sich daraus zu reißen, sinken zu lassen.

Aber das Unterscheidungsvermögen, welches ihn einen Unterschied zwischen der vorherigen und nunmehrigen Lektüre hatte bemerken lassen, ließ ihn nach gerade auch einen Unterschied in Ansehung der verschiedenen Materien dieser neuen Lektüre verspüren.

Er glaubte nehmlich eine gewisse Schwäche der Schreibart zu bemerken, wenn von theologischen Dingen die Rede darin war, und hingegen eine gewisse Kraft, wenn andere Dinge die Gegenstände waren.

Er las nun mehrere dieser Art Schriften, und bekam unter andern auch Gellerts Fabeln, und nach diesen desselben geistliche Oden in die Hände. Auch in Ansehung dieser glaubte er die nehmliche Bemerkung zu machen, indem seinem Gefühle nach, in Betracht der letztern, ein gewisser Mangel von einleuchtender Wahrheit herrschte.

Aber nun kam es bei ihm darauf an, was das einzige Wahre denn eigentlich sey; denn er glaubte doch nun einmal etwas haben zu müssen, welches vor allen Dingen werth wäre, daß man alle Gedanken und sein ganzes Bestreben darauf richte.

[78]

Wenn das verlassene System das rechte gewesen wäre, so wäre ja nichts Höheres und zu erringen Wertheres gewesen, als das, worauf es ihn verwieß, und wohin es ihm den Weg zeigte; indem dies nichts weniger als eine geistige Wiedervereinigung mit dem Höchsten aller Wesen selbst war.

»Wenn die Wahrheiten der christlichen Religion gegründet sind, so pflegte er sich bisweilen auszudrücken, daß nehmlich Jesus selbst wahrer Gott ist, Mensch geworden, als ein solcher, und Gott zugleich die Menschen durch sein Thun und Leiden mit Gott versöhnet hat, von seinem Tode wieder erstanden ist, und dereinst die Welt richten wird; was kann denn ein Mensch bessers thun, als sich demselben von ganzem Herzen zu ergeben, und sich zu bestreben nach dessen Willen zu leben, um so mehr, da derselbe solches ausdrücklich verlanget, und diejenigen, welche dieses Verlangen nicht erfüllen, von seinem Reiche dermaleinst auszuschließen gedrohet hat.«

Aber nun war einmal der Fall eingetreten, daß er, wenn er gleich nicht daran zweifelte, daß dieser Gesetzgeber existire, doch daran zweifelte, daß die Lehren und Gebote, die derselbe gegeben, so zu verstehen wären, wie sie ihm in den Lehren der Mystik waren ausgelegt worden.

Daß dieser Zweifel seine Richtigkeit hatte, davon überzeugte ihn die gegenwärtige Lektüre zur Genüge.

[79]

Dagegen wollte er aber nun auch gern in derselben finden, was es denn nun mit Gott, der menschlichen Seele, und dem Zustande derselben nach dem Tode, eigentlich für eine Bewandniß habe, und was von Seiten des Menschen dabei zu thun sey.

Dies fand er nun aber nicht darin; denn in diesen Schriften schien gleichsam schon vorausgesetzt zu seyn, daß der Leser von dem gewissen Daseyn und der Beschaffenheit dieser Dinge schon unterrichtet und überzeugt sey. — Die christliche Religion wurde darin erhoben, und doch nicht ausdrücklich gesagt, welche denn eigentlich bei der vielfachen Verschiedenheit derselben, die rechte sey. Dahingegen wurde vielfältig zur Duldung eines jeden Menschen in Ansehung der Religionsmeinungen darin ermahnt.

Letzteres fand er nun sehr gerecht und lobenswerth, aber da er die Lehren der Mystik als eine bloße Schwärmerei hatte einsehen gelernt, und jetzt eigentlich ohne alle Bestimmtheit in Ansehung der Religionsmeinungen war, so machte dies ihm viel zu schaffen; weil er bei der vielfachen Verschiedenheit der Religionsmeinungen in der Christenheit doch nun nicht wußte, welcher er eigentlich zugethan seyn sollte. Wie denn solches mit mehrern aus folgendem Briefe erhellet, welchen er damals an jemand über seine Religionsmeinungen schrieb, [80]und darin selbst einen kurzen Abriß seiner Geschichte, in Betreff seiner Religionsmeinungen, giebt.

»Ohngefähr im 30ten Jahre meines Alters bekam ich eine besondere Neigung in theologischen Schriften zu lesen, so wie mir solche zu Händen kamen, und fand dabei so vieles Vergnügen Predigten zu hören, daß ich auch alle Wochenpredigten besuchte. — Die Festtage hielt ich allemal mit solcher Andacht, daß ich deswegen jedesmal des Tages vorher einen Fasttag hielt. Die Begierde mit den Predigern mich privatim zu unterreden, war so stark, daß ich die Befriedigung derselben mit vielem Gelde würde erkauft haben, wenn es hätte seyn können. — Dieses währte eine lange Zeit, und ich befand mich sehr vergnügt dabei. Hierauf ward ich mit einigen Personen unter dem Namen der Pietisten bekannt, und bekam zu diesen Leuten eine solche unbeschreibliche Zuneigung, daß ich denselben zu Gefallen wohl hundert Meilen weit gereiset seyn würde. — In dieser Zeit starb meine erste Frau, und wenn ich damals das Leben der Altväter in der Wüste zu lesen gehabt hätte, so würde ich denenselben alles nachgemacht haben. Wenn Musik zum Tanzen gefordert wurde, so spielte ich nicht mit, ob mir gleich mit der Verabschiedung gedrohet wurde, und hätte man nicht aus freiem Willen mit mir Nachsicht gehabt, so hätte ich dieselbe mit Freuden angenommen. In dieser Zeit aber fügte es sich, daß [81]ich den Uhrmacher H. zum erstenmale zu sprechen bekam, und derselbe machte mit wenigen Worten, daß ich meinen Beruf wiederum ordentlich verrichtete, und durch ihn ward ich in dem Hause des Hrn. v. F.... bekannt, alda erhielt ich die Schriften von Madam Guion. An diesen Schriften fand ich so vielen Geschmack, daß mir die Neigung andere Schriften zu lesen, und Prediger zu hören, gänzlich vergieng. In dem Hause des Herrn von F.... war ich sehr wohl gelitten, und genoß daselbst alle mögliche Freundschaft; und man bekümmerte sich darin auch darum, daß ich auf meine ältern Tage eine festgesetzte Bedienung haben sollte. Dieses zu erlangen suchte ich alle Mittel und Wege; denn weil ich nach Anleitung der Madam Guion die Gegenwart Gottes nicht in mir finden konnte, so glaubte ich, daß mir die Musik im Wege stünde. Als ich es nun endlich dahin gebracht hatte, daß ich eine andere Bedienung bekommen, so war der Herr von F.... gar nicht damit zufrieden, und wollte haben, ich sollte wieder umkehren. Da ich nun aber dazu gar keine Neigung bekommen konnte, so hörte unsere Freundschaft auf; welches mir aber nichts zu schaffen machte, indem ich in der festen Ueberzeugung war, daß alle Handlungen des Herrn von F.... nur ganz allein von Gott selbst dirigiret würden; und ich hörte daher auch nicht auf, in den Schriften der Madam Guion zu lesen, um endlich das-[82]jenige in der That darin zu finden, was ich suchte. Aber meine äußern Umstände verschlimmerten sich. Ich gerieth in Schulden, der Friede in der Ehe wurde dadurch unterbrochen, und das daher rührende beständige Misvergnügen machte, daß ich der vielfältigen Gelegenheit einen Exzeß im Genuß starker Getränke zu begehen zuweilen unterlag. Dieses alles durcheinander machte, daß ich nur periodenweise in den Schriften der Madam Guion las. Bei dem allen aber hatte ich dennoch immer die Hoffnung, endlich meinen Zweck zu erreichen. Bis diesen Sommer, auf der gedachten Reise, mir in Ansehung der Mystik alles zuwider wurde. Aber nun habe ich auch nichts, woran ich mich halten könnte; denn auf diese Art wäre ich ganz ohne Religion, und ob man so seyn kann, das weiß ich nicht. — Von dem Herrn von F.... weiß ich im Kurzen weiter nichts zu sagen, als daß er alles, was ihm nur möglich war, anwendete, um die Schriften der Madam Guion allgemein bekannt zu machen; und bei dem merkwürdigen Kriege, welchen der König von Preußen führte, war er der ganz festen Meinung, daß durch denselben das Reich Jesu empor kommen würde. Über den L.. aber habe ich mich gewundert, denn ich habe nichts mit ihm reden können, und mir deucht, er weiß wenig von dem Inhalt der Schriften der Madam Guion zu sagen, und vernünftig läßt er sich auch nicht sprechen.«

[83]

Das Klügste wäre nun wohl für ihn gewesen, für sich zu bleiben, und sich an niemand zu kehren.

Seines zarten Gewissens wegen war ihm dies aber nicht möglich, denn das eine däuchte ihm sowohl gefährlich als das andre.

