ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: II, Stück: 1 (1784)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

Carl Philipp Moritz,
Professor am Berlinischen Gymnasium.

Zweiten Bandes erstes Stück.

Berlin
bei August Mylius 1784.

[<II>]

Nachricht.

Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stücke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen mäßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stück 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es kömmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beiträge sich anhäufen werden.

[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.
Zweiten Bandes erstes Stück.

Zur Seelenkrankheitskunde.

I.

Fortsetzung von Robert G..s Lebensgeschichte oder die Folgen einer unzweckmäßigen öffentlichen Schulerziehung.

Jakob, Ludwig Heinrich

So durchlief Robert einen großen Theil der Stadt, und ward von so vielen Empfindungen bestürmt, daß er unmöglich zu einigen Nachdenken über das, was er gethan hatte, oder über [2]das, was er nun anfangen sollte, kommen konnte. Endlich entschloß er sich zu seinem Vetter, dem er empfohlen war, dem Kriegsrath G. zu gehn, und diesem die Lage der Sachen vorzustellen, und sich bei ihm Raths zu erholen. Nur wenig Menschen sind geschickt oder auch wohlwollend genug, die Gründe aufzusuchen, wornach junge Leute handeln. Es stört ihre Bequemlichkeit zu sehr und befördert ihr Interesse zu wenig, als daß sie sich die Mühe geben sollten zu untersuchen, wie sich Irrthümer in junge Gemüther einschleichen, und wie man den nachtheiligen Folgen vorbeugen könne. Man verläßt sich auf Zeit und Umstände, und glaubt zur Befördrung seiner Ruhe, daß diese doch alles so fügen werden, wie es einmal erfolgen soll. So erwählte auch der Kriegsrath G. das ihm bequemste und sicherste Mittel, gab dem Schüler geradezu unrecht, verwieß ihm seine Unbesonnenheit und rieth ihm, wieder aufs Waisenhaus zu gehn, wo er es durch seine Vermittlung dahin bringen wolle, daß er, ohne Strafe, wieder aufgenommen würde. Da aber Robert diesem Vorschlage kein Gehör geben wollte, wies er ihn, als einen eigensinnigen und verstockten Menschen, von sich, ließ sich von dem Inspektor des Waisenhauses eine Beschreibung seines Betragens schicken, und schickte diese, mit Zusätzen, die ihm der Verdruß über seinen verworfnen Vorschlag eingab, an seine Mutter. Roberten verdroß die Behandlungsart dieses Mannes, [3]der seine Aufführung aus einem so ganz andern Gesichtspunkte ansah, verwarf ihn als einen Mann, der ihn gar nicht kennte, und wunderte sich über sich selbst, daß er sich nicht gleich bei dem Rektor des Gymnasiums hatte einschreiben lassen. Seiner Mutter, glaubte er, wolle er diesen ganzen Verlauf so vorstellen, daß sie nicht anders, als das, was er gethan, billigen sollte. So zog er auf das Gymnasium in die Wohnung des Rektors. Freilich vertrug dieser Aufenthalt und die Behandlung, die er hier genoß, sich ehr mit seiner Gesinnung. Er lebte ohne kindische Aufsicht, mehr für sich; die Schüler waren gegen ihn weit hoflicher, die Lehrer gingen feiner mit ihm um, und er schien überhaupt mehr über sein Thun und Lassen frei beschließen zu können, als an allen bisherigen Orten. Dieß gefiel ihm, und that auch gewiß auf einen solchen Charakter, als Roberts Charakter war, den besten Effekt. Das ungebundne, freie Leben munterte ihn so zur eignen Thätigkeit auf, daß er mit so vieler Lust nie gearbeitet hatte. Durch sein ernstes und gesetztes Betragen erwarb er sich gleich in der ersten Zeit das Zutrauen aller Lehrer, und die Freundschaft aller Schüler; hierunter war besonders ein Herr von Thümmen, mit dem er zusammen wohnte, ein leichtsinniger, aber dabei guter und bei ritterlichen Thaten ehrgeiziger Jüngling. Diesen nahm Roberts männlicher Geist bis zum Enthusiasmus ein, und er glaubte in ihm gleichsam das Ideal zu sehen, [4]das er sich zu erreichen vorgesetzt hatte. V. Th. suchte alle Mittel auf, wodurch er sich ihm gefällig erweisen konnte, und die Art, mit der er vieles ausschlug, was er nicht erwiedern zu können hofte, reitzte ihn noch mehr; inzwischen sah sich doch Robert genöthigt, einen ihm angebotnen Vorschuß so lange anzunehmen, bis er von seiner Mutter Geld zu seiner neuen Einrichtung erhalten würde: denn er war davon, daß er bei seiner Verändrung recht gehandelt hätte, so fest überzeugt, daß es ihm gar nicht einfiel, daß er seiner Entschlüsse wegen getadelt werden könnte. Daher kann man sich sein Erstaunen und seinen trotzigen Zorn erklären, als er kurz darauf einen Brief von seiner Mutter erhielt, der voll der bittersten Vorwürfe war, der ihm endlich den Befehl auflegte, wieder aufs Waisenhaus zurückzugehen, außerdem aber sich nicht die geringste Hofnung zu machen, von ihr je mit einem Heller in Zukunft unterstützt zu werden, und sie habe deshalb den Kriegsrath G. ersucht, sein ganzes Ansehn anzuwenden, und ihm nichts ehr auszuzahlen, als bis er seinen boshaften Eigensinn gebrochen und als ein reuiger Sünder wieder zurückgekehrt sei. ― Gewalt konnte in Roberten nie etwas Gutes bewirken. Er konnte diesen Brief kaum zu Ende bringen. Er stampfte mit den Füssen und schäumte vor Wuth. Er zerriß ihn mit den Zähnen, vermaß sich und schwur fürchterlich, daß er von seiner Mutter nie wieder einen Heller annehmen wolle. [5]Dieß wiederholte er wohl hundertmal, lief dabei im Zimmer umher und als er von ungefähr ein Stück Kreide fand, schrieb ers mit großen Buchstaben an die Thür: »Meine Mutter soll mir nie einen Heller wieder geben.«*) 1 Endlich schrieb er einen Brief an seine Mutter, worinn er sich noch einmal kurz rechtfertigte, sich aber eben so sehr verschwur, nichts von ihr anzunehmen, und gewissermaßen ewig von ihr Abschied nahm. Zuletzt zog er sich an, gab den Brief auf die Post und suchte einsame Spatziergänge, um freie Luft zu schöpfen. Die Menge der Empfindungen, die mit einemmale ihn bis zur Betäubung erschüttert hatten, wurden nun einzeln wiederholt. Es ward ihm angst, wenn er an die Schulden dachte, die er hatte machen müssen, da er kein einziges Mittel vor sich sah, diese zu bezahlen oder auch seine künftigen Ausgaben zu bestreiten. In Haltung seiner Versprechen war er bisher immer so pünktlich und so zuverläßig gewesen, daß ihm der Gedanke, jemanden zu betrügen, gar nicht einmal einfiel. Seine Mutter wollte er schlechterdings nicht wieder um [6]Hülfe ansprechen, es möchte ihm gehn, wie es wolle. So irrte er umher bis es finster wurde, und warf sich innerhalb der Mauer an einer Gartenwand nieder, ohne zu wissen, ob er diesen Abend zu Hause gehn oder hier liegen bleiben sollte. In solchen Stunden floh er jeden Menschen, selbst seine vertrautesten Freunde*); 2 er fürchtete daher, jemanden zu begegnen, mit dem er reden müßte, und ließ sich lieber hier allein von der Angst foltern. Ein Geräusch, das auf der andern Seite der Mauer entstand, unterbrach seine Unruhe; er blickte in die [7]Höhe, und sah in der Dunkelheit nichts, als daß sich eine große Maschiene an der Mauer herunterließ. Er sprang erschrocken auf, und rief so laut er konnte:*) 3 was ist das? und sogleich fiel ein großer Sack vor seinen Füssen nieder, und dabei hörte er einige Ausrufungen des Schreckes. Er lief auf einen Hügel, wo er über die Wand sehen konnte, und erblickte drei bis vier Menschen, die in der schnellsten Flucht begriffen waren. Er hielt sie also für Gartendiebe, und schrie, bis er endlich den Sack anfühlte, und entdeckte, daß Kaffeebohnen drinn waren. Diese Entdeckung bewirkte augenblicklich den schnellsten Uebergang von der Verzweiflung zu der größten Freude und Zufriedenheit. ― O herrlich! rief er einmal über das andre aus, [8]das ist herrlich! Er glaubte nun auf einmal ein Mittel gefunden zu haben, wie er aus seiner Verlegenheit herauskommen könnte. Er wollte Schleichhändler werden ― und das schien ihm auch so leicht und so vortheilhaft, daß er sich keine einzige Schwierigkeit als Hinderniß dachte, und daß er schon hundert verschiedne Wege vor sich sah, wie er sich bereichern und wie er durch die verstecktesten Mittel eine glänzende Rolle spielen könnte, ohne seinem eisern Eigensinne Gewalt anzuthun. Diese vermeinte Rettung machte ihm so eine unerwartete Freude, daß er die heftigsten Ausbrüche davon äußerte. Er nahm den Sack auf seine Schultern, und trug ihn einigemal hin und her, so wie ein Kind, das sich schon immer durch süsse Spiele in der Beschäftigung übt, welche ihm die Eltern als angenehm schildern und wozu es glaubt, daß es einmal schreiten werde. Endlich setzte er den Sack an die Wand und war darauf bedacht, die Leute wieder aufzusuchen, die er gestört hatte, und sich mit ihnen zu vereinen. Er durchsuchte also die Gärten so behutsam als möglich, und entdeckte endlich einen, der aber floh, sobald er ihn gewahr wurde. St. rief er, ich bin kein Visitator. Ihr habt Euch geirrt. Euer Kaffee liegt noch da. Aber es hörte keiner auf ihn, bis er dem einen nachsetzte, und ihn erwischte, da er eben im Begriffe war, über die Wand zu klettern. Jener schrie, er aber hielt ihn fest, und bat ihn, er möchte ruhig seyn: er hätte von [9]ihm nichts zu befürchten. Als nun die übrigen merkten, daß er ganz freundschaftlich mit ihrem Kamerad sprach, kamen sie näher. Er brachte sie bald auf seine Seite, um aber ganz sicher zu gehen, verabredeten sie sich auf einem benachbarten sächsischen Dorfe eine Zusammenkunft zu fernerer Verabredung zu halten. Diese Leute waren Handarbeiter, die sich durch diesen Nebenweg einige Groschen zu verdienen suchten. Robert aber dachte weiter. Er projektirte die ganze Nacht und den ganzen Tag und sah eine unendliche Menge Gelegenheiten, und überlegte, wie er sie am besten benutzen wolle. Er wurde mit dem unterhandelnden Kaufmann bekannt. Die Unterhandlungen dauerten wohl acht Tage, ehe sie einig werden konnten. Endlich wurde festgesetzt, daß der Kaufmann Roberten jährlich zweihundert Rthlr. auszahlen wolle, wofür er ihm die Waaren, die er außer Landes behandle, hereinschaffen sollte. Den Tagelöhnern wurde auch ein gewisser Sold ausgemacht, so, daß sie gleichsam in Roberts Diensten stunden. Zuletzt schwuren sie, wenn einer von ihnen unglücklich werden sollte, sich nie zu verrathen, und daß sie sich im gemeinen Leben nicht kennen wollten. Die drei Handarbeiter setzte er durch seine Versprechungen und Drohungen in ein solches Erstaunen, daß sie sich ihm gern unterwarfen, und sich freueten, von einem so muthigen Manne angeführt zu werden. Sie hielten ihn für einen Studenten, denn er hat ihnen [10]nie weder Namen noch sonst etwas entdeckt, und verlangte auch eben so wenig den ihrigen zu wissen. So brachte ihn also sein unbedachtsamer Eigensinn und seine unüberlegte Hitze zu einem Schritte, der ihm Glück, Ehre und Leben hätte kosten können. Wirklich setzte er dieses Gewerbe drei Jahr mit dem glücklichsten Erfolge fort. Er hatte sich vorgenommen, auch seine Universitätsunkosten durch dieses Mittel zu bestreiten, wenn nicht ein Zufall alle seine Projekte zerstört hätte. Bisher war er noch niemals in Gefahr gekommen, ertappt zu werden. Er führte seine Leute immer so vorsichtig, und spürte die Wege vorher so genau aus, daß er immer ohne den geringsten Verdacht zu erregen, sein Wesen getrieben hatte. Inzwischen hatte er sich auch auf alle Fälle vorbereitet. Er beschäftigte sich die ganze Zeit über beinah mit nichts, als mit körperlichen Uebungen, und der Herr von Th. gab ihm hierzu noch mehr Gelegenheit. Im Ringen und Fechten erwarb er sich eine solche Gewalt, daß er keinen finden konnte, der ihm in Geschwindigkeit und Stärke gleich gekommen wäre, und er schoß mit einer solchen Akkuratesse, daß er unter zwanzigmalen den Hals einer Buteille in einer Entfernung von funfzehn Schritt kein einzigesmal verfehlte. Auf den Wegen seines Schleichhandels war er immer mit zwei Pistolen und einem Degen bewafnet, womit er sich und seine Genossen vertheidigen wollte. Hierzu wurde er nun einmal gezwungen. Ein damali-[11]ger Accisinspektor half selbst oft Schleichhändler mit aufsuchen, und hatte viele ertappt und in Strafe gebracht, worunter sogar sein eigner Vater war. Dieser stieß mit einer ziemlich starken Begleitung auf Roberts Gehülfen; es ward Lerm; die Schuldigen flohen; sie wurden verfolgt, und man schoß nach ihnen. Robert rief den Seinigen zu: sie sollten stehen, und ihre Pistolen auf ihre Verfolger abdrücken. Die Verfolger stutzig; Robert schoß; man hörte winseln; die Visitatoren blieben zurück, und Robert konnte sich mit seiner Rotte retten. Schon früh hörte er das Gerücht, daß der Stadtinspektor gefährlich an der Hüfte verwundet sei, und daß er wohl daran sterben würde. Robert suchte alle mögliche Gründe auf, sich von dieser Schuld freizusprechen; aber es blieb doch eine geheime Unruhe in ihm, die die laute Freude des Pöbels über das Unglück dieses Mannes, und die großen Lobsprüche über den unbekannten Thäter , ihm nicht benehmen konnten, zumal da dieser Mann nach sechs oder acht Wochen wirklich starb. Dieß erschütterte ihn so, daß er sich vornahm, seine Lebensart zu ändern. Er ward immer unruhiger, suchte die Einsamkeit, und fing nun erst an zu untersuchen, ob er wohl recht gehandelt hätte. Verbrechen, glaubte er damals, wäre in seiner Handlung nicht; doch konnte er sich nicht entschließen, je wieder eine verbotne Waare hereinzubringen, und wurde seit der Zeit so gewissenhaft, daß er nicht einmal mit jemanden ge-[12]hen mochte, von dem er wußte, daß er nur eine Kleinigkeit verbotner Sachen bei sich führte*). 4 ― Er beschloß also nach Frankfurt auf die Universität zu gehn, wo er mit 300 Rthlr., die er sich gesammelt hatte, auszukommen hofte. Er lenkte seinen Weg über Königs-Wusterhausen, um einen seiner Freunde, der in einem adelichen Hause Hofmeister war, zu sehen. Ein unglücklicher Besuch für ihn, der ihn Geld, Zeit und Mühe kostete, der aber nothwendig mit allen Nebenumständen erzählt werden muß, wenn die Wirkungen davon nicht sollen mißgedeutet werden, und es kömmt auf Sie an, ob Sie die Fortsetzung dieser Geschichte zu Ihrem Zwecke dienlich finden werden. Ich bin

