ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: IV, Stück: 2 (1786)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

Carl Philipp Moritz,
Professor am Berlinischen Gymnasium.

Vierten Bandes zweites Stück.

Berlin
bei August Mylius 1786.

[<II>]

Nachricht.

Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stücke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen mäßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stück 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es kömmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beiträge sich anhäufen werden.

[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.
Vierten Bandes zweites Stück.

<Revision.>

Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins.

Moritz, Karl Philipp

An die Aufsätze über Sprache in psychologischer Rücksicht mögen sich denn die mancherlei Erfahrungen und Beobachtungen über Taub- und Stummgebohrne, welche schon in diesem Magazin mitgetheilt sind, anschließen.

Die besondre Denkart der Taub- und Stummgebohrnen kann gewiß große Aufschlüsse in Ansehung der menschlichen Denkkraft überhaupt geben, weil man hier siehet, wie weit der Mensch es auch ohne artikulirte Töne in der Verbindung und vernunftmäßigen Zusammenstellung seiner Ideen bringen könne;

[2]

Und daß nicht die Sprache, gleichsam ein zufälliger Fund des Menschen sey, wodurch er sich vom Thier unterscheidet, sondern daß seine Denkkraft an und für sich selbst ihn schon vom Thier unterscheidet, indem sie sich selbst unter dem Mangel artikulirter Töne, so wie bei dem Taubstummen, empor arbeitet, und sich eine Sprache schaft, sie mag auch die Materialien dazu nehmen, woher sie wolle.

Jeder durchbrechende Strahl der Vernunft muß uns bei einem Taub- und Stummgebohrnen vorzüglich willkommen seyn, weil wir hieraus die Macht des menschlichen Geistes erkennen, der selbst durch die Beraubung eines ganzen Sinnes nicht unterdrückt werden, und von seinem eigentümlichen Wesen, von seiner eigentlichen vorstellenden Kraft, nichts verlieren kann — obgleich eine der Pforten, wodurch täglich eine solche Menge Ideen einströmen, gänzlich verschlossen ist. —

Wie groß aber dieser Mangel sey, läßt sich schon aus der Betrachtung abnehmen, daß durch das Ohr in eben der Zeit die vergangne oder entfernte Welt vor die Seele gebracht werden kann, in welcher die gegenwärtige sichtbare Welt ihr durch das Auge dargestellt wird. —

Ohne daß meine Vorstellung von den vier Wänden und den Fenstern meines Zimmers, welche jetzt mein wirkliches Daseyn einschließen, nur [3]im mindesten unterbrochen oder gestört wird — kann ich einer Erzählung von Bergen, Thälern, reißenden Strömen, Seetreffen und Schlachten zuhören, dabei bleiben aber meine Ideen in ihrer Ordnung.

Durch das Auge, in welchem sich nichts als die vier Wände und die Fenster meiner Stube darstellen, werde ich auf den gegenwärtigen Fleck meines Daseyns fixiert — und kann nun meine übrigen Vorstellungen sicher über Meer, Berg' und Thäler umherschweifen lassen — es steht jeden Augenblick in meiner Macht, sie auf den gegenwärtigen Fleck wieder zurückzurufen. —

Die einförmigern sich gleichbleibendern Gesichtsideen sind gleichsam der Stift, um welchen sich die ungeheure Mannichfaltigkeit der zuströmenden Gehörsideen umherdrehet. — Ich habe einen festen Mittelpunkt meiner Vorstellungen — meine Begriffe sind nicht in Gefahr, sich zu verwirren. —

Die Vergangenheit hüllt sich in das Gewand der Worte ein, um den immer neu aufsteigenden Bildern Platz zu machen, und demohngeachtet nicht zu verschwinden. — Meine ganze vorstellende Kraft ist in einer andern Lage, bei dem, was ich mit meinen Augen sehe, und bei dem, was ich nur mit meinen Ohren erzählen höre. —

Ja, es scheint, als wenn ohne das Ohr weder Vergangenheit noch Zukunft in unsrer Vorstel-[4]lung recht statt finden könnte — denn bei dem Auge ist beständige Gegenwart

durch das Auge wird

die Nebeneinanderstellung,

durch das Ohr

die Succession der Ideen bewirkt.

Auge — Ohr —

Mahlerei — Musik —

Nebeneinanderstellung — Succession —

Die schönen Künste sind ein Abdruck der Natur im verjüngten Maaßstabe —

Die ganze äußre Welt sowohl als unsre innre Ideenwelt zerfällt in

Mahlerei und Musik —

Bild und Wort —

Sache und Rede. —

Unsre Vorstellungen sind die Mahlerei der Welt, sie können nur darstellen, was auf einmal da ist — unsre Sprache ist die Musik unsrer Vorstellungen — sie schildert das aufeinanderfolgende, sie läßt unsre Gedanken, unbeschadet des Gegenwärtigen, in die Vergangenheit und in die Zukunft schweifen — bewahrt in dem kleinen Umfange von vierundzwanzig artikulirten Tönen, den Schatz der jedesmaligen Denkbarkeit irgend eines Stücks aus der ganzen ungeheuren Ideenwelt auf. —

[5]

Das Ohr hat bei mir die Vergangenheit immer mehr an die Gegenwart geknüpft, als das Auge. —

So oft ich an einem entfernten Orte war, und über dem Anblick der Häuser, der Thürme, des Steinpflasters alles Vergangne und Entfernte vergaß, und mich nur auf den gegenwärtigen armen Fleck meiner Existenz eingeschränkt fühlte, war es der Klang der Glocken, der mich zurückrief, und mir Vergangenheit und Entfernung wieder lebhaft vor die Seele brachte. —

Woher käme das, als weil die Succession der Ideen durch den Schall in meiner Seele angeregt und herrschend geworden war? —

Alle die sichtbaren Gegenstände um mich her schienen denn auch eine andre Gestalt anzunehmen — sie kamen mir in einem andern Lichte vor, da ich sie mit dem Vergangnen und Entfernten zusammenstellte. —

Wäre aber die mit der Vorstellung des Gegenwärtigen gleichzeitig verbundne Vorstellung des Vergangnen und Entfernten nichts als das Resultat von der Zusammenstellung zweier sinnlichen Werkzeuge, wie Auge und Ohr — so müßte bei dem Mangel oder der Unbrauchbarkeit des einen oder des andren dieser sinnlichen Werkzeuge die vorstellende Kraft gleichsam halbirt, bei dem Blindgebohrnen müßte nichts, als Succession, und bei [6]dem Taub- und Stummgebohrnen nichts als Nebeneinanderstellung der Ideen statt finden.

Arbeitet sich aber die vorstellende Kraft selbst durch den Mangel oder die Unbrauchbarkeit eines dieser sinnlichen Werkzeuge durch — und sucht sie sich selber diesen Mangel auf irgend einer Art zu ersetzen, so muß sie nothwendig mehr als das bloße Resultat der Zusammenstellung dieser sinnlichen Werkzeuge seyn. —

In dieser Rücksicht sind also sorgfältige Beobachtungen über Taubstumme gewiß von sehr großem Werth — und sind für den Denker sogar zu dessen Beruhigung nöthig — dieser kann sich nicht enthalten, sich allemal in die Stelle des unglücklichsten unter seinen Mitgeschöpfen zu setzen; und würde sich seiner eignen Vorzüge nicht wohl freuen können, sobald er glauben müßte, daß irgend eines seiner Nebengeschöpfe eigentlich vernachlässiget wäre — denn er betrachtet die Sache derselben, als seine eigne Sache. — Es liegt ihm daran, daß auch ein Taub- und Stummgebohrner das edle Vergnügen des Denkens genieße, worauf derselbe sowohl als irgend ein andres Wesen seiner Art gerechte Ansprüche machen kann.

Schrecklich wäre der Zufall der Geburt, wenn ein Taub- und Stummgebohrner nie vernünftig denken könnte. — Mein Selbstgefühl schaudert vor diesem Gedanken, wie vor dem Rande eines Abgrundes zurück. — Mir schwindelt vor dieser [7]fürchterlichen Nähe des Zufalls, dem ich durch nichts hätte ausweichen können — ich fühle mich taub- und stummgebohren — und sollte nie vernünftig denken — ein Ich ohne Ichheit — ein Wesen ohne Zweck — ein wandelnder Traum seyn? —

Kömmt nicht durch das vernünftige Denken erst Plan und Zweck in mein ganzes Leben? — würde ohne diese Eigenschaft mir nicht mein Daseyn selbst eine Marter seyn? und ist es mir nicht eine Marter gewesen, so oft ich meine ganze Denkkraft nicht wirken, und durch sie die Nebel, welche meinen Geist umhüllten, zerstreuen ließ? —

Wie unsicher stände es denn um meine eigne Menschheit, wenn es Taubstumme gäbe, die wirklich wegen Mangel der Sprache nur halb Mensch und halb Thier wären, und dieß nun einmal nothwendig seyn müßten! —

Doch der Wunsch, daß etwas so und nicht anders seyn möge, soll mich nie bei der Erforschung der Wahrheit leiten. -— Ich habe gelernt, mich der Nothwendigkeit zu unterwerfen, und werde daher bei meinen Untersuchungen und Beobachtungen nie mit ängstlichen, sondern mit festen und sichern Schritten gehen — sey denn auch das Resultat derselben, was es wolle.

Im ersten Stück des ersten Bandes dieses Magazins S. 39. habe ich angefangen, einige Beobachtungen über einen Taub- und Stummgebohr-[8]nen zu liefern, mit dem ich erst einen Versuch machte, ihn reden zu lehren, und da ich mit diesem Versuch aufhören mußte, wenigstens meine Beobachtungen über ihn nachher noch lange fortgesetzt habe. Aus diesen Beobachtungen will ich nun die zweckmäßigsten herausheben, und sie hier nebeneinanderstellen:

Er wußte, daß ihm ein Sinn mangelte, indem er allemal mit dem Kopfe schüttelte, und eine betrübte Miene machte, sobald man auf das Ohr zeigte. —

Er wußte Dinge, die zu einer Art gehörten, von andern, die verschiedner Art waren, zu unterscheiden, indem ich ihn z.B. ein gläsernes Dintenfaß mit l benennen lehrte, und dann mit dem Finger auf ein Fenster, auf einen Spiegel und auf ein Trinkglas zeigte, welches er alles auch mit l benannte, da ich aber auf einen Stuhl zeigte, mit dem Kopf schüttelte, und still schwieg. —

Merkwürdig ist vorzüglich die Aeußerung seiner Gedächtnißkraft, da er sich an einen Vorfall, seit welchem schon ein Jahr verflossen war, mit allen Nebenumständen lebhaft zurückerinnerte.

Er sahe mich mit einem jungen Menschen in einem Buche lesen, und plötzlich fiel ihm ein, daß ich mit eben diesem jungen Menschen vor einem Jahre, auch zusammen mit ihm in einem Buche lesend, auf einem Kahne gefahren war, wo er gerudert hatte — er wußte sich noch des Umstandes [9]dabei zu erinnern, daß wir ihm damals ein klein Stück Geld in die Hand drückten, welches er nicht nehmen wollte. — Die vergangne Welt schien also unbeschadet der gegenwärtigen sichtbaren Welt mit allen ihren verschiedenen Gestalten dennoch in seiner Seele zu existiren — ohne, daß er die Worte rudern, Kahn, Buch oder Geld wußte, wodurch jene einzelnen Bilder gleichsam kompendiöser in seiner Vorstellung hätten zusammen gezogen werden können — wußte er doch diese Bilder aus der Masse aller übrigen herauszufinden, und sie gehörig zusammenzustellen. — Nun bleibt aber die Frage, ob hierbei gleichsam eine Scheidewand zwischen der Gegenwart und Vergangenheit bei ihm befestigt blieb, so, daß die vergangne Bilder ihrer Natur nach gegen das Gegenwärtige sich gehörig verdunkelten und im Schatten stellten, oder ob sie zu lebhaft wurden, als daß sie unbeschadet des Gegenwärtigen von ihm hätten gedacht werden können. —

Denn da er immer noch die ganzen Bilder von Buch, Kahn, rudern, Geld, zusammenlesen, u.s.w. in seiner Einbildungskraft wiederhohlen mußte, so mußte sein Gehirn dadurch gleichsam voller werden, als wenn er von allen diesen Dingen eine symbolische Erkenntniß durch Worte gehabt hätte — denn nun konnte er sich doch das Rudern nicht im Allgemeinen wieder vorstellen, sondern er mußte sich an jenes Rudern [10]mit allen seinen individuellen Beschaffenheiten, und eben so auch an jenen Kahn, an jenes Zusammenlesen in einem Buche mit allen individuellen Beschaffenheiten und Umständen erinnern. — Durch die Worte Rudern, Kahn, Buch u.s.w. hätte er jedes dieser Dinge außer dem Zusammenhange für sich abgesondert, und denn auch nach Gefallen wieder in dem Zusammenhange mit den umgebenden Dingen denken können; nun aber mußte er nothwendig sich jenen Kahn als ein Individuum und also auch mit allen begleitenden Umständen, den Leuten, die darauf sassen, dem Wasser, das darunter floß, dem Ruder, wodurch er fortbewegt wurde, u.s.w. zusammendenken.

Er konnte keine Einschnitte in diesen festen Zusammenhang machen, wie wir durch die Sprache thun; das ganze vergangne Bild mußte im unzertrennlichsten Zusammenhange der einzelnen Bilder untereinander ganz und auf einmal vor seiner Seele darstehen. — Wie half sich nun seine Einbildungskraft da heraus — da er das Bild doch nicht außer sich hingießen konnte, nach welchen Gesetzen richtete sich die Folge seiner pantomimischen Aeußerungen, wodurch er sich verständlich zu machen suchte? Läßt sich nicht etwa das Phänomen der erstaunlichen Lebhaftigkeit und Begier, womit Taubstumme durch Zeichen etwas Vergangnes darzustellen suchen, vorzüglich daraus [11]erklären, daß ein Bild des Vergangnen auf einmal in ihrer Seele darsteht, und sie doch nicht die Kraft, obgleich den Willen haben, es auf einmal wieder außer sich darzustellen — und nun ihre Begier mit Aengstlichkeit und Unentschlossenheit verknüpft ist. —

Im zweiten Stück des zweiten Bandes dieses Magazins S. 40 steht ein sehr merkwürdiges Bekenntniß eines Tauben und Stummen von seiner verübten Mordthat — und S. 50. einige vortreffliche Bemerkungen über dieß Bekenntniß vom Herrn Oberkonsistorialrath Silberschlag — diese fügen sich von selbst an meine gegenwärtige Untersuchung an, und ich richte daher vorzüglich meine Aufmerksamkeit darauf.

Herr S. behauptet ebenfalls, »der Taubstumme könne nicht so denken, wie wir, die wir durch Zusammensetzung einzelner mit Worten verknüpfter Begriffe das Ganze einer Idee in unsrer Seele bilden. — Jeder Gedanke eines Taubstummen sey eine totale Idee, ein Bild, in welchem sich alles, was zu demselben gehört, auf einmal in seinem Zusammenhange darstellt.«

Könnten wir einen Blick in die Seele eines Taubstummen thun, so würden wir vielleicht lauter große Massen von Bildern, nichts so ins Einzelne detaillirte, als bei dem redenden Menschen entdecken.

[12]

»Die Gedanken des Taubstummen, fährt Herr S. fort, sind viel größer vom Umfange, viel lebhafter, viel schneller, nicht so zerstückt und unterbrochen, als die unsrigen.«

»Daher kömmt es, daß der Taubstumme so gern mahlt.«

Dieß stimmt mit meiner vorher geäußerten Idee, daß in der Seele des Taubstummen überhaupt mehr zusammenfassende Gemählde, als successive Vorstellungen statt finden.

Der Taubstumme mahlt gern — denn alles mahlet sich in ihm, weil es nicht in ihm tönet.

»Die Gedanken des Taubstummen sind von weitläuftigem Umfange und größerer Stärke, als die unsrigen, aber sie haben den unvermeidlichen Fehler der Schwierigkeit, abstrakte Ideen zu formiren« —

Wiederum sehr natürlich, weil die Vorstellungen, sobald sie total sind, sobald sie im Zusammenhange mit mehreren nothwendig gedacht werden müssen, eben dadurch individualisirt werden. —

Freilich kann in manchen Fällen, durch die Leichtigkeit des pantomimischen Zeichens, auch die Abstraktion einigermaßen erleichtert werden. — Ein König z.B. wird durch Bezeichnung eines Sterns auf der Brust, ein Arzt durch einen Griff an den Puls bezeichnet. — Ein solches [13]leichtes natürliches Zeichen vertritt beinahe die Stelle eines Worts.

Aber man muß nothwendig wiederum hiermit zusammennehmen, was Herr Nikolai im dritten Stück des zweiten Bandes dieses Magazins S. 90 in seinem Aufsatze über das Taubstummeninstitut in Wien, als selbstgemachte Beobachtung, erzählt: daß immer eine große unvermeidliche Schwierigkeit bei der Zeichensprache statt findet, wenn dasjenige nun selbst als Sache bezeichnet werden soll, dessen man sich sonst bloß als symbolischen Zeichens bedienet.

Der Taubstumme bezeichnet z.B. einen Arzt durch einen Griff mit der Hand an den Puls, was bleibt ihm nun übrig, das wirkliche an den Puls greifen des Arztes zu bezeichnen. Das Wort Arzt besteht aus einigen an und für sich unbedeutenden Tönen, a, r, z, t, die durch die Zusammensetzung erst Bedeutung erhalten. — Man betrachtet hier das Zeichen der Sache nur in einer einzigen, nehmlich in der grammatikalischen Rücksicht, selbst als Sache — es ist aber nicht dazu bestimmt, um Sache, sondern nur um Zeichen zu seyn; als Sache findet es bloß in unsrer Spekulation statt.

Jedes der pantomimischen Zeichen hingegen kann und muß zuweilen selbst als Sache wieder betrachtet werden — und dann ist Verwirrung zwischen Zeichen und Begriff fast unvermeidlich, [14]wie Herr Nikolai auch in dem angeführten Aufsatze über das Taubstummeninstitut in Wien aus Beispielen gezeigt hat.

Wir wollen aber jetzt zur Aufklärung dieser Sache unser obiges Beispiel wieder zu Hülfe nehmen: der Stumme soll nehmlich einen Arzt durch einen Griff an den Puls bezeichnen, nun soll er durch Pantomime erzählen wollen, wie der Arzt in das Zimmer tritt, sich an das Bette des Kranken setzt, und diesem an den Puls fühlt. Weil nun der Kranke nicht wirklich da liegt, so kann der Taubstumme nur seinen eignen Puls fühlen. Der erste Griff an den Puls bezeichnete also den Arzt selbst, und war darstellendes Zeichen; der zweite bezeichnete eine Handlung desselben, und war darstellende Nachahmung. — Die Zeichensprache kann das Subjekt nicht anders als in Handlung bezeichnen — denn jede Pantomime ist schon selbst eine Art von Handlung — zur Bezeichnung der Handlungen bleiben also der Pantomime keine besondre Zeichen übrig — Nomen und Verbum fließt in eins.

Die Pantomime hat keine symbolische Zeichen für die Nomina; aber sie hat eine Nachahmung der Handlungen für die Verba — sie hört auf Sprache zu seyn, sobald sie Verba auszudrücken hat — denn wirkliche Darstellung der Sache kann ich nicht eigentlich mehr Sprache nennen.

[15]

In der Seele des Taubstummen muß es daher weit unruhiger und lebhafter als in unsrer Seele seyn. Er kann seine Ideen von den Handlungen nicht eigentlich fixiren — wenn sie angeregt werden, so müssen sie einander unwillkührlich anstoßen und sich wechselseitig in Bewegung setzen. Denn von den Handlungen existiren in der Seele des Taubstummen keine Zeichen, sondern die Sache selbst, die vollständigen Bilder — die einzelne Handlung eines Subjekts, wie z.B. das Pulsfühlen, kann wohl, aus allen übrigen herausgehoben, zur Bezeichnung des Subjektes dienen, aber was soll aus der Handlung des Pulsfühlens selbst einzelnes herausgehoben werden, um diese als einen abstrakten Begriff zu bezeichnen? —

Wenn also gleich durch die Zeichensprache Substantiva als fixirte Begriffe ausgedrückt werden können, so müssen doch die Verba immer vage, schwankende Begriffe bleiben. —

Eine einzelne aus mehreren herausgehobne Handlung eines handelnden Wesens ist ein Zeichen des handelnden Wesens; aber die Handlungen selbst haben kein Zeichen weiter, weil sie selbst nur gleichsam natürliche Zeichen von der innern Wirksamkeit eines handelnden Wesens sind.

Der Taubstumme hält ein gewisses Bild an einem kleinen Punkte in demselben fest, der ihm zum Hauptgesichtspunkte dienet. — Er bezeichnet z.B. die Person des Königs, indem er [16]sich mit dem Finger einen Stern auf die Brust zu mahlen scheint — dieser einzelne Gesichtspunkt dient ihm statt des Nahmens König.

Gesichtspunkt

ist ein Ausdruck, dessen man sich oft bedient, ohne recht aufmerksam auf den Begriff zu seyn, welchen er bezeichnet, und welcher vielleicht einer unserer schwersten Begriffe ist. —

Zu jeder deutlichen Vorstellung gehöret gleichsam ein Mittelpunkt und ein Umkreis — setze ich nun den seynsollenden Mittelpunkt eines Umkreises nicht gerade in die Mitte desselben, so kann ich unmöglich eine deutliche Idee von dem Umkreise erhalten, der eine Theil desselben muß gleichsam aus der Sphäre meiner Betrachtung wegfallen — ich urtheile daher falsch — das Wohlgeordnete und Gerade kömmt mir schief und ungerade vor — ich habe die Sache nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet. —

Der Mittelpunkt des Umkreises ist der Zweck, worauf sich alles übrige bezieht, wie die Radien eines Zirkels auf den Mittelpunkt desselben — nehme ich nun z.B. einen untergeordneten Zweck für den Hauptzweck, so muß mir nothwendig ein großer Theil der Dinge, die ich aus einem Gesichtspunkte betrachte, unzweckmäßig scheinen — der Cirkel ist nicht gehörig geründet — ich kann die Sache nicht fassen. —

[17]

Nun sagt man aber, gewiß aus einem dunklen Gefühl der eingeschränkten Kraft unsers Denkens, den rechten Gesichtspunkt treffen — gleichsam, als ob man nur zufälliger Weise darauf stieße, indem man ihn treffen muß, wie etwa der schwarze Punkt in der weißen Scheibe von dem geübten Schützen getroffen wird. —

Worin besteht nun aber diese Kraft, den rechten Gesichtspunkt zu treffen?

Der Schütze hat den schwarzen Punkt in der weißen Scheibe schon vor sich — er hat den Gesichtspunkt schon, es kömmt nur darauf an, daß er diesen Gesichtspunkt unverrückt erhält, damit der Schuß nicht vorbeitreffe. —

Indem wir aber unsre Ideen ordnen, so sollen wir den rechten Gesichtspunkt selbst erst finden — wir nehmen auf gut Glück einen an, und beschreiben aus demselben einen Zirkel — eine große Anzahl unsrer Ideen will sich nicht hineinfügen, und fällt außer diesem Zirkel — wir sehen zwar einige Ordnung und Beziehung in unsern Gedanken — aber alles will sich nicht in diese Ordnung hineinziehen lassen — wir wählen daher einen andern Gesichtspunkt, und kommen endlich durch mehrere mißlungne Versuche auf den rechten — so wie bei einer Art von Rechenexempeln, wo man auch erst durch eine Anzahl möglicher Fälle, die man setzt, das Verlangte herausbringt. — Wir müssen auf die Weise selbst die Wahrheit gewissermaßen nur [18]zufälliger Weise finden — und darin besteht das Wesen, die ewige Tendenz unsrer Denkkraft — den ganzen Umfang unsrer Ideen auf irgend einen Mittelpunkt zu beziehen, worin sie alle, wie die Radien eines Zirkels sich vereinigen — diesen Mittelpunkt ausfündig zu machen, dahin ist das Streben aller denkenden Köpfe in jedem Zeitalter gegangen. — Es ist das Wesen unsrer Seele, so wie es zum Wesen der Spinnen gehört, sich zu dem Mittelpunkte ihres Gewebes zu machen. — Diese Tendenz nach Wahrheit, nach Beziehung und Ordnung in unsern Gedanken und Vorstellungen ist unser Instinkt, es ist ein Bestreben, wozu wir weiter kein Motiv haben, als die Natur unsres Wesens.