Sein Gewissen überzeugte ihn jedoch, daß er es niemals übel gemeint habe, und auch noch nicht übel meine, und wenn er daher gefehlt hätte, solches aus Irrthum geschehen wäre, und wenn er auch jetzt wieder fehlen sollte, solches gleichfalls bloß aus Irrthum geschehen würde, und also sehr verzeihlich seyn müsse. Daher wählte er lieber den Weg, noch ferner zu prüfen und zu forschen, als etwas anzunehmen, wovon er noch nicht gewiß war, ob es das einzige Wahre sey, das er suchte. —

Während diesem Prüfen und Forschen verstrichen nun wiederum einige Jahre, während welcher Zeit es ihm noch nicht möglich war, in Ansehung seiner häuslichen Umstände eine Verbesserung zu bewirken, hauptsächlich aus der Ursache, weil seine Frau fast beständig krank war.

Nun aber starb dieselbe, und da er nach den Lehren der Mystik sich vorher immer über dergleichen Vorfälle gänzlich hinwegzusetzen gesucht hatte, und es ihm auch wirklich möglich gewesen war, so, daß man ihn für einen unempfindlichen hartherzigen Menschen hielt; so war es jetzt um desto auffallender, daß er bei dem Tode, und auch dem Begräbnisse derselben, herzlich weinte, und überhaupt be-[84]trübt über ihren Tod war, ob sie gleich im Leben so oft uneinig mit einander gewesen waren. Daß die vorher bei der Mystik gezeigte Härte ihm nicht wesentlich, sondern von ihm gegen sein Gefühl aus religiösem Eifer affektirt gewesen war, und er im Grunde ein gefühlvolles gutes Herz hatte, zeigte sich in der Folge noch zu mehrernmalen, indem er, wenn er jemanden leiden sah, nicht allein ein aufrichtiges Mitleiden äußerte, und wenn er jemand worin helfen konnte, sich eine wahre Freude daraus machte, sondern auch durch das Elend eines fremden Menschen, oder eine gute und großmüthige Handlung bis zu Thränen gerührt werden konnte, ja daß eine rührende Stelle in einem Buche ihm Thränen auszupressen vermochte.

Er beklagte also den Tod seiner Ehegenossin, aber indem er dieses that, dachte er auch mit Ernst an seinen Tod. Denn sein Hauptwunsch war nunmehr, dermaleinst so sterben zu können, daß er niemandem etwas schuldig bliebe und niemand hinterließe, der durch seinen Tod in eine traurige Lage versetzt würde, damit er auf seinem Todbette darüber keine quälende und beunruhigende Gedanken haben möchte. — Sein erstes Augenmerk war nun die Bezahlung seiner Schulden.

Hiezu war kein anderes Mittel für ihn, als vorzüglich Sparsamkeit und Einschränkung, und dann hatte er noch seine beiden jüngsten Söhne bei sich, welche er Musik gelehrt hatte. Da er nun [85]wegen einer schon lange beobachteten sehr diäten Lebensart, seines Alters ungeachtet, einer ziemlich festen Gesundheit genoß, so scheuete er nicht die Mühe, davon zu einigem Nebenerwerb Gebrauch zu machen.

Mittelst diesem und einer außerordentlichen Sparsamkeit und Einschränkung gelang es ihm endlich, binnen einigen Jahren aus seinen Schulden zu kommen.

Seine Lektüre setzte er unter dieser Zeit ununterbrochen fort, und bekam unter andern auch die neuesten pädagogischen Schriften zu lesen. Hievon wurde er so vorzüglich eingenommen, daß er dieselben nicht allein verschiedenemale gleich hintereinander durchlas, sondern sich so zu sagen in Ansehung seiner ganzen Denkungsart darnach bildete; indem er dadurch wirklich auf das wahre Verhältniß vieler Dinge in der Welt aufmerksam wurde, und nun gewissermaßen glaubte, er habe jetzt das Wahre und Vollkommne gefunden, was er so lange vergebens gesucht hatte. Es schien gleichsam ein neues Licht in seiner Seele aufzugehen, indem ihm die Menschen und ihre Handlungen ganz anders als vorhin vorkamen. Denn er sah jetzt sowohl auf die Folgen als die Bewegungsgründe der menschlichen Handlungen, und ließ sich nicht mehr wie sonst durch den Schein betrügen.

Er war nun zwar zum Theil von Vorurtheilen befreiet, und lebte in so weit glücklich, daß er, [86]weil er sich nicht wie sonst durch Vorurtheile hatte abhalten lassen, von der Musik Gebrauch zu machen, nun außer drückenden Schulden war, einer festen Gesundheit genoß, und sich nicht so wie vorher mit schwermüthigen Gedanken plagte.

So wie aber nichts vollkommen ist, so war er auch noch nicht vollkommen von Vorurtheilen frei, in sofern nehmlich eine jede Vorliebe für etwas auch eine gewisse Art von Vorurtheil voraus zu setzen scheint.

N.... kam aber bei dem allen, daß er die Unvollkommenheit fast aller Dinge einsahe, doch nicht darauf, daß auch ein Schriftsteller, der so was Wahres und Schönes lehre, auch wohl nach andern Grundsätzen handeln könne, als man aus seinen Schriften schließen müsse, sondern bei diesem, glaubte er, würde es sich gewiß ganz anders verhalten; denn da er seine bessern Einsichten doch nun einmal nicht von sich selbst hatte, so war derjenige, von welchem er sie erlanget hatte, gewissermaßen über ihn erhaben; und da er keine Gelegenheit hatte, mit irgend einem solchen Manne bekannt zu seyn, so konnte er sich nicht einbilden, daß ein solcher Mann so etwas schreiben könne, ohne wirklich so zu denken wie er schriebe.

Sein höchstes Glück auf Erden schien nun die Bekanntschaft eines solchen Mannes zu seyn; denn mit einem solchen Manne einen schriftlichen oder persönlichen Umgang pflegen zu können, schien ihm [87]ein Vergnügen, welches man sich wohl unter dem Umgange der Seeligen und mit Gott selbst, im Himmel, zu gedenken pflegt. Und dies war es, was er, da er nun durch Mühe, Arbeit, und ausserordentliche Einschränkung und Entbehrung aus seinen Schulden gekommen war, noch vor seinem Tode zu erlangen wünschte.

Hiezu hatte er aber fürs erste noch keine Aussicht, und das frohe Wohlbehagen nun außer Schulden zu seyn, welches ihm um desto angenehmer seyn mußte, je fataler es ihm gewesen war in Schulden zu stecken, und je mehr er daher gewünscht hatte, daraus befreit zu werden, wurde ihm durch diesen Wunsch wirklich in etwas verleidet.

Seine Lektüre machte ihm unterdessen das größte Vergnügen, vermehrte aber auch zugleich seinen Wunsch, mit einem vorzüglichen Schriftsteller bekannt zu werden.

Unter den vielerlei pädagogischen Schriften die er las, bekam er auch die Schriften eines gewissen Gelehrten zu lesen, welcher damals durch seine Schriften, in Ansehung der Menschen, eine ganz neue Welt formen zu wollen schien.

Diese Schriften stimmten völlig mit seiner gegenwärtigen Denkungsart überein. — Er hatte auch schon eher eine der Schriften dieses Verfassers gelesen, und durch deren Übereinstimmung mit seinem Plane, vorzüglich sich entschlossen, und die Kraft und den Muth bekommen, durch Mühe, Ar-[88]beit und Entbehrung manches, welches von seinen Freunden und Bekannten für ihn als ganz unentbehrlich gehalten wurde, sich selbst aus seinen Schulden zu helfen.

Aber noch nie hatte etwas mehr Eindruck auf ihn gemacht, als die frohen Aussichten in die Zukunft, welche ihm jetzt diese Schriften gaben. Denn noch nie hatte er glücklichern Tagen für die Menschheit entgegen gesehen als jetzt.

War sonst seine Vorstellung als Mystiker von der bevorstehenden Ausbreitung des Reichs Jesu Christi, auch noch so herrlich für ihn gewesen, so war es jetzt die Vorstellung von dem künftigen Glücke der Menschheit doch noch weit mehr.

Der Schriftsteller, welcher ihm nun vor allen andern hiezu die besten und hofnungsvollsten Aussichten gab, war sein Gedanke und der Inhalt seiner Gespräche, des Morgens zuerst und des Abends zuletzt. Noch nie hat wohl eine Schrift einen eifrigern Verehrer, und so viel an ihm war, Befolger gefunden, als diese Schriften an ihm fanden. Der Verfasser derselben wurde nun auch der eigentliche Gegenstand seines Wunsches, dessen Bekanntschaft er noch vor seinem Tode erlangen wollte.

Seine Freunde suchten ihm zwar einiges Mißtrauen gegen denselben einzuflößen, aber er getrauete seinem Gefühle mehr als ihren Gründen, ließ eine sich darbietende Gelegenheit, sich ihm bekannt zu machen, nicht unbenutzt, und brachte es [89]dahin, daß dieser Schriftsteller ihm erlaubte, zu ihm zu kommen.

Dies wurde denn mit Freuden von ihm angenommen, und seine Reise mit den größten Erwartungen und Vorstellungen von ihm angetreten.

Das eigentliche Gewerbe, welches er sich dahin machte, war wegen eines seiner beiden Söhne, die er noch bei sich hatte. Dieser Sohn hatte nehmlich, ob er gleich schon 23 Jahre alt war, doch noch große Neigung zu studiren, und N....s jetziger Denkungsart nach durfte diese Neigung nicht unterdrückt werden. Jedoch entschloß er sich, dieserwegen erst den weisen und guten Rath seines fast angebeteten Schriftstellers zu hören.