Ihr Freund

J. L. H. Jakob.

Fußnoten:

1: *) Ein sonderbarer Zug, den ich aber mehrmal bei ihm bemerkt habe. Ausbrüche seines Zorns oder seiner Rache, wenn er sie oft stundenlang wiederholt hatte, fing er an, eben so oft untereinander zu schreiben, daher ich oft ganze Quartblätter voll kurz ausgedrückter Entschlüsse gefunden habe.
J.

2: *) Dieß ist wohl sehr natürlich. Sobald wir andern unsre Empfindungen mittheilen, ist immer unser Wunsch, andre sollen uns Recht geben, und wir sind überzeugt, daß man uns Recht geben wird, sobald wir andern unsre eigne Empfindung so lebhaft mittheilen können, als wir sie empfinden. Ein Mensch aber, der von einer heftigen Leidenschaft getrieben wird, hat durch die Erfahrung gelernt, daß er andern das Gefühl, das die Leidenschaft in ihm wirkt, niemals so lebhaft mittheilen kann, als er es empfindet, und daß also auch das Urtheil jener nie zu seiner Zufriedenheit ausfällt. Er glaubt immer, man werde ihm Unrecht thun, weil man sich nicht in seine Lage zu versetzen wisse. Daher handelt der Mensch bei aufwallenden Leidenschaften gewöhnlich versteckt und heimlich, nicht als ob er glaubte, er handele unrecht, sondern bloß, weil er glaubt, er könne andern, die mit ihm in gleicher Lage stünden, die Rechtmäßigkeit so begreiflich machen.
J.

3: *) Wenn ein Mensch so von den Dingen um sich abgezogen, und durch seine Leidenschaften oder Phantasien auf einen Punkt hingerissen wird, wie hier Robert, so möchte ich wohl wissen, ob es möglich wäre, daß er bei einer ähnlichen unerwarteten und ganz unerklärbarscheinenden Erscheinung nicht erschrecken würde. Denn daß es Schreck war, daß Robert die Worte: Was ist das? so heftig aussprach, glaub' ich gewiß. Denn eben durch diesen heftigen Ausruf, und durch sein rasches Aufspringen, erhielt er Muth, das Ding weiter zu verfolgen, obgleich seine erste Anwandlung Furcht seyn mochte. Der Furchtsame hätte sich gewiß entweder ängstlich verkrochen, oder er hätte geweint und gebetet.
J.

4: *) Was würde wohl Robert gethan haben, wenn die Gelegenheit zu kontrebandiren ihm nicht wäre geboten worden? ― Hätte er sich aufs Bitten bei seiner Mutter gelegt? oder hätte er seine Gläubiger betrogen und wäre Vagabund geworden? ― oder was würde er gethan haben?
J.

[13]

II.

Ein Kindermörder aus Lebensüberdruß.

Nencke, Karl Christoph

Im Jahr 1757 arbeitete ein Raschmacher-Geselle, Nahmens L.. bei einem Raschmacher in Berlin. Er war in die Funfzig, hatte vorher als Kavallerist in der Armee gedient, und wegen eines Bruchs, der ihm nur bei heftiger Bewegung austrat, seinen ehrenvollen Abschied erhalten. Dieser Bruch unterdes mußte doch einige andere Zerrüttungen in seinem Körper verursacht haben, denn der Mensch hatte oft solche Aufwallungen von Hitze, die ihm unbeschreibliche Angst verursachten, so, daß er sich oft in der Nacht im Bette herumwälzte, weinte, und sein Unglück durchs Gebet zu vertreiben suchte. Uebrigens führte er ein ordentliches Leben, war weder ein Säufer noch Schläger, und entschuldigte sich auf Vorhaltung seines heftigen Fluchens bei gewissen Gelegenheiten, daß er es nicht böse meine, und sich solches nur so bei den Soldaten angewöhnet habe. Er hatte bereits in Berlin bei zwei Meistern gearbeitet, die nicht die geringste Klage wieder ihn führten. Von dem einen war er bloß aus der Absicht weggegangen, weil derselbe Kinder hatte, die oft schrieen, welches der Geselle nicht gut vertragen konnte. Als er einst darüber ärgerlich ward und fluchte, und ihm der Meister solches verwieß, sagte er ebenfalls, daß es ja nichts zu bedeuten hätte, wenn es unterdes der Meister übel nehme, so wolle [14]er lieber wo anders in Arbeit gehen, um Unheil zu vermeiden, weil, da sie beide hitzig wären, leicht einmal ein ernstlicher Streit daraus entstehen könnte. Bei seinem dritten Meister kamen seine Beängstigungen öfter. Man rieth ihm, sich zur Ader zu lassen, aber er scheute die Ausgabe von vier Groschen, und thats nicht. Kam seine bange Stunde während der Arbeit, so rissen ihm viel Fäden, und der für den Meister daraus erwachsende Nachtheil ging ihm so nah, und die Furcht, vielleicht bald zu keiner Arbeit mehr tauglich zu sein, war ihm so schrecklich, daß er einst den Wunsch bei sich äußerte: wenn du doch nicht mehr wärst! Diese so schnell gefaßte Idee verleitete ihn in dieser unglücklichen Stunde einen Mordanschlag zu fassen, um seinem Leben ein Ende zu machen. Da der Meister eben nicht zu Hause war, schickt' er dessen Frau, unter dem Vorwand: ihm Käse zu holen, gleichfalls fort. Seine Meisterin hatte ein Kind von ohngefähr anderthalb Jahren, welches sie, da sie wegging, ihrer blinden Mutter zu tragen gab. Der Unglückliche wollte zwar das Kind in der Zeit selbst warten, welches ihm aber die Meisterin verweigerte; weil sich solches für ihn nicht schicke. Kaum war die Frau fort, so ergrif er einen bei der Werkstat nöthigen Hammer, und schlug das Kind mit aller Gewalt auf den Kopf, so, daß es in den Armen der blinden Großmutter verschied. Seine Angst war so groß, daß er sich, wie er hernach im Verhör bezeugte, nicht ein-[15]mal erinnern konnte, auch der blinden Frau einige Schläge gegeben zu haben, und er also in einem wahren Paroxismus von Raserei gewesen. Sogleich nach der That ging er zu einem Nachbar, erzählte ihm die Ermordung des Kindes, und daß er nunmehr auf die Wache gehen, und sich angeben wolle. Doch war er noch in einer solchen Verwirrung, daß er um ein ihm versprochenes Pflaster für seinen bösen Fuß bat. Der Mann, dem er es erzählte, hielt es für Scherz, ging jedoch in des Meisters Haus, sich näher zu erkundigen, wo denn schon Lärm geworden und die Wache herbei gerufen war, mit welcher der Mörder ohne Widerrede fortging. Er gestand im ersten Verhör die ganze That. Auf den Medizinal-Bericht des Hofrath Lesser, daß der Inquisit bei Begehung der That seines Verstandes nicht mächtig gewesen, verurtheilte ihn der Kriminal-Senat zu ewiger Gefängnißstrafe: der König aber schärfte das Urtheil dahin; daß Inquisit, weil er ein Kindermörder, ohne Geistlichen auf den Richtplatz geführet, mit dem Schwerdt vom Leben zum Tode gebracht, und sein Körper verscharrt werden solle.


Was ich jetzt noch von einem sehr merkwürdigen Fall, der das Vermögen der Seele beweißt, künftige Dinge zu ahnden, berichten will, ist mir von einem glaubwürdigen Officier, dessen Nahmen mir jedoch entfallen, in Breslau erzehlet worden.

[16]

III.

Desertion aus einem unbekannten Bewegungsgrunde*). 1

Nencke, Karl Christoph

Ein Soldat des ehmals von Schulz-, nunmehro von Tauenzienschen Regiments, der nicht weit von Breslau zu Hause gehörte, sich jederzeit gut aufgeführt, und die Liebe seines Kapitains und aller Officiers erworben hatte, kam einst einige Tage vor der Revüe zu seinem Kapitain, und bat ihn um Urlaub zu seiner Mutter zu gehen. Der Kapitain stellte ihm vor, daß er es sehr gern thun würde, wenn es nicht so kurz vor der Revue wäre, und er überdieß viel Kranke bei der Kompagnie hätte. Allein der Supplicant versicherte, daß er fort müßte, er hätte eine Angst nach Hause, und es wäre ihm immer, als ob jemand ihm zuriefe: geh zur Mutter! Und, setzte er hinzu, wenn Sie mich nicht mit Güte gehen lassen, so gehe ich mit Gewalt, und sollts auch mein Leben kosten. Der Kapitain, wel-[17]cher dies für eine kindische Drohung hielt, vernachlässigte, ihn in die Wache zu setzen, weil er ein zu großes Zutrauen zu ihm hatte. Gegen Mitternacht unterdeß, unternahm der Mensch wirklich seine Desertion. Weder Wälle noch Graben, noch die vielen Schildwachten, die damals wegen der häufigen Desertionen scharfe Patronen gehabt haben sollen, konnten ihn abschrecken. Da er gleich beim ersten Wall sein Bajonet in die Erde stecken müssen, um sich an einem daran befestigten Strick herunterzulassen, so entdeckte ihn sogleich die nächste Schildwacht und gab Feuer auf ihn. Dieß störte ihn unterdeß nicht, und unter dem Feuer von beinahe dreißig Posten kam er dennoch, welches nach der Beschreibung seines Weges fast ein Wunder gewesen sein soll, glücklich aus den Vestungswerken heraus. Er lief, so zu sagen, in einem Athem nach Hause, wo er erst gegen Tage ankam. Hier fand er wieder Vermuthen die Hausthür ganz offen, und als er eben in die Stube trat, waren zwei Spitzbuben beschäftigt, seine Mutter zu knäbeln. Bei seinem Anblick glaubten sie sich verrathen, und ergriffen sogleich die Flucht, ohne die bereits zusammengepackten Effekten mitzunehmen. Nachdem er also seine Mutter vielleicht gar von einem bevorstehenden schrecklichen Tode gerettet, fand er sich wieder von selbst beim Regiment ein, wo er wegen des sonderbaren Zufalls mit einer gelinden Strafe davon kam.