Daß wir aber des rechten Gesichtspunktes auch verfehlen können, und die Natur unsres Wesens nicht bis dahin reicht, daß wir ihn nothwendig treffen müssen — dieß giebt unserm Denken Freiheit, und nimmt unsrer Denkkraft wieder das Instinktmäßige — daß wir irren können, ist daher einer unser edelsten Vorzüge — es ist uns zwar unmöglich, nach dem Irrthum zu streben — aber es ist uns möglich, demohngeachtet auf den Irrthum zu gerathen — und nachher wieder einzusehen, daß wir darauf gerathen sind — dieß giebt unsrer Denkkraft Selbstthätigkeit — sie muß ihrer Natur nach immer nach Wahrheit streben — aber sie muß sie nicht ihrer Natur nach [19]finden — sie muß das Mannichfaltige auf einen Zweck zu beziehen suchen — das heißt: sie muß aus dem Mannichfaltigen einen Gegenstand herausheben, den sie zum Mittelpunkt der übrigen macht — aber sie kann sich diesen Gegenstand selber wählen — sie kann jedes Einzelne in irgend einem Ganzen mit der Würde des Zwecks bekleiden, und dem Ganzen Beziehung darauf geben. —

Dieß hat sie auch gethan — keine Kunst, keine Wissenschaft ist wohl z.B., die nicht einmal in dem Kopfe irgend eines Menschen zum Zweck alles übrigen gemacht wäre. —

Nun kann also ein Wetteifer unter allen den verschiednen denkenden Kräften auf Erden entstehen — indem immer einer noch einen bessern Gesichtspunkt als der andre findet, woraus er die Dinge betrachtet, und man auf die Weise dem eigentlichen Mittelpunkte, oder dem eigentlichen Ziel alles menschlichen Denkens immer näher kömmt, ohne es vielleicht je ganz zu erreichen. —

Doch, ich komme von dieser Abschweifung auf meinen Gegenstand zurück — der einzelne Gesichtspunkt, woraus der Taubstumme ein Bild betrachtet, und woran er es gleichsam fest hielt, wie z.B. das Bild oder die Vorstellung von einem Könige, an dem Stern, der dessen Brust bekleidet, muß ihm statt des Worts dienen. —

Allein diese Vorstellung ist weit unbehülflicher, als die durch Worte. — Diese Zeichensprache ist [20]ohngefähr das, was die Wortsprache in ihrer Kindheit gewesen seyn mag — sie bezeichnete bloß etwas an einem Dinge, wobei man sich das übrige erinnern konnte — als z.B. an einem Pferde das Wiehern, an einem Ochsen das Blöcken. — Indem man nun dieß Geräusch durch die Stimme nachahmte, so stellte sich nach dem Gesetz der Ideenvergesellschaftung zugleich die ganze Gestalt des Thieres, das ein solches Geräusch hervorbrachte, dar. —

Aber die vorzüglichste Aufmerksamkeit fiel doch immer auf das Geräusch, und die Vorstellung von dem Ganzen litte unter der zu lebhaften Vorstellung des Einzelnen, bis man bei der fernern Ausbildung der Sprache, und da der erste Ursprung des Worts allmälig vergessen wurde, auch das Einzelne, was das Wort anfänglich bezeichnet hatte, nicht mehr in Betrachtung zog, sondern sobald man das Wort hörte, seine ganze Aufmerksamkeit auf das Ganze richtete, und es mit dem Worte gleichsam umfaßte. —

Das Zeichen hörte auf, Sache zu seyn, und wurde bloß Zeichen.

Der Ton wurde als Ton, der an sich in der Natur statt fand, gar nicht mehr in Betrachtung gezogen. Die Begriffe von Zeichen und Sache lagen in der Seele abgesondert, und konnten sich nicht mehr untereinander verwirren. —

[21]

Die ganze Masse der Zeichenbegriffe zusammengenommen wog auch nicht einen einzigen Sachbegriff, in Ansehung ihres innern Gehalts, auf— darum wurde sie nun eben ein so bequemes, behendes und leichtes Werkzeug zum Denken, welches die Masse der sichtbaren Zeichen nie werden kann.

Denn diese können nie aufhören, zugleich in andern Beziehungen als Sachen gedacht zu werden, sie können nie ganz reine Zeichen werden.

Ein Stern auf der Brust eines Königes bleibt immer außer dem Zeichen der Würde auch an sich noch etwas. —

Man kann kein Bild, keine Figur erfinden, die nicht außer der Idee des Menschen noch irgendwo in der Natur statt fände — aber die ganze Natur außer dem Menschen, die ganze Thierwelt und alle Flüsse und Winde bringen keinen artikulirten Ton hervor — dieser ist und bleibt das Eigenthum des Menschen, wodurch er sich gleichsam zum Herrn der ihn umgebenden Natur macht, und alles unter das Gebiet seiner allmächtigen Denkkraft zwingt. —

Er kann das unermeßliche Weltall, welches vor ihm steht, vermittelst dieser Zeichen in- und auseinanderwickeln — auf der Walze stehen vierundzwanzig Stifte, in denen die unendliche Harmonie dieses ganzen Weltalls mit allen ihren Melodien schlummert. —

[22]

Dieß erhabne Werkzeug des Denkens ist nun gleichsam aus der Seele des Taubstummen herausgenommen — was ist an dessen Stelle gesetzt? —

Ist es etwas von dem ungeheuren Umfange der chinesischen Bilderschrift ähnliches, statt der simpeln Buchstabenschrift? —

So müßte es dem Taubstummen eben so erstaunlich schwer werden, jemals schnell und geläufig zu denken, als dem Chineser schnell und geläufig zu schreiben und zu lesen. —

Das Werkzeug des Denkens bei dem Taubstummen würde stets zu unbehülflich bleiben, sich der umgebenden Welt damit zu bemächtigen — die umgebende Welt würde sich vielmehr seiner bemächtigen, sie würde sich mehr in ihm darstellen, als daß er sich dieselbe vorstellte. — Seine Denkkraft verhielte sich immer mehr leidend, als thätig. — Wie soll sie sich unter diesem Druck, unter diesem Mangel emporarbeiten — auf welche Art wird die Denkkraft in dem ganzen Leben eines Taubstummen erhöht?

Sie kann nicht anders erhöht werden, als durch ein beständiges Streben nach Simplifizirung der Zeichen, vermöge deren der Taubstumme, die ihn umgebende Welt in seinem Kopfe zu ordnen sucht — erlangt er nun gleich durch dieses Streben nie seinen Zweck, so ist doch dieß unwillkührliche Streben selbst schon eine unmerkliche Uebung der Denkkraft — und wenn es vorzüglich [23]auf Erhöhung derselben ankömmt, so ist es gleichviel, wodurch sie erhöht wird. —

Indem der Taubstumme, durch das Bedürfniß, sich andern verständlich zu machen, genöthigt wird, Zeichen zu erfinden, bei denen andere sich irgend ein Ganzes denken sollen, so wie er es sich dabei denkt, und indem er zu dem Ende irgend einen Theil eines Ganzen zum Zeichen des Ganzen macht — so lernt er unvermerkt, das einzelne mit beständiger Rücksicht auf das Ganze, und das Ganze mit beständiger Rücksicht auf das Einzelne, betrachten. — Und daß wir dieß, sey es auch auf noch so verschiedene Weise, lernenscheinet doch der eigentliche Endzweck unsres Erdenlebens zu seyn.

Kein denkendes Geschöpf, bei dem dieser Endzweck, sey es auch, auf welche Art es wolle, erreicht ist, scheint mir vernachläßiget zu seyn.

Nehme ich dieses zum letzten Zweck bei der Schöpfung der Geisterwelt an, so lösen sich mir alle Räthsel in der moralischen Welt auf — ich sehe nichts, als Plan, Ordnung und Zusammenhang, wo ich sonst nur zweckloses Streben, Unordnung und Verwirrung sahe.

In diesem letzten großen Gesichtspunkte müssen alle übrigen zusammentreffen — und jede andere Betrachtung muß sich in dieser verlieren. —

Es kömmt, in der allerletzten Rücksicht, nicht sowohl auf den Gegenstand des Denkens, als [24]auf das Denken selber, und die dadurch erworbnen bleibenden Fertigkeiten der Seele an. —

Ob nun der Taubstumme seine Denkkraft an der Sache selber oder an den Zeichen übt, wodurch er, vom Bedürfniß sich verständlich zu machen, gedrungen, die Vorstellungen von den Sachen selbst in seinem Kopfe zu ordnen sucht, das ist in Ansehung der eigentlichen Veredlung seines Wesens dasselbe. —

Der gegenwärtige Gebrauch unsrer Denkkraft scheint nach diesem allen noch nicht Zweck zu seyn, sondern es scheint, als ob sie durch denselben nur gleichsam zu einem höheren Gebrauch erst geschliffen werden soll. —

Dieser Gedanke beruhigt und tröstet mich beim Anblick der moralischen Welt — ich betrachte sie als Gerüste um ein Gebäude — das einst aus dieser Entstellung rein geglättet und majestätisch emporsteigen wird, wenn das unbrauchbar gewordne Gerüste umher wegfällt. —

Der Taubstumme übt seine Denkkraft, indem er von dem Bilde des Königes den Stern auf der Brust desselben heraushebt, und ihn zum Zeichen des Ganzen macht — ich übe meine Denkkraft, indem ich über diese Bezeichnungsart des Taubstummen Betrachtungen anstelle — und wir sind beide unvermerkt dem Ziele der Erhöhung unseres Wesens näher gerückt.

(Die Fortsetzung künftig.)

[25]

Zur Seelenkrankheitskunde.

1.

Gutachten über den Gemüthszustand des verabschiedeten Soldaten Matthias Matthiesen, und des Züchnermeisters a T***.

Eine Schatzgräbergeschichte von Herrn Metzger. b

Metzger, Johann Daniel

Das Faktum, welches zum nachstehenden Gutachten Anlaß gab, ist sowohl für den gerichtlichen Arzt, als für den Beobachter der menschlichen Thorheiten, und der Fortschritte der Volksaufklärung, merkwürdig.

Ein verabschiedeter Soldat M. Matthiesen, den man aus dem Gutachten näher kennen lernen wird, wurde dem leichtgläubigen Züchnermeister T*** als ein großer Schatzgräber empfohlen. Diesem war mit der Bekanntschaft sehr gedient; weil ihn eben eine auf dem Lande wohnende Freun-[26]din, welche einen Schatz in ihrem Garten vermuthete, ersucht hatte, ihr einen solchen Mann zu schaffen. Sie giengen zusammen dahin, es wurde aber kein Schatz gegraben, weil M. M. verschiedene Hindernisse vorschützte; eben dadurch aber gab er dem Meister T. eine schlechte Meinung von seiner Geschicklichkeit. »Gebt euch zufrieden, sagte M. M. zum Meister T., auf dem Rückweg, ich weiß einen andern Schatz, der auf dem Kirchhof zu Neuendorf, wo wir durchpassiren müssen, liegt; die Kennzeichen sind mir bekannt; ich werde die Stelle besehen, wann wir hinkommen.« — M. M. glaubte wirklich die angegebenen Kennzeichen des Schatzes wahr befunden zu haben, hatte aber viele Mühe, den Meister T. zu überreden, die nöthigen Unkosten zum Graben herzuschießen, weil dieser ihm nicht mehr traute. Doch that ers endlich nach einigen Tagen; gieng aber nicht selbst mit, sondern ließ seine Frau und seinen Lehrjungen mitgehen, welche Spathen und andere Nothwendigkeiten tragen mußten.

M. M. versah sich mit einem Degen, um im Nothfall die Geister damit zu vertreiben, ließ die Frau allein zurückkehren, aus Besorgniß, die Gespenster möchten ihr den Hals umdrehen, und kehrte mit dem Lehrjungen im Krug ein, wo er die Mitternacht, als die eigentliche Zeit seines Geschäftes erwarten wollte. Doch sollte vorher der Beamte im Ort davon benachrichtiget werden. Mittler-[27]weile aber war auf der Landstrasse ein beträchtlicher Diebstahl begangen worden, an welchem zwar unser M. M. ganz unschuldig war; weil er aber verdächtig aussah, einen Degen bei sich führte, und sein Vorgeben, einen Schatz graben zu wollen, den Verdacht noch vermehrte, so wurde er eingezogen, gefänglich nach Königsberg zurückgebracht, und dem Stadtgericht übergeben. Durch die Angabe seiner Theilnehmer am Schatzgraben legitimirte er sich zwar bald wegen des Diebstahls; doch ward eben über diese vorgehabte Schatzgräberei eine Untersuchung nöthig gefunden. Bei dieser Gelegenheit mußte M. M. seinen Lebenslauf erzählen, aus welchem ich im Gutachten so viel ausgehoben habe, als mir nöthig schien, um ex ungue leonem erkennen zu können. Meister T*** erschien, als ein ehrlicher Schwärmer. Der Herr Inquirent, ein offener Kopf, für welchen das Corpus Juris und das Landrecht gerade das sind, was für einen aufgeklärten Theologen die symbolischen Bücher — trug, anstatt die Schatzgräber als Verbrecher zu behandeln, darauf an, daß ihr Gemüthszustand untersucht werden möchte. Und so entstand das folgende

Gutachten.

Eine dem denkenden Menschenfreund, für welchen die Volksaufklärung keine gleichgültige Sache ist, sehr auffallende Scene ist die sonderbare Schatzgrä-[28]bergeschichte, deren Verlauf und Veranlassung in den Untersuchungsakten wider M. M. Sch*** und T*** enthalten, welche mir von Ew. Wohllöbl. hiesigen Stadtgerichts sub dato den 9ten & praes. den 16ten September a. c. zugleich mit dem Auftrag, den Gemüthszustand des T*** und M. M. zu untersuchen, zugeschickt worden.

Der Hauptakteur in diesem besondern Vorfall ist der verabschiedete Soldat M. M., von welchem der Herr Inquirent Fol. 22 Actorum nicht mit Unrecht vermuthet, daß er ein Windbeutel und Betrüger sei; doch halte ich dafür, daß er ein selbst betrogener Betrüger, und ein Mensch sei, dessen Erziehung gänzlich verwahrloset und dessen Kopf von seinen ersten Jahren an mit Windbeuteleyen angefüllt und mit abentheuerlichen Ideen genährt worden. Seine Lebensgeschichte, wie ich sie theils aus den Akten, theils aus einer langen Unterhaltung mit ihm erfahren habe, wird meinen Ausspruch rechtfertigen.

M. M. ist aus Tönningen im Holsteinischen gebürtig, jetzt ohngefähr einundvierzig Jahr alt. Er kam in seiner Jugend bei einem Bader und hernach bei einem Regimentsfeldscheer c in die Lehre. Wie schlecht und elend aber sein Unterricht in der Chirurgie gewesen seyn müsse, läßt sich aus seinen Ausdrücken schließen: er sagt, »ich lernte Feldschery und Badery.« Er diente hierauf als gemeiner Soldat in Dänischen Diensten; desertirte, [29]kam in die Dienste eines herumreisenden Charlatans, welcher sich für einen kaiserl. königl. Leibarzt ausgab, und zu Konstantinopel gestorben seyn soll, mit welchem unser M. M. verschiedene Länder durchreiset zu haben vorgiebt.

Sein Geschick führte ihn hierauf nach Curland, das Land, wo aurea praxis dem fähigen Kopf sowohl, als dem elendesten Stümper zu Theil wird, wenn er nur eine geläufige Zunge hat. Unser M. M. ist ein Beweis davon. Er diente (zum wenigsten seiner Aussage nach) verschiedenen Edelleuten als Arzt und Wundarzt. Kaum ists glaublich, daß ein Mensch, dessen pöbelhafte Gesichtszüge, Ausdrücke und Mundart seine ganze Unwissenheit verrathen, Leute von Stande so weit getäuscht haben sollte.

Die Art und Weise, wie M. M. den Vorfall bei dem Edelmann in Schameitten erzählt, legt seine Ignoranz in natürlichen Dingen gänzlich an den Tag. Der Edelmann ließ ein Gewölbe, über welchem ehemals ein Kloster gestanden, untersuchen. Als die Thüre eröfnet war, und vor dem Dunst kein Licht ausdauren konnte, so stieg M. M. in der Ueberzeugung, daß ihm weder Teufel noch Gespenster etwas anhaben könnten, in das Gewölbe herunter, indem er nach Aussage der Akten Fol. 13. b. ein Johanniswürmchen (oder ein Stückchen faules Holz, wie er sich gegen mich äußerte) auf einen messingenen Spiegel legte, um das Gewölbe [30]zu erleuchten. Er fand Gold in einer Kiste und kam unbeschädigt heraus. Andere aber, die ins Gewölbe geschickt wurden, fielen in Ohnmacht, und die Gespenster verdreheten ihnen die Köpfe.

Nachdem nun M. M. als ein Hexenmeister flüchtig geworden, kam er in preußische Dienste. Als Soldat hatte er vermuthlich keine Zeit dem Müssiggang nachzuhängen; nach erhaltenem Abschied aber fing er an, zu jeder nützlichen Handarbeit entweder zu unfähig oder zu faul, sich mit Kuren, so wie er sie in der Feldschery und Badery gelernt hatte, mit Lesung unsinniger Bücher, nemlich Höllisch Brand und Höllisch Banta, Act. fol. 24. b.; mit Verbannung der Geister, nemlich des Schneidegeistes und des Poltergeistes, fol. 24. und mit Schatzgraben abzugeben.

Ohnerachtet ich nun dafür halte, daß der Verstand des M. M. viel zu sehr umnebelt ist, als daß er die Nichtswürdigkeit aller dieser seiner Künste einzusehen vermöchte, so ist er doch meines Erachtens ein der bürgerlichen Gesellschaft überlästiger und gefährlicher Müssiggänger; daher ich unmaßgeblich vorschlage, ihn entweder als einen Fremden über die Grenze, oder ihm im Arbeitshause für den Müssiggang Arbeit zu schaffen.

Was den Züchnermeister T*** betrift, so bin ich ebenfalls mit dem Herrn Inquirenten der Meinung, daß er ein ehrlicher Schwärmer ist. Es ist eine sonderbare Bemerkung, daß gewisse [31]Handwerker vor andern zu Schwärmereyen aller Arten disponirt sind. Unser T*** glaubt so treuherzig an Geister, Gespenster, an unterirdische Schätze, die sich durchs Brennen offenbaren, und an ein gewisses Traumgesicht, welches ihm seinen Tod auf den 28sten April 1785 Mittags um zwölf Uhr prophezeite, daß ich es für ein äußerst schweres, ja vielleicht unmögliches Unternehmen halte, ihn eines bessern zu überzeugen. Diesen Traum hatte T***, seiner Aussage nach, als er zwanzig Jahr alt war; er beschreibt ihn noch sehr genau; nur ist er in der Ungewißheit, ob ihm das Gesicht noch sechzig Jahre zu seinem damaligen Alter, oder überhaupt nur sechzig Jahre Lebenszeit zugesagt habe. Im letztern Fall, meint er, wird sein Tod auf besagten Tag eintreffen, im erstern aber müsse er achtzig Jahre alt werden.

Dieser Umstand beweiset, wie eingewurzelt seine Vorurtheile und sein Glaube an abentheuerliche Dinge seyn müssen. Nur einem sehr aufgeklärten und klugen Seelsorger wäre es vielleicht möglich, durch Gründe der Religion diese Vorurtheile zu heben und zu zerstreuen.

Dieß ist mein unmaßgebliches Urtheil, welches ich mit meiner Unterschrift bekräftige.

Königsberg den 1sten October 1784.

M.

[32]
N. S.

Noch muß ich hinzusetzen, daß M. M. wirklich, nach meinem Vorschlage, seine Versorgung im Arbeitshause gefunden, wo er wohl sicher keine Schätze mehr graben wird.

Was den Züchnermeister T*** betrift, so habe ich mich nach dem 28sten April a. c. um sein Befinden erkundiget. Vielleicht, dacht' ich, hat das Traumgesicht mächtig genug auf seine Einbildungskraft gewirkt, um ihm eine tödliche Krankheit zu verursachen. — Doch nein, er lebt noch gesund, schwärmt immer fort, weissagt aus Karten, und wird wohl zum klug werden schon zu alt seyn.

K—g den 4ten Mai 1785.

Erläuterungen:

a: Züchner: Leineweber (DWb Bd. 32, Sp. 257).

b: Vorlage: Johann Daniel Metzger, Gutachten vom 4. Mai 1785, in: Pyl 1786, S. 196-203.

c: Feldscher(er): Wundarzt (Adelung 1811, Bd. 2, Sp. 101).

2.

Geschichte eines sonderbaren Wahnsinnes und dadurch am Ende verursachten Mordes.

(Aus einem Schreiben des Herrn D. Glawing zu Brieg an Herrn Stadtphysikus D. Pyl zu Berlin.)

Glawnig

Walock Flaccus, siebenundvierzig Jahr alt, aus Woschnick in Oberschlesien von katholischen Eltern gebürtig, fol. Act. 2. p. 1. behauptete, daß [33]er von evangelischen Eltern gezeuget sei. Aus seiner Eltern Hause hatte er sich entfernet, wie er so groß gewesen, daß er Klafterholz schlagen können, und zwar wäre er seiner Aussage nach deswegen von seinen Eltern weggegangen, weil er närrisch gewesen. Die Ursache seiner entstandenen Narrheit gründet er auf harte Bedrohungen seines Vaters, weil er einstmahlen etwas am Wagen zerbrochen und daß ihm der Wind in Kopf gefahren. Man hatte ihn wegen seiner närrischen Zufälle zu dem Geistlichen nach Gleiwitz gebracht, der ihn durch geistliche Hülfsmittel heilen sollte, aber dieses war ohne Wirkung gewesen. Flaccus nährte sich bald hier bald dort vom Holzschlagen. 1756 stand er zu Kolberg in Militärdiensten, da er aber einmahl Prügel erhielt, dersertirte er des Nachts, gieng nach Schlesien und erwarb sich wieder sein Brod mit Holzschlagen. Sein letzter Aufenthalt war im Kochtzitzer Walde, wo er nebst andern seit der Erndte Kohlen brannte; seine Mitarbeiter aber flohen seinen Umgang, um seine ungereimte Reden nicht mit anzuhören; er arbeitete emsig, redete öfters vernünftig, unvermuthet aber verfiel er in dumme und unvernünftige Reden. Z.B. Es ist alles Koht, wir arbeiten auf Koht. Er gieng in keine Kirche und arbeitete am Sonn- und Festtage, wenn er nicht mit Gewalt davon abgehalten wurde. Er lästerte öfters Gott, hieß alle Menschen Hunde; wenn er seine Mitarbeiter beten sahe, wurde er [34]unwillig und sagte: ihr Narren! ich habe wohl einstens auch einmahl im Buche gebetet, weil ich aber sehe, daß dieses Plarren zu nichts tauget, so unterlasse ich dieses. Zur Beichte war er in den jungen Jahren gegangen, in der Folge aber nicht und er sagte einstens: als ich dumm war, gieng ich noch zur Beichte, der Priester überreichte mir in einem Löffel etwas weisses, da ich nun aber gescheidter bin, so unterlasse ich in die Kirche oder zur Beichte zu gehen, denn es sind doch nur Narrenspossen, ihr bläcket die Zähne gegeneinander, und höret dem Pfaffen zu, was er euch vorplaudert. Zu einer andern Zeit sahe man ihn einen Klotz ergreiffen und sich damit an die Brust und an den Kopf zu wiederholtenmalen dergestalt schlagen, daß andere sich davor entsatzten, ja er verlangte von einem Kohlbrenner Kuba Machitta, daß er ihn todtschlagen sollte, er sollte ihn aber gut zusammenbinden, denn sonst möchte er ihn zwingen; wenn er ihn erschlagen hätte, sollte er eine Grube machen und ihn verscharren. Einer von seinen Mitarbeitern Nahmens Woiteck Bogdal sahe den Flaccus Katzen, Hunde, Ottern und Füchse, die er getödtet, zurichten und essen. Mit dem Hintertheil der Axt schlug er sich öfters an den Kopf und auf die Hände. Im Monat Mai 1779 verbrannte er in dem Kochtzitzer Walde sieben Klafter Holz aus Muthwillen. Wenn ein Gewitter am Himmel war, so lästerte er Gott und pflegte zu sagen, [35]er triebe Leichtfertigkeit. Wenn ihn seine Raserei überfiel, so fieng er an zu lachen und mit sich selbst zu sprechen, fieng an, sich mit einem Stück Holz oder Axt zu schlagen, und so ein Anfall dauerte oft zwey bis drey Tage, in welchem Zeitraum er sich auch zur Nachtzeit mit einem Knittel heftig zerschlug, ja sein Wahnsinn gieng öfters so weit, daß er mit seinem Messer sich die Brust aufritzte und mit einer stumpfen Axt auf den Unterleib hauete, wobei er sagte, ich wünschte, daß ich mich in kleine Stücken zerhauen könnte, ich wollte mir die Därme selbst herausziehen, denn aus den Stücken würde doch wieder ein Ganzes, ich habe schon einstens in der Erde todt gelegen und bin doch wieder aufgestanden.