Er langte also bei demselben an, wurde freundlich von ihm aufgenommen, und brachte nun das Gewerbe wegen seines Sohnes vor. —

Von diesem hatte er ein Schreiben bei sich, worin derselbe eine kurze Beschreibung von sich und seinen bereits erlangten geringen Geschicklichkeiten machte, und seinen Wunsch zu studiren äußerte.

Derselbe hatte diesem Schreiben, um zu zeigen, wie weit er bereits im Französischen gekommen sey, eine Uebersetzung einer Stelle aus einer von des erwähnten Verfassers Schriften ins Französische, beigefügt. Diese Stelle hieß: »Glücklich seyn und glücklich machen, ist der Zweck unsers Daseyns [90]auf Erden. Das, das ist er, so wahr unser Leben von einem weisen und guten Gotte kömmt, und so wahr das Glück eines jeden einzelnen Menschen mit dem Glücke seiner Brüder in unzertrennlicher Verbindung steht.«

Diese Worte waren es vorzüglich, welche sowohl N.... als seinem Sohne das meiste Zutrauen zu diesem Schriftsteller eingeflößt hatten, und wovon sie glaubten, daß sie durch deren bloße Erinnerung ihr zuversichtliches und zutrauliches Anwenden an denselben auf alle Fälle entschuldigen würden.

Dieser nahm diese Papiere freundlich an und sah sie durch, da er aber wegen eines obwaltenden Umstandes nichts Bestimmtes dazu sagen konnte, so versprach er jedoch, sobald dieser Umstand aus dem Wege geräumt seyn würde, sich mehr um diese Sache zu bekümmern.

N....s Wunsch, den Gegenstand seiner Verehrung kennen zu lernen, war nun erfüllt, und er langte glücklich wieder zu Hause an, wo seine Söhne und Freunde seiner Erzählung mit Begierde entgegen horchten.

Diese war gar nicht unter der vorgefaßten Erwartung, und N.... sammt seinen Kindern freueten sich schon auf die Zeit, da, wie sie glauben durften, der hindernde Umstand aus dem Wege geräumt seyn würde. Denn das Zutrauen zu dem Herrn [91]....., so wie auch die Verehrung gegen denselben, wurde noch vermehrt, da N.... nun seinen Kindern erzählte, daß er das Benehmen in dem Hause des Herrn ....., in Ansehung desselben selbst sowohl, als auch seiner Hausgenossen eben so treuherzig, aufrichtig und wohlwollend, als bei seinem gewesenen geistlichen Führer gefunden habe: und da dies nun auf keine leere Einbildungen gegründet war, so war es das Höchste, was sich in dieser Art nur denken ließ.

Während nun N.... seine Lektüre wieder fleißig fortsetzte, rückte dann auch der Zeitpunkt heran, da N.... und dessen Söhne glaubten, daß der hindernde Umstand aus dem Wege geräumt seyn würde.

N.... machte sich daher mit aller Zuversicht wieder auf den Weg nach ....., und nahm seinen Sohn, welcher noch gern studiren wollte, mit.

Derselbe hatte noch die stärkste Neigung zu studiren. Er glaubte nicht anders glücklich seyn zu können, als wenn ihm dieser Wunsch gewährt würde, und um den Zweck des Daseyns auf Erden, nach den vorangeführten Worten des Herrn ..... zu erreichen, mußte die Erreichung des obigen Wunsches jetzt sein Hauptaugenmerk seyn. — N.... und sein Sohn hatten auch die größte Ursache zu glauben, daß Herr ..... demselben, ohne die ge-[92]ringste Last davon zu haben, hierin fast einzig und allein behülflich seyn könnte, an seinem Willen aber wurde gar nicht gezweifelt.

Auf der Reise wurde N.... und seinem Sohne noch der Zutritt bei einem angesehenen Manne verstattet, auf welches Wohlwollen und Einsichten sie sich sehr wohl verlassen konnten; auch von diesem wurde ihnen gerathen, nachdem sie demselben die Ursache ihrer Reise vorgestellt hatten, ihren Weg nur getrost fortzusetzen, weil Herr ..... doch auf alle Fälle ein guter Mann sey, welcher einem jungen Menschen, der einen solchen Vorsatz hätte, gewiß nicht darin abgeneigt, sondern vielmehr zu Ausführung desselben, nach allem Vermögen behülflich seyn würde.

Sie langten also in der besten Erwartung bei Herr ..... an, indem sie sich, wie auf dem ganzen Wege, recht lebhaft dachten, wie sich derselbe nun recht ins Detail mit ihnen einlassen würde.

Aber wie mußten sie, und besonders der Vater, erstaunen, als Herr ....., wie sie sich hatten bei ihm melden lassen, durch seinen Bedienten heraussagen ließ: wenn es in ein paar Minuten abgethan seyn könnte, so möchten sie zu ihm herein kommen; wo nicht, so könne er sie nicht sprechen. —

[93]

Vor Erstaunen wußten sie erstlich nicht, was sie thun sollten; sie wählten jedoch das erstere, und kamen zu Herrn ..... ins Zimmer.

Sein Blick schien ihnen schon Kälte und Unwillen zu verkündigen. An der Ursache davon, welche sie nun bald erfuhren, waren sie auch nicht das Mindeste Schuld; und selbige war, wie es sich nachher zeigte, auch nur ein bloßer Irrthum.

N.... hatte sich aber schon vorher gar zu sehr in die Scene bei Herrn ..... hineingedacht, und konnte sich, seiner Bestürzung ohngeachtet, doch nicht enthalten, ihm seines Sohnes Lage und Wunsch vorzustellen, und ihn darüber um seinen Rath zu bitten.

Aber anstatt, wie sie sich nach dessen Schriften gedacht hatten, sich nach allen Umständen des jungen Menschen zu erkundigen, und dann erst sein Gutachten darüber zu erkennen zu geben, oder wenn er das nicht konnte, nichts dazu zu sagen, gab er, ohne zu bedenken oder Rücksicht zu nehmen, ob und in wie fern solches möglich oder für den jungen Menschen nützlich oder schädlich sey, ganz kurz und kalt zur Antwort: sein Rath sey, noch ein Handwerk, oder höchstens eine mechanische Kunst zu lernen.

Unterdessen schienen einige Minuten verflossen zu seyn, und N.... nebst seinem Sohne wagten es nicht, Herrn ..... noch länger mit ihrer Gegenwart lästig zu seyn.

[94]

So bald sie nun aber aus des Herrn ..... Zimmer und Hause waren, kam ihnen das Vorgefallne wie ein Traum vor. Denn sie konnten sich nicht erklären, wie es möglich seyn könne, sich in seiner Meinung so getäuscht zu haben.

Sie mußten unterdessen die Sache nun einmal nehmen wie sie war, und es ereignete sich ein andrer glücklicher Zufall, daß dem Wunsche des Sohnes gewissermaßen doch ein Gnüge geschehen konnte.

Der Sohn mußte hier bleiben, und der Vater wieder zu Hause reisen. Die Trennung war für beide höchst schmerzhaft, und es zeigte sich hiebei wieder sehr auffallend, daß das harte unempfindliche Wesen, welches N.... während der mystischen Schwärmereien bezeigt hatte, ihm nicht natürlich sondern erzwungen gewesen war. Denn er weinte jetzt daß er schluchzte, da er doch bei der Trennung von seinen ältern Söhnen auch nicht die geringste Empfindung geäußert hatte.

Da er nun allein ohne seinen Sohn wieder zu Hause kam, dachte jedermann Herr ..... würde sich desselben angenommen haben, und die Frage war nur, auf welche Art? —

Hierauf konnte er nun nichts anders antworten, als daß er sich jetzt in Ansehung des Enthusiasmus für Herrn ..... eben so sehr geirrt habe, als in Ansehung der Mystik, und daß er nun wohl [95]sähe, daß ein Mensch ein Mensch bleibe, er mögte noch so gut moralisiren können, wie er wolle. Zum Beweise hievon diene, daß Herr ..... ihn kaum ein paar Minuten habe sprechen wollen, und ohne sich näher um die Umstände zu bekümmern, und wie es schiene aus Besorgniß, selbst einige Beschwerde davon zu haben, seinem Sohne geradezu noch zu Erlernung eines Handwerks gerathen habe.

Diese Erfahrung aber machte die Wirkung bei N...., daß er nun auch keinen Gefallen mehr an der so zu nennenden eigentlichen moralischen Lektüre fand, sondern einige kleine Schriften von Voltaire und Bolingbroke, welche er in einer Lesegesellschaft mit zu lesen bekam, mehreremale durchlas, und sich nun erst nicht genug wundern konnte, wie er an allen seinen vorherigen Lektüren so lange habe Gefallen finden, und etwas dadurch suchen können, wornach er strebte, und welches doch nicht zu finden war: Vollkommenheit.

Er lernte nun alles nehmen wie es war, und fand darin erst seine wahre Beruhigung.

Aus dieser Beruhigung sollte er aber auch nicht wieder gerissen werden, denn noch beim Lesen dieses Buches wurde er krank, und seine Krankheit war von der Beschaffenheit, daß er bald sahe, sie werde in wenigen Tagen seinem Leben ein Ende machen.

[96]

In dieser Krankheit aber betrug er sich so, daß man nicht zu viel sagen würde, wenn man sein Betragen weise nennte. Er blieb bis an seinen Tod bei vollkommnem Verstande, so daß er alle Veränderungen, welche diese Krankheit bei ihm machte, genau bemerkte und beschrieb.