Fußnoten:

1: *) Ich ziehe diese Erzählung mit zur Seelenkrankheitskunde, weil solche Ahndungen, wenn es wirklich dergleichen giebt, doch höchstwahrscheinlich immer einen kranken Zustand der Seele verrathen, weil sich das Vermuthungs- oder natürliche Vorhersehungsvermögen auf Kosten der übrigen Seelenfähigkeiten zu stark äußert.
A. d. H.

[18]

IV.

Ein sonderbarer Hang zum Stehlen. a

Nencke, Karl Christoph

Voriges Jahr ließ sich ein Rekrut bei dem Grenadierbattaillon von Scholten an der sächsischen Gränze wieder engagiren. Er gab vor: zuletzt aus der Vestung Schweidnitz desertirt zu seyn, und bei verschiedenen Regimentern gedient zu haben, wo er immer von einem an das andere abgegeben worden. Man versprach sich anfänglich nicht viel Gutes davon. Allein er hielt sich einige Monath sehr ordentlich, machte keine Excesse, war kein Säufer, verrichtete seinen Dienst, und hatte überdieß eine gute Gestalt und Positur. Endlich wurde er wegen einiger unbedeutender Diebstähle zur Verantwortung gezogen. An einem Ort nahm er einen Hammer und warf ihn auf die Straße, wo er sich nicht weiter darum bekümmerte, bis ihn endlich ein paar Tage drauf der Geldmangel nöthigte, ihn wieder aufzuheben und zu verkaufen, wodurch seine Dieberei entdeckt wurde. Bei einem Kaufmann nahm er ein halb Pfund Gewicht, welches man noch bei ihm fand. Er gestand im Verhör, daß weder Liederlichkeit noch Noth ihn zum Stehlen reitzten, welches auch Zeugenaussagen und andere Umstände bewiesen; allein er hätte einen unwiderstehlichen Hang, Dinge, die er oft gar nicht zu nützen wüßte, zu stehlen. Der Paroxismus überfiel ihn mit Zittern und entsetzlicher Angst, und er wäre nicht ehr [19]ruhig, bis er etwas genommen. Oft fiele er mitten in der Nacht in diesen Zustand, wo er aufstehen und das erste beste ergreifen müßte, was ihm in die Hände fiele. Oft ergriffe er in dieser Angst, Töpfe und andere zerbrechliche Sachen, die er denn in Stücken zerschmisse, und sodann ruhig wäre. Dieses Unglück sei die Ursach, warum er von einem Regiment an das andere abgegeben worden. Die schreklichste Strafe wäre bei ihm fruchtlos, denn er sei in diesen Anfällen seiner Sinnen gar nicht mächtig; übrigens glaube er, daß ihm böse Leute etwas angethan. Er glaubte mit einer leichten Strafe davonzukommen, versprach, so viel möglich auf seiner Hut zu seyn, oder wenigstens den Diebstahl sogleich anzuzeigen; aber das Stehlen ganz zu lassen, könne er nicht versprechen; allein er wurde als ein incorrigibler Dieb, nachdem ihm die Haare abgeschnitten worden, über die Gränze gebracht.


Auch hat mir ein noch lebender Staabsofficier erzählt: daß er einen reichen Kavalier gekannt, der sich nicht entbrechen können, hin und wieder etwas einzustecken, solches aber nach einiger Zeit seinem Eigenthümer wieder einhändigen zu lassen.

Berlin den 14ten November 1783.

Nencke.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Wingertszahn 2011, insbes. S. 100-103.

[20]

V.

Geschichte eines Hofmeisters oder die traurigen Folgen einer melancholischen Gemüthsart bei einem Erzieher.

Seidel, Johann Friedrich

Zu Michaelis 1781 hatte ich einen Auftrag, für einen Mann, den ich kenne und schätze, einen Hofmeister für seine Kinder und für noch einen Knaben, der ihm vom Lande zur Erziehung übergeben war, zu besorgen. Es fand sich endlich jemand, den ich zwar selbst nicht kannte, der mir aber von seinem Verwandten, einem rechtschaffenen Mann, als ein guter und geschickter Pädagoge geschildert wurde, und besonders ward er mir von der Seite gerühmt, daß er viel Geduld besitze. Ich erhielt auch bald nach seiner Ankunft die Versichrung, daß man mit diesem Manne zufrieden se` und daß er sich in seine Lage gut zu schicken wisse. Allein dieß währte nicht lange. Der folgende Brief schildert den so sonderbaren und gemischten Karakter dieses Hofmeisters, daß ich ihn wohl des weitern Nachdenkens werth halte. Ich lasse den Mann, der ihn schildert, selbst reden, und wenn man etwa hie und da einen Ausdruck finden wollte, der vielleicht dem kaltblütigen Leser einigermaßen zu hart oder zu wenig ausgeschmückt zu sein scheint; so bedenke man, daß dieser Brief nicht zum Druck selbst, wozu ich nun Erlaubniß habe, geschrieben war, und man wird [21]überdies überall den Gewissenhaften, den Einsichtsvollen reden hören, der freilich bei der ganzen Erzählung am stärksten interessirt war.

Am 19ten Januar 1782.

Dieser Mann erhielt einige Tage nach seinem Aufenthalte bei mir gegen Sie, mein Theurer, schriftlich, und gegen Herrn C. mündlich das vortheilhafteste Zeugniß, das man einem solchen Manne nur geben kann, und er verdiente es damals. ― In der Folge sah ich, sah meine Frau manches, was uns nicht so allerdings gefiel; was uns wohl schon etwas hätte verrathen können, was doch aber noch nicht von der Beschaffenheit war, daß ich darüber hätte mit ihm Rücksprache nehmen müssen. Dieß Etwas betraf nicht seinen Fleiß im Unterrichte, auch nicht seine Lehrart, ob ich gleich mit der auch nicht allerdings zufrieden war, und deshalb öfter mit ihm sprach; auch nicht seine Aufsicht über die Kinder, denn diese war eben so genau, als sein Fleiß im Unterrichte treu war; sondern ein gewisses unanständiges Verhalten gegen die Kinder, selbst in unsrer Gegenwart. Z.B. er machte, wenn die Kinder, besonders der kleine M. über Tische eine oder die andre, freilich oft kindische Frage that, worüber er belehrt sein wollte, beiden und besonders dem letztern wahre todtschlägerische Mienen. Er nahm es sich nicht übel, ihm in unsrer Gegenwart zu sagen: schmatzen Sie nicht so, wie ein Schwein! Wenn das Kind ihm nach [22]Tische die Hand küssen wollte: so stieß er es mit einer fürchterlichen Miene von sich, oder drehte es bei beiden Armen herum, daß es von ihm fortturkelte, u.s.w. Dieß alles ist bereits vor mehr als sechs Wochen geschehen. Seit eben so vieler und vielleicht noch längerer Zeit bemerkten wir an dem jungen M. ― denn mit diesem hat er, wie Ihnen die Folge sagen wird, seine Rolle hauptsächlich gespielt ― bald an den Backen, bald am Knie, bald am Halse blaue, gelbe und schwarze Flecke. Das Kind wurde darüber befragt, und die Antwort war: es hätte sich durch das Wälzen im Bette, an der Bettstelle gestossen. Herr G. (der Hofmeister) bekräftigte dieß gefragt und ungefragt; und that noch obendrein, um sich destomehr zu verstecken, sehr böse darüber. Noch weiterhin und gegen Weihnachten zu, beobachteten wir, daß beide Kinder, vornämlich aber wieder der kleine M., eine wahre knechtische Furcht vor ihrem Lehrer hatten, die so weit ging, daß wenn etwa meine Frau ihn etwas, was ihm angenehm war, thun hieß, er erst etlichemal seinen Lehrer ansah, ob der auch die Gnade hatte, darein zu willigen; bis es meine Frau mit Ernst noch einmal sagte. Schon aus diesem mehrmals merklich gewordenen Ernste hätte der Mensch, hätte er ein redliches Herz, richtige Erkenntniß davon gehabt, daß wir bei den Kindern mehr gälten, als er; und wäre er nur im Schlafe Beobachter gewesen, merken sollen, daß uns eine solche Erziehungsart [23]nicht gefiele. Wie er es gemerkt, und, wenn er es gemerkt, angewandt habe: das soll Sie die Folge lehren. In dem ersten Froste vor Weihnachten, der ziemlich scharf war, merke ich mit einemmale ein starkes Gepolter in der Kammer, die an meiner und Herrn G. Stube stößt. Ich höre es noch einmal, und dabei die winselnde Stimme des kleinen M. Ich sehe heraus, und siehe, der arme Junge steht in der schrecklichen Kälte mit Thränen in den Augen, und mit von Frost aufgetriebenen Händen da. »Was machen Sie hier?« ― Herr G. hat mich zur Strafe hiehergestellt. ― »Warum das?« ― Ich habe mein Adjektivum nicht gekonnt. ― Das Blut stieg mir zu Kopf; allein ich faßte mich und sagte kein Wort weiter, als: mein Kind, das thut mir leid! Sie müssen hübsch fleißig sein. ― Und so hat der Knabe, nach Herrn G. eigener nachheriger Aussage, anderthalb Stunden in der Kälte stehn müssen. Ich gab ihm mit einem entfernten Blicke mein Misfallen darüber zu erkennen, und damit ließ ich es gut sein. Denken Sie aber, wie ich die That selbst ansehen mußte, da er ihm theils diese harte Strafe um des Lernens willen aufgelegt hat, theils der Knabe nur erst bei ihm, d.i. seit Michaelis die Buchstaben des Lateins erlernt hatte, theils dem Herrn G. vorausgesagt und ernstlich eingeschärft war, mit diesem Kinde, dessen Seelenkräfte seit ganzer acht Jahren beinahe völlig brachgelegen hatten, Geduld zu haben, und von ihm [24]nicht so viel zu fordern, als er von meinem Kinde fordern könnte, welcher unter ganz andern Uebungen gestanden hatte.

Ich denke, daß Sie nun aus diesen wenigen Zügen, die ich leicht vermehren könnte, sehen werden, mit welcher Geduld wir den so schätzbaren Erziehungsgrundsatz beobachtet: »Man muß durchaus nicht dem Lehrer und Erzieher zu früh merken lassen, daß man mit einem oder dem andern an ihm nicht zufrieden sei;« ― und noch mehr den: »man muß sich sehr hüten, den Zöglingen Mistrauen gegen ihre Erzieher zu erwecken, man muß jenen nicht wissen lassen, daß diese grobe Fehler begehn könnten.« ― Wer hätte es uns bei jenen Anzeigen wohl verargen mögen, wenn wir uns früh um die Ursach einer solchen knechtischen Furcht bei den Kindern selbst erkundigt, und sie ausgefragt hätten, auf was Weise denn der Lehrer wohl mit ihnen umginge? Und in diesem Augenblick, da ich jene Grundsätze gut heißen muß, werfe ich es mir vor, sie so lange beobachtet zu haben. So wahr ist es, daß vielleicht nicht zwei Grundsätze in der Erziehung allgemein anwendbar sind; ein Gedanke, worüber wir uns ehedem oft unterhalten haben. Und nun weiter zur traurigen Geschichte.