Unter seine närrischen Aufführungen gehört folgendes: Er band seine männliche Schaam in eine Schlinge zusammen, den Strick daran befestigte er an einem Baumast dergestalt, daß sie in dieser Lage von dem Stricke durch den auffahrenden Ast ausgedehnt und zu wiederholtenmalen in die Höhe gehoben wurde, ja er hieb sich die Vorhaut mit der Axt ab, lief öfters ohne alle Kleider herum und verbrannte sich die Schaam mit Strohseilen.

Einen Hund schlachtete er, warf ihn sodann in ein mit Wasser angefülltes Loch, zehrte davon vier Wochen, obgleich die neben ihm arbeitenden Kohlbrenner es kaum vor Gestank aushalten konn-[36]ten. Ein Bauer aus Schwickauer Hammer schenkte ihm ein altes abgenutztes Pferd, dieses schlachtete er, zog es ab, und speisete lange Zeit davon.

Unter allem seinem schmutzigen Essenzubereiten verdient folgendes besonders angeführt zu werden. Er fieng einen Igel, brannte demselben die Stachel ab, brühte ihn, und legte ihn sodann in einen Topf, kochte denselben, ließ seine Excrementen in den Topf und aß dieses Gemische mit Appetit.

Endlich rückte der unglückliche Zeitpunkt herbei, daß er ein Mörder wurde. Blaseck Froin, ein Mann von vierzig Jahren, ein Bauer aus Cziasno, a kam den 27sten Junius 1780 in den Kochtzitzer Wald zu Schlitten, um Kohlen zu laden, warf dem Flaccus vor, daß er nasse Kohlen habe, und verlangte endlich von ihm, daß er sich mit dem Aufladen fördern sollte. Flaccus antwortete darauf: laß mich in Ruhe, denn siehe! meine Kohlenhacke liegt hier, Du wirst sonst was damit abkriegen. Auf nochmaliges Ermahnen, sich mit dem Aufladen zu fördern, antwortete er hitzig: zum Teufel, wie viel Befehlshaber hast Du in Dir, worauf der Froin antwortete : Eine Mandel. Flaccus erwiederte: darum sehe ich es, denn von Dir selbst hast Du das nicht. Da er endlich sich weigerte, alle Kohlen aufzuladen und [37]mit Froin in einen weitern Wortwechsel gerieth, ergrif er die Kohlenhacke, schlug dem Froin dieselbe mit einer solchen Gewalt in den Kopf, daß sie darin stecken blieb und mit Gewalt herausgezogen werden muste, und an dieser Verwundung muste derselbe den folgenden Tag Abends sterben.

Die Zeit, als er in dem Stockhause zubrachte, beobachtete ich ihn öfters: Er schlug sich täglich mit dem an seinen Armfesseln befindlichen Schlosse mit einer solchen Heftigkeit gegen die Brust, daß man sich entsatzte, auch bediente er sich öfters eines starken Stocks, mit dem er sich gegen den Kopf mit aller Heftigkeit schlug. Verwies man ihm dieses, so behauptete er, daß er es thun müste, drohete die andern Inquisiten zu erschlagen, forderte Hunde und Katzen zum Essen, lachte über alle Religionserinnerung, schlief ruhig und aß mit ausserordentlichem Appetit. Anno 1781 den 30sten April wurde er auf Lebenszeit in das hiesige Zucht- und Arbeitshaus abgegeben. Von seiner fernern Lebensgeschichte vielleicht ein andermal mehr.

Gl...

Erläuterungen:

a: Gut im Kreis Lublinitz, Schlesien. Damals im preußischen Besitz.

[38]

3.

Auszug aus einem Briefe.

***

Stralsund den 4ten Januar 1786.

Die Frau des hiesigen Stadtmusikus Kahlow, (welcher, beiläufig gesagt, eine nicht gewöhnliche Fertigkeit im Violinspielen besitzt, die er noch zuletzt in der Schwedtschen Kapelle vervollkommt hat, so, daß unser Publikum, welches so manchen nach der Stockholmischen Kapelle durchreisenden großen Spieler gehört hat, ihm den Rang im feinen studirten Vortrage und der Genauigkeit im Einzelnen nach den berühmten Petersburger Virtuosen ertheilt) befand sich, da ihr Mann Amtshalber außer Haus war, und sie ihre Niederkunft hielt, in der Nacht im einsamen Zimmer noch bettlägerig; im Nebenzimmer, oder wenigstens nicht in demselben, worin die Wöchnerin lag, befand sich die Wartsfrau. Frau Kahlow ist noch völlig munter, und sieht in dem Zimmer, ohne irgend Gedanken — wenigstens ihr bewußte — an einen Gegenstand der Art, als sich ihr darstellt, zu haben; wie dies auch aus ihrem Benehmen erhellet.

Eine menschliche Figur nemlich, stellt sich in menschlicher Grösse, als Türk oder Orientaler gekleidet, neben die Stubenthüre. Die gute Frau, die überhaupt an Spückereien gar nicht glaubt, lächelt über die Figur, weil sie in der Meinung steht, ihr Mann habe sich von seinen Geschäften entfernt, [39]und wolle als Maske in scherzhafter Laune sich ihr darstellen, und redet daher auch das Phantasma als ihren Mann an. Ei, Kahlow, sagt sie lächelnd, was machst Du? Komm doch zu mir her! So munterte sie ihren vermeinten verkleideten Mann verschiedenemahle auf, seinen Posten zu verlassen; allein vergebens. Sie ruft endlich die Kinderwärterin, die ihr auch antwortet. Endlich fällt ihr ihr Bruder ein, der sie zärtlich liebte, und mit einer Person nach Constantinopel vor mehreren Jahren wehmüthig von seiner zärtlichen Schwester gegangen war, und in dem schweren Augenblick der Trennung unter andern die Worte seiner Schwester zugeschluchzt hatte: »Schwester, wenn ich weit von Dir gerissen sterben sollte, dann überbringe ich Dir selbst die Todespost.« Selten nur hatte Frau K.. nach einer Entfernung ihres Bruders von vielen Jahren mit der Lebhaftigkeit und öfteren Erinnerung an ihn gedacht, daß er ihr gerade jetzo einfallen konnte. Sobald aber, wie sie in dem täuschenden Manne den verlornen Bruder erblickt, schreiet sie auch auf: Ach, Leopold! — so hieß der Bruder, und — weg ist das Bild.

Was mir die Wahrheit des Phänomens etwas verdächtig macht, ist nicht die Glaubwürdigkeit der Erzählerin, die eben nicht gern auskramt von ihren Begegnissen, und durch öftere Reisen als Schauspielerin oder Tänzerin ihr weibliches [40]Herzchen einigermaassen abgehärtet haben mag, sondern der Umstand, daß sie Wöchnerin, folglich eine Kranke ist, deren Nervensystem angegriffen und in einer Zerrüttung ist. Einer solchen oft ganz kurz daurenden körperlichen Disposition, und besonders der körperlichen Theile, die uns Ideen durch äußere sinnliche Vorstellungen zuführen, schreibe ich das zu, was wir Phantasmen nennen, da unserm Auge das Schreckbild als wirklich da stehend scheinen kann, was unsere Imagination einst bestürmt hat, und bin daher der Meinung, daß wir, noch unbekannt mit dem Knoten des Bandes, welches Körper und Geist so dicht verknüpft, dem Geiste zuschreiben, was wir dem Körper beimessen sollten. —

Noch eine weit wichtigere Ereigniß der Art will ich bei dieser Gelegenheit Ihnen doch auch erzählen. Diese ist weit wichtiger wegen des berühmten Mannes, der sie mir, als von dem ihm wiederum so glaubhaften unverwerflichen Zeugen, dem es wiederfuhr, erzählt hat. Herr Professor M** in G**, dem ich die eine Hälfte meiner geistigen Cultur verdanke, wenn ich wegen der andern Hälfte ein großer Schuldner des vortreflichen Herze bleibe, Herr M**, den Deutschland unter seine größten Denker zählt, erzählte mir einst bei den lehrreichen Besuchen, wozu er mich so geneigt einlud, wie ich durch seine so genau durchdachten und ausgearbeiteten Vorlesungen über die Seelenlehre a auf den Gegenstand von der Einbil-[41]dungskraft geführt ward, dieses. Einer seiner Freunde, der es ihm mit der größten Ueberzeugung erzählt, so daß er auch in Betracht der Glaubwürdigkeit des Erzählers kein Mißtrauen in die Wahrheit des Vorfalls setze, sei einst Abends aus einer Gesellschaft, in der man nur bis zur Munterkeit ein Glas Wein getrunken, zu Hause gekommen, und, weil sein Bedienter gerade nicht zur Hand gewesen, selbst zur Küche hingegangen, um sich eine Pfeife (dünkt mich) anzuzünden. Die heitere Stimmung seines Herzens, da er kurz zuvor eine Gesellschaft scherzender Freunde verlassen hatte, konnte also gar nicht Ideen der Art in ihm aufwecken, die seinem Auge ein so trauriges Bild vorgerückt hätten, als er beim Hinübergehen über die Diele erblickte. Hier sahe er eines seiner Kinder in völliger Todtenkleidung im Sarge liegen; Er schrickt zurück — und schweigt, um abzuwarten, obs Täuschung sei. Eben dieses Kind aber, das er als Todten sahe, wird, wo ich nicht irre, in Zeit von acht Tagen krank — stirbt — und — wird auf dieselbe Stelle und in derselben Kleidung hingesetzt! — Immer ein merkwürdiger Sprung der Einbildungskraft.

Zeit und Raum fehlen mir, um Ihnen noch einen Vorfall mit einer Delinquentin zu berichten; ich muß mich also diesmahl Ihnen empfehlen. Ich bin etc.

***

Erläuterungen:

a: Vgl. Meiners 1786.

[42]

Zur Seelennaturkunde.

1.

Einige an einem Taubstummen gemachte Beobachtungen.

Wallroth, Friedrich Heinrich Anton

Dieser Taubstummgebohrne, über welchen ich diese Bemerkungen zu machen Gelegenheit gehabt habe, heist Herbst, und lebt noch jetzt in seinem Geburtsorte einer kleinen in der sogenannten güldenen Aue gelegenen Stadt in Thüringen. Seine Eltern, durch drückende Armuth in die traurige Unmöglichkeit versetzt, auf die Erziehung ihres unglücklichen Kindes etwas zu verwenden, musten sich damit begnügen, diesen Stummen in die öffentliche Freischule zu schicken — vielleicht bloß in der Absicht, um der Sorge der Aufsicht überhoben zu seyn, und ihn ans Stillesitzen zu gewöhnen. Die daselbst angestellten Schullehrer, deren Stunden er also besuchte, hatten theils wegen der so schon überhäuften Menge der Schulkinder nicht Zeit, theils auch vielleicht eben nicht viel Lust, sich mit diesem armen Menschen abzugeben, weil sie sich selbst keinen glücklichen Erfolg ihrer Arbeiten ver-[43]sprachen. Sein Verstand blieb also unaufgeklärt, und man fing nur alsdenn erst an, ihm etwas als sündlich vorzustellen, wenn er es schon begangen hatte, und um so vielmehr scheint sein Betragen die Aufmerksamkeit des Psychologen zu verdienen. —

Weil ich mich aber nun oft mit diesem Menschen beschäftigte, so mache ich mir das gröste Vergnügen daraus, auch hier mein Scherflein zu der Erfahrungsseelenkunde beizutragen.

Den Anfang will ich damit machen, wenn ich erzähle, auf was für eine besondere Art dieser Mensch von dem Daseyn Gottes überzeuget wurde. Schon öfters hatte man sich bemühet, ihm zu zeigen, daß ein Wesen im Himmel sei, welches alles erschaffen und noch die ganze Welt regierte; aber bisher schienen auch hierin alle Bemühungen fruchtlos zu seyn, und ich wage es nicht zu entscheiden, ob die Schuld an dem Stummen oder vielleicht an seinen Lehrern lag. Eine Naturbegebenheit kam endlich seinen Lehrern zu Hülfe, und ein Blitz, der vor seinen Augen in eine seiner Wohnung gegenüber gelegnen Scheune einschlug, überzeugte ihn auf einmal von dem Daseyn eines Gottes, der im Himmel wohne. Kaum hatte er sich von seinem Schrecken etwas erhohlt, als er zu mir eilte, um mir dieses, was er gesehen, zu erzählen, und wie er nun auf einmal glaube, daß ein großer dicker Mann im Himmel sei — denn so bildete er Gott ab, indem er Backen und Bauch aufbließ und die Hand so hoch hielt, als [44]er nur konnte, um dadurch seine Größe zu bezeichnen, er mochte also wohl in recht eigentlichem Verstande ein Anthropomorphite seyn. So oft er seit der Zeit Gewitterschwangere Wolken an dem Horizonte erblickte, fürchtete er sich ausserordentlich, und bisweilen war ein schwarzes Wölkchen, das im Sommer am Himmel aufstieg, schon vermögend ihn nach Hause zu treiben, denn so oft er ein Donnerwetter ahndete, floh er nach seiner Wohnung, und selbst Versprechungen waren hier nicht vermögend auf seine Seele zu wirken und ihn davon abzuhalten. So oft er nun seit der Zeit einen Menschen etwas thun sah, was nach seinen Gedanken unrecht und böse war, so warnte er ihn nicht nur, sondern kündigte ihm auch gleich seine Strafe an, daß nemlich ein Blitz des Allmächtigen seine Scheitel dafür zerschmettern würde, welchen Blitz er durch eine schlangenähnliche Bewegung mit der Hand von oben herab auf den Kopf des Sünders leitete. Eine gleiche Strafe, vom Blitz erschlagen zu werden, drohete er auch allen seinen Beleidigern, und besonders seiner Muhme, die ihn oft grausam behandelte und nichts zu essen gab, sollte nach seinem Wunsche ein so trauriges Ende nehmen.

Seine Religionsbegriffe waren, wie es sich freilich von einem Menschen ohne großen Unterricht nicht anders erwarten läßt, sehr eingeschränkt. Die Dreieinigkeit, die ihn seine Mutter, die vermuthlich diese Lehre nach ihren besten Einsichten [45]für die einzig wichtige des Christenthums halten mochte, gelehret hatte, wuste er auch zu zeigen, aber freilich mochte er sich wohl wunderliche Vorstellungen davon machen, er hob drei Finger auf, legte die andern nieder und wieß gen Himmel, wo diese drei wären. Ich bemühete mich, ihn auch etwas von der durch Jesum geschehenen Erlösung und daß er für uns gestorben beizubringen, ich zeigte ihm daher, daß alle Menschen von Gott gestraft zu werden verdient hätten, welches ich ihm dadurch sehr leicht begreiflich machen konnte, daß ich zeigte, daß der Blitz des Allmächtigen uns alle hätte treffen sollen, weil wir nemlich gesündiget hätten, welche Idee ich ihm durch Ausübung verschiedener Dinge, die er für unrecht hielt, beizubringen suchte, indem ich ihm hernach vorstellte, daß wir alle so etwas gethan. Und da er mir durch Gebehrden und Minen zu erkennen gab, daß er es verstanden, welches er dadurch, daß er alles, was ich ihm gesagt, durch seine Gebehrdensprache wiederhohlte, auch auf das deutlichste bewieß, so demonstrirte ich ihm nun weiter, daß die zweite Person in der Gottheit aus Liebe zu uns vom Himmel herabgekommen, menschliche Natur an sich genommen, für uns gestorben sei, und so die Strafen, den Blitz, den wir verdienet, auf sich geleitet hätte. Um ihm nun aber von der Art seines Todes auch etwas zu sagen, zeigte ich ihm, um seinem Verstande zu Hülfe zu kommen, ein Bild, [46]welches den gekreuzigten Heiland vorstellte. Als er auch dieses begriffen zu haben schien, sagte ich diesem Stummen ferner durch Gebehrden und Zeichen, daß eben dieser Jesus auch sey begraben worden, daß er aber nach drei Tagen schon wieder aus dem Grabe lebendig hervorgegangen, und gen Himmel aufgefahren sei, wo er nie wieder sterben, sondern ewig leben würde. Um ihm dieses beizubringen, that ich, als wenn ich todt wäre, schloß die Augen, lag einige Zeit auf dem Bette ausgestreckt, und beim Erwachen zeigte ich ihm, daß der Heiland auch gestorben sei, weil er in die Seite gestochen worden, welches ihm nemlich, als ich ihm ein Crucifix zeigte, da Blut aus der ofnen Wunde in der Seite strömte, besonders auffiel, daß er aber auch eben so nach drei Tagen wieder erwacht, lebendig aus dem Grabe hervorgegangen, und einige Zeit nach seiner Auferstehung wieder gen Himmel, woher er gekommen, aufgefahren sei, wobei ich seiner Einbildungskraft durch ein die Himmelfahrt Christi vorstellendes Bild wieder zu Hülfe zu kommen suchte. Ich weiß daher nicht, ob ich in diesem Stücke die Meinung des Herrn Verfassers des im zweiten Bandes zweites Stück dieses Magazins befindlichen Aufsatzes ganz annehmen kann, daß man einem Taubstummen gar keine Begriffe von dem Tode, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu beizubringen im Stande sei, besonders wenn ein Mann, der mehr Geschicklichkeit und Er-[47]fahrung als ich besitzt, diese Arbeit übernehmen wollte, und dabei die vortreflichen Vorschriften eines Heinicke oder de l'Eppee zu benutzen Gelegenheit und Belieben hätte.

Dieser Stumme betete eben so wie Brüning die zweite Person in der Gottheit an, welches er durch Händefalten und gen Himmel gerichteten Blick bezeichnete, und seine Hochachtung gegen diese göttliche Person war ausserordentlich groß, welche er dadurch zu offenbaren suchte, daß so oft er diese Person zeigte, auch zugleich die Hand auf sein Herz zu verschiedenenmalen legte, durch welches er allezeit seine besondere Liebe gegen eine Person zu erkennen gab. Seit der Zeit, als ich ihn auf sein Fragen: wer denn Jesum in die Seite gestochen und ans Kreuz geschlagen habe? — durch Zeichen geantwortet hatte, daß Juden an seinem Tode Schuld gewesen wären, so faste er den unversöhnlichsten Haß gegen dieses Volk, — welcher Widerwille auch selbst durch meine öftere Vorstellungen, daß diese Leute nichts für ihre Väter könnten, aus seiner Seele nicht verbannt werden konnte; so oft er einen Menschen, den er an dem Barte für einen Juden erkannte, sah, brummte er vor lauter Unwillen, wieß, daß diese Leute den Heiland in die Seite gestochen hätten und daß der Blitz sie dafür tödten müßte.

Sein Verlangen, zum heiligen Abendmahl zu gehen, war ganz ausserordentlich, welches freilich [48]wohl ganz natürliche Ursachen haben mochte, er sah Menschen am Altar des Herrn etwas in den Mund nehmen und hernach aus einem schön vergoldeten Kelche trinken, und dieses mochte ihn schon nach dem Genusse desselben lüstern gemacht haben, welches Verlangen durch die Verweigerung, ihn selbst zuzulassen, ohnstreitig noch mehr vermehret wurde; er mochte daher wohl schon lange auf Mittel gedacht haben, zu diesem ihm versagten Genusse auf eine heimliche Art zu gelangen, und um diese seine Absicht zu erreichen, schien er die beste Gelegenheit darin zu finden, den öffentlichen Gottesdienst ganz abzuwarten, bis alle Leute aus der Kirche gegangen wären; und als einstmals der Kirchner die Hostien und den Kelch nicht gleich nach geendigten Gottesdienst abgenommen hatte, schlich er sich am Altar, nahm aus der auf demselben befindlichen Hostienschachtel eine Oblate und trank den übriggebliebenen Wein rein aus. Voller Freude, seines Wunsches endlich theilhaftig geworden zu seyn, lief er zu den Seinigen, indem er ihnen mit den lebhaftesten Gebehrden und mit den heitersten Minen erzählte, daß er nun auch in der Kirche gegessen und getrunken hätte, welches ihm auch recht gut geschmeckt habe.

Er versäumte übrigens nicht leicht eine Kirche, war ganz Aufmerksamkeit und ahmte die Stellung und Bewegungen der Prediger so glücklich nach, daß er jeden, auf Befragen, den Prediger durch [49]seine Pantomime zu bezeichnen wußte. Nichts war ihm unerträglicher, als wenn die ungezogenen Jungen auf der Emporkirche, wo er saß, plauderten, er bewieß dagegen ausserordentlichen Eifer; und als ich einstmals predigte und ein Knabe auch anfing, sich mit seinem Nachbar auf das freundschaftlichste zu unterhalten, so konnte er dem Triebe nicht widerstehen, diesem Schwätzer durch einen Stockschlag recht triftig zu beweisen, daß man nicht in der Kirche plaudern müsse.