Nachdem diese Krankheit nehmlich einige Tage gedauert hatte, bekam er auf einmal konvulsivische Zuckungen, wovon er sagte, daß dieser Zustand gar nicht so schlimm wäre wie er zu seyn schiene, und wie er sich denselben selbst sonst gedacht hätte. Er hätte noch nie in seinem Leben einen solchen Zufall gehabt, aber er könnte nun mit Wahrheit sagen, daß er jetzt auch nicht die mindeste Empfindung noch Bewußtseyn dabei gehabt habe. Dieser Zufall war ihm unterdessen ein sicheres Merkmal seines herannahenden Todes, und ohne die geringste Furcht vor denselben zu bezeigen, ordnete er nun bis auf die kleinsten Umstände sein Begräbniß an.

Etwas nach diesen Zuckungen sagte er: es wäre ihm, als ob er beständig läuten, und dabei wie in einer Kirche, singen höre; einen Tag später, da es doch ein recht heller Tag war, daß es ihm vorkäme, als ob es recht trübe und dunkel Wetter wäre; einige Stunden vor seinem Tode aber, daß ihm alle Gegenstände in die Ferne zurückzugehen schienen.

Während seiner Krankheit aber las er, so lange es ihm möglich war, noch immer in den gedachten [97]Schriften, und wußte dabei nicht genug zu rühmen, wie er sich jetzt in einer solchen ruhigen Gemüthsfassung befinde, worin er noch fast in seinem ganzen Leben nicht gewesen. Denn sein Wunsch war nun erfüllt; er hinterließ keine Schulden, und auch niemanden der durch seinen Tod in eine traurige Lage versetzt worden wäre.

In dieser ruhigen Gemüthsfassung blieb er denn, wie man noch immer aus seinem Gesichte lesen konnte, bis auf den Punkt, da er aus derselben in die ewige Ruhe übergieng.


Wenn man dieses Beispiel als einen Beitrag zur Seelenheilkunde betrachten will, so muß man die Schwärmerei der Mystik für eine Krankheit der Seele annehmen.

Und das scheint sie auch in sofern zu seyn, als man auch eine merkliche Schwäche eine Krankheit nennen kann.

Was kann wohl wahrscheinlicher die Ursache seyn, warum eine Seele Geschmack und Wohlgefallen darin findet, sich von allem Aeußerlichen abzuziehen, und dagegen auf innere dunkle Empfindungen zu merken, ihren eigenen Willen zu unterdrücken, sich gänzlich hinzugeben, u.s.w., als weil sie nicht genug sich ausbreitenwollende Kraft besitzt, und es ihr also weit bequemer fällt, sich dahinzugeben, als anzustrengen.

[98]

In diesem Betrachte könnte man eine solche Seele wohl eine kranke Seele nennen.

Und ihre Krankheit muß in dem Maße zunehmen, in welchem sie so zu sagen verzärtelt wird.

Sie beschränkt sich dann immermehr bloß auf den gegenwärtigen Moment, sie betrachtet das Leben nicht im Ganzen und Zusammenhange, sie trennt den gegenwärtigen Augenblick von dem vorhergehenden und folgenden.

So bald sie aber nur von außen durch etwas gereitzt oder gedrückt, und dadurch veranlaßt wird, über den gegenwärtigen Augenblick hinauszudenken, so muß sie, um so viel sie dadurch aus ihrer gewohnten Ruhe und Trägheit gerissen wird, abgehärtet und gestärket, und wenn noch irgend ein Grad von Kraft in ihr liegt, solcher endlich dadurch gereitzt werden, sich auszubreiten, und den Triebrädern der Seelenfähigkeiten einen neuen Schwung zu geben.

Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, scheint sich das vorbeschriebene Beispiel zu erklären. —

So lange N.... einen geistlichen Führer hatte, der ihn auch im Falle der Noth von äußerm Drucke befreite, sahe er bloß auf den gegenwärtigen Augenblick.

Sobald sich dieser aber von ihm abzog, und ihn dadurch den Druck von außen mehr fühlen machte, so wurde er genöthigt über den gegenwärtigen Augenblick hinauszudenken.

[99]

Je mehr dies aber nun geschah, je weniger konnte er sein Inneres wahrnehmen, und es war ganz natürlich, daß er endlich nicht mehr wußte, wie er im Innern stand, und daher mit seinen gewesenen geistlichen Mitzöglingen zu sprechen wünschte, um zu erfahren, ob er im Innern Fortschritte gemacht oder zurückgekommen sey.

Dies war denn wirklich schon ziemlich weit über den gegenwärtigen Augenblick hinausgedacht, und scheint auch gerade der Punkt zu seyn, von welchem angerechnet, die darauf folgenden Umstände die Wirkung auf ihn machen konnten, welche sie wirklich auf ihn machten. Seine in ihm nur eine Weile geschlummerte Kraft der Seele war nun einmal wieder erweckt.

Es kam hauptsächlich darauf an, was für eine Idee er sich von den Leuten, die er jetzt besuchen wollte, im Voraus machte, um daß diese Besuche diesen oder jenen Eindruck bei ihm machten.

Gemeiniglich sind dergleichen Personen, wie N.... war, sogleich mit Leidenschaft für denjenigen eingenommen, von dem sie wissen, daß er mit ihnen nach einem Ziele strebe, und da sie nun überdem für Pflicht halten, sich einfältig und stille zu verhalten, und nichts im Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, weil sie über nichts, was sie sich nicht gleich erklären können, nachdenken, sondern solches als ein göttliches Wunder annehmen zu müssen glauben; so sind sie sehr geneigt, man-[100]ches Sonderbare, welches ihnen an demjenigen, der mit ihnen nach einem Ziele strebt, auffällt, für einen höhern Grad von Vollkommenheit zu halten, und sich solches zu eigen zu machen.

Wäre dies bei N.... auch der Fall gewesen, so würde er bei seinen Freunden nicht leicht etwas Anstößiges gefunden haben; und da er an ihnen einen Anstoß bekam, so war dies ein Zeichen, daß seine Denkkraft ihrer Bande entledigt sich nicht mehr einschränken ließ.

Und daher war es denn auch ganz natürlich, daß er weder eigensinniger Weise bei dem Alten blieb, noch jedes sich zuerst darbietende Neue unüberlegter Weise gleich wieder an dessen Stelle setzte.

Der neuen Freiheit ungewohnt, wagten es seine Gedanken nun freilich nicht, sich derselben gleich recht zu bedienen; und es war daher auch ganz natürlich, daß er manches ihm Auffallende anfänglich für Versuchung hielt, weil er es nicht wagen mogte, sich recht bekannt damit zu machen, und er daher nur die wenigen Jahre vor seinem Ende so weit von Vorurtheilen frei lebte, als es zu dem gewöhnlichen Glücke des Menschenlebens nöthig war.

K. St.

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 771f.

[101]

2.

<Auszug aus einem Briefe.> a

Anonym

In des achten Bandes erstem Stücke dieses Magazins S. 6 finde ich die Geschichte eines jungen Mannes, dessen Zuneigung zu einer Mannsperson, einem Edelmanne, bis zur größten Leidenschaft aufwuchs. Der Verfasser jenes Aufsatzes fragt am Ende, ob es wohl mehrere Beispiele von dergleichen Verirrungen der Natur gäbe? Meine eigene Geschichte bejaht diese Frage.

Ich hatte einige Zeit auf der Universität zu — studirt, als ein junger Mann, den ich mit dem Buchstaben N.. bezeichnen will, eben dahin kam. Ich bemerkte ihn nicht gleich nach seiner Ankunft; als ich ihn aber das erstemal in einem Collegio sahe, so zog er meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte von der Natur eine treffliche Gesichtsbildung erhalten, und seine Sitten waren sehr einnehmend.

Ich bemühte mich Bekanntschaft mit ihm zu machen, konnte aber meinen Endzweck nicht erreichen. Indessen fühlte ich mich immer stärker von ihm angezogen. Ich setzte mich in dem Collegium meistens so, daß ich ihn immer im Gesichte hatte, dadurch wurde aber meine Zuneigung zu ihm so groß, daß sie endlich in die heftigste Leidenschaft ausartete.

[102]

Wo ich nun gieng und stand, war mir die Idee von N.. gegenwärtig. Mit dem Gedanken an ihn schlief ich ein, und mit ihm erwachte ich wieder. Er war so in mein Wesen eingewebt, daß ich nur dann aufhörte mir seiner bewußt zu seyn, wenn ich mein eigenes Bewußtseyn verlohr, nehmlich im Schlafe. So lange ich wach war, 17 Stunden des Tages, ruhete sein Bild in meiner Seele. Wachte ich des Nachts auf, so war er mein Gedanke.

Bisweilen stieg meine Leidenschaft bis auf den höchsten Grad, so daß sie mich fast zu Boden drückte. Vorzüglich war dies des Abends der Fall, wenn ich lange auf einen Gegenstand hinsahe. Dann schob mir meine Phantasie oft statt des vorigen Gegenstandes das mir immer gegenwärtige Bild N..s unter. Die mich umgebenden Dinge, nur durch den bloßen Schimmer des Lichts erhellt, zerstreuten meine Aufmerksamkeit nicht, meine Sinne schwanden, alle meine Gedanken, Neigungen und Wünsche concentrirten sich in die einzige Vorstellung von N.., ich empfand nichts als den Schmerz der heftigsten Sehnsucht, und in der größten Beklemmung stand ich einigemale im Begrif, wie ein von der heftigsten Kolik Geplagter, mich in der Stube herumzuwälzen. Und wahrscheinlich hätte ich es gethan, wenn meine Stube nicht mit Sand bestreut, und ich in Gefahr gewesen wäre, mir Gesicht und Hände zu zerritzen.