Unter solchen mislichen Gedanken, ob der Mann, der uns bis dahin gefallen hatte, wohl der Mann sein möchte, der unsre Kinder gut erziehn würde; und unter den sichtbarsten Spuren eines sich nach [25]und nach immer mehr äußernden misanthropischen Wesens verlebten wir Weihnachten und Neujahr. Die sklavische Furcht vor dem Menschen blieb bei den Kindern, besonders bei dem kleinen M. vor wie nach. Das Kind verlor seine Munterkeit; es hing den Kopf und schlief bei der geringsten Stille ein. Wir schalten es deshalb oft in seiner Gegenwart, und es behauptete immer, es fehle ihm nichts. Der Lehrer schwieg bei diesem allen gewöhnlich ganz stille. Endlich aber wollte die gute Vorsehung, die ich dafür ewig preisen werde, daß die Sache zum Ausbruche kommen sollte; und dieß geschah auf folgende Art. Ferdinandchen, (der kleine M.) ein Kind, das ein goldnes Herz hat, fragte mich am verwichnen Sonntage beim Abendessen: »Herr Sander (merken Sie, der einzige Lieblingsschriftsteller des Herrn G., aus dem er auch sogar seine Predigten und seine Neujahrswünsche stiehlt, und an welche er denn seine Lappen annähet) ist doch wohl der größte Philosoph?« ― Kaum war diese in höchster Unschuld, wie ein jeder Rechtschaffene fühlt, aufgeworfene Frage; aber meine Antwort noch nicht da: so verzerrte sich das Gesicht seines Lehrers dergestallt arg, daß Kains Gebeerde unmöglich fürchterlicher hat aussehen können. Er schoß Blicke voll Unmuths, voll des bittersten Unmuths auf das arme Kind. Wir bemerkten es; aber ohne mich daran zu kehren, sagte ich: mein Kind, dafür wird sich Herr Sander wohl selbst nicht ausgeben.[26]Herr Sander ist noch ein junger Gelehrter, der aber freilich sehr groß werden kann. Ob der größte? das ist eine andre Frage. ― »Was er doch redet«, brach hierauf der ergrimmte Lehrer aus; und ich sagte: lassen Sie ihn doch! Er meints recht gut; er weiß schon von Philosophen zu schwatzen. ― Auf dies alles blieb er bei seiner Miene, und wie man sagt, mopsig, und redete kein Wort mehr über Tisch. Wir hatten vor Tische gespielt; wir setzten es nun noch mehr der Langenweile wegen fort; aber so, daß weder ich, noch meine Frau ihn eines Worts würdigten, um ihn unser Misfallen über sein unanständiges Betragen fühlen zu lassen. Bei diesem Abendessen war es auch, wo er dem Ferdinand wiederum gebot, nicht wie ein Schwein zu schmatzen, weil ihm ein mehreres zu thun nicht erlaubt war. Daß er nichts gefühlt habe, das lernen Sie daraus, daß er eben die wiedrige Miene vom Sonntage an bis zum Donnerstage fortsetzte; so, daß er kaum antwortete, wenn ihm etwas gesagt wurde.

Als ich mich diese Zeit hindurch mit meiner Frau über dieses Betragen besprach: so fiel letztere auf allerlei Gedanken, unter andern gar auf den: daß es mit dem Menschen nicht richtig im Kopfe seyn müsse. Ich aber schrieb diesen und andre Auftritte, selbst seiner zu großen Strenge, die uns nun immer mehr sichtbar wurde, seinem schwarzen und überflüssigen Blute zu, weil er selbst einigemal sich davon hatte etwas merken lassen. Indem wir uns [27]unsrer seits den Kopf darüber zerbrachen, was ihm doch wohl im Kopfe stecken möchte, konnte er es seiner seits nicht mehr aushalten, daß nicht mit ihm gesprochen wurde, und daß er mit einemmale aus unsrer Gesellschaft verbannt war. Er bekömmt also den Einfall, an meine Frau dieser Sache wegen zu schreiben, sich wegen seiner Laune zu entschuldigen, ja, sogar deshalb um Verzeihung zu bitten, hundert süsse gestohlne Sachen zu sagen, und alle Schuld davon auf Ferdinandchen zu schieben. Die Antwort meiner Frau war in einem solchen Ton abgefaßt, daß, wenn er noch einen Funken gesunder Vernunft vorräthig gehabt hätte, er dadurch zu einem weichern und rechtschaffenern Betragen, besonders gegen das M..sche Kind hätte bewogen werden müssen. Aber Sie werden sich wundern, wenn Sie hören werden, daß grade das Gegentheil geschehen ist. Meine Frau sendet ihm die Antwort am 17ten dieses Nachmittags um 4 Uhr, und er hatte sein Schreiben an demselben Tage Vormittags geschickt. Gleich nach Tische geht er mit den Kindern aus, kömmt etwa um zwey oder halb drei Uhr wieder, als ich grade in der zwischen seiner und meiner Stube gelegenen oben erwähnten Kammer war. Mit einemmale höre ich in seiner Stube ein starkes Gepolter und Ferdinandchen weinen. Ich reiße die Thür mit Hitze auf. »Weinen Sie?« (mit barscher Stimme) ― Nein! ― und hält noch den Schnupftuch vor die Augen. ― »Ich will [28]schlechterdings wissen, ob Sie weinen?« Ja! endlich ― »Warum?« ― Ich bin auf der Treppe gefallen und habe mir den Kopf zerstoßen ― »Und darüber weinten Sie, Sie, die Sie sich wohl zehn Löcher in den Kopf durch Fallen schlagen könnten, ohne zu weinen? ― das ist nicht richtig! Damit Sie wissen, ich erinnere Sie heute, und dann die pure reine Wahrheit!« ―

Voll der betrübtesten Ahndung, was ich nun wohl alles erfahren möchte, gehe ich herunter, und erzähle jenen Vorfall meiner Frau. Dieser leuchtete es fast noch heller ein, als mir, daß die schreckliche Brausche, die das Kind am Kopfe, nahe über dem Auge, hatte, nicht von einem Falle, sondern von einem Schlage sein müßte. Sie ward äußerst unruhig darüber. Zum Unglück konnten wir den Abend des 17ten das Examen nicht halten, weil wir Fremde von außen her bekamen. Ein vorläufiges Examen aber, das meine Frau mit meinem Sohne hielt, überzeugte uns nicht allein, daß Ferdinandchens Beule am Kopfe nicht vom Falle auf der Treppe, sondern vielmehr von dem Stocke seines Lehrers auf dem Spatziergange ― und wohl zu merken, in der Zwischenzeit, da er an meine Frau geschrieben hatte, und Antwort erwartete ― verursacht sei; sondern entdeckte uns noch weitere schrecklichere Sachen, von denen ich nicht weiß, wie ich sie Ihnen mit Geduld und ohne die heftigste Wuth ― Ja, Wuth ist der rechte Ausdruck! Sie sollen [29]richten und alle Redliche sollen richten! ― niederschreiben soll. Mir wurde den Abend nur etwas entdeckt. Den 18ten lasse ich bis zum Abende nach vier Uhr vergehen, nachdem wir mit Beben die Kinder den Abend zuvor hatten mit ihm hinauf gehen lassen; und nun rufe ich die Kinder selbst von ihm ab. Ich nehme den Ferdinand ganz besonders vor, halte ihm eine lange Predigt von dem Guten, das er bei mir bisher genossen hätte; wie dies Dank verdiene; wie er mir an Kindes Stelle sei, wie ich ihn so gut, wie meine eigne Kinder liebe und schütze; wie ich dies auch ferner als Vater thun würde; wie ich dafür aber auch erwartete, daß er mir auf alles, was ich ihn fragen würde, die lautere Wahrheit gestehn würde ― das wolle er thun! ― »Nun, mein Kind, woher haben Sie die Beule am Kopfe?« ― Und denken Sie sich mein Erstaunen, als das Kind, ungeachtet meiner Ermahnung, behauptete, es sei gefallen. ― »Ich weiß es besser, es ist vom Schlage.« ― Nein, nein! mein Lehrer thut mir nichts Böses, außer daß er mir dann und wann eine Maulschelle giebt, und die hatte ich verdient. ― »Junger Mensch (mit an den Kopf gelegter, geballter Faust) ich will die Wahrheit wissen, hören Sie es?« ― Nein, ich bin gefallen; und das ist die reine Wahrheit. ― »Mensch, ich rufe meinen Sohn, und wie, wenn ders Ihnen ins Gesicht sagt, wie die Sache ist?« ― Ich könne ihn rufen lassen: der würde es nicht anders sagen können. Ich [30] lasse diesen und meine Frau kommen. Mein Sohn ermahnt ihn zur Wahrheit, und ― nun bekennt er erst: ja, Herr G. hat mich mit dem Stocke geschlagen. ― Ich bitte Sie, um Gottes willen, mein Freund, was denken Sie von diesem Kinde, das seinem Lehrer bis zum Laster treu war? denn Sie können sich leicht einbilden, ohne daß ich es Ihnen sage, daß von dem Menschen noch etwas ärgers, als der Schlag, oder vielmehr die Schläge selbst (denn er hat deren drei bekommen) geschehen war; daß er ihm nämlich unter Androhung der härtesten Züchtigung, und selbst unter den niederträchtigsten Schmeicheleien, aufs festeste eingebunden hatte, zu uns zu sagen, er sei auf der Treppe an der Bretterwand gefallen. Und dieser Mensch, der seinem Zöglinge, von dem er selbst ― schreibt sogar, daß er ein edles, gutes Herz habe, etliche Schläge am Kopfe, und etliche, wie wir nachher bei weiterer Untersuchung sahen, auf dem rechten Arm dergestallt gegeben hatte, daß der Arm so dick aufgeschwollen war, daß man kaum den Rock herabziehen konnte; dieser Mensch wollte kurz nach der That das arme Kind noch darum: weil es auf der Stube vor Schmerz das Weinen nicht lassen konnte, in dem Augenblick, da ich die Thür aufriß, (wie ich erzählt habe) zur Strafe aus der Stube stossen. Und es war doch die höchste Zeit zu den Stunden; und er hatte doch dies Weinen verursacht; und er versprach sich doch auf seinen süssen Brief von meiner Frau [31]noch an eben dem Tage Antwort; und er konnte doch, wenn er nicht wahrhaftig verrückt im Kopfe war, schon zum voraus wissen, wie diese ausfallen würde. Diese Minute ließ mich meine Frau herunterrufen, um Ferdinandchens zerschlagenen Arm zu sehen. Mit der bittersten Wehmuth und mit eben so bittern Thränen sahe ich ihn eine Spanne lang wie eine Wurst aufgetrieben, und wie ein dunkelblaues Tuch. Gott! daß ich grade heut in den Umständen bin, ihn noch zwei Nächte unter meinem Dache beherbergen zu müssen!

Aber weiter im Examen. »Warum sind Sie denn so zerschlagen worden?« ― weil ich nicht rennen wollte. ― Geht Ihnen nicht, mein Werther, ein kalter Schauder durch die Glieder? ― und das, sagt mein Sohn, geschieht allemal, so oft wir spatzieren gehen; wenn Ferdinandchen nicht rennen will, dann bekömmt er entsetzliche Schläge. Letzthin, als Sie auch nach seinem zerschabten Gesichte fragten, hat er ihn mitten unter dicke Fichten gestossen, auch, weil er nicht rennen wollte, wir aber mußten auf sein Geheiß sagen: er sei von selbst so gerannt und sei zwischen die Fichten gefallen. Und dies ist nicht allein wirklich geschehen, sondern Herr G. bekräftigte es auch in beider Kinder Gegenwart, welche die Augen dabei niederschlugen.

Und das wäre es alles, meinen Sie? Schicken Sie sich auf noch gräßlichere Dinge, wenn es [32]anders noch gräßlichere giebt. Aber ja, die folgenden sind es wirklich noch. Ich fasse sie aber alle in eins kurz zusammen. Der Hartherzige, oder in der That Verrückte, hat eben dies arme Kind sehr häufig in der kleinen Kammer, die an seiner Thür nach dem Hofe herausgeht, in der Kälte völlig nackend stundenlang stehen und einmal des Morgens so nackend unter sein Bett kriechen lassen, weil er sich des Nachts im Bette geworfen hatte; er hat ihn auf den Spatziergängen, wenn er nicht hat rennen wollen, mit dem Stocke hinten in den Rücken gestossen, daß er so vorwärts übergefallen ist; um eben der Ursach willen einen Stock auf ihn zerschlagen; ein andermal ihn ins Gebüsch gezogen, und ihn dort so erbärmlich geohrfeigt, daß mein Sohn es in der Ferne hat hören können; ihn wohl hundertmal mit seinen Dragonerstiefeln vor den Hintern gestossen, daß er oft hingestürzt ist; ihn bei beiden Armen genommen, in einen Feldgraben geworfen und auf seine Hände getreten; ― hat ihn, weil er sich bei einem bösen Kopfe einmal am Halse gekratzt hat, beide Hände auf den Rücken gebunden, daß die Hände entsetzlich aufgetrieben sind; er hat ihn sehr häufig 8, 9, 16 bis 24 Prisen Schnupftaback bis zum Brechen, ja selbst ein Pflaster, das der Kleine auf einer Wunde hatte, essen lassen; hat ihn mit geballten Fäusten dazu gebracht, den Unflath, der etwa einmal bei einer nassen Blähung, oder auch wohl aus Unachtsamkeit in den [33]Beinkleidern sitzen geblieben war, mit der Zunge aufzulecken. Und nun sey es der Bosheiten genug, wenn ich einige vergessen haben sollte! Doch alles hat er bereits nach Aussage der Kinder, besonders meines Sohns, dem er nie etwas dergleichen gethan hat, auch nach seinem eigenen Geständnisse, einige Wochen vor Weihnachten so getrieben, und es heimlich treiben können; weil die Kinder dergestalt von ihm sind in Furcht erhalten worden, daß sie bis auf jene Scenen nicht ein Wort haben sagen dürfen. Ja sie haben uns selbst, da sie es endlich alle beide aus einem Munde, wozu auch noch über manche Barbareien das Zeugniß meiner Tochter kömmt, entdeckten, fast fußfälligst gebeten, daß ich doch alles so einrichten möchte, daß sie ja seiner Wuth nicht ausgesetzt wären. Nur die Versichrung, daß ich, nächst Gott, ihr Vater und Schutzgott wäre, und mich als einen solchen in meiner ganzen Würde zeigen würde, konnte sie dahin bringen, alles ehrlich zu gestehn.