Den Diebstahl und das Lügen verabscheuete dieser Herbst ganz besonders, wie ich überhaupt dieses bei einigen Stummen schon zu bemerken Gelegenheit gehabt habe. Da er oft bei meinen Eltern arbeitete, und er sich bisweilen ungemeldet auf meine Studierstube zu kommen erlaubte, so machte ich allerlei Versuche, seine allgemeine anerkannte Treue zu prüfen; als ich ihn daher einmal kommen hörte, suchte ich mich zu verbergen, nachdem ich vorher Geld auf den Tisch gelegt hatte, um so sein Betragen und seine Treue, ohne daß er es wußte, zu beobachten. Voller Verwunderung, daß die Stube offen und doch niemand zu Hause sei, ging er hin zu dem Tische, nahm das Geld, besah es genau, legte es wieder an seinen Ort — alsdann zogen einige auf dem Tische liegende Bücher seine ganze Aufmerksamkeit auf sich; er nahm eines nach den andern, blätterte darin und fing bisweilen recht herzlich an zu lachen. Besonders [50]schien ihm das Ebräische sehr viel Vergnügen zu machen, denn als er die Ebräische Bibel auch daselbst fand, verweilte er lange dabei, und trat endlich an den Pult und brummte einige Minuten nach seinen Gedanken diese Sprache her, indem er die Gestikulationen eines gewissen Predigers sehr gut dabei nachahmte. Nachdem er nun auf diese Art seine Neubegierde gestillet, verließ er lachend das Zimmer; überhaupt habe ich bemerkt, daß, wenn er erst einmal anfing über eine Sache zu lachen, er alsdann gar nicht wieder aufhören konnte, und oft mußte er dieses Lächerliche auch unter den ernsthaftesten Beschäftigungen und ermüdendsten Arbeiten recht lebhaft wieder in seine Seele zurückrufen, denn oft fing er unter der Arbeit von freien Stücken laut an zu lachen, ohne daß man nur im geringsten wußte warum; auf Befragen um die Ursache, zeigte er, was ihn vor einigen Tagen, ja ich weiß Fälle, daß es Wochen waren, lächerliches vorgekommen sei; die Idee des Lächerlichen mußte sich also so tief in seine Seele eingeprägt haben, daß auch andere Vorstellungen dieselbe nicht ganz aus seinen Gedanken zu verdrängen im Stande waren; warum aber die Eindrücke so unauslöschlich aus der Seele eines taubstummen Menschen sind, dieses läßt sich nach meinen wenigen Einsichten aus sehr natürlichen Ursachen leicht erklären.

[51]

So sehr er aber abgeneigt war, ein Stück Geld zu entwenden, so wenig hielt er es hingegen für Unrecht, Speisen hinwegzunehmen, denn setzte man ihn etwas zu essen hin, so verzehrete er es, ohne sich eben lange zu besinnen und ohne Erlaubniß dazu, ganz heimlich mit dem größten Appetit, den er fast immer hatte, und derjenige, der es ihm als Unrecht vorstellte, machte ihn im höchsten Grade unwillig; so wie auch der nur seinen Zorn noch mehr entzündete, der ihm die Ausschweifung dieses Affekts als sündlich vor Augen mahlte, und besonders von der Unschicklichkeit der Rache, die er Kinder, die ihn aus Muthwillen beleidigten, öfters genug empfinden ließ, zu überzeugen sich bemühete. Ueberhaupt war es ihm sehr süsse, sich an seinen Beleidigern auf die empfindlichste Art zu rächen, denn das Andenken angethaner Beleidigungen erhielt sich sehr lange in seiner Seele, und wenn er eine solche Person auch nach langer Zeit erblickte, so konnte sie sich nur alsdann wenigstens auf seine Vorwürfe deswegen gefast machen.

Dieses Beispiel bestätiget daher auch die schon von so vielen gemachten Beobachtungen, daß die Stummen gemeiniglich zornig, rachgierig, falsch und habsüchtig sind.

Daß aber dieses alles und besonders ein bis aufs höchste getriebener Argwohn gewöhnlich die Fehler taubstummgebohrner Menschen sind, läßt [52]sich wohl theils aus dem unzulänglichen Unterrichte, den sie gewöhnlich bekommen, als auch ganz besonders wohl daraus am leichtesten erklären, daß es das traurige Loos der Stummen von Jugend an gemeiniglich zu seyn scheint, von muthwilligen Menschen, die sich immer genug finden, geneckt, und auf alle mögliche Art verspottet und gemißhandelt zu werden. Diese traurigen Erfahrungen, die sie daher oft zu machen Gelegenheit haben, machen sie gegen jeden, der sich ihnen nähert, argwöhnisch und mißtrauisch, da sie in jedem Unbekannten einen neuen Beleidiger ahnden; dieses alles macht sie geneigt, oft in einer gleichgültigen, höchstens zweideutigen Handlung eine Beleidigung ihrer Person zu erblicken. Und eben dieses ist die Ursache, warum bisweilen eine geringe unvorsichtige und nichts weniger, als das Gepräge der Bosheit an der Stirn tragende Handlung, die noch dazu vielmals nur allein in ihrer Einbildung besteht, sie doch zum größten Erstaunen ihrer unwissenden Beleidiger bis zur Raserei bringen kann. Freilich der fleißige Menschenbeobachter staunt nicht bei einem solchen Vorfalle, da er aus der Erfahrung weiß, daß Menschen, die das Unglück gehabt haben, oft von niederträchtigen, sich hinter der Larve der Freundschaft verbergenden Personen hintergangen zu werden, zuletzt ganz Argwohn werden und selbst ihren Vertrautesten alsdann Dinge zuzutrauen im Stande sind, deren Möglichkeit sie selbst vorher [53]bei ihren boshaftesten Feinden nicht einmal vermuthet hätten.

Wer also mit Taubstummen gut wegkommen will, muß ganz aufmerksam auf sein Betragen seyn, und mit der größten Behutsamkeit zum wenigsten so lange zu Werke gehn, bis er endlich das Vertrauen eines solchen Menschen gewonnen hat, und ist ihm endlich das seltene Glück, dieses ganz zu gewinnen, zu Theil worden, so kann er auch auf seine Treue und Freundschaft gewiß trauen; zum wenigsten weiß ich dieses bei dem Taubstummen, der der Gegenstand dieser Abhandlung gewesen ist, aus vielfältiger Erfahrung.

Daß aber dieser Herbst, der sich, wie ich oben gesagt habe, nicht einen Heller zu entwenden verstattete, doch ohne alles Bedenken Speisen, die er nur habhaft werden konnte, hinwegnahm — hiervon glaube ich, daß der Grund allein in der Erziehung liege.

Wer weiß nicht, daß das schändliche Vorurtheil unter dem Pöbel allgemein herrschend zu seyn scheint, nach welchen die heimliche Entwendung gewisser Dinge gar nicht den Nahmen eines Diebstahls verdienen, und es bisweilen eine unsündliche Zueignung einer freilich fremden Sache ohne Wissen des Eigenthümers geben soll. Ich kann mich noch sehr wohl entsinnen, was für große Mühe und Arbeit es mir einmal kostete, einen Menschen davon zu überzeugen, daß der, welcher etwas vom [54]Felde, als z.E. Kohl, Möhren, Kartoffeln, nähme, auch ein Dieb sei, da er sich immer mit dem alten, freilich sehr übel angewendeten Sprüchworte: »was man mit dem Maule davon tragen könne, sei keine Sünde« — entschuldigte. Eben dieses war vielleicht diesem Stummen auch in seiner Jugend beigebracht worden, und hatte so einen Einfluß auf sein ganzes Leben.

Zorn und Liebe waren die zwei Hauptleidenschaften dieses Menschen, aber so groß auch seine Neigung gegen das schöne Geschlecht war, so sehr floh, ja verabscheute er den Umgang mit einer verehlichten Person; nichts war ihm daher unerträglicher, als einen Ehemann mit einen Frauenzimmer, sie mochte nun verheirathet oder ledig seyn, scherzen zu sehen, und ein freundlicher Blick, den eine Frau auf eine andere Mannsperson, als auf die, welche die Hand des Predigers mit ihr verbunden hatte, warf, war schon hinreichend, seinen Zorn ganz zu entflammen — brummend und mit dem Kopfe schüttelnd verließ er ein solches seinen Augen unerträgliches Schauspiel, indem er mit schnellen Schritten zu derjenigen Person eilte, die nach seinem Gedanken durch die schändlichste Untreue ihres Ehegatten auf das Empfindlichste war beleidiget worden. Er bezeichnete daher nicht nur die Person, die sich eines solchen in seinen Augen zum wenigsten unverzeihlichen Verbrechens mit jemand anders, als ihrem Gatten gescherzt zu ha-[55]ben, schuldig gemacht hatte, genau, und vertrat so die Stelle eines förmlichen Anklägers, sondern er gab auch dem beleidigten Theile durch seine Gebehrdensprache die wohlmeinende, aber freilich in der Ausübung sehr harte Lehre, »daß es nun Zeit sei zu sterben, weil ihr Gatte mit einer andern Person sich verbinden wollte,« — freilich eine sehr schwere Lektion, die bis jetzt noch keine Person zu lernen Belieben getragen hat.

Nie habe ich einen Menschen gesehen, der eine größere Furcht vor dem Tode gehabt hätte, als eben dieser Stumme, wenn man ihm durch demselben schon bekannte Zeichen sagte, daß alle Menschen dem Gesetz der Sterblichkeit unterworfen wären, so schien ihm dieses nicht die geringste Unruhe zu verursachen; aber wenn man diesen allgemeinen Satz auch auf ihn anzuwenden anfing, und ihn so an seine eigne Sterblichkeit erinnerte, so schien ein eiskalter Schauder durch alle seine Adern zu laufen und eine Todtenblässe überzog auf einmal sein Gesicht, und ich wage es nicht zu bestimmen, ob die Furcht oder der Zorn mehr Antheil davon hatte. Derjenige wählte daher gewiß das sicherste Mittel, ihn auf einige Wochen aus seinem Hause zu verscheuchen, der ihn an seinen Tod erinnerte, und wenn er sich auch ja einmal wieder einstellte, so mußte der Prediger der Sterblichkeit sich doch gewiß öfters genug die bittersten Vorwürfe für seine Erinnerungen machen lassen.

[56]

Und wenn wir über die Ursachen dieser Furcht vor dem Tode etwas nachdenken wollen, so wird man dieselben wohl gleich bei einem flüchtigen Blick darin entdecken können, daß dieser unglückliche Mensch den Tod nur allein von seiner unangenehmen und schrecklichen Seite hatte kennen lernen, und derselbe für ihn also wahrhaftig ein König des Schreckens seyn mußte; er kannte den Tod nur als den Zerstörer seines Leibes und den Mörder seines Lebens — dieses machte, daß er beim Blick ins ofne Grab, wo er schon seine Gebeine ein Raub der Verwesung werden sah, zurückschauderte, da er diese schreckenvolle Höhle als seine letzte Bestimmung, aus Mangel richtiger Begriffe von demselben, anzusehen hatte, da er diesen Ort nicht als die Werkstätte der Allmacht erkannte, wo sie seinen Leib zu einem andern Leben zubereitete — und sich sein Geist nicht über die modervollen Grüfte in dieses Leben hinzuschwingen wußte. Wäre er so glücklich, die angenehme Seite desselben zu kennen, daß der Tod nemlich nicht Vernichtung, daß er nur Verwandlung, nur Verschönerung seyn würde — gewiß so würde er demselben als einen Friedensbothen ansehn, da sein Innerstes jetzt ohne diese richtigen Vorstellungen natürlich vor ihm zurückschaudern muß. — Doch ich fange an zu theologisch zu werden, darum will ich abbrechen.

Bei dieser Furcht vor dem Tode war es aber wohl immer etwas sonderbar und auffallend, daß [57]er bei jeder Beerdigung, die bei Tage geschah, zugegen war und dem Todtengräber beim Einscharren getreue Dienste leistete, indem er jedem Verstorbenen die letzte Ehre dadurch bezeugete, doch zum wenigsten eine Schaufel voll Erde auf seinen Sarg hinabzuwerfen — vielleicht in dem Gedanken, selbst recht lange von dem Knochenmanne verschont zu werden, wenn er so viele Entseelte dem Schooße der mütterlichen Erde anvertrauen hülfe.

Fr. Ant. Wallroth.

2.

Sonderbarer Eindruck einer Liebeserklärung auf das Herz eines jungen Frauenzimmers.

Pockels, Carl Friedrich

Es gehen Veränderungen in der menschlichen Seele vor, die keine Philosophie aufzuklären vermag. Dahin gehören vornehmlich alle schnelle und unwillkührliche Uebergänge unserer Empfindungen in grade entgegengesetzte. Manche Menschen können in einem Augenblicke lachen und weinen; andere empfinden mitten in den stärksten Aufwallungen ihrer Freude über das Glück ihrer Nebenmenschen, oft selbst derer, die sie herzlich lieben, einen innerlichen Neid, dem sie nicht wider-[58]stehen können, und wir dürfen nur auf uns selbst Acht geben, um hundert andere eben so sonderbare Uebergänge unserer Empfindungen in entgegengesetzte wahrzunehmen. Wie leicht können wir nicht aus einer fröhlichen Laune in einen finstern Mißmuth, aus Haß in Liebe, oder auch aus Liebe in Haß, aus den Empfindungen einer innern herzlichen Andacht zu unerlaubten Gefühlen der Sinnlichkeit, aus der Ruhe, welche die Wahrheit in uns hervorbringt, zu einem dunkeln uns quälenden Zweifelsgefühl übergehen! die Ursachen davon liegen gemeiniglich so tief in dem Gewebe unserer Empfindungen verborgen, daß sie oft durchaus nicht mit Gewißheit angegeben werden können. Ein solches unerklärbares Phänomen scheint mir folgendes zu seyn, welches in seiner Art eben so ungewöhnlich als wahr ist.

Vor mehrern Jahren hielt sich ein junges unverheirathetes Frauenzimmer bei einem ihrer Anverwandten in H.. zum Besuche auf, in dessen Hause ein junger Theologe aus- und einging. Der junge Mann besaß viel Lebhaftigkeit, artigen unterhaltenden Witz, und nicht gemeine Kenntnisse; dabei war er wohl gewachsen, wußte sich auf eine unverstellte und unzudringliche Art einzuschmeicheln, kurz, er hatte alle jene angenehmen Eigenschaften, wodurch es jungen Männern so leichte wird, weibliche Herzen zu erobern. Unsere Fremde, die den [59]Freund ihres Anverwandten täglich sahe, schien nicht gleichgültig gegen ihn zu seyn, und seine liebenswürdigen Eigenschaften, die noch durch seine gute Lebensart erhöht wurden, mußten einen desto größern Eindruck auf das edle Mädchen machen, da sie selbst einen sehr lebhaften Verstand, und ein ganz zur Liebe und Zärtlichkeit geschaffenes Herz hatte. Der junge Mann entdeckte bald, daß seine Gesellschaft ihr nicht unangenehm war, und er zweifelte nicht, ihr Herz erobern zu können, wenn er etwas thäte, wodurch Mädchenherzen so leicht gefangen werden, und ihr, bei seinen ohnedem guten Aussichten zu einer Pfarrstelle, geradezu seine Hand antrüge. Zu dieser Absicht kaufte er einen Ring, und eilte, da die Heftigkeit seiner Leidenschaft ihm keine Zeit zu einer längeren Ueberlegung ließ, bei erster Gelegenheit dem jungen Frauenzimmer die heißen Wünsche seines Herzens auf eine feierliche Art zu entdecken. Er hatte auch bald das Glück sie eines Tages allein anzutreffen, ihr freundlicher Blick machte ihn zu seinem Vorhaben muthig; er leitete das Gespräch auf Liebe, und das Glück eines auf wahre Zärtlichkeit und Tugend gegründeten ehelichen Lebens, und gestand ihr endlich unter den heiligsten Versicherungen: daß er sie innig und über alles liebe, und daß sie allein ihn zu den glücklichsten aller Menschen machen würde. Er ergriff darauf mit Bescheidenheit ihre Hand, drückte ganz leise den mitgebrachten Ring in die-[60]selbe, und wartete mit Thränen im Auge auf eine zärtliche Gegenerklärung seiner Geliebten. — Aber welch ein tödtlicher Schlag für sein liebekrankes Herz! das Mädchen, welchem er sonst nicht gleichgültig gewesen war, fühlte sich in dem Augenblick, da er ihr seine Liebe erklärte, auf einmahl von dem heftigsten Haß gegen ihn durchdrungen. Der junge Mann war ihr, ohne daß sie sich davon eine Ursach anzugeben wußte, der abscheulichste und unausstehlichste Mensch geworden. Sie verließ ihn mit einem Blick, der den ganzen Abscheu ihres Herzens gegen ihn ausdrückte, und das Haus ihres Anverwandten hatte nunmehr alle Reitze für sie verlohren, da sie in demselben der Gesellschaft eines Mannes nicht ausweichen konnte, den sie von ganzem Herzen haßte. Diese Empfindung war nicht von der Art, wie sie spröde und schüchterne Mädchen aus einer misverstandenen Schaamhaftigkeit bisweilen zu haben scheinen, indem ihnen ein unvermutheter Liebesantrag geschieht. Sie entrüsten sich — einige Augenblicke über die Freiheit, die sich ein junger Mann genommen hat, ihnen sein Herz anzubiethen, und sind so erstaunlich tugendhaft, daß sie sich manchmahl mit dem Zorn einer Furie im Auge die Gesellschaft des Liebhabers verbitten, den sie im andern Augenblick schon wieder — einladen. Der Haß unserer Spröden gegen ihren Liebhaber dauerte lange fort, und hörte, was mir sehr sonderbar hiebei vorkommt, nicht eher [61]auf, bis er sich mit einem andern Mädchen verheirathet hatte.

Ich getraue mir nicht dieses sonderbare Phänomen zu erklären. Aus der Dauer der Abneigung, die das Frauenzimmer gegen den unschuldigen Liebhaber fühlte, sieht man, daß sie nicht bloß eine übele vorübergehende Laune gewesen sei, in welcher uns oft ein Mensch, dem wir sonst nicht abgeneigt sind, auf einige Augenblicke unausstehlich werden kann, ob wir gleich davon selbst keine Ursache angeben können. Ueberdem war unsere Schöne immer das lachendste und heiterste Mädchen, die gar nichts von dem bösen übellaunigen Wesen wußte, was unsere empfindelnden neumodigen Schönen, wie ich höre, so oft haben sollen. Ihr liebenswürdiges Herz war immer zur Freude offen. Die ungezwungene Erziehung, die sie von ihren vortreflichen Eltern erhalten hatte, die natürliche und unverstellte Güte ihres Herzens, und die unschuldige Neigung zur Geselligkeit, machten, daß sie die Menschen ohne Mistrauen liebte, und gegen Männer nicht gleichgültig war, die jene vortheilhaften Eigenschaften des jungen Theologen besassen. Der Grund ihrer Abneigung vor dem letztern kann also weder in innrer böser Laune, noch in der Kälte ihres Herzens gesucht werden. — Vielleicht war die Art, mit welcher er seine Liebe erklärte, und wodurch die Gefühle eines weiblichen Herzens so leicht verstimmt werden können, nicht delikat und [62]anständig genug; vielleicht entdeckte sie in dem Augenblick in seinem Gesichte gewisse dunkle Züge, welche ein unedles Herz verriethen; vielleicht erwachte damals schnell eine stärkere Neigung für einen andern in ihrer Brust, die auf den gegenwärtigen Liebhaber zu seinem Nachtheil ein falsches Licht warf; vielleicht auch ahndete sie eine zu schnelle Uebergabe ihres Herzens, und suchte sich dagegen durch Schreckbilder von den Folgen dieser Liebe zu sichern; doch vielleicht sind auch alle diese Vermuthungen nicht die rechten. Wenn es Ahndungen giebt, so könnte man auch diese zu einer Erklärungsart jenes sonderbaren Phänomens machen. Meine Freundinn wäre durch jenen Mann gewiß die unglücklichste Gattin geworden, indem er sich nachher selbst in seinem Ehestande den unerlaubtesten Ausschweifungen ergab, und dadurch in die kläglichsten Umstände seines Lebens gerieth.

C. F. Pockels.

3.

Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit.

Schlichting, Johann Ludwig Adam

Speier am 29sten Jänner 1786.

Der Verfasser dieses Aufsatzes hatte von Jugend auf Lust an der Meßkunst; unauslöschlich haben [63]sich deswegen die Vorstellungen von Figuren und Größen im Gefilde seiner Kenntnisse abgedrückt; die aber mit der natürlichen Richtung seiner Seelenkräfte nichts ähnliches hatten, flogen vorüber; hieraus schließt er, daß nicht Lebhaftigkeit der Eindrücke Ursache ihrer Fortdauer in der Seele, sondern Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Karakter es wäre. Ich bin aber noch nicht überzeugt, daß ursprünglich die Seelenkräfte des Kindes zu einer Art der Dinge mehr gestimmt sind, als zur andern, sondern daß sie dieses erst durch Anlässe werden, und daß sie sich nach Verhältniß der vorkommenden Gegenstände und ihrer Eindrücke aufs Herze mehr oder weniger entwickeln, oder: das Kind empfand einmal ein Objekt sehr tief. Nun sind entweder viele von den folgenden Vorstellungen gleichartig, und gesellen sich zu der Vorhergehenden — schmiegen sich an sie an; und so bestimmen sie schon den Karakter des Kindes auf einen Punkt, daß nicht leicht heterogene Gegenstände sie aus dieser Lage verdrängen können; an diese aufgefaßte adsociirten Ideen erinnern wir uns nachher leicht wieder. Sind aber die folgenden Ideen ungleichartig, so sind sie stärker oder nicht; sind sie dieses, so bringen sie übrigens keine merkliche Sinnesveränderungen vor, man kann noch behaupten, es bleibe derselbe Seelenzustand — dieselbe Seelenrichtung; denn sie gleiten vorüber, und lassen kein Gepräg ihrer Existenz zurück; die [64]in dem Menschen dagewesene Modifikation der Seelenorganen dauert fort im ersten gerührten Tone, bis entweder zu viele, obgleich minder lebhafte Vorwürfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann vernichten; sich selbst als Tirannen der Seele und ihrer Stimmung eindrängen, oder bis ein anderer gleichartiger kömmt — und denselben Seelenzustand befestiget; wenn aber die ungleichartigen Eindrücke stärker sind — so muß nothwendig die Wirkung dieser überlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer (sind sie noch nicht zu alt und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und wegen verschiedener Gründe zu interessant gemacht) vertreiben — sich ihrer Stelle versichern — und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele führen.

Folge meines Lebens in einem Schreiben an meinen Bruder:

Wie oft, lieber Bruder! dachte ich schon, wie oft denke ich an Dich, wie es Dir gehe, was für ein Verhältniß Dir das Schicksal bestimmt habe? Wie so oft schon erfüllte der innige Wunsch mein Herze? Möchte ich Dich noch einmal sehen, Dich noch einmal in meine Armen einschließen, noch einmal bei Dir die Bruderliebe in ihrer thätigsten Aeußerung, in ihrer wärmsten Gluth fühlen! Aber wann wird der Moment der Befriedigung aller die-[65]ser herzlichen Wünsche mein Leben bestrahlen? wann werde ich mit freudiger Stimme ausrufen können? Du hast Deinen Bruder wieder!

Aus einem Briefe erfuhr ich den Ort Deines Auffenthalts und Deiner Beschäftigung. Erwarte nicht von mir, daß ich etwas gegen diese sagen werde. Nein, Bruder! ich sage Dir, daß Du in Deinem wirklichen Verhältnisse so glücklich seyn, so glücklich werden kannst, als in jedem andern; denn was ist Glück anders, als Zufriedenheit? Zufriedenheit erhälst Du freilich durch die Befriedigung Deiner Begierden, und dauerhafte wahre Zufriedenheit nur durch Befriedigung vernünftiger Begierden; eine andere ist das Vergnügen eines Moments, der zehntausend folgende vergiftet. Wahre Zufriedenheit kannst Du immer haben, lieber Bruder! verbinde nur Weisheitkenntniß Deiner Umstände mit der Wahl Deiner Begierden, und Klugheit mit der Wahl der Mittel zur Befriedigung derselben. Siehst Du die Unmöglichkeit der Stillung eines oder des andern Verlangens; so leide den Mangel, dulde ihn! ersetze ihn durch die Gewährung eines schätzbarern, größern, das mehr zur Vervollkommung Deines Zustandes beiträgt, oder Dir einen stärkern Drang in Deiner Seele macht. Nur wähle immer das, was Du nach allen Verhältnissen für Dich als das Beste erkennst; dann bist Du glücklich, und noch in der irrdischen Hülle empfindest Du einen Himmel voll Wonne. [66]Siehest Du, daß Du also in Deinen wirklichen Umständen nicht glücklich sein kannst, so dringe weiter; suche Mittel, angemessene Mittel, sichere Rettungswege auf; arbeite an der Erreichung eines besseren glücklicheren Zustandes; arbeite standhaft, unabläßig; und Du wirst fühlen, daß der Mensch immer Kräfte genug hat, sich glücklich zu machen, denn dies ist der große Zweck unsers Daseyns; und der uns dieses Daseyn gab, und mit ihm diesen Zweck verband, mußte der also nicht auch uns zuverläßige, hinreichende, richtige Mittel in unsere Natur legen, durch welche wir ohnfehlbar diesen erhabenen Endzweck des großen Weltalls erreichen können? und diese Mittel kann wirklich der Mensch in jeder Lage haben; dieß beweiset Erfahrung und Vernunft.