[103]

Diese unglückliche Leidenschaft hatte auf mein ganzes Gedankensystem den größten Einfluß. Was mir ehedem wünschenswerth geschienen hatte, dies mißfiel mir nun, wenn es N.. mißfiel. Tugenden die ich besaß, N.. aber nicht, fieng ich an für Fehler zu halten, und schämte mich sie zu haben. Einige Flecken in N..s Charakter glaubte ich nachahmen zu müssen.

N.. bekannte sich zu einer andern Fakultät, als ich mich. Zuvor hatte ich die Wissenschaften meiner Fakultät mit vielem Eifer und Vergnügen getrieben: jetzt wurden sie mir minder angenehm, und ich gewann die Studien lieb auf welche N.. sich legte, ob sie mir gleich sonst lästig geschienen hatten.

Mit vielem Eifer suchte ich die Freundschaft aller derjenigen, mit denen N.. bekannt war. Unter diesen waren einige, auf die ich zuvor unwillig gewesen war; aber auch gegen diese wurde nun meine Abneigung in Zuneigung umgestimmt, und ich fieng an sie hochzuschätzen. Ich verglich sie daher oft bei mir selbst mit dem Monde, der auch nur erst durch erborgten Schimmer uns glänzen kann. —

Durch diesen Kampf und die immerwährende Anspannung meiner Phantasie geschwächt, fing ich bisweilen an in eine Art von Schwärmerei zu verfallen. Ich hatte oft bei trüber Witterung mich selbst befragt, ob sich der Himmel nicht aufklären würde, wenn N.. ihn anblickte, und war unwillig, [104]daß ich mir diese Frage verneinen mußte. Eines Abends aber, zu welcher Zeit, wie schon gesagt, meine Leidenschaft allemal am stärksten war, als sich ein heftiger Sturm erhoben hatte, überredete ich mich wirklich eine zeitlang, daß der Sturm sogleich nachlassen würde, wenn N.. sich auf der Gasse befände.

Bei diesem Zustande studirte ich wie vorher fleißig, allein ohne sonderlichen Nutzen, weil meine Aufmerksamkeit allemal getheilt, und halb auf meine Arbeit, halb auf N.. gerichtet war. Allen meinen Freunden, ausser einem, verbarg ich meinen nagenden Kummer. Ich war oft in ihrer Gesellschaft froh und heiter, öfterer aber mürrisch, sprachlos, in mich selbst gekehrt, untheilnehmend, weil N.. mich allein interessirte, und mir nichts wichtig schien, als was auf ihn Bezug hatte. Vielleicht hätte Zerstreuung meine Leidenschaft gemindert, allein ich war größtentheils einsam, und kam auch sogar mit meinen Freunden nicht oft zusammen.

Bisweilen hatte ich ruhigere Augenblicke, wo die Vernunft in ihre Rechte wieder eintrat, und mich ganz das Thörigte meines Zustandes erkennen ließ; allein meine Leidenschaft schien dann nur zu schlafen, um neue Kräfte zu sammeln, damit sie mit desto größerer Heftigkeit wieder hervorbrechen könnte.

Ich wagte es nicht, mich in N..s Bekanntschaft zu drängen, weil er, obschon wie ich von bürgerlicher Herkunft, doch einen Vater hatte, der sowohl [105]reicher war als der meinige, als auch ein höheres Amt bekleidete, obgleich mein Vater auch vom Stande der Gelehrten war. Dieser obwohl geringe Unterschied unter uns verstärkte meinen Schwindel um vieles.— Und eben die noch größere Ungleichheit des Standes, glaub ich, war die Ursache, warum der junge Mann —g, dessen Geschichte im ersten Stücke des achten Bandes erzählt worden ist, zitterte, wenn er sich de Edelmann näherte, den er so leidenschaftlich liebte.

Gehe ich die Geschichte meines Lebens durch, so liegen mir die Ursachen dieser meiner Verirrung deutlich vor Augen. Von Jugend auf hatte man mir gesagt, daß ich eine einnehmende Bildung hätte. Als ein Kind von fünf bis sechs Jahren wurde ich immer von erwachsenen Personen geliebkoset, und als ein Knabe von 10 bis 12 Jahren, und so fort, von meinen Mitschülern. Dieses, und der ganz entbehrte Umgang mit Personen vom andern Geschlechte, machte, daß sich bei mir die natürliche Zuneigung zum weiblichen Geschlechte von ihm ganz ablenkte, auf das männliche; und ich erinnere mich schon in meinem Knabenalter einige Mannspersonen recht zärtlich geliebt zu haben, da ich gegen Frauenzimmer auch noch jetzt ziemlich gleichgültig bin. Diesem Fehler, und dem zeitigen Erwachen der Empfindungen der Liebe, sind Knaben von einnehmender Bildung, wegen der Liebkosungen, die man ihnen erweist, leicht ausgesetzt, und Erzieher [106]müssen deshalb auf sie ihre vorzügliche Aufmerksamkeit richten.

Bei dem unmäßigen Verlangen mit N.. in eine genaue Bekanntschaft zu treten, habe ich gleichwohl weiter keine andere unerlaubte Absicht gehabt. Ich wünschte nur die genaueste Vereinigung mit ihm; ja in meinen schwärmerischen Anfällen di Möglichkeit, mich ganz in ihn hineinziehen zu können, daß wir beide nur eine Person ausmachten. Vernunft und Religion aber hatten zuviel Einfluß auf mich, als daß ich unerlaubte Wünsche hätte sollen emporkommen lassen. Demohngeachtet aber gerieth ich in eine heftige Bewegung, daß ich im ganzen Gesichte glühete, als ein guter Freund, mit dem ich einmal Abends spatzieren gieng, zu mir sagte, da geht N.., er ist gewiß bei einem hübschen Mädchen gewesen? Er sagte dieses nur im Scherz; es hatte aber eine solche Wirkung auf mich, daß ich den ganzen Abend in der größten Unruhe zubrachte, ohne jedoch einen unedlen Wunsch in meiner Seele aufkeimen zu lassen. Dieses bezeugt auch mein jetziges Verhältniß mit N.., da ich nunmehr mit ihm bekannt bin, und nie etwas Unanständiges ihm zugemuthet habe. Mein Wunsch mit ihm bekannt zu werden ist nun erfüllt, meine tödtende Unruhe hat mich verlassen, ich freue mich und bin glücklich!

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Goldmann 2015, S. 107-110.

[107]

Zur Seelenzeichenkunde.

1.

Erinnerungen aus den Jahren der Kindheit, von K. St. a

K. St.

1) Als seine Eltern noch zu H.... wohnten, sah er einsmals einen Laufer vor einer Kutsche vorauf laufen. Seine Mutter machte ihn noch besonders darauf aufmerksam, indem sie sagte: sieh einmal, welch ein schöner Laufer ist das! —

Diese Worte und der schöne Anzug des Laufers machten einen solchen Eindruck bei ihm, daß er sich auf der Stelle entschloß, auch ein Laufer zu werden, und da ihn seine Mutter aus Scherz fragte, ob er auch ein Laufer werden wollte gleich ja sagte, und da sie hierauf sagte: ja — so mußt du viel laufen, damit du das Laufen lernst, gleich anfing zu laufen, und jede Gelegenheit, die er finden konnte auf die Hausflur zu kommen, sogleich dazu anwandte, daß er sich im Laufen übte.

Bei solchen Uebungen wurde er auch nicht leicht müde, ob er gleich immer so stark lief wie er nur laufen konnte, und sie konnten wohl eine Stunde [108]anhalten. Er war damals ohngefähr vier Jahr alt, und blieb bei dem Vorsatze, ein Laufer zu werden, bis in sein siebentes Jahr.

2) In seinem siebenten Jahre zogen seine Eltern auf das Land nach einem Orte Namens W.... — Hier wohnten sie in einem Hause, wo jedesmal der Kuhhirte vorbei kam, wenn er seine Trift Kühe aus oder eintrieb. Dies sah nun der kleine K.... sehr oft, es war Sommer, meistens schönes Wetter, und seine Mutter redete immer viel vom schönen Hirtenleben, daß es draußen so schön wäre, daß ihm das Mittagsessen heraus gebracht würde, daß das im Freien so gut schmekte, daß er dann aus einer frischen Quelle einmal dazu tränke, und sich darauf unter einem grünen Busche niederlegte und schliefe, während daß seine Kühe weideten. K.... horchte begierig zu, wenn seine Mutter diese Beschreibung machte, und weg war der Laufer aus seiner Vorstellung sammt dem schönen Habit und dem Lauferstabe; er wollte nun nicht mehr ein Laufer sondern ein Kuhhirt werden.

Da er dies seinen Eltern sagte, und diese ihm antworteten es gienge nicht, weil ja noch ein Kuhhirt da sey, so frug er nun alle Tage ob der Kuhhirt noch nicht bald sterben würde; denn nach dessen Tode dachte er würde es ihm nicht fehl schlagen, wieder Kuhhirt zu werden.