Am 23sten Januar. 1782.

Nun ist das Examen rigorosum vorbey. Es geschahe wie ich Ihnen neulich schrieb, daß es geschehen sollte, am Montage, den 21sten dieses. Ich hatte, theils um einen gültigen Zeugen von alle dem, was ich mit dem Mann, oder vielleicht noch Jünglinge, sprechen würde, für mich zu haben, theils auch ihn glauben zu machen, es würde hier wohl an [34]ein gerichtliches Protocolliren gehn, den Herrn Stadtsekretair von B** ersucht, diesem peinlichen Gerichte mit beizuwohnen. Der letzte Gedanke, den ich übrigens um mehr als einer Ursach nicht auszuführen willens war; so sehr mich auch die Anklage dazu berechtigt hätte, that indessen die beste Würkung von der Welt. Der Anblick des Herrn von B* schien ihn eben so sehr, als sein böses Bewußtseyn in Verlegenheit zu setzen. Er war weiß, wie Kreide, und fast unfähig, ein Glied zu rühren. Ich hieß ihn niedersitzen, und nun fing ich meine Anrede so an, wie es die traurige Lage der Sache mit sich brachte. Ich hatte, wie Sie leicht denken können, mich nicht allein die Tage vom Freitag bis zum Montage hindurch gefaßt zu machen gesucht, ganz mäßig und gelassen zu sein; sondern ich hatte mir diese Mäßigkeit und Gelassenheit auch in einem feierlichen, stillen Gebete von Gott erfleht. Ich glaubte sie auch gewiß beobachten zu können, in so fern Herr G. mich nicht durch ein hartnäckiges Läugnen aus meiner Fassung bringen würde. Mein Gebet war erhört. Ich blieb bey meinem ganzen Vortrage gelassen, denn Herr G. läugnete von dem ganzen Register von Grausamkeiten, die er gegen den kleinen M. bewiesen hat, und die ich Ihnen, aber doch noch nicht alle, letzthin überschrieben habe ― auch noch nicht Eine ab. So entsetzlich dies auch ist, so wahr ist es doch.

[35]

»Aber wie sind Sie zu solchen Grausamkeiten gekommen? Was hat Sie dazu veranlaßt, sich besonders auf den jungen M* also zu setzen? Ich dächte, wenn es auf Leichtfertigkeit ankäme: so beginge mein Sohn deren weit mehrere als jener?« ― Er habe bereits, war die Antwort, die er vermochte, seit Jahr und Tag ein solches misanthropisches Wesen bey sich gefühlt und gemerkt, daß er seit dieser Zeit einen Hang zur Grausamkeit hätte. ― Bey einem solchen Bekenntnisse hätten mir die Haare zu Berge steigen mögen. ― Er könne übrigens nicht sagen, daß der junge M* ihm dazu besonders Gelegenheit gegeben hätte! Er wisse selbst nicht, wie er dazu gekommen sey. In allem diesen und auch noch in andern Antworten, die er aber äußerst sparsam, jedoch mit der höchsten Furchtsamkeit und ― wenigstens anscheinender Beschämung gab, war dennoch so gar nichts, was ihn wegen seines schrecklichen Verhaltens gegen das Kind hätte entschuldigen können; es wäre denn, daß man annehmen wollte, daß er in der That manchmal Intervalla hätte. Ich gestehe aber aufrichtig, daß, so gern ich auch diese Art der Entschuldigung von ihm annehmen möchte, ich doch dazu in seinem übrigen Betragen keinen hinlänglichen Grund finde. Warum konnte er denn, einige mördrische Blicke, die er von Zeit zu Zeit auf die Kinder in unsrer Gegenwart fallen ließ, ausgenommen, sehr oft ein sehr freundliches Wesen gegen sie, wenn wir dabey waren, annehmen? Warum [36]sogar den kleinen M. oft liebkosen? Warum dies thun, wenn er eben vorher auf seiner Stube eine Grausamkeit gegen ihn ausgeübt hatte? Warum den Kindern nach Verübung derselben so scharf einbinden, daß sie nichts sagen sollten, oder er wollte sie massakriren. Er war sich also nicht allein bewußt, daß er es gethan hatte, sondern er wußte auch, daß es etwas schreckliches war. Sollte sich dies so allerdings mit dem Karakter derer Leute reimen lassen, von denen man sagt, sie hätten schlimme Intervalla ― ―

So weit der Mann, bey dem Herr G. Hofmeister war. Was ich nun noch hinzuzufügen nöthig finde, ist folgendes: Herr G. mußte zwey Tage darauf abreisen, und kam den folgenden Tag, so bald er von der Post abgestiegen war, zu mir. Ich würde mich wundern, sagte er, ihn izt hier zu sehen, oder, setzte er hinzu: ob ich etwa schon Briefe aus F* hätte. Ich gestand es sogleich; und fast als ob er mir in die Rede fallen wollte, fragt er: was ich ihm riethe, was er thun sollte? ― Das wußte ich freilich nicht; ich verwies ihn an seinen Verwandten, von dem ich die erste Nachricht von ihm erfahren hatte. Zu diesem hinzugehen, kostete viel Ueberredung von meiner, und viel Ueberwindung von seiner Seite. Ueberhaupt stand er da vor mir in einer Gestalt, die mich innigst rührte. Beschämung, Angst, Betäubung, Unentschlossenheit und Anstrengung zum Nachsinnen waren auf seinem Gesichte; [37]sein Blick war zur Erde geheftet, kaum daß er mit Mühe dann und wann schüchtern aufblicken konnte; seine Stellung, seine Bewegung waren seinen innerlichen Gefühlen anpassend, voll Unruhe ― Ich fragte ihn: wie ist es möglich gewesen, daß Sie Kinder so behandeln konnten? ― und als er schwieg: hat denn der kleine M. Ihnen zu irgend einer solchen Behandlung Gelegenheit gegeben? ― »Nein, es war ein gutes Kind, zuweilen etwas munter, aber nicht wild, selten über die Grenze der Munterkeit.« ― Wie haben Sie denn im Hause gelebt? zufrieden? »Ja, sehr zufrieden; o, ich habs so gut gehabt; ich war wie Kind im Hause, wie ein Freund, ich habe nicht die mindeste Klage. Ob man mich wohl wieder annähme? wenn Sie schreiben wollten?« ― Das würde nichts helfen; das läßt sich nicht denken? ― Aber wenn Sie einmal so strenge gestraft hatten, fühlten Sie nachher keine Art von Mitleid? Rührte Sie die harte Strafe nicht selbst? ― »Ja, es that mir leid!« Und wie konnten Sies so häufig wiederholen? »Das weiß ich selbst nicht. Ich habe mirs so oft vorgenommen, nicht zu schlagen, nicht zu hartherzig zu sein, aber es half nichts. Ich habe zu Gott gebetet, meinen Sinn zu ändern; aber ich weiß nicht, was aus mir werden wird« ― ― Ich gestehe, daß mir bey dieser Stelle ein Schaudern ankam, und wußte ihm nichts darauf zu antworten. Er wollte zu seiner Mutter reisen, das war der einzige Entschluß, den [38]er hatte, und so ging er von mir. Sein Vater hat vor etwa 15 Jahren in einem kleinen Flusse seinem Leben ein Ende gemacht.

J. F. Seidel.
Lehrer am Grauenkloster.

VI.

Auszug aus Paul Simmens Lebensgeschichte. a

Moritz, Karl Philipp

Der Unglückliche war in seiner Kindheit ein flüchtiger Knabe, dem nichts weniger als das Stillsitzen anstand, der in der Schule von den Grundwahrheiten des Christenthums und dem Uebrigen, was zum Gebrauch des Lebens darinnen gelehrt wird, wenig begriffen, und kaum fertig lesen und seinen eigenen Namen hat schreiben gelernet. Dieß ist das Zeugniß, daß ihm diejenigen geben, die sich noch von jenen Jahren her seiner zu erinnern wissen.

Er zeigte frühzeitig Lust zum Soldatenstande. Die Begleiter seiner Jugend erzählen, daß er wöchentlich mit Holz nach der Residenz gefahren, wenn er aber solches verkauft, halbe Tage vor der Hauptwache daselbst gestanden, und den Soldaten zugesehen habe. Er ward denn auch in seinem 17ten Jahre Dragoner.

Sein Vater, ein Schneider, bestimmte ihn, nach Erlassung b aus der Schule, zu seinem Hand-[39]werk; aber er war nicht für die Nadel, er war für den Degen und Säbel, und am Schneider-Tische die Beine unterzuschlagen, war nicht seine Sache; er wollte ins Feld, er wollte in die Welt. Der neue Pallasch c wollte ihn zwar zu unzeitiger Courage und Händeln bald anfangs und während der Transportirung verleiten, allein Erfahrung und Klugheit lehrten ihn bald diese Hitze mäßigen, und in kurzer Zeit ward er vorsichtig und ordentlich in seinem Betragen.

Er machte mit seinem Regimente im Dienste der Generalstaaten d gleich anfangs den letzten Feldzug vor dem Aachner Frieden e mit, kam aber auch beim Schlusse des Krieges mit seinem Regimente nach Hause, und mußte sich in Postirungsquartiren gedulden, bis es wieder etwas für ihn zu thun geben würde.

Unter dem 31sten December 1758 erhielt er einen sehr ehrenhaften Abschied.

Als der zweite Preußische Krieg f anging, mußte sein Fürst außer dem Fußvolke, auch den größten Theil des Dragonerregiments, unter welchem Simmen stand, als sein Kontingent zur Armee stoßen lassen, und Simmen durfte mit marschiren. Allein er wurde mit dem Hauptmann und 27 Mann seiner Compagnie auf dem Marsche in einer Altenburgschen Landstadt in einem Ueberfalle von Preußischen Husaren g aufgehoben, und durchs Erzgebürge nach Sachsen geführt. Man darf es ihm wohl glauben, daß [40]er mehr genöthiget als beredet worden sey, unter den Preußischen Husaren Dienste zu nehmen. Er that es unter dem damaligen Obristlieutenant v. Belling, und kapitulirte unter dem 23sten September 1758, auf die Bedingung, daß dieses sein Engagement nur von einem Winterquartier zum andern gehen, und daß ihm, wenn das Corps solche bezogen hätte, allemal freystehen sollte, seinen Abschied zu fordern, auch ihm alsdann derselbe auf sein Ansuchen unweigerlich ertheilt werden sollte.

Der neue Husar mußte gleich, wie schon gedacht ist, mit nach Sachsen, h und fand am Schluß des Feldzugs in Chemnitz sein Winterquartier. Beym Aufbruch aus demselben und Eröffnung des Feldzugs 1759, rief ihn erst sein vorgedachter Chef unvermuthet vor die Fronte, erklärte ihn zum Unterofficier, und wünschte ihm dazu Glück. Simmen versichert, daß er diese Gnade weder gehofft, noch gewünscht, sondern alle Mühe, aber umsonst sich gegeben habe, sie zu verbitten; weil er den beschwerlichen Dienst und die schwere Verantwortung eines Preußischen Unterofficiers, vorzüglich im Kriege, schon damals habe kennen gelernt. Er stieg denn ferner bis zum Wachtmeister.

Der Marsch ging nach Schlesien gegen die Oesterreicher, ferner an die Polnische Grenze, gegen die Russen, hernach gegen ebendieselben ins Brandenburgische. Im Jahr 1760 mußte er mit [41]seinem Regimente nach Pommern, wo er bis 1762 gegen die Schweden fochte. Diese rühmte er als sehr brave und besonders christliche Soldaten.