Ich will Dich nur, Lieber! an unsere Jugend ein wenig erinnern, und Dir etwas von meinen individuellen Revolutionen erzählen; Du wirst bald einsehen, wie wahr ich geredet habe.

Welch himmlisches Gefühl durchströmt mich; wenn ich in die goldenen Tage unser Jugend; unserer Kindheit zurückschaue. Zuverläßig, Bruder! sind dies die glücklichsten Tage des Menschenalters. Wie schuld- und kummerlos wandelt man da die Gotteswelt dahin! Jeder Schritt ist mit Blumen gestreut, und jeder Weg ist uns ein Weg ins Paradies. So zufrieden, jedes Leidens ohnbewußt, und so eingeschränkt für den gegenwärtigen Hori-[67]zont, liebten wir einander, und dachten ewig beisammen zu bleiben, ewig dieselben Freuden, dieselbe jugendliche Wonne beisammen Hand in Hand zu theilen.

Denke ich, wie froh wir in des Vaters Hause, an des Vaters Tische so noch ungetheilt beisammen waren; wie Familienfreuden uns von des Vaters, von der Mutter Hand zuströmten; als noch Bruder und Schwester und Aeltern so auf einem Häufchen sich einander gut wollten; Liebe einander in den Busen hauchten; jedes sich so seelig im Zirkel seiner Familie fühlte; da, da wird die künftige Scene ein Trauerspiel, und Zähren, denen nie wiederkommenden Freuden geweinet, benetzen sie.

Wir waren unserer neun, denen allen die Verdienste ihres guten alten geplagten Vaters, und die Sorgen und die Liebe der zärtlichen kummervollen Mutter nicht unbekannt waren. Wir sahen die Noth unsers Hauses, und die unermüdete Thätigkeit unserer Aeltern; wir waren zu schwach, um ihrem und unserm Elende Linderung zu verschaffen. Nur der Gedanke konnte unser Antheil seyn: Gott! was gute, redliche Aeltern! was sie da alles für uns thun! und was sie alles in der Stille in ihrer Brust für uns leiden! und doch auch, Bruder! wie oft verlohren sich diese gute Gedanken, just da, wo sie hätten wirksam seyn sollen; setzten das Köpfchen auf, und machten ihnen so manchen kummer-[68]vollen Augenblick? O Reue und Schmerzen ergreifen mich, über jeden ihnen verursachten Verdruß, über jede ihnen verdrießliche Miene!

Nun werfe ich dann auch einen forschenden Blick auf unser goldenes Alter zurück. Wie erinnere ich mich noch mit so vieler Wonne der unvermischten Freuden, die wir in unsern Kinderspielen hatten; des kleinen lieben Kämmerchens; des schönen Gartens; des sanft dahinrieselnden Baches, und der grünen Wiese, gerade gegenüber! wie lebhaft stehet mir noch des Nachbars Haus und die Gemälde an der Aussenseite desselben da; diese letztern hinterließen in meiner Vorstellung einen unauslöschlichen Abdruck, als ich meinen Geburtsort mit einem andern Auffenthalte umtauschte; so oft ich wieder dahin kam, war mir ihr Anblick jedesmal ein wahres, inniges Vergnügen, das mein ganzes Nervengefühl auf einen Punkt drängte; zu der Idee dieser Gemälde die Ideen meiner ganzen verflossenen Kindheit adsoziirte; und das wiederum den Strom jener seeligen unschuldigen Empfindungen in meine Seele mit verjüngter Stärke goß. Wie so voll Reitze und Liebe ist mir noch der Gedanke an den Herbsttumult, an die Geschäftigkeit der Bauren, an das wimmelnde hallende Feld; der schöne Anblick des erhabenen, schattigten Gebirges; überhaupt, die Anmuth, die mannichfaltigen ergötzenden Abwechslungen der Gegend, und das sanfte Landleben, dessen Reitze und Kostbar-[69]keiten wir mit so vielem Gefühl und gemeinschaftlicher Theilnehmung betrachteten, genossen.

So weit mein Blick meine und unsere Jugend verfolgen kann — und alle die Zufälle, die sich mir noch auf dem Hinblick in die verflossenen Freudenjahre offenbaren, will ich Dir, lieber Bruder! vorlegen; denn sie mögen allenfalls einem Menschenforscher interessant seyn.

Ueber vier Jahre weiß ich mich nicht einer einzigen Begebenheit zu entsinnen, und just war ich vier Jahre alt, als die letzte Theurung a in unsern Gegenden einfiel ; mit dieser Epoche fängt mein Bewußtseyn an. Der Blick in diese Zeiten erfüllt mich mit Grauen und Schauer, und mein Gefühl zerfließt in dem Elend der Leidenden. Ich will, was mir da mein Bewußtseyn noch entdeckt, anzeigen; die Deutlichkeit, in der folgende Begebenheit meinem Gedächtniß noch inne ist, und mit welcher ich sogar die gesprochenen Worte und die geringsten Umstände, die die Sache begleiteten, deren aller Detaillirung aber die Erzählung freilich zu weitläufig machen würde, hererzählen kann, beweißt den Eindruck, den dergleichen Fälle auf mein Gefühl machten; zugleich auch die vorzüglichste Stimmung und Richtung meines Karakters; und welcher Art von Theilnehmung mein Herz am empfänglichsten ist; und giebt schon Aufschluß zu meinen folgenden Lebenszügen.

[70]

Zu der Zeit jener Theurung waren's unser drei; Du, lieber Bruder! warst ein Jahr älter als ich, und N.. ein Jahr jünger. Oft da wir so beisammen sassen, erzählte uns unsere Mutter von dem Elende, welches die Theurung so weit herum verbreitet; wie die Armuth schmachtet, wie der laute Jammer der Nothleidenden den weiten Himmel durchdringt, wie die Thräne sich von der Mutterwange auf den Säugling ergießt, der an der leeren Brust nach Nahrung winselte; wie der Vater über den Anblick seiner siechen Familie gerührt, dann verzweifelnd, für ihre Rettung Schande, Gefahren und Tod trotzt. Wir hörten zu, aber wir selbst empfanden dies unglückliche Schicksal damals zu wenig, als uns es in seiner ganzen Größe vorzustellen.

Meine Mutter ließ keinen, der um etwas bat, ohngetrost hinweggehen; ja zuweilen überschritt sie die Gränzen der Wohltätigkeit, und gab in ihrem mit fühlenden Paroxismus alles hin, was sie aufbringen konnte. Wir mußten also nachher selbst Mangel empfinden, wir litten aber den Verlust gerne; denn Begierde, das Leiden des Bruders zu lindern, Mitgefühl und Empfänglichkeit für Vergnügen an dergleichen uneigennützigen Handlungen, waren für uns doch schon Wirkungen ihres Beispiels und ihrer Lehre. Einmal ging ich vor die Thüre meines Hauses; der Tag war schön, und es kam eine Frau vor die Hofthüre, die um ein [71]Allmosen bat; geschwind lief ich zur Mutter und sagte ihr's; sie kam und sahe, daß es eine Jüdin war; wie, eine Jüdin? sagte ich zu ihr, fordern und nehmen denn die Juden auch was von Christen an? ich hörte ja immer, daß alles koscher seyn müsse, was sie essen und trinken. Gutes Kind, war die Antwort der Mutter, siehst Du jetzt, was die Noth vermag? ohne diese würden sich die Juden lieber das Leben nehmen lassen, als etwas, das nicht koscher ist, essen. Nun sind sie so froh, wenn ein Christ sich ihrer erbarmt, und ihnen ein Stückchen Brod oder sonst was reicht; Du wirst sehen, was diese Frau für Freude hat, wenn ich ihr was gebe. Jetzt ging sie hinein, was zu hohlen; die Jüdin hatte ein unmündiges Kind auf den Armen, dessen erbärmliches Winseln jedes Mitleiden erweckte; die deutlichen Spuren der Dürftigkeit erblickte man ausserdem schon auf seinem und seiner Mutter Gesichtszügen. Meine Mutter kam mit einem Löffel voll Mehl, einem Tuch voll Grundbirnen und einem Stück Brod zurücke; bei dem Anblicke dieser Gaben hüpfte vor Freuden ganz ersichtlich das Herz der guten Jüdin; sie war stumm, sahe bald mit einem flüchtigen, aber fühlenden Auge auf meine Mutter, bald auf das Allmosen, und bald auf ihren entkräfteten Säugling; nahm's mit pochendem Herzen, mit zitternder Hand, mit sanften stillen Thränen und lächelndem Munde zu sich, was man ihr darbot; durchdrungen von inni-[72]gem Dankgefühl wollte sie reden, sie konnte nicht. Meine Mutter, gerührt durch diese pantomimische aber kraftvolle und betäubende Scene, gab ihr noch etwas Geld, verließ sie, um die theilnehmende unwiderstehlich hervorgelockte Thräne zu verbergen, und dann sie durch ein himmliches Gefilde von wonniglichem, göttlich durchströmenden Vergnügen hinfließen zu lassen. Für mich waren dieses Empfindungen, die die ersten ihrer Art waren und mich nun ausser der wirklichen Lebenssphäre versetzten; erstaunend sah ich dem ganzen Vorfall zu; ich fühlte mit Elend und Freude; ich weinte mit, und erkannte die süssen Früchte des Wohlthuns, die Würde des Menschen, und das täuschende vorgefaßte Vorurtheil gegen einige Menschensorten schon itzt in meiner ersten Kindheit. Unvergeßlich, in seiner Freudenquelle unversiegbar, bleibt er mir immer dieser herzliche Eindruck mit der lebhaftesten Vorstellung aller erwähnten Umstände, so wie er mir's immer vom ersten Moment seiner Geburt bis itzt unverstörbar geblieben ist. Mein Lieber! wie sehr wünschte ich, daß auch Du das alles mit angesehen hättest! Du würdest auch mit das fühlen müssen, was ich nun so ganz in die Fülle selbstgenügsamer Seeligkeit versunken fühle, und könntest vielleicht Dir ein Maaß denken, das die Gränzen meines Gefühles annähernd zu bestimmen vermag.

[73]

Die spätern, auf den vorerwähnten Fall, folgenden Eräugnisse bis zu meinem achten Jahre will ich verschweigen, denn sie sind alle zu sehr gemischt und verworren, mit Nebensachen und mehreren fremden Leidenschaften verbunden; um eben etwas mehr als die blosse und aus dem Zirkel der Umstände herausgerissene Sache, und die nur halb und einseitig, erzählen zu können; der Zweck und dessen Erreichung würde denn vermißt werden müssen.

Die Fortsetzung, die freilich schon mehr interessante Seelenkaraktere enthalten wird, werde ich Ihnen bald nachschicken.

J. L. A. Sch***.

Erläuterungen:

a: Der siebenjährige Krieg hinterließ eine wirtschaftliche Katastrophe. Hohe Getreidepreise trieben viele in den Hungersnot. Vgl. Erl. zu II,1,45.

4.

Die Menschenmasse in der Vorstellung eines Menschen. a

Moritz, Karl Philipp

Um sich nur zuweilen dem Geräusch, das den Verfasser dieses Aufsatzes umgab, zu entziehn, scheute derselbe manchmal weder Regen noch Schnee, sondern machte des Abends, wenn es dunkel wurde, und er sicher war, daß er von niemanden gesehen, noch von irgend einem Menschen würde angeredet werden, einen Spatzier-[74]gang auf dem Walle um die Stadt; und bei diesen Spatziergängen war es, wo sich sein Geist immer etwas wieder ermannte, und ein Funke von Hoffnung, sich aus seinem schrecklichen Zustande herauszuarbeiten, in seiner Seele wieder emporglimmte. —

Wenn er dann auf den Strassen, die an dem Wall grenzten, in den Häusern Licht angesteckt sahe, und sich nun dachte, daß in jeder erleuchteten Stube, deren in einem Hause oft so viel waren, eine Familie, oder sonst eine Gesellschaft von Menschen, oder ein einzelner Mensch, lebte, und daß eine solche Stube also in dem Augenblick die Schicksale und das Leben und die Gedanken, eines solchen Menschen, oder einer solchen Gesellschaft von Menschen in sich faßte; und daß er auch nun nach dem vollendeten Spatziergange in eine solche Stube wieder zurückkehren würde, wo er gleichsam hingebannet, und der eigentliche Fleck seines Daseyns wäre; so brachte dieß bei ihm zuerst eine sonderbare demüthigende Empfindung hervor, als sey nun sein Schicksal, unter diesem unendlichen verwirrten Haufen, sich einander durchkreuzender, menschlicher Schicksale gleichsam verlohren, und werde dadurch klein und unbedeutend gemacht — dann erhoben aber auch eben diese Lichter in den einzelnen Stuben, in den Häusern am Walle, zuweilen seinen Geist wieder, wenn er einen Ueberblick des Ganzen daraus schöpfte, und sich aus seiner [75]eignen kleinen einengenden Sphäre, wodurch er sich unter allen diesen im Leben unbemerkten und unausgezeichneten Bewohnern der Erde mit verlohr, herausdachte, und sich ein besonders ausgezeichnetes Schicksal prohezeite, wovon die süße Vorstellung, indem er dann mit schnellen Schritten vorwärts ging, ihn aufs neue mit Hoffnung und Muth belebte.

Eine Reihe erleuchteter Wohnzimmer in einem fremden ihm unbekannten Hause, wo er sich eine Anzahl Familien dachte, von deren Leben und Schicksale er eben so wenig, als sie von dem seinigen, wußte, hat nachher beständig sonderbare Empfindungen in ihm erweckt. — Die Eingeschränktheit des einzelnen Menschen ward ihm anschaulich.

Er fühlte die Wahrheit: man ist unter so vielen Tausenden, die sind und gewesen sind, nur einer.

Sich in das ganze Seyn und Wesen eines andern hineindenken zu können, war oft sein Wunsch — wenn er so auf der Straße zuweilen dicht neben einem ganz fremden Menschen herging — so wurde ihm der Gedanke der Ichheit dieses Menschen, der gänzlichen Unbewußtheit des einen von den Nahmen und Schicksale des andern, so lebhaft, daß er sich oft, so dicht es der Wohlstand erlaubte, an einen solchen Menschen andrängte, um auf einen Augenblick in seine Atmosphäre zu kom-[76]men, und zu versuchen, ob er die Scheidewand nicht durchdringen könnte, welche die Erinnerungen und Gedanken dieses fremden Menschen von den seinigen trennte. —

Noch eine Empfindung aus den Jahren seiner Kindheit ist vielleicht nicht unschicklich hier heran zu ziehen — er dachte sich damals zuweilen, wenn er andere Eltern, als die seinigen, hätte, und die seinigen ihn nun nichts angingen, sondern ihm ganz gleichgültig wären. — Ueber den Gedanken vergoß er oft kindische Thränen — seine Eltern mochten seyn, wie sie wollten, so waren sie ihm doch die liebsten — und er hätte sie nicht gegen die vornehmsten und gütigsten vertauscht. Aber zugleich empfand er auch schon damals etwas von dem sonderbaren Gefühl des Verlierens unter der Menge, und daß es noch so unzählig viele Eltern mit Kindern außer den seinigen gab, worunter sich diese wieder verlohren. —

So oft er sich nachher in einem Gedränge von Menschen befunden hat, ist eben dieß Gefühl der Kleinheit, Einzelnheit,und fast dem Nichts gleichen Unbedeutsamkeit in ihm erwacht. — Wie viel ist des mir gleichen Stoffes hier! — welch eine Menge von dieser Menschenmasse, aus welcher Staaten und Kriegsheere, so wie aus Baumstämmen Häuser und Thürme, gebildet werden. —

[77]

Das waren ohngefähr die Gedanken, die damals ein dunkles Gefühl in ihm hervorbrachten, weil er sie nicht in Worte einzukleiden, und sie sich deutlich zu machen wußte.

Einmal da ein Missethäter auf dem Rabensteine vor H... geköpft wurde — ging er unter der Menge von Menschen mit hinaus, und sahe nun einen darunter, welcher aus der Zahl der übrigen ausgetilgt und zerstückt werden sollte — dieß kam ihm so klein, so unbedeutend vor, da der ihn umgebenden Menschenmasse noch so viel war — als ob ein Baum im Walde umgehauen, oder ein Ochse gefällt werden sollte — und da nun die Stücken dieses hingerichteten Menschen auf das Rad hinaufgewunden wurden, und er sich selbst, und die um ihn herstehenden Menschen eben so zerstückbar dachte — so wurde ihm der Mensch so nichtswerth und unbedeutend, daß er sein Schicksal und alles in dem Gedanken von der thierischen Zerstückbarkeit begrub — und sogar mit einem gewissen Vergnügen wieder zu Hause ging, und seinen ** Teig auf dem Wege verzehrte — denn es war damals gerade sein schreckliches Vierteljahr, wo er manche Tage bloß von diesem Teige lebte — Nahrung und Kleidung war ihm gleichgültig, so wie Tod und Leben — ob nun eine solche menschliche Fleischmasse, deren es eine so ungeheure Anzahl giebt, auf der Welt mehr umher geht, oder nicht! — denn er konnte sich nicht enthalten, sich [78]immer an den Platz des zerstückten und in Stücken auf das Rad gewundnen hingerichten Missethäters zu stellen — und dachte dabei, was schon Salomo gedacht hat: der Mensch ist wie das Vieh; wie das Vieh stirbet, so stirbet er auch.

Wenn er von dieser Zeit an ein Thier schlachten sahe, so hielt er sich immer in Gedanken damit zusammen — und da er bei einem Schlächter wohnte, wo er dieß oft zu sehen Gelegenheit hatte, so ging eine ganze Zeitlang sein bloßes Denken dahin — den Unterschied zwischen sich und einem solchen Thiere, das geschlachtet wird, auszumitteln. — Er stand oft Stundenlang, und sahe so ein Kalb, mit Kopf, Augen, Ohren, Mund und Nase, an; und lehnte sich, wie er es bei fremden Menschen machte, so dicht wie möglich an dasselbe an, oft mit dem thörichten Wahn, ob es ihm nicht vielleicht möglich wäre, sich nach und nach in das Wesen eines solchen Thieres hineinzudenken — es lag ihm alles daran, den Unterschied zwischen sich und dem Thiere zu wissen — und zuweilen vergaß er sich bei dem anhaltenden Betrachten desselben so sehr, daß er wirklich glaubte, auf einen Augenblick die Art des Daseyns eines solchen Wesens empfunden zu haben — Kurz, wie ihm seyn würde, wenn er z.B. ein Hund, der unter Menschen lebt, oder ein andres Thier wäre — das beschäftigte von Kindheit auf sehr oft seine Gedanken. — Und da er sich nun einmal den Unterschied zwischen Kör- [79] per und Geist gedacht hatte, so war ihm nichts wichtiger, als zugleich irgend einen wesentlichen Unterschied zwischen sich und dem Thiere aufzufinden, weil er sich sonst nicht überreden konnte, daß das Thier, welches ihm in seinem Körperbau so ähnlich war, nicht eben so wie er einen Geist haben sollte. —

Und wo blieb nun der Geist nach der Zerstörung und Zerstückelung des Körpers? — Alle die Gedanken von so viel tausend Menschen, die vorher durch die Scheidewand des Körpers bei einem jeden voneinander abgesondert waren, und nur durch die Bewegung einiger Theile dieser Scheidewand einander wieder mitgetheilt wurden, schienen ihm nach dem Tode der Menschen in eins zusammen zu fließen — da war nichts mehr, das sie absonderte und von einander trennte — er dachte sich den übriggebliebenen in der Luft herumfliegenden Verstand eines Menschen, der bald in seiner Vorstellungskraft zerflatterte.

Und dann schien ihm aus der ungeheuren Menschenmasse wieder eine eben so ungeheure unförmliche Seelenmasse zu entstehen — wo er immer nicht einsahe, warum gerade so viel und nicht mehr und nicht weniger da wären, und weil die Zahl ins unendliche fortzugehen schien, das einzelne endlich fast so unbedeutend wie nichts wurde.

[80]

Diese Unbedeutsamkeit, dieß Verlieren unter der Menge, war es vorzüglich, was ihm oft sein Daseyn verächtlich und lästig machte.

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, 220-224, 531-534, 571.

5.

Noch etwas für das Ahndungsvermögen.

L**

Je seltner glaubhafte Beispiele sind, daß Menschen Ahndungen oder gar Erscheinungen haben, die ihnen künftige Dinge vorher verkündigen, desto sorgfältiger sollte man alle Begebenheiten sammlen, welche einiges Licht über diese in unsern erleuchteten Zeiten — noch sehr dunkle Materie verbreiten könnten. Die Nachwelt wird erst den Dienst erkennen und die Früchte einsammlen, welchen Ihr Journal dieser Aufklärung leistet. In dem finstern Mittelalter wurde jede unerklärbare Begebenheit für Zauberei und Bündniß mit dem Teufel gehalten, und mit Feuer und Schwerdt bestraft, niemand entdeckte also, was ihm begegnete; in unsern Tagen, da die Gewalt des Teufels sehr beschnitten worden ist, hält man dergleichen Ahndungen und Erscheinungen für Kinder einer schwärmerischen Phantasie, für Milzsucht, mit einem Wort, für Narrheit.

Beide Urtheile verrathen aber unsere Unwissenheit; die Moralität beider Urtheile gehört nicht [81]hieher, genug, daß beide den Gordischen Knoten entzweihauen, aber nicht auflösen, und ohne diese Auflösung werden wir niemahlen weder die geringste Erklärung aller dieser Begebenheiten geben können, noch einen deutlichen Begriff von dem Wesen und der Wirkung unserer Seele haben; die Metaphysik mag so feine Grundregeln ausklüglen als sie will, eine jede solche Begebenheit — deren Existenz nun einmahl doch nicht zu leugnen ist — wird die Theorie durch Erfahrung verstimmen.

Nach diesem Eingang eile ich nun, Nachricht von einer noch lebenden Person zu geben, die alles übertrifft, was mir bishero von seltenen Erscheinungen vorgekommen ist, und deren Gewißheit — ich selbst, wenn ich nicht genau bekannt mit ihr wäre — bezweifeln würde, wenn die Geschichte erst nach ihrem Tod bekannt gemacht würde.

In Frankfurth am Main lebt die Frau eines wohlhabenden Handwerkers — den Nahmen wird der Herausgeber jedem bekannt machen; ihn öffentlich zu drucken, findet man jetzo noch Bedenken, um den Ueberlauf und das Abentheuerliche zu vermeiden — welche dermahlen an die sechzig Jahre hat; seit ihrem funfzehnten Jahr hat sie von jedem Todesfall, der sich unter ihren Bekannten und Verwandten ereignete, nicht Ahndung, sondern wirkliche Erscheinung. In ihrer Kindheit, sagte sie mir: habe sie nie etwas ge-[82]sehen; in ihrem funfzehnten Jahr aber erschien ihr ihre Großmutter, in einem Zimmer, wo sie mir den Fleck zeigte, an einem Nachmittag, wie sie im Hause zu gehen pflegte; sie glaubte auch, es sei die Großmutter, redete sie an, und das Bild verschwand vor ihren Augen; ohne zu wissen, was es bedeute, glaubte sie, sie hätte sich geirret, in einigen Wochen darauf war aber die Großmutter todt, welche bei der Erscheinung noch frisch und gesund war.