[109]

Er hatte aber eine solche Idee vom Kuhhirtenleben, daß er, wenn man ihn fragte, ob er denn auch wohl wüßte wenn er die Kühe aus und nachher wieder eintreiben müsse, zur Antwort gab, er würde sich dann eine Uhr anschaffen; und wenn man ihn frug, was er alsdann aber machen wolle, wenn es schlecht Wetter wäre, so gab er zur Antwort, er wolle sich einen Knecht halten, und den dann heraus schicken. Dieser Vorsatz dauerte aber nur den einen Sommer über; denn mit dem Anfange der Winterschule mußte er nebst seinem jüngern Bruder auch anfangen in die Schule zu gehen, und da änderte sich dann sein Vorsatz wieder.

3) Weil er leicht lernen konnte, so war dies gleich ein Grund für ihn, hieraus seine Hauptsache dermaleinst zu machen, und daher ein Schulmeister zu werden. Es war aber noch ein andrer Bewegungsgrund, weswegen er Schulmeister werden wollte, nehmlich der: Weil er von seinen Mitschülern unaufhörlich gezerrt und geärgert wurde, und sich, weil er zu schwach war, nicht dagegen wehren konnte, so wünschte er, dermaleinst sich auf eine andere Art an ihnen rächen zu können, und hierzu sahe er nun kein besser Mittel, als wenn er dermaleinst Schulmeister würde. Denn er dachte sich den Schulmeister nicht anders als an diesem Orte, in dieser Schule, unter die-[110]sen Kindern, und freuete sich bei dieser Vorstellung schon im Voraus darauf, wie er seine Beleidiger alsdann, nach dem Beispiele seines Schulmeisters, recht züchtigen wollte. Diese Idee, ein Schulmeister zu werden, verdrängte also die Idee, ein Kuhhirte zu werden, und daß um so eher und stärker, da sie sowohl bei seinen Eltern, als auch bei seinem Lehrer den größten Beifall erhielt. —

Hierzu wurde nun aber auch erfordert, Singen zu lernen. Sobald er nun in der Schule so weit gekommen war, daß er mit im Gesangbuche las, wurden zu Hause auch hierin Uebungen von ihm vorgenommen; da er sich denn besonders die Gesänge von der Beschreibung des Himmels und der dortigen Herrlichkeiten aufsuchte, und sie auf seine eigene Weise, nach seiner jedesmaligen Empfindung, jedoch immer mehr wegen des Beispiels seines Lehrers mit tiefen als hohen Tönen durchsang. Dies war eine angenehme Sache für ihn; denn in der Ideenverbindung, in welcher hier oftmals der Name Christus vorkam, dachte er sich Christum immer als den ihm von seiner Mutter unter dem Namen Heiliger Christ so sehr gerühmten Weihnachtsmann, mit den von denselben herrührenden herrlichen Weihnachtsgaben; und bei dem Worte Himmel schwebte ihm immer wieder die Erleuchtung auf dem P. Brunnen [111]vor, so daß diese beiden Dinge in seiner Idee eine unaussprechlich schöne Vorstellung machten.

4) Während dieser Singeübungen kam ihm nun auch die Lust an Schreiben zu lernen, womit denn im folgenden Winter, da er schon in sein neuntes Jahr getreten war, der Anfang gemacht wurde.

Er dachte aber hierbei gleich Ehre einzulegen, indem er gar nicht begreifen konnte, wie es möglich sey, daß man nicht gleich so schreiben könne, wie es einem vorgeschrieben, da er weiter nichts dazu erforderlich glaubte, als daß man das Vorgeschriebene recht genau ansähe, und es dann eben so nachmachte.

Diese Idee hatte sich bei ihm so festgesetzt, daß er es für ein ganz Leichtes hielt, die erste Vorschrift gleich so nachzumachen, daß man nicht unterscheiden könne, welches sein und welches des Schulmeisters Geschriebenes sey. Um desto mehr schmerzte es ihn aber, da er sich in dieser Meinung betrogen fand; denn da er nun die erste Vorschrift hatte, welche in den Grundstrichen und ersten daraus herfließenden Buchstaben bestand, die der Schulmeister an der Seite niedergeschrieben hatte, und er sich nun, sobald er zu Hause kam, ganz unbefangen dabei setzte, um diese Zeichen alle so nachzumachen, wie sie vorgeschrieben waren, wollte [112]ihm zuerst der fein vorgeschriebene Aufstrich nicht gelingen, sondern dieser wurde ganz grob und ungerade; dies schlug seinen Muth gleich etwas darnieder, er hofte aber das Folgende besser machen zu können; da er aber zu der Grobheit und Größe seiner Buchstaben auch noch mit den Zeilen nicht gerade, sondern immer schräger herunter kam, so daß er am Ende für die Zeilen der letzten Buchstaben gar keinen Platz mehr behielt, und nun aufhören mußte, so fieng er, indem er sein Schreiben in eines fort betrachtete, und sich nun vorstellte, wie er anstatt Ehre einzulegen, nun mit dem größten Schimpfe bestehen würde, an, bitterlich zu weinen; denn er stellte sich nun als den ungeschicktesten Menschen vor, der niemals Schreiben lernen würde, und glaubte auch ganz gewiß, dies von seinem Schulmeister zu hören.

Das Weinen hatte aber wieder eine traurige Folge für ihn, denn in dieser großen Betrübniß seines Herzens und Gedanken an die Dinge die hierauf folgen würden, bemerkte er nicht gleich, daß seine Thränen auf das noch nasse Geschriebene fielen, und solches in einander laufen machten, bis daß, da er sich bei solchen tiefen Gedanken auf dem Kopfe kratzte, und sich fast die Haare ausreißen wollte, ihm die Mütze vom Kopfe auf das Geschriebene fiel, und solches fast ganz auslöschte, da er denn auch gewahr wurde, daß das Papier [113]ganz von seinen Thränen durchnäßt, und das Geschriebene fast ganz ineinander gelaufen war.

Da er nun aber auch Bestrafung fürchtete, so wollte er fast außer sich kommen, und nun, gehe es auch wie es wolle gar nicht wieder zur Schule gehen; bis dann seine Eltern dazu kamen, und ihn um die Ursach seines Weinens befrugen, denen er nun alles Vorgegangene mit Schluchzen erzählte, welche ihm aber, anstatt ihm Vorwürfe zu machen, sagten, daß er nicht klug gewesen sey, darüber zu weinen, denn kein Mensch könne das sogleich. Wie er sich denn doch aber noch immer vor Strafe in der Schule fürchtete, so versprach ihm sein Vater vorher zu dem Schulmeister hinzugehen, und ihn bei demselben zu entschuldigen; welches dann auch geschah, und er dann noch überdem, sowohl bei seinem Lehrer als bei seinen Eltern, wegen seiner großen mit Eifer verbundenen Lernbegierde Beifall erhielt, welcher ihn aber eben nicht sehr rührte, weil noch immer die Vorstellung bei ihm die Oberhand behielt, daß er das doch hätte können müssen, wenn er kein ungeschickter Mensch wäre, der niemals was Rechtes lernen würde.

Wie er aber nur erst die kleinen Buchstaben erlernt hatte, so machte er auch schon Gebrauch davon, indem er für sich selbst gleich Wörter daraus zusammensetzte, welches ihm dann auf folgende Art sehr wohl zu statten kam.

[114]

Sein Vater sprach hochteutsch und seine Mutter plattdeutsch, und daher kam es denn auch wohl, daß er mit seinem Vater hochteutsch und mit seiner Mutter plattdeutsch sprach. Seinen Vater redete er aber auch mit er, und seine Mutter mit du an. Letzteres, nehmlich das du, sollte er sich nun schon seit einem Jahre abgewöhnen, und seine Mutter auch in der zweiten Person anreden, aus der Ursache, weil er schon zu groß dazu sey, und es sich nicht mehr für ihn schicke du zu seiner Mutter zu sagen. Dies war ihm nun aber gar nicht möglich, und er mußte deshalb viel leiden, weil er doch immer daran erinnert und damit gequält wurde.

Gerade aber jetzt war dies am schlimmsten, denn nun wurde ihm vorgehalten, daß er schon ein Knabe sey, der Schreiben lerne, und er deswegen höchst unverschämt gescholten. Aber auch gerade jetzt war es, da er ein Mittel fand sich das du zu seiner Mutter abzugewöhnen: denn nun sprach er mit seiner Mutter eine Zeitlang gar nicht, sondern schrieb alles was er ihr zu sagen hatte auf, da er sie dann in der zweiten Person anredete. Seinen Eltern gefiel dieser Einfall, und er gewöhnte sich das du in wenigen Wochen ab; denn da er nun so lange nicht mit seiner Mutter gesprochen, und sie immer schriftlich in der zweiten Person angeredet hatte, so war es ihm ein Leichtes, auf einmal [115]statt du zu ihr zu sagen, sie in der zweiten Person anzureden.