Aus Pommern gieng das Bellingische Husarenregiment, und also auch Simmen, im Jahr 1762 wieder nach Sachsen, gegen die Oesterreicher zurück. i Hier gerieth er durch einen Zufall im Erzgebürge unter die Reichstruppen, j und wurde von ihnen aufgehoben. Er kam aber bald durch eine List von den Feinden wieder los, indem er gegen sie vorgab, er habe sich selbst ranzionirt, k und sey im Begriff zu seinem alten Dragonerregiment zurück zu gehen. Er erhielt hierdurch einen Paß, der sich auch findet, datirt von Nassau, (einem Dorfe bei Frauenstein) den 2ten November 1762, und von einem Hauptmann von Oettinger unterschrieben. Mit Hülfe desselben entkam er die Nacht drauf, und zu dem Preußischen Esquadron zurück.

Bekanntermaßen machte der Hubertsburger Friede l dem Krieg ein Ende. Simmen kam darauf mit seinem Regimente in Pommern zu stehen. Nun regte sich bei ihm das Verlangen, sein Vaterland und seine Eltern wieder zu sehen. Er erhielt auch im Jahr 1764 nach dem gerühmten Zutrauen seines Obristen von demselben Urlaub, und zwei Pässe dazu, der eine davon ist vom 16ten, der andre vom 20sten May. Der erste mußte seine Beglaubigung im Preußischen, der andere sein Geleit ausserhalb [42]seyn. Er kam also im gedachten Jahre glücklich und mit Ehre an seinem Geburtsorte an, ohne daß es ihm geahndet hätte, daß er dem Verlust seines Glücks und seiner Ehre, ja einem schimpflichen Tode entgegen reise.

Er fand hier bald nach seiner Zurückkunft allerlei Verstrickungen, die ihn zu dem Entschluß brachten, den er wohl bei seiner Abreise nicht gehabt hatte, seinen Dienst zu verlassen, und nicht wieder zu seinem Regiment zurückzukehren. Er verkaufte also sein mitgebrachtes Pferd, das, wie er versichert, mit Sattel und Zeug sein eigen war, und suchte bei seinem Obristen um seinen Abschied nach, den er aber nicht erhielt. Unkundige der Umstände hielten ihn deswegen geradezu für einen Ausreisser. Allein ich muß in dieser Sache das Licht mittheilen, daß zween eigenhändige Antworten des Obersten von Belling an ihn geben. In der ersten drückt sich der Oberste sehr gnädig aus, und unterschreibt sich, des Wachtmeisters allstets wohlwollenden Freund, versagt ihm aber seinen Abschied, und befiehlt ihm, sich wieder sogleich bey der Esquadron einzufinden. In der zweiten, auf Simmens Ansuchen, wobei er sich auf seine oben angeführte Capitulation berufte, versagt er ihm denselben nochmals aus dem Grunde, daß er ihm die Capitulation als Husar ertheilt, aber da er bis zum Wachtmeister avancirt, so sei solche null und nichtig, und befiehlt ihm, sich sogleich bei dem Regiment wieder einzufinden.

[43]

Es kamen wohl bei ihm viele Bewegungsgründe zusammen, die ihn vermochten, in seinem Vaterlande zu bleiben. Er hatte Freunde, die ihn dazu beredeten, und durch mancherlei Vergnügen, das sie ihm machten, an sich zogen; vielleicht mischte sich die Liebe bald darein, nach welcher er sich kurz hernach zu seiner Heirath entschloß. Er hatte viele Gunst bei Großen, und fand selbst Gelegenheit, die Gnade des Prinzen zu gewinnen. Der erlauchte Chef, der ihm den oben schon erwähnten Abschied von seinem alten Regimente ertheilte, ließ sich besonders angelegen seyn, ihn wieder in die Dienste seines angebohrnen Landesherrn, verhältnißmäßig anzubringen: Er hätte es gerne bei seinem unterhabenden Regimente gethan, allein dazu wollte sich keine Gelegenheit finden; es sollte bei den Landhusaren geschehen, die zu errichten damals in Vorschlag gebracht war, allein dieses Projekt zerschlug sich.

Wie er also seine Hofnungen theils vereitelt, theils in einer so ungewissen Ferne sahe, und nun schon der Bedenklichkeiten bei der Rückkehr zu seinem Husarenregimente zu viel waren, so konnte er dieselben, ohne Geschäfte und Verdienst zu haben, länger nicht abwarten. Er kaufte sich also in seinem Geburtsort an, ließ sich häußlich nieder, und trat zu einer Gesellschaft Viehhändler. Dieß war an seinem Orte der ansehnlichste, und für ihn verhältnißmäßigste, anständigste und angemessenste Erwerb. Denn da ihn seine Gesellschaft zu [44]den auswärtigen Geschäften ihres Handels, gegen eine gute Vergeltung seiner Dienste, gebrauchte; er auch wohl etwas zum Handel mit zuschoß, so konnte er auf doppelte Weise gewinnen, und darbei seine feine Sitten, und beim Kriegshandwerk gewonnene Erfahrungen und Geschicklichkeiten, brauchbar machen.

Daß an Simmens Entschlusse, den Preußischen Dienst zu verlassen, die Liebe mit Theil gehabt habe, lässet sich daraus vermuthen, daß er sich nicht lange nachher an seinem Geburtsort verheirathete. Durch die Verbindung, die er hier einging, kam er mit dem, mit dessen Blute er sich hernach befleckte, in eine gedoppelte Verschwägerung; denn Simmens Braut war Georg Schmidts leibliche Schwester, und dieser hatte Simmens Schwester zur ersten Frau.

Von Simmens Ehe höre ich nichts nachtheiliges, sie ward einträchtig und gut geführt, ohne daß ein Theil über den andern Beschwerden geäussert hätte. Dem entgegen, was man von ihm vermuthen sollte, wird er von solchen, die sein Haus kennen, als ein geselliger und sich sehr bequemender Ehemann beschrieben, der häuslichen auch gewöhnlicher Weise nur weiblichen Verrichtungen sich unterzogen habe.

Nun war Simmens neue Lebensart und Haushaltung an seinem Geburtsorte, wie es schien, gut eingerichtet. Er hielt sich fein, sein Betragen war ordentlich, bescheiden, und vor seinesgleichen vorzüg-[45]lich gesitteter; auch selbst diejenigen, denen sein feines Betragen am verdächtigsten ist, können ihm das Lob eines äusserlich ehrbaren, ordentlichen und stillen Mannes nicht versagen. Er erwarb sich dadurch Zutrauen und Ansehn, und weil sein guter Verstand, seine durch Erfahrung erworbene Kenntnisse, seine Bedächtlichkeit und gute Art zu reden darzu kam, wurde auch die Vormundschaft seines Orts bewogen, ihn zu ihrem Mitglied anzunehmen. Personen, die am besten davon urtheilen können, geben ihm auch das Zeugniß, daß er in dieser Verbindung alle Obliegenheiten und Aufträge gut ausgerichtet habe.

Verschiedene Jahre ging es glücklich mit seinem Viehhandel, und seine Vermögensumstände schienen auf einem guten Fuß zu seyn. Allmälig aber wurde seine Familie zahlreicher, er war schon ein Vater von 3 Kindern, als die bekannten theuren Jahre m einfielen. Wie diese traurige Zeit viele vorherblühende Familien niedergedrückt, wo nicht ganz zu Grunde gerichtet hat, so wurde sie auch Ursach an dem ersten Verfall des Nahrungs- und Vermögensstandes dieses Unglücklichen, weil der Handel, sein einziges Verdienst, lag, ihm auch verschiedene Posten, die, wenigstens nach seiner Vorrechnung, etwas betrugen, verloren gingen. Er mußte zusetzen, und es war ihm nicht möglich, sich ganz wieder aufzuhelfen.

Nach der Zeit verwickelte er sich mit seinen Mithändlern in Streitigkeiten und Klagen, durch welche [46]seine Gewissenhaftigkeit verdächtig wurde. Die Gesellschaft trennte sich auch von ihm, und nun sollte er für sich allein handeln; das konnte er aber mit seinem eigenen Vermögen nicht glücklich durchsetzen. Es ging nun nicht mehr so, wie ers wünschte, daß er sich hätte auf den vorigen Fuß halten können, und wie es sein voriger Charakter zu fordern schien. So wie er sich im Hause alles gefallen ließ, so ließ es ihm doch der Wachtmeister nicht zu, sich ganz zum Bauer herabzulassen, und auswärtig Handgeschäfte der Art vorzunehmen, die an seinem Orte gewöhnlich und zum Durchkommen nöthig waren. Nur zu einer Zeit im Jahre war etwas, und auch nicht mehr das hinlängliche, mit dem Handel zu verdienen, die übrige Zeit gab es für ihn nichts zu thun.

In dieser drückenden Lage wurde seines Vaters Schwester, die mit einigen Ansehn in der benachbarten Stadt lebte, zur Wittwe. Diese erbot sich, ihn mit den Seinigen zu sich zu nehmen, wenn er ihre Angelegenheiten besorgen, und ins Reine bringen würde. Er folgte hier unsichern Hoffnungen, und vielleicht auch dunkeln Blendwerken, die ihm seine Ehrsucht vorspiegelte. Er entschloß sich also, in die Stadt zu der gedachten Verwandtin zu ziehen, ward Bürger und verkaufte sein Haus in seinem Geburtsorte seinem Schwager Schmidt. Die Hoffnungen, die ihm waren gemacht worden, oder er sich selbst gemacht hatte, täuschten ihn, oder er hatte nicht Geduld und Schmiegung genug, sie abzuwar-[47]ten; er verlohr darüber, daß er sich fremden Angelegenheiten unterzog, folgends alle Vortheile seines bisherigen Handels und voriger Einrichtung, und durch mehr Umstände, die dazu kamen, wurde dieses der Schritt zu seinem Fall und Verderb.

Es entsponnen sich über dem Hausverkauf allerlei Entzweiungen zwischen ihm und seinem Schwager, die bis zu der tödlichen Verbitterung anwuchsen. Dieser bezahlte, wie mir von glaubwürdigen Personen versichert worden, von dem Hauskaufsgelde, womit sich doch Simmen zu helfen gedacht hatte, nicht nur ein darauf haftendes größeres Kapital, das mit Willen des leztern geschehen sein soll, sondern auch andere kleinere Posten wider dessen Willen. Simmen glaubte, daß derselbe dabei auch seine Gläubiger, die auf andere Art vortheilhafter für ihn hätten befriediget werden können und sollen, unredlicher Weise selbst aufgereizt habe, so daß ihm hierdurch nicht nur das Kaufgeld zersplittert und seine Hülfe benommen, sondern auch die Bezahlung des übrigen Geldes, zu seinem mehrern Ruin, und dem Contrakt zuwider, verzögert sey. Aus dem Wortwechsel hierüber, entstunden ferner auch wohl Thätlichkeiten und Injurienklagen, wodurch der Groll des, besonders durch die lezte Art Klagen, mehrmals empfindlichst gereizten Wachtmeisters, immer stärker aufloderte. Andere entschuldigen zwar Schmidten dieserwegen, und rühmen allerlei Gutes, daß er Simmen und dessen Kindern gethan [48]habe. Entscheidend kann ich nun hievon nicht urtheilen, aber das muß ich gestehen, daß keine Schilderung, die mir von Schmidten gemacht ist, auch selbst von seinen Vertheidigern nicht, zu dessen Vortheil gewesen sey, noch es wahrscheinlich genug mache, daß er mehr Recht als der Unglückliche bei diesen Händeln gehabt haben möge. Hierzu kam noch, daß Schmidt seine Schwiegereltern, als Simmens Vater und Mutter, geschlagen, auch seine erste Frau, als Simmens Schwester, und welche dieser sehr geliebt, übel gehalten haben soll, wenigstens hat Simmen dieß in seinem gerichtlichen Verhör behauptet, und als eine Hauptursach seines fürchterlichen Hasses angegeben. Weil aber endlich Schmidt sich auch immer besser als der Wachtmeister fand, so kann daher wohl einige Eifersucht in die Verbitterung des leztern sich mit eingemischet haben.

Das konnte nun Simmen selbst nicht läugnen, daß er in dieser Gemüthsfassung seinen Schwager öffentlich und vielleicht mehrmals Rache gedroht und geschworen habe. Er will ihm zwar eigentlich nicht den Tod, sondern nur gedroht haben, es ihn künftig entgelten zu lassen.

Damals wars wohl eben, daß er den Versuch machte, von seinem Schwager einen Vorschuß zu erhalten, und ihm auch derselbe solchen versprach, nachmals aber von der Erfüllung dieses Versprechens sich wieder ablenken ließ.

[49]

Seine nunmehrige traurige Lage will ich mit des Unglücklichen eigenen Worten beschreiben: »Kein Haus! keine Hülfe bey Freunden! keinen Trost! keinen Credit, da mir sonst jedermann ein Paar Hundert Thaler zu borgen bereit war!« Und hierzu kamen nun der Drang von Gläubigern und zu fürchtender Rechtshülfe, auch die Nothwendigkeit, einen Sohn zum Handwerk zu helfen, und das Uebel, darzu kein Mittel zu wissen, und wer weiß, was noch mehr, das verborgener ist?