Von diesem Zeitpunkt an hat sie öftere Erscheinungen gehabt, und die Erfahrung hat sie gelehrt, daß solche zuverlässig den nahen Tod der erschienenen Person bedeuten. Die Erscheinungen sind aber nicht immer gleich, bald erscheint die Person ganz, wie sie im Leben ist, bald erscheint ein weißes Bild vor ihr, welches aber jederzeit die Gestalt einer ihr bekannten Person hat, deren Tod sie auch immer vorhersagt.

Ein einigesmahl und zwar im October 1784 erschien ihr die Leiche völlig angekleidet im Sarge von einer lebenden Bekanntin, ausser dieser bestimmten Erscheinung hat sie nie eine ähnliche gehabt. Ihr erster Mann ist ihr vor dreißig Jahren an einem Nachmittag vor dem Tisch sitzend erschienen, sie redet ihn an und das Bild verschwindet, sie gehet alsdenn, ihren Mann im Hause aufzusuchen; man sagt ihr: er sei seit einer Stunde ausgegangen und er kommt auch erst nach einer Stunde [83]wieder nach Hause; auf Befragen bestätiget sich es, daß er nicht zurückgekommen war, und in drei Monathen nach dieser Erscheinung war er todt, bei der Erscheinung aber noch frisch und gesund. An einem Tag gehet die Frau in die Küche und siehet eins ihrer Kinder unter ihren Füssen liegen, daß sie der Magd ruft: thut das Kind hinweg, ich trete darauf, und das Kind verschwand, in vier Wochen war es todt. Dergleichen Erscheinungen könnte ich nun noch viele anführen, da aber nun die Gewißheit derselben einmal ganz ausser allem Zweifel ist, so ist es überflüssig. Es ist mit dieser Frau so weit, daß wenn jemand in unserer Familie krank ist, so lassen wir sie bitten, uns sagen zu lassen: ob der Kranke stirbt oder nicht, und ihre Wahrsagung ist Gewißheit; die Erscheinung vom October 1784 war die Vorbedeutung des Todes meiner Schwiegermutter. In dem Augenblick, da ich dieses schreibe, ist eine der besten Freundinnen dieser Frau gefährlich krank, die Aerzte haben ihr schon vor vier Wochen das Leben abgesprochen, unsere Geisterseherin hat aber noch keine Erscheinung gehabt, und sie hat bis diese Stunde gegen die Aerzte behauptet, ihre Freundin würde nicht sterben. Seit dem dieses geschrieben, ist diese Freundin wieder gesund worden.

Soweit wären nun die Erscheinungen ohnleugbar bestätiget. Nun ist noch etwas von den besonderen Umständen derselben anzumerken. Alle [84]Erscheinungen, die sie in der ganzen angekleideten Gestalt der Personen gehabt hat, sind ihr immer rückwärts erschienen, und die weissen Bilder, welche ihr erschienen und die Gestalt einer ihr bekannten Person ganz kenntbar abbilden, haben niemahlen ein ordentliches Gesicht, sondern das Gesicht ist wie ein dunkler Schatten, die einige Erscheinung, wo sie ein deutliches kenntbares Gesicht sahe, war die Leiche im Sarg vom October 1784.

Wenn ein Todesfall unter ihren Blutsverwandten entstehet, so hat sie öftere Erscheinungen von dem nämlichen Bild, bedeutet es aber einen ihrer Bekannten, so ist die Erscheinung nur einmal. Doch ist mir ein Fall bekannt, wo sie keine Erscheinung hatte. Mein Schwager, ein Mensch von zweiundzwanzig Jahren, starb in Paris; man erhielt Nachricht von seiner Krankheit, das Orakel wurde alle Tage gefragt, es kam aber keine Erscheinung, und er ist auch ohne Erscheinung gestorben; sie sagte mir selbst, daß sie dieser Vorfall wundere, da sie so viel auf das ganze Haus halte, und der Mensch unter ihren Augen aufgewachsen sei. Die Frau lebt jetzo in der zweiten Ehe und hat erwachsene Kinder, keins von den Kindern hat bis jetzo irgend eine Ahndung oder Erscheinung gehabt; sie kann mir auch nicht sagen, ob ihre Eltern oder Voreltern oder eins von denselben eben dergleichen Erscheinungen gehabt haben. Nach dem Absterben einer erschienenen Person hat sie [85]noch niemalen etwas weiter bemerkt, welches mir besonders merkwürdig vorkommt, weil alle bisherige Erscheinungen noch so zu sagen dießseits des Grabes sind; jenseit des Grabes aber auch hier die Stille und Dunkelheit herrscht, welche zu ergründen und aufzuklären das Menschengeschlecht vielleicht niemalen fähig seyn wird.

Man könnte nun glauben, diese Frau sei eine Betrügerin oder wenigstens eine Schwärmerin; sie ist aber keins von beiden! Ein jeder, der sich bemühen wird, sie kennen zu lernen, wird bei dem ersten Anblick davon überzeugt seyn. Sie macht sich gar kein Verdienst aus diesen Erscheinungen, beklagt vielmehr ihr Schicksal, daß sie dergleichen Beängstigungen ausgesetzt sei, und bittet Gott beständig, sie und jedermann damit zu verschonen; öfters hat sie Erscheinungen und sagt sie nicht, um die Personen, die es betrift, nicht zu erschrecken. Ihr Mann und ihre Kinder werden es aber sogleich gewahr, wenn sie eine Erscheinung gehabt hat, sie sagen ihr: es ist wieder etwas vorgegangen, sie gestehet es gleich, sagt allenfalls ihrem Mann dieses oder jenes gesehen zu haben, und dabei bleibt es, weil die übrigen sich fürchten, eine schreckenvolle Neuigkeit zu vernehmen. Diese beiden Eheleute sind übrigens rechtschaffene und brave Personen, die ihre Hanthirung mit Fleiß abwarten, ihr reichliches Auskommen haben, und gar den Begriff nicht haben, Sachen zu erdichten, [86]die ihnen nichts eintragen, oder von denen sie gar keinen Nutzen zu hoffen haben. Durch diese öftere Erscheinungen ist die Frau durch jedesmahliges Schrecken so furchtsam und kränklich geworden, daß sie nicht gerne allein ist, und über Schmerzen im Unterleibe sehr klagt. Nichts destoweniger hat sie die Erscheinungen aber im Beiseyn anderer Menschen. Sie sagte mir noch kürzlich, wenn sie eine solche Erscheinung habe und behalte so viele Gegenwart des Geistes, daß sie sagen könne: Ach, Herr Jesus! oder daß sie die Person mit Nahmen nenne, oder daß sie nur einige Worte aussprechen könne, so verschwinde das Bild sogleich; überfiele sie aber Angst, daß sie nichts reden könne, so bliebe das Bild so lange vor ihr stehen, bis sie sich erhohlt hätte, und sie sehe es alsdenn noch.

Wer Kenntniß genug hat, einige richtige Schlußfolgen aus dieser Begebenheit zu bestimmen, der thue es, und er wird sich verdient machen um die Seelenkunde; mir ist es genug, das Faktische bekannt gemacht zu haben.

F** den 4ten October 1785.

L**

[87]

6.

Auszug aus einem Briefe. a

Goens, Rijklof Michael van

Haag den 15ten December 1785.

So eben habe ich in einer müssigen Stunde den *** Band der Berlinischen Bibliothek durchgelesen, b und finde darin einen Auszug von ihrem Werke, das den Titel führt: Magazin

Dieser Auszug ist weitläuftig genug, um mir eine vollständige Idee von ihrem Plane zu geben.

Es ist immer mein Steckenpferd gewesen, Beobachtungen über mich selbst, über Kinder, über Träume, über Wahnwitzige, u.s.w. anzustellen. Allein meine geschäftsvolle Situation im Leben hat mir nicht verstattet, mich anders als im Vorbeigehn, mit dergleichen Gegenständen zu beschäftigen. —

Indes ist dieß bis jetzt noch ein unbedeutendes Feld gewesen, zu dessen Kultur fast ein jeder beitragen könnte, und doch bis jetzt nur sehr wenige beigetragen haben. —

Bonnet hat angerathen, Träume zu beobachten, c und diejenigen bekannt zu machen, welche zur nähern Kenntniß der Seele beitragen könnten — Ein Arzt in Mietau d hat Beobachtungen über Narren und Wahnwitzige angestellt — Herr Tiedemann hat interessante Versuche über den Menschen bekannt gemacht, e und ein andrer hat ein Buch über Ahndungen herausgegeben. f

[88]

Aber dieß alles hat nur entferntere Aehnlichkeit mit meinem Plane, Materialien zu einer Experimentalseelenlehre zu sammlen, mit welchem der Ihrige völlig übereinstimmt. —

Ich habe daher keinen Augenblick gezaudert, und sogar die Nacht zu Hülfe genommen, um Sie zu der Fortsetzung eines Unternehmens zu ermuntern, das mehr als Luftbälle, Magnetismus, und zwanzig andre Thorheiten mehr, in der Geschichte unsres Jahrhunderts Epoche machen kann, wenn sich die Aufmerksamkeit darauf hinlenkt.

Wie sehr wünschte ich, in einer Lage zu seyn, die mir Muße genug übrig ließe, um Ihnen zu beweisen, wie wichtig mir Ihr Unternehmen ist.

Alles aber, was ich für jetzt thun kann, ist, daß ich in der Eile, zwei oder drei Erfahrungen niederschreibe, die aus der Menge von Faktis, welche ich beobachtet habe, gerade die ersten sind, die sich meinem Geiste darstellen. —

van Goens.

Sonderbare Aeußerung der Gedächtnißkraft im Traume.

Goens, Rijklof Michael van

In meinem eilften Jahre besuchte ich die lateinische Schule zu Utrecht, wo in der Klasse, in welcher ich saß, eine gewisse Rangordnung unter den Schülern statt fand, die sich nach dem jedesmali-[89]gen Beruf des Fleisses und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veränderte.

Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exerzizien, bald Lektionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammatikalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wenn dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden, u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde über denjenigen gesetzt, der sie nicht gewußt hatte.

Nun träumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand; daß der Lehrer eine Frage über den Sinn einer lateinischen Phrases aufwarf, und daß ich gerade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo möglich zu behaupten.

Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir vergebens den Kopf, um die Antwort darauf zu finden.

Ich sahe denjenigen, der nach mir saß, Zeichen der Ungeduld von sich geben, um befragt zu werden — ein Beweiß, daß er die Antwort wußte. —

Der Gedanke, an diesen meine Stelle abtreten zu müssen, setzte mich beinahe in eine Art von Wuth; aber ich suchte vergebens in meinem Kopfe [90]nach; und konnte den Sinn der Phrases auf keine Weise herausbringen.

Der Lehrer ermüdete endlich, mir länger Zeit zu lassen, und sagte zu dem Folgenden; nun ists an dich.

Und der Schüler setzte sogleich den Sinn der Phrases deutlich auseinander, und diese Auseinandersetzung war so einfach, daß ich gar nicht begreifen konnte, wie ich nicht darauf hatte verfallen können. —

Es erhellet, glaube ich, schon aus der einzigen Erzählung dieses Traums, daß ich von meiner frühesten Jugend an, einen Hang gehabt haben müsse, mich selbst zu beobachten, weil ich beim Erwachen über diesen dem Anschein nach simpeln, und doch in der That fast unerklärbaren Traum, so frappirt war, daß er mir nachher immer lebhaft im Gedächtniß geblieben ist. — Ohne daß ich, nach einen Zwischenraum von sechsundzwanzig Jahren, im geringsten mehr als damals, im Stande bin zu begreifen, wie die Seele, welche mit der größten Anstrengung vergebens etwas suchet, in einer Minute oder vielmehr in einer Sekunde, die Seele werden kann, die eben dieselbe Sache sehr gut weiß, indem sie sich zugleich einbildet, es selbst nicht zu wissen, sondern es eine andere sagen zu hören.

[91]

Dergleichen Träume sind aber weit gewöhnlicher, als man glaubt, weil man seine Aufmerksamkeit nicht darauf richtet. —

Mehr als hundertmal habe ich im Traume Briefe gelesen, und empfangen, worin, wie ich mich beim Erwachen erinnerte, Neuigkeiten enthalten waren, in denen nichts Unzusammenhängendes war, und welche, ob sie schon falsch waren, doch auch eben so gut hätten wahr seyn können, ohne daß ich wachend daran gedacht, oder sie erdacht hätte.


Unempfindlichkeit gegen ihren Zustand bei Wahnwitzigen.

Goens, Rijklof Michael van

In Werthers Leiden heißt es von einem verrückten Menschen, daß er sich der Zeit, in welcher er an Ketten gelegen hatte, immer noch mit Vergnügen erinnert habe, es sei ihm da so wohl gewesen, wie dem Fisch im Wasser. g

Ich habe einige Jahre lang das Oberaufseheramt über alle Zuchthäuser in der Stadt, und dem Territorium Utrecht gehabt.

Bei dieser Gelegenheit hatte ich verschiedne Jahre lang ein Mädchen von vierunddreißig bis sechsunddreißig Jahren beobachtet, die so rasend war, daß man sie nackend lassen mußte, weil sie alle Kleider sogleich zerriß.

[92]

Ich habe dieß arme Geschöpf, welches schon nichts als Haut und Knochen war, mehr als hundertmal, nackend auf dem Stroh liegen sehen, in einer Kammer, die nichts als ein eisernes Gitter hatte, wodurch das Licht hereinfiel, und ohne Fenster war, weil sie die Fensterscheiben, so wie alles Zerbrechliche, sogleich zerbrach. —

Eines Tages besuche ich das Haus, und bemerke an der Person, die mich hereinläßt, eine Physiognomie, die mir zwar bekannt vorkam, aber deren ich mich doch nicht deutlich erinnern konnte.

Es war ein wohlgekleidetes, ehrbares, starkes und gesundes Mädchen, welches mich auch zu kennen schien. Indem ich das Haus untersuche, frage ich den Herrn, wo er seine neue Magd, die ich mich anderwärts gesehen zu haben erinnerte, herbekommen habe.

Ihr mögt sie freilich wohl oft gesehen haben, mein Herr, gab er zur Antwort — und ließ mich weiter nachsuchen, bis er mich endlich der Unglücklichen auf den Stroh erinnerte — »Es sind nun drei Monathe, sagte er, daß sie völlig wieder hergestellt ist. — Etwas Niedergeschlagenheit, die ihr noch übrig geblieben ist, ausgenommen, hat sie wieder ihre gesunde Vernunft, so gut, als einer sie haben kann. — Ich wollte ohnedem von ihr Bericht abstatten, weil sie auf die Probe gestellt werden kann, um sie wieder loszulassen.«

[93]

Ich befriedigte darauf meine Neugierde, dieser Person eine Menge Fragen über ihren vorhergehenden Zustand zu thun, und hörte verschiedene Dinge von ihr, welche von der Art sind, daß ich sie nie offenbaren werde.

Es gehen mit rasenden Menschen so außerordentliche Sachen vor, daß wenn man mehrere bestätigte Erfahrungen von der Art hätte, die sonderbarsten Folgen daraus gezogen werden könnten.

Unter andern aber befragte ich sie, wegen der physikalischen Empfindung, die sie in Ansehung ihres Zustandes gehabt hatte. — Und sie gab mir zur Antwort, daß sie sich vollkommen erinnerte, nie die geringste Empfindung von Kälte, oder sonst einer Ungemächlichkeit gehabt zu haben, ausgenommen bei Gewittern, wo sie viel Schrecken und Angst ausstand, und sich allemal tief ins Stroh verbarg, oder in einen Winkel kroch.

Kurz der sieben oder acht Jahre, die sie in diesem Zustande zugebracht, erinnerte sie sich wie im Traume, aber doch im Ganzen genommen mit mehr angenehmen, als unangenehmen Empfindungen.

So wahr ist es, daß es, sowohl von Seiten der physikalischen Empfindlichkeit, als von Seiten der Moral selbst, in den Situationen, die uns oft am schrecklichsten vorkommen, Schadloßhaltungen giebt, die bewundernswürdig sind.

[94]
Erinnerung aus den Jahren der Kindheit.

Goens, Rijklof Michael van

Sie erwähnen eines Herrn Fischers, der sich des Hauses seiner Eltern erinnerte, aus welchem er im dritten Jahre gegangen war.

Eine meiner Rückerinnerungen aus den Jahren meiner Kindheit, ist um die Hälfte früher, und was den Gegenstand anbetrift stärker, weil ich in dem Hause, dessen ich mich erinnere, nur einen einzigen Tag zugebracht habe.

Meine Anverwandten besuchten nehmlich, da ich noch in den Armen meiner Wärterin getragen wurde, oder am Gängelbande ging, einen Freund, der zwei Meilen von der Stadt ein Haus bewohnte, woran er durch seine Bedienung gebunden war.

Man nahm mich mit dahin, und dieser Umstand aus meiner Kindheit, ist meinem Geiste unter allen am meisten gegenwärtig geblieben.

Ich weiß, daß die Reise zu Wasser in einem kleinen Boote geschah, woran das Thau, das durch ein Pferd gezogen wurde, unterwegens riß, und wir dadurch in einige Gefahr geriethen.

Ich erinnere mich an das kleinste Lokale des Hauses, wo man mich herumgeführt hatte; an eine Art von Fischteich hinterm Hause, und dergleichen mehr.

Ich weiß gewiß, daß ich während der Zeit nie in dem Hause gewesen war, als ich nach drei-[95]ßig oder einunddreißig Jahren, einen Freund besuchte, der damals das Haus bewohnte.

Das Zimmer, worin er mich aufnahm, erkannte ich nicht mehr, ob es gleich dasjenige war, worin man vor dreißig Jahren gespeiset hatte. Vermuthlich hat man mich damals, weil ich noch auf den Armen getragen wurde, während dem Essen fortgeschickt.

Es war vorzüglich der Hintertheil des Hauses, und das Wasserbehältniß, das ich mir lebhaft vorstellte; vielleicht wegen des Vergnügens, das ich gehabt hatte, Hechte lebendig fangen zu sehen.

Dieß bewog mich, meinen Freund zu bitten, daß er mich sein Haus möchte ganz durchgehen lassen, ohne mir etwas zu sagen, weil ich meine besondere Ursache dazu hätte, alles allein sehen zu wollen. Er ließ mir meinen Willen: und ich fand wirklich alles Innere auf das genaueste meiner Erinnerung gemäß.

Freilich mutatis mutandis; das heißt: das Verhältnis der Größe der Gegenstände ausgenommen; denn alles kam mir jetzt viel kleiner, wie damals vor, welches auch sehr natürlich ist. —

Ich habe mich nachdem sorgfältig nach der Zeit erkundiget, in welcher mein Anverwandter diese Wohnung verlassen hat — und es hat sich befunden, daß ich zu der Zeit noch nicht zwei Jahr, [96]und also bei dem Besuch, den wir bei ihm abstatteten, ohngefähr anderthalb Jahr alt gewesen seyn mag.

Van Goens.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag s. Goldmann 2015, S. 87-92, 95f.

b: Allgemeine deutsche Bibliothek 59 (1784), S. 141-147.

c: Bonnet 1770/1771, Bd. 2, S. 267.

d: Berichtigt MzE VIII,3,101 zu "Arzt in Mayland".

e: Tiedemann 1777/1778.

f: Hennings 1777-1783.

g: Goethe 1774, Bd. 2, S. 165.

7.

Schack Fluurs Jugendgeschichte.

Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde, von C. F. Pockels.

Pockels, Carl Friedrich

Erstes Stück.

Schack Fluur war der jüngste Sohn eines würdigen Landgeistlichen in einem Brandenburgischen Dorfe ohnweit H**. Dieser Mann, welcher sich durch einen unermüdeten Fleiß in den Wissenschaften aus einem niedern und höchstdürftigen Zustande nach und nach emporgeschwungen hatte, stand durchgehends in dem Rufe eines sehr rechtschaffenen und einsichtsvollen Predigers, und seine Gemeinde, die ihn seiner Amtsstrenge ohnerachtet wie einen Vater liebte, beweint noch jetzt den Ver-[97]lust, welchen sie vor einiger Zeit durch den Tod ihres alten treuen Lehrers erlitten hat.

Ich habe nie einen lebhaftern und feurigern Mann als ihn gesehen. Er war fast immer guter Laune, immer mit Wenigem zufrieden, und besaß die seltene Gabe, auch andern Menschen Zufriedenheit einzuflößen, indem er sie auf die gefälligste Art aufzuheitern, und durch seinen äußerst angenehmen Umgang gleichsam mit der Welt auszusöhnen wußte. Sein Haus war daher immer der Wohnsitz der Freude, der Munterkeit und jugendlicher Scherze, und jeder Vernünftige sahe gern den Mann, der bei einem sehr mäßigen Auskommen mit seiner Familie so zufrieden lebte, und durch sein heiteres Wesen, wobei er nie die Grenzen der Anständigkeit aus den Augen setzte, die trüben Launen anderer so glücklich heilen konnte. Aber seine außerordentliche Lebhaftigkeit, verbunden mit der strengsten Wahrheitsliebe, die einen der edelsten Züge seines vortreflichen Charakters ausmachte, war auch bisweilen Schuld daran, daß leicht zu beleidigende Menschen seine erklärten Feinde wurden, worunter sich sonderlich einige fromme Herren des hallischen Waisenhauses auf die unedelste Art auszeichneten. — Gemeiniglich loderte sein Feuer, wie bei allen lebhaften, aber zugleich gutmüthigen Seelen nur einige Augenblicke auf. Heftige Leute sind, wie die Erfahrung lehrt, gewöhnlich nur bei dem ersten Aufwallen ihres Bluts, in [98]der ersten Hitze des Affekts wild und jähzornig; sind diese Augenblicke, in welchen sich ohnedem die wenigsten Menschen in ihrer Gewalt haben, vorüber: so werden sie wieder die gefälligsten und besten Leute von der Welt, und sind dann oft die Ersten, welche sich über ihre Hitze Vorwürfe machen. Dieß war grade der Fall bei Schacks Vater. Er wurde leicht aufgebracht; eine Kleinigkeit konnte ihn in Flammen setzen, und ein heftiges Feuer glühete alsdenn in seinen funkelnden Augen; aber er war auch bald wieder besänftiget, sonderlich wenn er einiges Nachgeben bemerkte, — ein Umstand, wodurch so leicht die heftigsten Gemüther entwafnet werden können. Ein gutes Wort von seiner Gattin konnte ihn oft mitten in seiner Hitze zu einem Lamme machen, und er vergab alsdenn mit einer unbeschreiblichen Herzensgüte oft seinen größten Beleidigern. Von unzähligen Beispielen nur eins, wie leicht der brave Mann mit denen, die ihn offenbar gekränkt hatten, wieder ausgesöhnt werden konnte. —

Einstmahls hatte er einigen Studenten, die sich in seiner Kirche während des Gottesdienstes unanständig aufgeführt, und ihm mit einer unverschämten Burschendreistigkeit grade ins Gesicht gelacht hatten, bei seinem Heimgange aus der Kirche auf eine sehr derbe Art die Wahrheit gesagt. Die Studenten hatten, wie man leicht vermuthen kann, seine Verweise — mit Grobheiten erwie-[99]dert; waren aber doch mit einigen Zeichen der Beschämung über ihr Betragen von ihm gegangen. So hatte sich der feurige Mann in seinem ganzen Leben nicht geärgert, und er war schon auf dem Wege, sie als Stöhrer des öffentlichen Gottesdienstes förmlich zu verklagen; allein nach einigen Minuten war seine Hitze vorüber, er schickte hinter den Studenten her, ließ sie freundschaftlich zu einem Abendbrodte einladen, und brachte mit ihnen, da nun beide Partheien wieder besänftigt waren, und jene auf eine anständige Art wegen ihres Betragens um Verzeihung gebeten hatten, einige vergnügte Stunden in seinem Hause zu. — Nur einmahl blieb der gute Mann eine Zeitlang unerbittlich, als er einem seiner Kinder einen groben Fehler vergeben sollte, wodurch sein väterliches Herz zu sehr gekränkt worden war, und wovon ich unten reden werde. —