Seine Mutter hatte noch zwei Schwestern an andern Orten wohnen, an welche sie zuweilen schrieb. Da sie doch aber nicht gut mit dem Schreiben fertig werden konnte, so wählte sie ihn bald zu ihrem Sekretär, da sie ihm dann diktirte und er schrieb. Diese Briefe enthielten nun besonders die mehrste Zeit bittere betrübte und traurige Klagen über ihre unglückliche Ehe, wobei K...s Vater oftmals eben nicht in dem besten Lichte erschien. Weswegen diese Briefe dann auch in Abwesenheit desselben geschrieben, und K... wegen dieses Punkts ein unverbrüchliches Stillschweigen von seiner Mutter auferlegt wurde, welches er auch immer auf das Genaueste beobachtete. Er war nun so zu sagen der Vertraute ihres Herzens, gegen seinen Vater, demohngeachtet aber vermahnte sie ihn immer, seine Eltern in Ehren zu halten, vorzüglich mit den Worten des vierten Gebots, und: des Vaters Segen bauet den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißet sie nieder; durch welche letztern Worte sie denn doch immer der Mutter einen kleinen Vorzug vor dem Vater geben zu wollen schien.

K... behielt unterdessen bei aller Vertraulichkeit der Mutter gegen ihn, immer eine gleiche Ehrfurcht gegen seine Eltern, weil sich sein Vater doch [116]immer auf eine gesittete Art betrug, und die von ihr vermeinte Verachtung seiner Ehegenossin doch immer gewiß nicht so grob war, daß sie K... hätte auffallen können, und wenn er ja einmal bei Gelegenheit ein wenig zu viel hatte trinken müssen, K... eben gar nicht böse darüber seyn konnte, weil er eben dann am aufgeräumtesten, und also für K... am angenehmsten war. Diese beiden Dinge waren es aber eigentlich, welche sie ihm in den Briefen an ihre Schwestern Schuld gab, und worüber K... doch auf alle Fälle gar leicht hätte eine zweideutige Meinung von seinen Eltern bekommen können, wenn ihn seine Mutter nicht dabei stets mit den oberwehnten Worten mit wichtiger und bedeutender Mine vermahnt hätte.

6) Er fieng aber nun nach gerade auch an für sich etwas zu schreiben. Das bestand denn vorzüglich in Briefen an seine Muhmen und an einen Bruder, der zu H... auf die Schule gieng. Aber die Begierde, alles gleich nachzumachen was ihm gefiel, äußerte sich auch jetzt wieder bei ihm; denn er bekam Hagedorns Gedichte zu lesen, welche ihm, ob er solche damals gleich noch, einige kleine ausgenommen, nicht verstehen konnte, ein unbeschreibliches Vergnügen machten; und nun wollte er nebst Schulmeister auch ein Poet werden. Er machte daher allerlei poetische Versuche, von welchen ein [117]gereimter Neujahrswunsch an seinen Bruder zum Ende gebracht wurde, welcher so lautete:

Liebster Bruder!

Ich wünsche Dir zum neuen Jahr
Viel Glück und Seegen immerdar,
Daß Dich der lieben Engel Schaar
Behüten mag für aller Gefahr.
Daß sie Dich mag auf's Frühjahr glücklich zu uns führen,
Daß wir denn können im Garten spatzieren.
Da sieht der grüne Buxbaum besser aus,
Als der mit Goldschaum im Haus.
Ich wünsche Dir viel Glück und Seegen
Auf allen Deinen Wegen,
Und daß der lieben Englein Schaar
Dich behüten möge immerdar.

Die Idee von den Engeln war ihm überhaupt immer das Angenehmste und Liebste, weil er sich immer kleine schöne Knaben darunter dachte, die fliegen könnten, und keinem etwas zu Leide thäten. Die Stelle mit dem Buxbaum aber rührte daher, weil er kurz vorher ein Weihnachtsgeschenk bekommen hatte, welches unter andern aus einem Strauß Buxbaum bestand, welcher einen Baum vorstellen sollte, und mit Goldschaum belegt war.

[118]

Sein Bruder antwortete ihm hierauf, und ermunterte ihn zu fernerer Fortsetzung solcher Uebungen, und er fieng auch unter andern ein Gedicht auf den herannahenden Sommer an, welches sich so anheben sollte:

Der Sommer nahet sich schon jetzt
Da uns viel Lust ergötzt,
Da uns viel Freud' erregt,
Da alles lebt und sich bewegt.

Er kam aber wieder davon, und brachte überhaupt ferner nichts zu Ende; denn es wollte ihm seine Zusammensetzung selbst nicht mehr gefallen, und es kam auch das Lateinlernen dazwischen.

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 771-774.

[119]

2.

Ausdruck der Leidenschaften durch die Veränderungen der Gesichtszüge.

Anonym

Verwunderung.

Gleichwie die Verwunderung die erste und am meisten gemäßigte unter allen Leidenschaften ist, bei welcher auch das Herz am wenigsten bewegt wird; also spürt man ebenfalls in allen Theilen des Gesichts gar wenig Veränderung, oder wenn sich ja einige ergiebt, so geschiehet solche allein an den Augenbraunen, welche sich in die Höhe ziehen, aber dabei doch beide Seiten gleich lassen, und öfnet sich auch das Auge ein wenig mehr, als gewöhnlich, so steht hingegen der Augapfel zwischen beiden Augenwimpern ganz gleich, und siehet ohne Bewegung starr auf den Gegenstand, welcher die Verwunderung verursachet.

Im übrigen steht auch der Mund halb offen, und scheint, wie alle Theile des Gesichts, ohne einige Aenderung zu seyn; so daß aus dieser Leidenschaft ein Stillstand der Bewegung entspringt, welches der Seele Zeit und Raum giebt, sich zu bedenken, was sie thun soll, und den Gegenstand, welchen sie vor sich hat, aufmerksam zu betrachten; [120]denn wenn der Gegenstand etwas Seltenes und Erhabenes ist, so entsteht aus der ersten und einfachen Bewegung der Verwunderung die Hochachtung.

Hochachtung.

Die Hochachtung zeigt sich nicht anders, als mittelst der Aufmerksamkeit und Bewegung der Theile des Gesichts, welche gleichsam auf den Gegenstand, welcher die Aufmerksamkeit verursacht, fest geheftet zu seyn scheinen; denn in diesem Falle gehen die Augenbraunen über die Augen hervor, und gegen die Nase zusammen, da inzwischen der andre Theil sich ein wenig in die Höhe zieht, das Auge weit offen, und der Augapfel über sich steht.

Diesemnach sind die Adern und Muskeln der Stirne, und die, welche sich um die Augen herum befinden, imgleichen die Wangen bei den Stockzähnen etwas eingefallen, die Naselöcher aber ziehen sich herabwärts, und der Mund steht ein wenig offen, wendet jedoch die Ecken hinter sich, und mithin auch abwärts.

Ehrfurcht oder Ehrerbietung.

Wann aber aus der Hochachtung die Ehrfurcht oder Ehrerbietung entstehet, so ziehen sich die Augenbraunen eben so wie vorerwähnt, herabwärts; es neigt sich auch das Gesicht ein wenig [121]unter sich, aber die Augäpfel heben sich mehr in die Höhe unter die Augbraunen hinauf.

Der Mund steht halb offen, und zieht die Ecken zurück, auch ein wenig mehr unter sich, als bei der Hochachtung. Und durch diese Herabziehung der Augenbraunen und des Mundes scheint die Unterthänigkeit und Ehrfurcht angezeigt zu werden, welche die Seele gegen den Gegenstand hegt, von welchem sie glaubt übertroffen zu werden. Der über sich sehende Augapfel aber scheint die Erhebung des Gegenstandes zu bedeuten, welchen die Seele betrachtet, und der Ehrerbietung würdig findet.

Wann sich die Ehrfurcht auf einen Gegenstand, den man glauben muß, bezeichnet, so ziehen sich alle Theile des Gesichts viel tiefer herab; wie denn auch die Augen und der Mund geschlossen sind, und dadurch gleichsam an den Tag legen, daß die äusseren Sinne hiebei im Geringsten nichts zu thun haben.

Entzückung.

Wann aber die Verwunderung von einem Gegenstande herrührt, welcher über den Verstand der Seele reicht, als zum Beispiel die göttliche Macht und Gewalt, so finden sich die Bewegungen der Verwunderung und Ehrfurcht von dem vorhergehenden ganz verschieden: denn das Haupt neigt sich gegen das Herz zu, und die Augenbraunen, wie auch die Augäpfel, ziehen sich in die Höhe.

[122]

Das hangende Haupt scheint die Unterwürfigkeit und Demuth der Seele anzuzeigen, daher auch weder die Augen noch die Augenbraunen nach der Seite der Drüse, sondern gegen den Himmel sich wenden, wo sie gleichsam angeheftet sind, und dasjenige zu entdecken wünschen, was die Seele nicht erkennen kann. Sonst steht der Mund halb offen, und zieht seine Ecken ein wenig in die Höhe; wodurch eine Art der Entzückung bemerkt wird.

Verachtung.

Wann der Gegenstand, von welchem anfänglich die Verwunderung entstanden, nichts Hochachtungswürdiges an sich hat, so entspringt aus diesem Mangel an Hochachtung die Verachtung, welche sich durch gerunzelte, und gegen die Nase herab, auf der andern Seite aber hinauf gezogene Augenbraunen ausdrückt, wobei ferner das Auge weit offen, und der Augapfel in der Mitte steht, die Nasenlöcher sich über sich ziehen, der Mund sich schließt, mithin seine Ecken ein wenig abwärts wendet, und die untere Lippe über die obere hervorgeht.

Schrecken.