An einem unglücklichen Sonntage durchbrach der Damm. Simmen besuchte früh an demselben den Gottesdienst in der Stadt, und man will bemerkt haben, daß er, wie es geschienen, einer ernsthaften Predigt, die ihn zum Nachdenken hätte bringen können, aufmerksam zugehöret habe. Den Nachmittag ging er über Feld, einiger Geschäfte wegen, und auch da noch einmal in die Kirche.

Am Abend kam er wieder nach Hause, und brachte noch einige Stunden bey einem Bekannten in der Nachbarschaft zu, wie ich glaube, den Gedanken, mit denen er sich trug, und wie ich vermuthe, wohl selbst noch seinem Vorhaben zu entgehen; denn es zog ihn wohl das innere Gefühl noch immer zurück. Aber sein Herz hing schon zu sehr auf die böse Seite, und wandte nicht mehr Ernst und Kraft genug an, zu widerstehen. Er klagte beym Weggehen von seinem Besuch und bey seiner Wiederkunft zu Hause, daß ihm nicht recht wohl sei, [50]und ging, zu seinem Verderben, auf das zweite Stockwerk allein zu schlafen. Der Vorsatz, die Mordthat zu verüben, drang sich immer mehr in seiner Seele vor; er faßte den Entschluß, und machte Anstalten dazu, doch alles noch mit innerlichem Widerspruch und Widerstreben. Er gerieth darüber in einen Schlummer, fuhr aber aus denselben, wie er erzählte, gegen 11 Uhr, plötzlich und voll von einer Wuth auf, die ihn so gedrängt, daß er sich nicht zu helfen gewußt hätte, und wie verdüstert zu der Ausführung fortgegangen sei.

Anderthalb Stunden brauchte der Unglückliche, nach seinem eigenen Bekenntniß, zu einem ihm höchstbekannten Wege, von einer kleinen halben Stunde; ein Umstand, der nicht zu erklären steht, wenn wir uns nicht vorstellen, daß ihn der Sturm seiner Affekten und der Kampf in seiner Seele mehrmals aufgehalten und zum Stillstehn gebracht habe. So fehlte es ihm nicht an Erinnerungen; so war es noch möglich, daß er in sich und zurücke gieng! Ich kann es ihm glauben, was er erzählt, daß, ob er gleich die Absicht gehabt habe, seinen Schwager und seine Schwägerin, aber nicht ihr unschuldiges Kind, zu ermorden, er es doch immer noch dabei auf ein Ungefähr habe ankommen lassen. »Ich würde, sagte er selbst, wenigstens dießmal, vielleicht aber auch aufs künftige mich bedacht haben, und von meinem Vorhaben abgestanden seyn, wenn mir jemand beim Weggehen aus meinem Hause, oder ein Wächter [51]auf der Straße begegnet wäre, oder ich bei der Einlassung in das Mordhaus, einige Schwürigkeiten gefunden hätte.«

Simmen taumelte aber nun dahin, wo er das Verbrechen begehen wollte, so schwankend, so verdüstert, wie schon gedacht; er fand noch Licht im Hause, und klopfte, wie er es erzählte, leise an; also noch als ein Mensch, der nicht das unerschrockene Herz hatte, das zu thun, was er doch gleich that.

Seine Schwägerin sahe heraus, frug ihn, auf seinen Gruß und Bitte eingelassen zu werden, wo er so spät herkomme? glaubte seinem Vorwande, über Feld herzukommen, ließ ihn ein, und führte ihn in die Stube, wo er seinen spät heimgekommenen Schwager im Bette, wie man sagt, etwas berauscht, aber noch nicht völlig eingeschlafen fand. Also alles so leicht, so bequem! Nun ward sein Entschluß vest!

Simmen ward von seiner Schwägerin willig und freundlich aufgenommen; bei allen vorgegangenen Zwistigkeiten, ja, wie man sagt, nach einer vorher geäußerten außerordentlichen Aengstlichkeit, läßt sie ihn ein, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß sie einen Erbitterten einlasse, der mit Hülfe der Nacht, ihr Mörder werden könnte; noch mehr, sie bietet ihm zu essen an, und nimmt ein Licht um ihn noch um Mitternacht Sauerkraut (oder Kohl) aus dem Keller zu holen, wovon er, wie sie wußte, ein Liebhaber war.

[52]

Die unglückliche Schwägerin nimmt also das Licht, und gehet in den Keller, um dieses Kraut zu holen: der unempfindliche Mörder legt bald darauf seine eben angebrannte Tabackspfeife wieder hin, und schleicht ihr nach, nimmt ihr das geholte Sauerkraut ab, das sich auch nachher noch in der Stube fand, giebt ihr aber zugleich unversehens mit einem dazu mitgenommenen und unter dem Rock verborgenen Knittel, nach seinem Angeben eine Elle lang, und fünf Finger dick, noch in dem Keller, als sie eben im Begriff ist, wieder heraufzugehen, auf der untersten Stufe einen schweren Schlag auf den Kopf. Sie behielt noch soviel Bewußtsein, daß sie ihm zuruft, warum er das an ihr thue? aber weder die Wuth, noch die einmal gewagten argen Vorschritte, liessen ihn zurückgehn. Er giebt ihr noch einige Schläge, und da sie noch immer winselt, nimmt er sein gewöhnliches schlechtes Taschenmesser, und giebt, wie er erzählte, um ihr von ihrer Quaal zu helfen, ihr noch einige Stiche und Schnitte, das er selbst im Dunkeln, weil das Licht ausgegangen gewesen, nicht hätte unterscheiden können; verläßt darauf den Keller, ungewiß, ob sie ganz todt sey; sieht auch weiter nicht nach ihr, sondern legt nur, als er wieder aus dem Hause gieng, den Keller zu. Bei der Sektion haben sich Wunden, theils vom Schlag, theils vom Messer gefunden, davon 2 für schlechterdings tödtlich erkannt sind, ihr Blut aber war bis 6 Schuh weit von ihr gesprungen. Sie zu ermorden hatte er den [53]Vorsatz später gefaßt, und daher nichts Bedrohliches sich gegen sie verlauten lassen. Zur Ursache hat er angegeben, weil sie ihn und seine Frau vielmals sehr arg und empfindlich geschimpft, diese auch sogar vor kurzem sehr geschlagen habe; auch den Antheil, den sie an der Verweigerung des Vorschusses hatte, den ihr Mann kurz vorher dem Erbitterten versprochen gehabt, gehört wohl mit zu diesen Ursachen.

Nach Verübung dieser Grausamkeit gieng Simmen wieder in die Stube, fand seinen Schwager im Bette unterdessen eingeschlafen, und gab ihm 2 bis 3 Schläge auf den Kopf, so daß derselbe keinen Laut mehr von sich gegeben haben, sondern auf einmal, ohne einige starke Bewegung, erstarrt liegen geblieben seyn soll. Es war auch die halbe Hirnschale entzwei und das Gehirn selbst hineingedrungen, auch das rechte Ohr von einander geschlagen, doch gab er noch bis in den andern Tag hinein, obgleich sinnlos, einige Kennzeichen des Lebens.

Nach Simmens Aussage, geschah es bei dem zweiten Schlage, der den Vater traf, und deswegen auch seine meiste Kraft verlohren hatte, daß das Schmidtische vierjährige Kind, welches beim Vater im Bette lag, und der Thäter vorher nicht bemerket haben will, sich in die Höhe richtete, und mit von eben dem Schlage auf den Kopf getroffen ward, welches er denn, bevor er aus dem Hause gegangen, noch mit einem Kissen zugedeckt haben will, das aber nachmals nach des Vaters Füssen zu, auf dem Gesichte [54]liegend, mit noch wenigen Kennzeichen des Lebens gefunden ward. Sein ganzer Kopf, wie sichs bei der Besichtigung zeigte, war voll Contusionen, die Häute desselben wie Schwamm anzufühlen, und die Augen mit Blut unterlaufen, so daß die Vermuthung veranlasset werden wollen, die doch der Mörder nicht auf sich kommen lassen, es müsse grausamerweise wider die Wand geschlagen sein.

Eine ältere Tochter des Erschlagenen schlief indessen auf einer andern Kammer, und hörte von dem allen nichts. Simmen konnte deswegen, nach verübten Verbrechen, unbemerkt aus dem Hause gehn; das that er aber erst, nachdem er vorhero aus der Weste des sinnlosliegenden Mannes, den Schlüssel zu dessen Geldschränkgen gezogen, und aus demselben das darin vorräthige Geld, nach seiner Aussage, beinahe ein Dutzend Thaler, weiter aber nichts, genommen hatte.

(Der Beschluß künftig)

Erläuterungen:

a: Eigtl. Johann Herrmann Simmen, der wegen Mordes hingerichtet wurde. Seine Biographie, Stuss 1782, war ein Versuch seine Verbrechen aus seinen Gesichtszügen und aus seinen Lebensumständen zu erklären. Vgl. auch Pockels' Beitrag im 1. St. des VII. Bd. und Moritz' Kommentar (MzE VII,2,8).

b: Alte Form für 'Entlassung' (DWb Bd. 3, Sp. 890).

c: Schwert (DWb Bd. 13, Sp. 1412).

d: Die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen oder Generalstaaten war ein Bündnis eigenständiger Staaten auf dem Gebiet der nördlichen Niederlande.

e: Dieser Vertrag beendete am 18. Oktober 1748 den Österreichischen Erbfolgekrieg. Die letzte Schlacht war die Schlacht bei Lauffeldt, am 2. Juli 1747.

f: Siebenjähriger Krieg, 1756-1763.

g: Eine Kavallerieregiment, von Friedrich dem Großen zur Verstärkung der Truppen in Sachsen aufgestellt. Major von Belling wurde zum Oberstleutnant befördet und zum Kommandeur ernannt.

h: Bellings sogenannte 'schwarze Husaren' spielten eine wichtige Rolle in diesem Krieg, vgl. die zeitgenössiche Würdigung in König 1788, Bd. 1, S. 116-119 und ADB https://www.deutsche-biographie.de/gnd102530726.html#adbcontent.

i: Die Schlacht bei Freiberg in Sachsen am 29. Oktober 1762 war das letzte große Gefecht im Siebenjährigen Krieg. Die Preußen unter Prinz Heinrich erlangten den Sieg.

j: Das Heilige Römische Reich erklärte am 17. Januar 1757 Preußen den Krieg als Reaktion auf dessen Angriff auf Sachsen.

k: ranzionieren: Kriegsgefangene durch Loskauf oder Austausch befreien (Adelung 1811, Bd. 4, Sp. 935).

l: Friedensvertrag, der den siebenjährigen Krieg beendete, am 15. Februar 1763 von Preußen, Sachsen und Österreich unterschrieben.

m: Der siebenjährige Krieg hinterließ eine wirtschaftliche Katastrophe. Hohe Getreidepreise trieben viele in den Hungersnot.


VII.

Ein Diebstahl aus Großmuth von einem siebzehnjährigen Knaben.