Seine Gattin war in Absicht ihres Temperaments grade das Gegentheil von ihm. Sie hatte von Kindheit an, fern von der Stadt und allen heitern Gesellschaften in dem Hause ihres Vaters, der auch ein Landgeistlicher war, eine sehr stille und fromme Erziehung genossen, hatte von ihrem zwölften Jahre an bis ins zwanzigste keine Sonntags- oder Wochenpredigt versäumt, und hatte, nach ihrem eigenen Zeugniß, binnen dieser Zeit die [100]Bibel vier- und Arnds wahres Christenthum achtmahl durchgelesen. Dadurch war sie nun das frömmste Mädchen in der ganzen Gegend geworden, und dieß hatte ihrem ganzen weiblichen Charakter so etwas ausnehmend Sanftes, Andächtiges und Unschuldiges gegeben, daß sich ihre Eltern im Besitz eines solchen Kindes unendlich glücklich fühlten, und sie immer ihrer ältern Schwester, die ihnen zu lebhaft war, und noch jetzt beinahe in einem Alter von siebenzig Jahren die Lebhaftigkeit eines jungen Mädchens hat, als das beste Muster der weiblichen Sittsamkeit vorzustellen pflegten. —

Schacks Mutter hatte in ihren Mädchenjahren nie eine Neigung zum Heirathen gefühlt, — eine Neigung, die doch sonst jungen Frauenzimmern sehr natürlich seyn soll; sondern hatte sichs vielmehr immer als das größte Glück gedacht, nach dem Tode ihrer Eltern als eine alte Jungfer in einem Kloster leben und sterben zu können. Ein Wunsch, der ohnstreitig durch ihr etwas kaltes Temperament, und durch das viele Lesen mystischer Bücher, welche im Hause ihres Vaters im größten Kredit standen, erzeugt worden war, und sich anfangs durch keinen Freier aus ihrem Herzen treiben ließ. Dreimahl hatte ihr nachheriger Mann persönlich, und mit aller Beredsamkeit, die ein feuriger Liebhaber nur immer für sein zärtliches Interesse anwenden kann, um ihre Hand angehalten; er hatte die herzbrechendsten Briefe an sie geschrieben; aber jedesmahl [101]unter dem besondern Vorwande abschlägliche Antwort von ihr erhalten: daß sie ihrem himmlischen Bräutigam, dem sie allein ewige Liebe geschworen, nicht untreu werden wollte und könne. —

So sehr man auch ihr, und vornehmlich ihre lebhafte verheirathete Schwester, die von einem irdischen Bräutigam bereits deutlichere Begriffe als von einem himmlischen hatte, jene schwärmerische Idee auszureden suchte: so war sie doch bisher gegen dieß Alles, und selbst gegen die männliche Schönheit ihres Liebhabers, wodurch sonst leichter, — als durch alles Andere weibliche Herzen hingerissen werden, völlig gleichgültig geblieben, bis sie auf einmahl durch einen einzigen kleinen Umstand für ihn eingenommen wurde, den ich hier, so unbedeutend er auch vielleicht scheinen mag, nicht mit Stillschweigen übergehen will, weil er mir ein deutlicher Beweis ist, daß unsere ernsthaftesten Entschließungen nicht immer von langen äußern Vorbereitungen und Veranstaltungen dazu, sondern sehr oft von der stillen Würkung der Zeit, und von denjenigen kleinen Umständen abhängen, welche die Fäden unserer Leidenschaften gerade auf der rechten Seite, — und in einem günstigen Augenblicke berühren. —


Der junge Pastor Fluur, welchem nun schon seit einem Jahre das Bild seines Mädchens un-[102]aufhörlich vor den Augen geschwebt hatte, war an einem schönen Frühlingsmorgen endlich zum viertenmahl ausgegangen, um ihr Herz zu erobern. Halb verzweiflungsvoll über alle seine bisher vergeblich angewandte Mühe, wollte er dießmahl, es koste was es wolle, den letzten zärtlichen Versuch wagen, und hatte sich heute zu dem Ende recht geflissentlich zu adonisiren gesucht. Unter andern sollten ein Paar ganz neue atlaßne schwarze Unterkleider, und eine schneeweiß gepuderte, damahls sehr modige Wolkenperucke das spröde Herz seiner Sophie bestürmen helfen. Weil er aber mit Recht befürchtete, daß jene auf einem Wege von einer starken Meile, und bei einem möglichen Sturme leicht einen Theil ihres Glanzes und ihrer Symmetrie verlieren dürfte, und ihm doch sehr viel daran gelegen war, vor seiner Geliebten dießmahl so galant als möglich zu erscheinen: so hatte er sorgfältig Kamm, Spiegel und Puder mitgenommen, um seine Wolke im Fall der Noth, noch ehe er ins Haus seiner Schönen träte, wieder in Ordnung bringen zu können. —

Nicht weit von Sophiens Wohnung lag ein kleines Wäldchen. Dieß war der Ort, wo der junge schmachtende Geistliche den Himmel schon oft um das Herz seines Mädchens angeflehet hatte; hier wünschte er sehnlichst, bald an der Seite seiner geliebten Braut wandeln zu dürfen, und hier war es nun auch, wo er dießmahl seine Toilette [103]machte, indem er seine Wolke an einem abgebrochenen Weidenstamm zu ihrer Ausbesserung aufhing. Fluur stand jetzt in der possierlichsten Figur von der Welt, im kahlen Kopfe, mit Mantel und Kragen vor seinem ungekünstelten Putztisch, und gab sich alle ersinnliche Mühe, die parallele Lage seiner Locken, welche unterwegs wirklich gelitten hatten, wieder herzustellen. Die Liebe, welche von jeher eine Tausendkünstlerin gewesen seyn soll, schien seine Finger dabei zu beflügeln; ein Puderregen, den er über sie hergoß, gab ihnen bald ihre vorige Weiße wieder, und nach einer halbstündigen Arbeit stand sie zu seiner unaussprechlichen Freude von neuem in ihrem ersten Urglanze da. —

Fluur ahndete nicht, daß ihn sein Mädchen hinter einem Strauche bei seiner sonderbaren Toilette beobachtet hatte; noch weniger konnte er vermuthen, daß dieser Anstand vielleicht allein einen für ihn sehr vortheilhaften Eindruck auf ihr Herz machen würde, — und doch verhielt sichs wirklich so. Sophie hatte grade an dem Tage einen Spaziergang von ohngefähr nach dem Wäldchen gemacht, sie hatte in der Ferne einen Mann in einer sonderbaren Attitüde darin erblickt, und war neugierig genug gewesen, das wunderliche Geschöpf näher kennen zu lernen. Sie erkannte bald zu ihrem größten Erstaunen ihren Liebhaber; allein sie konnte sich nicht enthalten, herzlich über ihn zu lachen. Mit dieser Empfindung, welche oft so son-[104]derbare und unerwartete Wirkungen in der menschlichen Seele hervorbringt, schlich sich Amor in ihr Herz. Sie vergaß ihren himmlischen Bräutigam, dem sie ewige Liebe geschworen hatte; wurde durch die Mühe, die sich ihr irdischer Bräutigam, um ihr zu gefallen, gab, gerührt, und fühlte von dem Augenblick an, daß er ihr nicht mehr wie sonst gleichgültig war. Sie schlich, ohne von ihm bemerkt zu werden, aus dem Wäldchen nach Hause; der nun völlig adonisirte Liebhaber langte auch bald darauf an, und erhielt dießmahl — leichter, als ers geglaubt hatte, das Jawort. Seine liebe Gattin konnte ihm keine frohere Stunde machen, als wenn sie ihn nachher an diese Scene erinnerte; ein heiteres Lächeln verbreitete sich denn allemahl über seine Stirne, und er schien noch im siebenzigsten Jahre ganz das zu fühlen, was er in dem Wäldchen gedacht und empfunden hatte. —


Schack Fluur war das achte Kind aus dieser Ehe, und einer der lebhaftesten Jungen, die je auf einem Steckenpferde geritten haben. Da seine Mutter ein öfteres Wochenbette, so oft sie sich auch dazu bequemen mußte, ärger als den Tod scheute: so pflegte sie auch ihre Kinder gewöhnlich lange zu stillen. Schack hatte bereits schon das zweite Jahr erreicht, und fast alle seine zweiund-[105]dreißig Zähne im Munde, als er noch Muttermilch trank. Dafür war er nun aber auch ein derber fester Junge geworden, der keine einzige von den vielen Schwächlichkeiten kannte, welchen Kinder in den Städten durch eine allzufrühe Entwöhnung von ihren galanten Müttern, noch öfter aber durch die verdorbenen Säfte verbuhlter Ammen unterworfen sind. Als Schack entwöhnt wurde, konnte er schon eine Menge Wörter aussprechen, deren einige er sich nach der Gewohnheit vieler Kinder selbst geschaffen hatte. So nannte er zum Beweis die Brust seiner Mutter, Hammeti. Traurig und unzufrieden schlich er nach seiner Entwöhnung herum, und klagte Tagelang über den Verlust seiner lieben Hammeti, bis ihn sein guter Appetit an andere Speisen gewöhnte. —


Die Schwäche der Nerven in den ersten Jahren unserer Kindheit, der Mangel am Nachdenken und Ueberlegen in diesen Jahren, und vornehmlich der einer Sprache, ohne die es uns so schwer wird, abstrakte Begriffe zu sammeln, und endlich die gleichsam noch im Schlummer liegende Gedächtnißkraft unserer Seele, sind wohl die vornehmsten Ursachen, daß wir uns so wenige Dinge aus jener Zeit zu erinnern wissen. Was wir davon noch in unserm Gedächtnisse übrig behalten haben, sind gemeiniglich dunkele Bilder, die bei ihrem Entste-[106]hen zwar deutlich seyn mochten; nachher aber durch eine Menge neuer und lebhafterer Ideen gleichsam nach und nach in den Hintergrund der Seele geschoben wurden, aus welchem sie bisweilen mit einer schüchternen Schnelligkeit hervorkommen, unser Gehirn durchkreuzen, und wieder verschwinden. Merkwürdig bleibt es immer, daß diese verloschenen Ideen, die wir in der frühesten Kindheit bekommen hatten, oft im späten Alter mit einer Deutlichkeit wieder im Vorgrunde der Seele erscheinen, als ob sie erst ganz neuerlich entstanden wären, und eine Menge wirklich neuerer Vorstellungen gänzlich verdunkeln können. — Es giebt viele Leute, die sich aus ihrer spätern Jugend weniger, oft gar keine Begebenheiten erinnern können; ob sie gleich die, aus den allerersten Jahren ihrer Kindheit mit einer vollkommenen Deutlichkeit behalten haben, deren ich ein Paar aus dem Gedächtnisse Schacks mittheilen will, weil sie allerdings mit zur psychologischen Geschichte seines Romans gehören. —

Die erste ist folgende. Schack saß einst des Mittags schräg seinem Vater gegenüber bei Tische. Es wurde eine Suppe aufgetragen, die Schack sehr gern aß, und von welcher er durchaus zuerst seine Portion haben wollte. Allein sein vernünftiger Vater hatte sichs ein für allemahl zum strengsten Gesetz gemacht, seine Kinder nie durch eine zu pünktliche Erfüllung ihrer Wünsche zu verwöhnen, [107]noch auch den jüngern vor den ältern Vorzüge einzuräumen. Er sahe es ein, daß jenes Verwöhnen eine vernünftige Erziehung unendlich erschweren, wo nicht gar fruchtlos machen, und daß dieses Einräumen gewisser Vorzüge leicht die traurigsten Erbitterungen zwischen Eltern und Kindern oft lebenslang verursachen könne. Schack bekam daher nicht zuerst von der Suppe, die er ohnedem mit so vielem Ungestüm gefodert hatte; sondern mußte zu seinem größten Verdruß warten, bis die ältern Geschwister nach der Reihe ihren Theil bekommen hatten. —

Dieß und der derbe Verweis, welchen Schack von seinem Vater bekam, und vornehmlich, daß dieser seiner Gattin den Teller aus der Hand nahm, welchen sie dem ungestümen Forderer zuerst reichen wollte, brachte ihn ganz ausser sich. Er fühlte einen innern Drang sich zu rächen, und seine Wuth fand auch bald ein bequemes Mittel dazu; er ergrif hastig den vor ihm liegenden zinnernen Löffel, und warf ihn seinem Vater ins Angesicht. Schacks Vater erschrack nicht wenig über diesen kühnen Streich seines zweijährigen Kindes. So lieb er auch den feurigen Jungen hatte, so konnte er sich doch nicht enthalten, ihn derb zu züchtigen, und diese Scene steht noch lebhaft mit allen Umständen vor Schacks Augen, ob sie gleich vor etlichen zwanzig Jahren geschehen ist. —


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Ich muß ein paar Umstände anführen, welche zugleich gelegentliche Ursachen seines heftigen Zorns wurden. Es war eine Cousine bei der Mahlzeit gegenwärtig, welche er sehr liebte, und die sich jetzt auf eine launige Art über sein Betragen aufhielt. Es that ihm in der Seele weh, daß er sich in ihren Augen heruntergesetzt sah, und daß sich diese seine so geliebte Gespielin mit seinen übrigen Geschwistern zu einem spöttischen Gelächter über seine Unarten, wozu ihn sein Hunger zu legitimiren schien, vereinigte.

Ueberdem war ihm sein Vater in den ersten Jahren seiner Kindheit, wegen seiner strengen Erziehung gewissermaßen verhaßt; — so unaussprechlich er ihn auch nachher zu lieben anfing, und so innig noch jetzt seine ganze Seele an dem Bilde des Seligen hängt. Schack blieb gemeiniglich ganz gleichgültig, wenn sein Vater über Schmerzen seines Körpers klagte, ja er gönnte sie ihm oft gar; gab ihm selten im Herzen Recht, wenn er sich über andere ärgerte, beneidete ihn oft mit einen innern verbissenen Unwillen, wenn er sich das beste Stück bei Tische vorlegte, oder vom Rande des Hirsebreies die geschmolzene braune Butter für sich abstrich, und fühlte sich nie glücklicher, als wenn sein Vater nicht zu Hause war.

Dagegen liebte er seine Mutter, da sie seiner Lebhaftigkeit freiern Lauf ließ, und ihn oft — vielleicht mit zu vieler mütterlicher Zärtlichkeit gegen [109]die Strenge seines Vaters in Schutz nahm, unaussprechlich. Noch jetzt denkt er oft mit einem Gefühl der süssesten Freude, und einer Wehmuth, die ihm nicht selten heiße Thränen ins Auge gießt, an die glücklichen Stunden seiner Kindheit zurück, wo er des Umganges seiner guten Mutter genoß; wo er neben ihr über die lachenden Wiesen seines Dörfchens hüpfte, das Gärtchen mit Kohl bepflanzen half, und das Gras unter der Sichel der Mägde fallen sah, was in ihm eine sonderbare Sensation hervorbrachte. Noch schweben ihm alle die Bilder seiner kindischen Glückseligkeit vor den Augen, wenn er seiner Mutter ein Bouquet von Blumen zur Kirche bringen, mit ihr die Garben des abgemäheten Feldes zählen, den Schnittern Erfrischungen reichen, auf seinem Steckenpferde mit einem Aehrenkranz um den Arm, an dem ein rothes Bändchen flatterte, nach Hause reiten, und denn auf ihrem Schoße einschlummern konnte. Solch ein herzliches, inniges, unbeschreiblich süsses Gefühl der Glückseligkeit hat er nie wieder in spätern Jahren empfunden, und wirds auch nie wieder empfinden. —

Nichts war aber seinem Herzen schmerzlicher, und unausstehlicher, als wenn seine Mutter von ihrem Tode sprach, wovon sie immer einige Vorbedeutungen gehabt haben wollte; oder wenn sie nach ihrer Gewohnheit Lieder vom Tode und ewigen Leben sang. Er lief alsdenn entweder so schnell er [110]konnte weg, oder hielt sich die Ohren zu, oder fing auch bitterlich zu weinen an, indem er dabei seine Mutter ängstlich umarmte, und ihren Gesang mit seinen Küssen zu unterbrechen suchte. Schack hatte gegen alle diese Lieder eine erstaunliche Antipathie; sonderlich war er gegen eins: Wenn mein Stündlein vorhanden ist etc. aufgebracht; ob er gleich die Lieder mit mehrerem Vergnügen singen hörte, worin von den Qualen der Gottlosen in der Hölle die Rede ist. —

Wurde seine Mutter vollends krank: so hatte er Tag und Nacht keine Ruhe. Oft both er alsdenn, indem ihm die heißen Thränen über seine Wangen liefen, Gott um Verlängerung ihres Lebens; saß stundenlang mit geängsteter Seele, ihre Hand fest in der seinigen, vor dem Bette, und erboßte sich dabei nicht selten gegen seinen Vater, welcher ihm bei den Kränklichkeiten seiner Gattin viel zu kalt und gleichgültig zu seyn schien. Er gerieth aber alsdenn vollends in eine Art Verzweifelung, und litte unaussprechlich, wenn seine Mutter sich die Gesänge bestellte, welche bei ihrer Leiche gesungen werden sollten, welches sie fast bei dem Anfalle jeder Krankheit zu thun pflegte. — Kurz seine Mutter war ihm Alles; war ihm das höchste Gut der Erde und seine liebste Gesellschaft. Es kränkte ihm tief in der Seele, wenn sie bisweilen unzufrieden mit ihm zu seyn schien, so wie er sich hingegen unendlich glücklich fühlte, wenn sie ihm [111]einen zufriedenen Blick zuwarf, und andern seine Artigkeit rühmte. Der erste Gedanke, wenn er des Morgens erwachte, war sie, und er eilte, so viel er konnte, ihr immer das kindliche Opfer seiner Liebe zuerst mit einem herzlichen Kusse zu bringen. Er glaubte dazu ein größeres Recht als sein Vater zu haben, und es ist ihm noch sehr erinnerlich, daß er es nie ohne Unwillen und Eifersucht ansehen konnte, wenn sein Vater seiner Gattin einen Kuß gab, oder mit ihr zu scherzen anfing. —

Rousseau, dieser große Kenner des menschlichen Herzens, urtheilt sehr richtig, wenn er in seinem Emil (1. Band. 1. B. Not. 1.) a den Müttern wegen ihres größern und natürlichern Einflusses auf das Herz ihrer Kinder, auch ein größeres Recht zu ihrer ersten Bildung und Erziehung, als den Vätern einräumt, welche nach seiner Meinung durch ihre Ehrbegierde, ihren Geitz, ihre Tyrannei, ihre falschangewandte Vorsichtigkeit, ihr nachlässiges Wesen, und ihre harte Unempfindlichkeit den Kindern oft viel schädlicher, als die Mutter durch ihre blinde Zärtlichkeit werden. —


Eine andere Begebenheit, welche sich mit unauslöschbaren Zügen in Schacks Seele aus den frühesten Jahren der Kindheit abgedrückt hat, ist diese. Als seine Eltern und Geschwister eines Tages ru-[112]hig bei einander sassen (es war im dritten Jahre des siebenjährigen Krieges) b hörten sie auf einmahl vor der Thür einen entsetzlichen Lerm, und ehe sie sichs versahen, trat ein ungarischer Husar mit tausend Flüchen in die Stube, und forderte von Schacks Vater eine Summe Geld, die dieser, da er ohnedem schon zweimahl von den Feinden ausgeplündert war, unmöglich anschaffen konnte. Er suchte ihn zwar gleich anfangs durch eine angenommene Höflichkeit, und noch durch ein anderes Mittel zu beruhigen, wodurch er schon oft die ungestümsten Söhne des Mars in einem Augenblicke zu Lämmern umgeschaffen hatte, — indem er ihm Brandewein und Frühstück vorsetzen ließ. Der Husar trank auch das Glas einigemahl auf die Gesundheit seiner Theresel, so nannte er die Kaiserin Königin, aus; allein er fuhr demohnerachtet unter den fürchterlichsten Drohungen, indem er sogar die Flinte gegen Schacks Vater richtete, fort, die Summe von hundert Pistolen zu fordern, und die schrecklichsten Verwünschungen gegen die ketzerischen Pfaffen auszustossen. Schacks Vater hatte noch eine halbe Pistole in seinem Vermögen, diese drückte er gutmüthig dem Husaren in die Hand, und versicherte ihm heilig: daß er ihm gern mehr geben wolle, wenn ihn die Feinde nicht schon zweimahl zu einem armen Manne gemacht hätten. Allein der Bube wurde dadurch, gleichsam als ob er durch eine so kleine Gabe beleidigt worden wäre, noch mehr aufgebracht, warf [113]das Goldstück verächtlich, und mit Ungestüm auf die Erde, und zog den alten Fluur mit sich gewaltsam fort, daß er ihm das verlangte Geld durchaus von seinen Bauern herbeischaffen sollte. Schack gerieth durch den Anblick des schnurrbärtigen Kriegers, durch seine brüllende Stimme, und durch die Behandlung gegen seinen Vater in die größte Unruh. Er meinte, es sey nun gewiß um sein Leben geschehen, und fing daher aus allen Kräften zu schreien an. Der Husar wurde dadurch noch mehr in Hitze gebracht, stürzte mit einer grimmigen Miene und gezogenem Säbel auf den schreienden Knaben los, und sagte, oder brüllte eigentlich die Worte, welche Schack noch immer zu hören glaubt: Wenn Du nit schwaigst, kleine Canalge, so hau ich Dir halter den Schop herunter! Schacks Vater fiel dem tollen Kerl, welcher sich rühmte, schon manches Ketzerkind von einander gespalten zu haben, in die Arme, verwieß es ihm sehr derb, daß er seine Courage an einem unschuldigen Kinde auslassen wolle, und warf ihn endlich, ohne sich weiter vor seinen Drohungen zu fürchten, zur Thür hinaus. Dieser Kerl hat sich so tief in Schacks Seele eingeprägt, daß er ihn noch mahlen könnte. Seine kleine etwas bucklichte Gestalt, sein hageres braungelbes Gesicht, das in der Mitte durch einen, zwei griechischen Circumflexen ähnlichen großen Knebelbart durchschnitten wurde, seine Narbe auf der einem Backe, seine kleinen feurigen Augen, sein krummer [114]blitzender Säbel, kurz Alles ist ihm noch von diesem Kerl erinnerlich. —


Im dritten Jahr seines Alters wurde Schack, um ihn nur vorerst ans Stillsitzen zu gewöhnen, in die Dorfschule geschickt. Nichts war ihm unausstehlicher, als diese Einschränkung seiner bisherigen Freiheit. Er ging anfangs nie ohne Weinen dahin, und alle Mittel, selbst die Leckereien, welche man gebrauchte, um ihn zu beruhigen, waren für ihn nichts als traurige Erinnerungen an den Schulzwang, dem er sich unterwerfen mußte. Er betrachtete die Schulstube als einen Kerker, in welchem er eingesperrt werden sollte, und er konnte es nicht begreifen, warum sich eine so große Menge von Schulkindern nicht vereinigten, um auf immer diesen Kerker zu zerstöhren. Dazu kam noch das hämische Wesen seines Schulmeisters, der ihm schon lange der unausstehlichste Mensch gewesen war, und es nun noch mehr werden mußte, da er einige Gewalt über ihn bekam. —