Wann aber ein Gegenstand anstatt der Verachtung Schrecken verursacht, so runzeln sich die Augenbraunen noch viel mehr als bei der Verachtung. Der Augapfel steht, anstatt in der Mitte [123]des Auges zu stehen, ganz unten; der Mund zeigt sich halb offen, doch in der Mitte nicht so weit als in den Winkeln, die sich gleichsam hinter sich ziehen, wodurch die Backen Falten bekommen. Das Angesicht sieht bleich aus, die Augen aber und die Lippen ein wenig bläulicht. Der Ausdruck dieser Leidenschaft hat einige Gleichheit mit dem des Entsetzens.

Das Entsetzen.

Das Entsetzen verursacht, wenn es allzugroß ist, daß derjenige, den es befällt, die Augenbraunen in der Mitte hoch über sich, und die Muskeln, welche die Augenbraunen bewegen, und welche auch sehr merklich aufgeblasen, und aneinander gedrückt sind, auf die Nase herabzieht, die aber sammt den Nasenlöchern sich in die Höhe rümpfet.

Im Uebrigen stehen die Augen völlig offen, das obere Augenlied versteckt sich unter den Augenbraunen, das Weiße in dem Auge ist mit einer gewissen Röthe umgeben. Der Augapfel sieht wie verirrt aus, und steht mehr unten als oben in dem Auge. Das untere Augenlied ist geschwollen und bläulicht, die Muskeln an der Nase und den Händen sind ganz aufgetrieben, die an den Backen überaus sichtbar, und auf jeder Seite der Nasenlöcher zusammengespitzt. Imgleichen steht der Mund weit offen, und dessen Winkel lassen sich deutlich bemerken. Ueberhaupt ist alles, sowohl an der Stirne als um [124]die Augen, recht sichtbar, nicht minder die Muskeln und Adern an dem Halse stark aufgeschwollen und sichtlich, so wie die Farbe in dem Angesichte, auch die Spitze der Nase, die Lippen, die Ohren, und der Umfang der Augen bleich und bläulicht ist, und die Haare, wie man sich wohl ausdrückt, zu Berge stehen.

Wann sich die Augen bei dieser Leidenschaft übermäßig weit öffnen, so scheint es daher zu kommen, daß die Seele gleichsam die Natur der wahren Beschaffenheit des Gegenstandes, welcher ihr solch ein fürchterliches Entsetzen verursacht, einsehen und erkennen will. Hergegen die auf einer Seite unter sich und auf der andern über sich gehenden Augenbraunen, scheinen gleichsam in Ansehung des über sich gehenden Theils sich mit dem Gehirn vereinigen, und selbiges dadurch von dem Uebel, welches die Seele wahrnimmt, befreien, so wie in Ansehung des unter sich gehenden Theils, welcher auch aufgeschwollen zu seyn scheinet, durch den Haufenweise von dem Gehirn herzueilenden Nervensaft die Seele gleichsam bedecken, und vor dem besorgten Unglücke schützen zu wollen.

Der weit aufgesperrte Mund aber scheint anzuzeigen, daß das Herz von dem Blute, so gegen dasselbe zuläuft, umfangen sey, und demnach um Luft zu schöpfen, eine gewisse Anstrengung brauchen müsse, welche verursacht, daß der Mund sich ungewöhnlich weit öffnet, und, wann solches die [125]Werkzeuge der Stimme trift, einen unordentlichen Ton von sich giebt.

Liebe.

So wie nun, vermittelst der Gegenstände, die wir entweder hochachten oder bewundern, die vorhergehenden Leidenschaften in uns erreget werden können, so kann auch die Liebe in uns erreget werden.

Der Ausdruck dieser Leidenschaft ist ganz sanft und einfach: die Stirn ist gleich und eben, die Augenbraunen gehen an der Seite, wo der Augapfel steht, ein wenig in die Höhe, das Haupt neigt sich gegen den Gegenstand von welchem die Liebe verursacht wird, die Augen sind mittelmäßig geöfnet, das Weiße in denselben ist sehr lebhaft und glänzend, der Augapfel lenkt sich gemächlich nach dem Orte hin, wo der geliebte Gegenstand befindlich ist, und scheint ein wenig zu funkeln, wie auch sich in die Höhe zu ziehen; weder an der Nase noch an allen andern Theilen des Gesichts, an welchen, insonderheit an den Wangen und Lippen eine sehr lebhafte und röthliche Farbe durch diese Gemüthsbewegung verursacht wird, ist sonst nicht die geringste Veränderung zu verspüren. Es steht aber der Mund dabei ein wenig offen, seine Winkel gehen ein wenig über sich, und die Lippen sind feucht anzusehen.

Das Verlangen.

Diese Leidenschaft drückt sich durch gedrückte und auf die Augen, welche weiter als gewöhnlich [126]offen stehen, hervorgehende Augenbraunen aus. Hiebei steht der Augapfel in der Mitte des Auges, und scheint lauter Feuer in sich zu enthalten, die Naselöcher ziehen sich gegen die Augen enger zusammen; der Mund steht weiter offen, als bei der Liebe, und seine Winkel gehen hinter sich zurück. Uebrigens liegt die Zunge vorn auf den Lippen und die Farbe ist erhöheter als bei der Liebe. Alle diese Bewegungen zeigen eine gewisse Beunruhigung der Seele an.

Hoffnung.

Wann wir aber etwas verlangen, und es das Ansehen hat, daß wir es auch wohl erlangen möchten, so wird hierdurch die Hoffnung in uns erweckt.

Allein weil die Bewegungen dieser Leidenschaft nicht sowohl äußerlich als vielmehr innerlich vorgehen, so läßt sich nur wenig davon bemerken.

Es ist indessen der Ausdruck dieser Leidenschaft in Ansehung aller Theile des Leibes, gleichsam ein Mittelding zwischen dem Ausdruck der Furcht und der Sicherheit; so daß, wenn der eine Theil der Augenbraunen die Furcht, alsdann der andere die Sicherheit ausdrückt; wie denn auch im Uebrigen die Bewegungen aller Theile des Leibes und Gesichts bei der Leidenschaft der Hoffnung, vermischte Ausdrücke von Furcht und Sicherheit sind.

(Die Fortsetzung folgt im nächsten Stücke.)

[<127>]

Inhalt.

Seite
Zur Seelennaturkunde.
1. Wirkung des Denkvermögens auf die Sprachwerkzeuge. Vom Herrn Hofrath und Professor M. Herz. 1
2. Fortsetzung des Fragments aus dem 4ten Theil von Anton Reisers Lebensgeschichte. 7
3. Vom menschlichen Denken a priori. Vom Herrn Direktor Heinike. 31
4. Beobachtungen über Taubstumme. Zweiter Versuch. Vom Herrn Doktor Eschke. 37
5. Die Wirkungen der äußern Sinne in psychologischer Rücksicht. Ueber das musikalische Gehör. Von K. St. 45
6. Ueber die Sprache. Unmaßgeblicher Vorschlag zu einer neuen Lehrart fremder Sprachen. Vom Herrn Doktor Eschke.
[<128>]

Inhalt.

Seite
7. Sonderbare Zweifel und Trostgründe eines hypochondrischen Metaphysikers. 64
Zur Seelenheilkunde.
1. Beispiel eines Mannes, welcher von seinem dreißigsten bis vier und funfzigsten Jahre ein recht eifriger Mystiker gewesen, nachher aber nach und nach davon losgekommen, und von seinem sechszigsten bis vier und sechszigsten Jahre, ganz von Vorurtheilen frei, noch glücklich gelebt hat. 72
2. Auszug aus einem Briefe. 101
Zur Seelenzeichenkunde.
1. Erinnerungen aus den Jahren der Kindheit, von K. St. 107
2. Ausdruck der Leidenschaften durch die Veränderungen der Gesichtszüge. 119
[<129>]

<Verlagsankündigungen.>

August Mylius
Buchhändler in Berlin.

Neue Verlagsbücher
Ostermesse 1790.

Gedickens lateinisches Lesebuch. 6te verbesserte mit einer lateinischen Grammatik vermehrten Auflage, 8. 6 Gr.

— kurze lateinische Grammatik für die Besitzer der vorhergehenden Auflage, besonders abgedruckt. 8. 2 Gr.

Gönners Rede über die Wichtigkeit der Pathologie. 8. 2 Gr.

Hermbstädts Bibliothek der chemisch. Litteratur etc., 3ten Bandes 1tes Stük, gr. 8 10 Gr.

Hennatz deutsche Sprachlehre. 4te sehr vermehrte Auflage, 8. 8 Gr.

Hugo civilistisches Magazin. 1ten Bandes 1tes Stük, 8. 8 Gr.

— Lehrbuch der Rechtsgeschichte bis auf unsre Zeiten. 8. 16 Gr.

Meierotto Gedanken über die Entstehung der baltischen Länder. 8. 4 Gr.

— Exempelbuch für Seefahrende und Strandbewohner etc. 8.

Moritz Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. 8ten Bandes 2tes Stük, gr. 8. 10 Gr.

Sammlung der besten Reisebeschreibungen, im Auszuge. 30ter Band, gr. 8. 1 Rthlr. 8 Gr.

Schroeckhii Historia religionis & ecel. christ. Editio III. Emendatior 8 Maj. 16 Gr.

Lettres of the right honourable Lady M — y W — y Montague; the second Edition. 8. 1 Rthlr.

Apulejus goldner Esel, aus dem Lateinischen von Aug. Rode, 2te Auflage. 8. 1 Rthlr. 20 Gr.