Dieser Schulmeister, der wahrscheinlich noch lebt, war einer der größten und kaltblütigsten Schultyrannen, die je über den Rücken junger Leute geherrscht haben; ein Mensch von dem schwärzesten Charakter, und mit einer solchen sich auszeichnenden heimtückischen Judasphysiognomie, daß man ihn nur ansehen durfte, um sich über ihn zu ärgern. Es giebt Leute, die ohne Zank nicht leben können; [115]immer neue Gelegenheit dazu suchen, und immer bereit sind, andern etwas Bitteres und Unangenehmes zu sagen. Zu dieser abscheulichen Klasse von Menschen gehörte P**. Es wurde ihm leicht, durch eine dummspöttische Miene, und das boshaft satyrische Gift, welches er in seine Worte zu mischen wußte, die kältesten Leute in Wuth zu setzen. Er selbst blieb, wenn sich andere halbtodt ärgerten, kalt wie eine Bildsäule, lachte ihnen dabei höhnisch ins Gesicht, verwunderte sich auf eine beleidigende Art, daß sich sein Gegner so wenig in seiner Gewalt habe, und wußte durch seine beissenden Ironien den Aufgebrachten gemeiniglich soweit zu bringen, daß er vor innerer Wuth stillschweigen mußte, und jener also allemahl triumphirend das letzte Wort behielt. Ein Kunstgrif, wodurch es ihm gemeiniglich gelang, den lebhaften Pastor Fluur zum Stillschweigen zu bringen. An diesem Manne ließ er vornehmlich die ausgedachtesten Stückchen seiner Bosheit aus. Er hielt sich, z.B. Hunde, welche durch ihr nächtliches Bellen den Pastor Fluur im Schlafe stöhren mußten; oft sang er ganz andere Lieder, die ihm sein Prediger nicht aufgegeben hatte, so, daß dieser entweder zu zeitig, oder zu spät auf die Kanzel kam. Und ihn sogar in seiner Predigt zu stöhren, eine Bosheit, die unerhört ist, ließ er oft Viertelstundenlang eine Pfeife der Orgel heulen, welches er durch einen Zug des Registers hätte vermeiden können. Selten pflanzte sein Prediger junge Bäumchen, die er nicht [116]umknickte, oder wenigstens beschädigte. Seine Zunge war unaufhörlich geschäftig, ihn zu verläumden, und die unschuldigsten Vergnügungen, die sich der alte Fluur mit seinen Kindern machte, als Unanständigkeiten auszuposaunen; — ja er nahm sichs sogar bisweilen heraus, ihm auf eine unschickliche und grobe Art beim öffentlichen Gottesdienste zu widersprechen, wenn Fluur über die schlechte Beschaffenheit der Dorfschule klagte, und Mittel zu ihrer Verbesserung vorschlug. Kurz es ist unbeschreiblich und übersteigt allen Glauben, wie sehr dieser böse Mensch die Tage seines rechtschaffenen Predigers verbitterte, und wie vielen Schaden sein böses Herz in der Gemeine stiftete. —

Der gute Fluur klagte sein Leiden oft den Inspektor des Kirchsprengels Frosch; aber er wurde nicht gehört. Der Inspektor war der hohe Gönner aller Schulmeister, die ihm allerlei Neuigkeiten von seinen Predigern brachten, auch P** war sein Spion, und Fluur konnte also nichts ausrichten. —

Der Inspektor gehörte unter diejenigen verachtungswürdigen Menschen, welche in ihrer Jugend allen Ausschweifungen ergeben sind, und im Alter Heuchler und Pietisten werden. In Jena hatte Frosch das liederlichste Leben geführt, war aber demohnerachtet durch das Ansehn seines Vaters gleich nach seiner Zurückkunft von der Akademie Prediger geworden, und hatte bald darauf die Aufsicht über eine wichtige deutsche Schulanstalt erhalten, über [117]welche er mit einem unerhörten theologischen Despotismus zu herrschen anfing. Die Lehrer und Schüler derselben zitterten schon vor seinem Nahmen. Sein Wink war ein strenger Befehl; alles gehorchte, ohne zu widersprechen, so unpädagogisch auch oft seine Befehle und Einrichtungen waren. Die kleinsten Fehler, oft ganz unschuldige Vergnügungen derer, welche auf der Schulanstalt keine Pietisten waren, das heißt, eigenes Haar, Manschetten, blanke Knöpfe, und farbige Kleider trugen, den Kopf nicht hingen, und die Worte Gnade und Wiedergeburt nicht alle Augenblicke seufzend im Munde führten, wurden gemeiniglich mit der größten Strenge, und nicht selten wider alle Gerechtigkeit und Menschenvernunft mit der Cassation bestraft. Destomehr Gewalt hatten die frommen Creaturen des Inspektors. Diese waren seine rechte Hand; aber eben so viel kleine Tyrannen, die einen jeden, der nicht so wie sie heuchelte, verfolgen und bestrafen durften, wenn sie seiner habhaft werden konnten. Zum Theil waren es schwache einfältige Köpfe, die durch eine mystische Frömmigkeit, welche ihnen den Gebrauch der gesunden Vernunft in Religionssachen untersagte, auch nach und nach allen Geschmack am Schönen und Edeln verlohren hatten, sobald es mit ihrer mystischen Religion in keiner Verbindung stand. Ihr ganzer Anzug verrieth die Absicht, warum sie zu existiren glaubten, nehmlich alles [118]Weltliche von sich abzulegen und an nichts, als an ihren Herren Jesum zu denken, den sie beständig im Munde führten, und zum Deckmantel ihrer innern heimlichen Büberei machten. Sie trugen braune Röcke, ungepuderte Perucken, schwarze Unterkleider und — keine Manschetten, welche sie für untrügliche Zeichen eines ausgearteten Weltsinnes hielten. Auf der Straße schlichen sie dicht an den Mauern der Häuser hin, sahen dabei gemeiniglich fern auf die Erde, und seufzten laut, wenn sie ein eitel angekleidetes Frauenzimmer, einen offenen Busen, oder einen Mann in einem mit Tressen besetzten Kleide erblickten. In des Inspektors Hause, wohin die Vornehmsten wöchentlich ein Paarmahl zu einer Betstunde zusammenkamen, spielten sie eben solche lächerliche Rollen. Sie traten mit Seufzen in sein Haus, und mit einer Ehrfurcht in seine Stube, die mehr an Abgötterei gränzte. Kaum wagten sie es, ihr geistliches Oberhaupt anzusehen, und sie schätzten sich unendlich glücklich, wenn sie zum Handkuß des Inspektors gelangen konnten, welcher sie gemeiniglich mit den Worten: der Herr segne Sie! anzureden pflegte. Dieß war der Gruß für seine Söhne in Christo, wie er seine Creaturen nannte. Gegen die sogenannten Ungläubigen betrug er sich ganz anders. Er begegnete ihnen mit einer Steifigkeit und einem Stolze, der nicht seines Gleichen hatte. Alle Prediger seines Kirchsprengels, die nicht zu den Gläu-[119]bigen gehörten, waren jener übermüthigen Behandlung ausgesetzt. Oft würdigte er sie nicht einmahl seines Anblicks, sondern ließ sie durch seinen Sekretär, einen der größten geistlichen Schurken, abweisen, welcher sich dabei ein nicht geringes despotisches Ansehn zu geben wußte, und in der That einen großen Einfluß in die Direktion des Kirchsprengels hatte. —

Der Schulmeister P** hatte den Ton der Frömmigkeit, der in des Inspektors Hause herrschte, abgelernt. Er wußte seine Stirne so heilig zu falten, und seine Augen so andächtig zu verdrehen, daß ihn Frosch für einen kreutzbraven Mann hielt, ob er gleich diesen kreutzbraven Mann gebrauchte, einen armen Prediger zu kränken, der keinen Beruf in sich fühlte, zur Zahl seiner Gläubigen zu gehören. Alle Bubenstücke des Schulmeisters blieben also ungestraft, und der alte Fluur mußte sie — ohne Rettung, tragen. —

Es ist unglaublich, wie hämisch und ungerecht manche Inspektoren mit den armen Landpredigern umgehen, und wie weit sie ihre Begriffe von Subordination über sie ausdehnen. Ich habe die rechtschaffensten und würdigsten Landgeistlichen gekannt, welche von jenen auf die unedelste Art verfolgt und zurückgesetzt wurden, weil sie nicht ihrem Stolze fröhnen, und ihrer Küche dienen wollten. Hingegen hab' ich andere gefunden, welche nicht die Stelle eines Kirchhüters, geschweige eines Predi-[120]gers verdienten, und doch von ihren Inspektoren auf alle Art begünstigt wurden, weil sie niederträchtig zu kriechen, und für die — Speisekammer der Frau Inspektorin, oder der Frau Räthin zu sorgen wußten. —


In der Schule tyrannisirte der Schulmeister P** wie ein afrikanischer Prinz über seine Sklaven. Vornehmlich traf sein Bakel, so nannten die Kinder mit einer unbeschreiblichen Ehrfurcht seinen glatt wie Elfenbein geschlagenen Präceptorstock, diejenigen, deren Eltern ihm keine außerordentlichen Geschenke machten, oder ihn nach seiner Meinung nicht ehrerbietig genug grüßten. Ein anderes Instrument, das er beständig bei der Hand hatte, war eine birkene Ruthe, die alle Morgen, um ihr zu ihren pädagogischen Funktionen destomehr Geschmeidigkeit und Elasticität zu geben, in Wasser eingeweicht wurde. Mit dieser wurden die kleinern Kinder gezüchtigt. Die Ehre, mit dem Bakel geschlagen zu werden, genossen die Größern nur vorzugsweise, und daher entstand die sonderbare pädagogische Eintheilung seiner Zöglinge, in die, welche unter dem Bakel, und die, welche unter der Ruthe standen. —

Ich will noch einiges von seinem Schulunterrichte sagen, welcher der unvernünftigste von der Welt war, und gewiß noch viel seinesgleichen auf dem Lande haben mag, so viel auch seit einiger Zeit von einsichtsvollen Pädagogen zur bessern Einrich-[121]tung der Landschüler, und sonderlich von dem verdienstvollen Herrn von Rochow geschrieben worden ist, dessen Lehrbücher wegen ihrer anerkannten Zweckmäßigkeit und Deutlichkeit, und wegen des sichtbarsten Nutzens, den sie da stiften, wo man sie gebraucht, in allen Dorfschulen Deutschlands eingeführt zu werden verdienten. —

Sobald die Schulkinder des Morgens, ohngefähr sechzig an der Zahl, zusammengekommen waren, trat der Herr Ludimagister mit einer ernsten Miene in die Schulstube, wurde allgemein begrüßt, wobei er nur mit einem Kopfnicken dankte, und begann alsdenn ein Morgenlied, welches aus dem abscheulichsten Geplärr untereinander disharmonirender grober und feiner Stimmen bestand, worin jeder den andern zu überschreien suchte, und zwischen welchen sich ein schnarrender durch die Nase gezogener Baß des Schulmeisters hören ließ. Wer noch nie so etwas gehört hat, kann sich keinen Begrif davon machen, wie unregelmäßig und unanständig die Kinder ins Gelag hineinschrien, — und man kann leicht denken, wie wenig durch einen solchen Gesang das wahre und innige Gefühl der Andacht und Gottesfurcht in den Herzen junger Leute erregt werden mochte. Nach dem Liede folgte ein langer sogenannter Morgensegen, den eins von den größern Kindern vorbetete, und welchen jedes andere, so gut als es konnte, nachmurmeln mußte, so, daß man nichts anders, als einen sausenden Bienenschwarm [122]zu hören glaubte. Dieses Gebet war so wie das Morgenlied voll von unverständigen Ausdrücken und mystischem Unsinn, und nichts weniger als nach den Begriffen junger Leute eingerichtet. —

Nach Endigung dieser sogenannten gottesdienstlichen Uebung nahm der eigentliche Schulunterricht seinen Anfang. Der Schulmeister schlug alsdann gemeiniglich mit seinem Bakel heftig auf den Tisch, und gab dadurch ein allgemeines Zeichen, daß nun jedes Kind aufmerksam zu werden anfangen sollte. Die größern Kinder griffen nach ihren Bibeln, die kleinern nach dem Catechismus oder dem Abcbuch. Jene wurde auch hier, wie in den meisten Schulen — freilich wider allen gesunden Menschenverstand, vom ersten Buch Moses bis zur Offenbarung Johannis ganz durchgelesen, und täglich wurde daraus von dem Schulmeister ein Kapitel erklärt. P** glaubte hierin sehr stark zu seyn, und er ließ sichs oft deutlich merken, daß der Pastor diese und jene biblische Stelle nicht recht, wenigstens nicht so gut wie er, zu erklären wisse. —

Seine große Bibel in der linken Hand, die Feder hinterm Ohr, und den Bakel in der rechten, ging der Schulmonarch während des Erklärens mit einer hochweisen Miene zwischen den Reihen der Kinder einher, fragte bald diesen und jenen mit einem lauten Ausruf seines Namens: ob er ihn verstanden hätte? Machte bald einen andern durch einen unvermutheten Stockschlag aufmerksam; bald ließ er [123]sich gemächlich in seinem ledernen Polster, welchen der stolze Narr sein Catheder nannte, nieder, und beschloß endlich seine exegetische Stunde, c sonderlich wenn er guter Laune war, mit einem lustigen Histörchen, dergleichen er immer verschiedene in Bereitschaft hatte, und die er Erläuterungen seines Textes zu nennen pflegte. Eulenspiegel war vornehmlich sein Held, und durch ihn söhnte er gemeiniglich die Kinder wieder mit sich aus, welche er gezüchtigt hatte. Sobald er Eulenspiegels Namen nannte, war die ganze Schule aufmerksam, einer gebot dem andern tiefes Stillschweigen, ein heiteres Lächeln schwebte auf jedem Gesichte, und die um ihn sassen, streichelten ihm das Kinn, oder drückten ihm schon im Voraus mit Dankbarkeit die Hand. — Ein Beispiel eurer Erbsünde, ihr gottlosen Krabben! sagte er denn gemeiniglich, daß ihr Till Eulenspiegel lieber als Gottes Wort hört! —

Nach der exegetischen Stunde fingen die größern Kinder zu schreiben, und die kleinern zu buchstabiren an. Dieß war das einzige Gute, was Schack in der Dorfschule lernte, und worin er bald glückliche Fortschritte machte. Das Buchstabiren geschah hier, wie in allen Dorf- und Winkelschulen nach einem Abcbuch, welches Schack wegen der darin enthaltenen Holzschnitte sehr lieb hatte, und worin eine Menge einzelner Silben, und in ihre Silben zertheilter Wörter befindlich waren. Ein Kind wurde nach dem andern vor dem Schulmei-[124]ster gerufen, um seine Lektion aufzusagen. Jedes brachte zu dem Behuf einen hölzernen sogenannten Griffel mit, wodurch es jede laut auszusprechende Silbe bezeichnen mußte, indem die andern Kinder die nehmliche Silbe nachriefen. Dieses laute und deutliche Abrufen der Silben, welches ohnedem noch oft wiederhohlt wurde, hatte offenbar den Nutzen, daß sie sich dem Gedächtnisse des Kindes leicht imprimirten, und ihm also das Zusammensetzen der Silben zu ganzen Wörtern, oder das eigentliche Lesen viel leichter werden mußte. Diese einfache Methode, buchstabiren und lesen zu lernen, welche freilich nur in der Gesellschaft mehrerer Kinder, und durch den, bei allem Unterricht so nothwendigen, wenn auch nur mechanischen Trieb der Emulation anwendbar gemacht werden kann, hat viele Vorzüge vor so vielen neuern Methoden, wodurch man den Kindern auf eine spielende Art das Lesen beizubringen sucht. Ich habe bemerkt, daß Kinder auf dem Lande, welche nach jener Methode unterrichtet werden, bei ganz mittelmäßigem Fleiß früher und richtiger zu lesen anfangen, als Kinder in vornehmen Häusern, bei denen man oft Jahre mit den mancherlei Lesemethoden verschwendet, — und doch nichts ausrichtet. Der übrige Theil der Zeit wurde mit Auswendiglernen biblischer Stellen, oder des Catechismus zugebracht. Eher hielt man ein Kind nicht für fähig, die Schule ganz zu verlassen, bevor es nicht die Sonntagsevangelien und [125]Episteln, nebst dem ganzen Catechismus, und den Bußpsalmen auswendig hersagen konnte. Für den Geschicktesten wurde der gehalten, welcher überdem noch ein halbhundert Gesänge auswendig wußte. Dieses Auswendiglernen geschahe gemeiniglich laut. Eins von den Kindern betete vor, und alle schrien una voce nach, welches in einem sonderbaren singenden Tone geschah. —

Nach einem drei- bis vierstündigen Schulzwange, wobei die Kinder oft keinen einzigen deutlichen Begrif gefaßt, die Zeit mit unnützen Auswendiglernen zugebracht hatten, und mancher braun und blau geschlagen war, wurde ein Schlußlied in der Manier des Morgengesanges gesungen, welches gemeiniglich aber noch geräuschvoller war, weil die Freude über den Beschluß die jauchzende Kehle der Kinder füllte. Schack erinnerte sich immer noch mit Vergnügen an dieses Schlußlied. Er gab seine Stimme dazu, ohne daß er etwas von dem Gesungenen verstand, und sein Herz pochte je mehr, je näher man dem Ende des Liedes kam, welches ihn auf ein paar Stunden von dem Kerker der Schule befreite; — aber zu Schacks großem Verdrusse hatte denn bisweilen die Schule noch nicht ihr Ende erreicht, indem es dem Schulmeister noch oft im Kopf kam, ein Gebet aus dem Herzen zu beten, wozu ihn der Inspektor Frosch zuerst aufgemuntert hatte. Nach und nach hatte sich P** eine solche Fertigkeit im Beten aus dem Herzen er-[126]worben, daß er sich für einen großen Meister in dieser Kunst hielt. Sein Prediger machte es ihm hierin nie ganz recht. P** betete daher auch in der Kirche gemeiniglich nicht mit, sondern machte sich bald etwas an der Orgel zu schaffen, oder musterte die Jungen auf dem Chore, oder las sich die Federchen vom Rocke. — Fast so wie der Vormittagsunterricht war der des Nachmittags beschaffen. Es wurde wieder auswendig gelernt, wieder etwas vom Schulmeister erklärt, und zuletzt das Zählen mit den kleinern Kindern vorgenommen, welche die von eins bis hundert auf einer großen Tafel geschriebenen Ziffern laut hersagen, und zusammensetzen lernen mußten. — Eigentlich war aber der Schulmeister selten des Nachmittags in der Schule gegenwärtig. Eine seiner Töchter führte alsdenn das Vicerektorat, und nun hatten die Kinder freilich gute Zeit, indem sie die Vicerektorin mit allerlei kleinen Geschenken zu bestechen, und in ihre Spiele mit zu impliciren wußten. — Unterdessen ging der Schulmeister seiner gewöhnlichen Handthierung nach — bestahl die Obstgärten der Bauern, fing ihnen die Tauben weg, oder setzte Klagen gegen seinen Prediger auf, die er dem Inspektor Frosch bringen wollte. —

Schacks Vater sahe es mehr als zu deutlich ein, wie schlecht und nachlässig die Kinder seines Dorfs unterrichtet wurden. Er hatte dem Schul-[127]meister bessere Methoden vorgeschlagen, hatte seinen Verstand durch allerlei gute Schriften allmählig aufzuklären gesucht; allein alles vergeblich. P** hielt sich einmahl für einen unverbesserlichen Schulmeister, und er widersprach daher seinen Prediger in allen Stücken. Kam sein Prediger, die Schule zu visitiren, wozu die Landgeistlichen im Brandenburgischen ausdrückliche Ordre haben, so ging P** gemeiniglich sogleich aus der Schulstube hinaus, oder fing mit seinem Vorgesetzten oft zu zanken an, so daß dieser fast allemahl unverrichteter Sache wieder weggehen mußte.

Schacks Vater hatte dem Inspektor Frosch von Zeit zu Zeit von allem Nachricht gegeben, und sich einigemahl die Erlaubniß zur Einführung besserer Lehrbücher in der Dorfschule ausgebeten; allein er wurde von ihm immer unter dem elenden Vorwande abgewiesen, daß man sich an alten Einrichtungen nicht vergreifen — und keine Neuerungssucht verrathen müsse, und so blieb es denn auch hier, wie an so vielen andern Orten, wo die furchtsame Behutsamkeit gegen hergebrachte Gewohnheiten für eine heilige Pflicht gehalten wird — beim Alten.

(Die Fortsetzung folgt.)

Erläuterungen:

a: Rousseau 1789.

b: 1759.

c: Exegese: Auslegung, Interpretation von Texten, oft aus der Bibel.

[128]

Inhalt.

Seite
Fortsetzung der drei ersten Bände dieses Magazins. 1.
Zur Seelenkrankheitskunde.
1) Gutachten über den Gemüthszustand des verabschiedeten Soldaten Matthias Mathiesen und des Züchnermeisters T**, eine Schatzgräbergeschichte von Herrn Metzger. 25.
2) Geschichte eines sonderbaren Wahnsinnes und dadurch am Ende verursachten Mordes. 32.
3) Auszug aus einem Briefe über Todeserscheinungen. 38.
Zur Seelennaturkunde.
1) Einige an einem Taubstummen gemachte Beobachtungen, von F. A. Wallroth. 42.
2) Sonderbarer Eindruck einer Liebeserklärung auf das Herz eines jungen Frauenzimmers von C. F. Pockels. 57.
3) Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit von J. L. A. Sch**. 62.
4) Die Menschenmasse in der Vorstellung eines Menschen. 73.
5) Noch etwas für Ahndungsvermögen von L**. 80.
6) Auszug aus einem Briefe aus dem Haag. Nebst einer Beobachtung und zwei Selbsterfahrungen von Herrn van Goens. 87.
7) Schack Fluurs Jugendgeschichte, ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde, von C. F. Pockels. Erstes Stück. 96.
[<129>]

<Verlagsankündigungen.>

Neue Verlagsbücher
vom Jahre 1786

NB. Die mit einem * bezeichneten sind von der Michaelis Messe 1785.

* Bahrdts, D. C. F. Ausführung des Plans und Zwecks Jesu. In Briefen an Wahrheitsuchende Leser, 7tes und 8tes Bändchen. 8.

1 Rthlr.

— — desselben, 9tes 10tes und leztes Bändchen. 8

1 Rthlr.

* — — über das theologische Studium auf Universitäten. 8.

8 Gr.

* — — abgedrungene Replik auf die Erklärung der theologischen Fakultät zu Halle gegen die Appellation ans Publikum wegen einer Censurbedrückung. 8.

4 Gr.

Moritz, Carl Philipp. Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik, welche auch zum Theil für Lehrer und Denker geschrieben ist. m. K. 8.

16 Gr.

* — — Desselben Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte 3ten Bandes 3tes St. gr. 8.

10 Gr.

— — Desselben 4ten Bandes 1tes und 2tes St. gr. 8.

20 Gr.

Obereits, Doktor, gerade Schweizer-Erklärung, von Centralismus, Exjesuiterey, Anecdotenjagd, Aberglauben, Maulglauben und Unglauben, gegen einen neuen Rosenkreutz-Bruder. 8.

5 Gr.

Pyl, D. Joh. Th. Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtl. Arzney-Wissenschaft 4te Sammlung gr. 8.

18 Gr.

[<130>]

Sammlung, neue, der besten und neusten Reisebeschreibungen im Auszuge, mit Kupfern, 2ter oder der alten Sammlung 26ter Band, gr. 8.

1 Rthlr. 8 Gr.

Schröckhs, Joh. Matth. allgemeine Biographie 1r. Th.

1 Rthlr.

— — Desselben Buchs — 3ter Theil, 3te Auflage, gr. 8.

20 Gr.

Spangenbergs Aug. Gotth. kurzgefaßte historische Nachricht von der gegenwärtigen Verfassung der evangelischen Bruder Unität augspurgscher Confession, 8.

7 Gr.

Triumph, the, of benevolence, or the history of francis Wills in two volumes. 8.

Ueber kirchliche Gewalt. Nach Moses Mendelssohn, 8.

5 Gr.

Witte Sam. Sim. Versuch über die Bildung der Völker zur Vernunft, gr. 8.

12 Gr.