Nencke, Karl Christoph

Ein Knabe von siebzehn Jahren, und der Sohn eines rechtschafnen Schulzen ohnweit Berlin, kam zu einem hiesigen Sattler in die Lehre, schnitt sich unglück-[55]licher Weise in einen Finger, der so schlimm wurde, daß man befürchtete, ihn abnehmen zu müssen. ― Da er in diesem Fall zu Erlernung des Handwerks unfähig geworden wäre, die Profeßion weiter fortzulernen, so machte ihn dies sehr niedergeschlagen, und besonders der Umstand, daß alsdenn die 20 Rthlr. Lehrgeld, so gut wie weggeschmissen, und seine mitgebrachten Betten, nach dem Handwerksgebrauch verlohren seyn würden. Diese auf den Fall umsonst gemachte Ausgabe seines Vaters, fiel ihm noch deshalb doppelt schmerzlich, weil er dasselbige Jahr, durch den späten Frost großen Schaden gelitten. Er sann daher auf Mittel und Wege, seines Vaters Verlust zu ersetzen. Da er sich jederzeit vorzüglich gut aufgeführt, sezte sein Lehrherr nicht das geringste Mistrauen in ihn, sondern ließ ihn sehen, wo er sein Geld in die, in der Werkstatt befindliche Spinde hinlegte. Als dieser nun eines Sonntags mit seiner Familie spatziren gefahren, der Lehrbursche in der Werkstatt allein zu Hause war, und er bemerkt hatte, daß der Meister einige Tage vorher Geld in die Spinde gelegt, so gerieth er auf die Gedanken, den seit einiger Zeit gehabten Einfall: dem Meister so viel zu entwenden, als das Lehrgeld betrüge, bei dieser guten Gelegenheit auszuführen; weil er es in seinem Gewissen verantwortlich hielt, dem Meister wieder das abzunehmen, was er ohne Erfüllung der Bedingung behalten hätte, da ihn, wie er glaubte, sein schadhafter Finger [56]zu Auslernung seiner Profeßion untüchtig machen würde. Bei Untersuchung der Spinde bemerkte er, daß sie verschlossen und gut verwahrt sey. Hier fiel ihm ein, daß der Geselle einst erzählet, wie sich gewisse Diebe, durch Bohrung verschiedener Löcher, die Erbrechung einer Spinde erleichtern. Er nützte diesen Umstand, und nahm gegen Achtzig Thaler, größtentheils in Gold, dessen Werth er nicht kannte, heraus, weil er glaubte: nur ohngefehr so viel genommen zu haben, als das Lehrgeld betrüge, und ließ das andere liegen. Der Meister kam nach Hause, und der Diebstahl wurde denselben Abend nicht bemerkt. Noch hatte er bis dahin auf keine Bemäntelung oder Entschuldigung seiner That gedacht; allein im Bette fiel ihm ein: die Sache so einzuleiten, als ob auswärtige Diebe ins Haus gekommen. Er schlich sich daher aus seinem Bette in die Werkstatt nahm einen Sattel aus der Spinde, versteckte ihn unter einen Wagen unterm Schuppen, öfnete den Thorweg auf den Hof, warf einen seiner Strümpfe auf den Flur, gieng wieder zu Bett', und fing einige Zeit darauf, ein gewaltiges Geschrei an: daß Diebe im Hause wären. Das ganze Haus ward dabei munter, man bemerkte den Diebstahl, und die von dem Knaben gemachten Anstalten brachten alle auf den Verdacht, daß ein ehemaliger Hausknecht der Thäter sey. Der Knabe schwieg hierzu still, und der ehemalige Hausknecht wurde hier zur Untersuchung gezogen. Diesen unschuldigen Menschen zu [57]retten, glaubte er, seine Spukerei, die folgende Nacht, unter fast ähnlichen Umständen fortsetzen zu müssen, und gieng gar so weit, sich Abends vorher mit einem Messer das Halstuch entzwei zu schneiden. In der Nacht fieng er wieder ein Geschrei an, daß man ihn umbringen wolle, sagte zum Gesellen, daß jemand bei seinem Koffer gewesen, und schnapte denselben, da er ihn vorher leise aufgemacht, mit Gewalt zu, daß jener es in seiner Kammer hören konnte, und selbst auf den Verdacht gerieth, daß auswärtige Diebe an des Purschen Koffer gewesen. Auf den ehemaligen Hausknecht war nichts zu bringen, und nun fiel der Verdacht auf den Gesellen, welcher auch arretirt wurde. Diesen unschuldigen Menschen in dieser Lage zu wissen, gieng dem Knaben gleichfals unendlich nahe, und er beschloß, auch ihn, durch seine fortgesetzte Spukerei zu retten; ob er sich gleich stellte, als fürchte er sich recht sehr, und wolle nun nicht mehr länger im Hause bleiben, sondern zu seinen Eltern gehen. In einer der folgenden Nächte fand er sich in Ausführung seiner gewöhnlichen Spuckerei dadurch gehindert, daß die Glasthüre zur Werkstatt zu war, durch welche er in den Hof muste. Hier stieß er in der Unüberlegtheit das Fenster ein. Das von ihm herausgestoßene Glas, zeigte bei der Besichtigung, daß diese Spukerei von keinem außer dem Hause, sondern von dem Burschen selbst unternommen sein muste. Er wurde darauf verhört, läugnete aber alles, und ward gegen gestellte Caution [58]seinem Vater überlassen, der ihn mit sich nach Hause nahm. Da ihn der Meister dessen ohnerachtet wieder annehmen wollte, gieng der Vater mit dem Knaben wieder nach der Stadt. Dieser gieng einige Schritt hinter dem Vater, und ließ das beständig bei sich getragene Geld in den Weg fallen, rief seinem Vater zu: daß dort etwas liege! dieser hob es auf, und als er das Gefundene untersuchte, gerieth er gleich auf den Argwohn, daß dies wol das entwendete Geld sey, und vom Knaben listiger Weise in den Weg geworfen worden. Er stellte den Burschen auf der Stelle ernstlich zur Rede; da dieser aber standhaft leugnete, den Vater versicherte, daß es jemand verlohren haben müste, und ihn bat: ihm zu erlauben, daß er es der Mutter nach Hause trüge, bis Nachfrage darnach geschähe, und hinzusetzte: daß, wenn nichts davon erwehnt würde, es ein kleiner Beitrag zu seiner Wanderschaft wäre; so ließ der Vater solches vor der Hand zwar geschehen; entdeckte aber doch, als ein ehrlicher Mann diesen Vorfall dem Sattler, und als derselbige einige nähere Beschreibung der entwendeten Geldsorten gab, und der Vater fand, daß es dies Geld sein müsse, brachte er es dem Meister zurück. Der Knabe, welcher unterdeß wieder zum Verhaft gezogen worden, läugnete noch immer, bis man ihn endlich überführte, weil der Lappen, in welchen das Geld gewickelt war, genau in den Abschnitt eines Stücks Leinwands paßte, so man in des Knaben Koffer gefunden, und welches [59]ihm seine Mutter zu Hemden mitgegeben. Er ward hierauf zu einjähriger Zuchthausstrafe, jedoch ohne infamirende Umstände verurtheilt. Der Kriminal-Senat schränkte die Strafe nur auf ein halb Jahr ein, und der Vater des Knaben erhielt, wegen seiner bekannten Rechtschaffenheit und Brauchbarkeit bei Auseinandersetzung der Gemeinheiten, auf eine Immediatvorstellung so viel, daß der Knabe nach zweimonathlicher Zuchthausstrafe entlassen ward. Der rechtschaffene Sattler vergaß alles, und nahm ihn dessen ohnerachtet wieder in die Lehre.

Außerdem, was aus dieser Geschichte, für die Erfahrungsseelenlehre brauchbar seyn mögte, verdient sie auch noch deshalb allgemein bekannt zu werden: weil alle dabei intereßirte Personen in einem sehr vortheilhaften Licht erscheinen: So wie die ganz vortreflich instruirten Acten, und das auf Philosophie und Menschenkenntniß gegründete Urtheil, wenn sie der Welt vor Augen gelegt werden sollten, den augenscheinlichsten Beweis abgeben würden, daß die Criminal-Justiz der preußischen Gerichtshöfe, der Erleuchtung unsres Jahrhunderts völlig angemessen, und wenn sie überall adoptiret wäre, die Vorschläge des Herrn Schulz in seiner Sittenlehre keine besondre Aufmerksamkeit verdienten.

Nencke.

[60]

VIII.

Grausamkeit eines gefangnen Soldaten gegen seinen eignen Körper.

Schröder

Da ich seit meinen Universitätsjahren beständig einen siechen Körper trage, und mit einem anhaltenden aber nicht tödtenden Schmerz kämpfe, bin ich der gelehrten und großen Welt meist unbekannt geblieben, die beständige Hoffnung, mein Leiden bald zu endigen, hat auch alle Ruhmbegierde der Schriftstellerei so wohl, als der ausgebreiteten Praxis erstickt. Bloß für mich habe ich im Stillen gelebt, ganz unbemerkt, und wenn es meine Schmerzen erlaubten, mich mit einem guten Buche unterhalten. Ihr Magazin zur Erfahrungsseelenkunde kam mit unter meine Lektüre, sie erneuerte in meinem Gedächtniß, viele merkwürdige Ereugnisse, die ich im siebenjährigen Kriege so wohl in Preußischen als Kaiserlichen Lazarethen als Wundarzt zu beobachten Gelegenheit gehabt habe. Diese Beobachtungen, wovon manche gewiß sonderbar sind, haben zwar gewissermaßen meine Gesundheit untergraben helfen, daher ich mich mehr bemüht habe, selbe zu vergessen, als irgend einen Gebrauch davon zu machen.

Dennoch ist in mir bei Durchlesung und Vergleichung mancher Ihnen zugesandten Abhandlungen das Verlangen rege geworden, einige der merkwürdigsten an Ew. etc. einzusenden, ich will vorerst nur mit einer den Anfang machen, sollte diese sich für [61]Ihren Gebrauch schicken, und ich darüber Versicherung erhalten haben, so werde ich fernerhin mit mehreren aufzuwarten nicht ermangeln.

Ich bitte noch zu meiner Entschuldigung zu bemerken, daß ein Mensch der zwölf Jahr krank ist, zwar wahr, aber nicht schön schreiben kann.


Im Jahre 1762, da ich in der Kaiserlichen Gefangenschaft über ein Lazareth Preußischer Kranken in Grätz in Steuermarck die Aufsicht hatte, ereignete es sich, daß man Kaiserlicher Seits durch allerhand Drohungen die Preussen zu österreichischen Diensten zu zwingen suchte.

Ein Soldat Nahmens Salomon, aus dem Magdeburgischen gebürtig, (und wo ich nicht irre) vom Regiment des General Hülsen, der in seiner Heimath ein kleines Cossäthenguth, Frau und Kinder zurück gelassen hatte, übrigens ein recht patriotischer Brandenburger war; hatte einige Beispiele von halb gewaltthätigen Anwerbungen seiner Cammeraden gesehn, hierüber verfiel er in eine Art des Wahnsinns, wovon er nach Verlauf einiger Wochen durch dienliche Mittel wieder hergestellt wurde. Er war nun allem Anschein nach völlig verständig, erzählte wie er beim Finckschen Chor gefangen worden, wer seine Eltern gewesen, was seine Frau für eine brave Frau, und seine Kinder für liebe Kinder wären, und am Ende einer jeden ganz vernünftigen Erzählung, [62]schloß er damit, man sähe hieraus, wie unmöglich es ihm sey, Kaiserliche Dienste anzunehmen. Diese Bitte wiederholte er täglich mit dem besten Anstand, und allem Anschein einer gesunden Vernunft.

Ohnvermerkt schlich sich dieser Salomon heimlich auf den Boden des Lazareths, schnitt sich mit einem stumpfen Brodtmesser den linken Daum ab, verband die Hand mit einem Tuch, kam wieder in diejenige Krankenstube, worin er gehörte, und erzählte bei einer Pfeife Taback, daß ihm wohl wissend sey, wie in Kaiserlichen Diensten kein fehlerhafter Mensch angenommen werde, und wie er sich nun vor allen ferneren Nachstellungen gesichert habe. Diese von Salomon selbst gemachte Amputation wurde bald und gut geheilt, während der Cur verhielt sich Salomon immer ruhig und friedlich, hatte die Liebe aller seiner Cammeraden, er war ihr unterhaltender Gesellschafter, war in allen Stücken vernünftig, bis auf einen Punkt, daß er jedesmahl den Medicum erwartete, und ihn bat, ihn mit den Kaiserlichen Diensten zu verschonen.

Einige Wochen nach seiner Heilung, schlich er sich zum zweiten mal auf den Boden, und schnitt mit einem stumpfen Messer, mit welchem er kurz vorher Taback geschnitten hatte, sein Scrotum genau in der Mitte durch, und sodann den rechten Testicul nebst denen ihn umgebenden Häuten rein weg, und kam kaltblütig zurück in die Stube. Seine Cameraden bemerkten das überall hervordringende Blut, [63]und befragten ihn deshalb, worauf er antwortete, es sey alles das seinige, und könne er damit machen, was er wolle. Es wurden sogleich alle Anstalten gemacht, die Verblutung zu stillen, und nach gehörigem Verband war Salomon ruhig, blieb im Bette, und wurde in sechs Wochen von seiner halben Castration geheilt. Nun blieb er 3 Monat in derselben Lage, er war gesund, aß und trank, gieng aber seit dieser Operation etwas krumm, und an einem Stock. Jeden Morgen erwartete er an der Thüre des Lazareths den Kaiserlichen Medicum, und wiederholte jedesmal seine Bitte, ihn nicht zum Dienst zu zwingen. Nach Verlauf besagter drei Monath schnitt sich dieser Salomon den zweiten Testicul nebst seinen Häuten weg; er wurde auch hier abermals glücklich geheilet, doch so, daß er nun ganz krumm gieng. Täglich fuhr er fort, seine Bitte zu erneuern, und sich auf seine Frau und Kinder zu berufen. Der Medicus, dem dieser tägliche Anlauf endlich zur Last wurde, antwortete in der Folge ganz kurz, daß die Kaiserin ihn nicht brauchen könne, und seine Frau sich seiner auch nicht freuen würde, wodurch Salomon jedesmal beruhiget wurde, und so verblieb bis zur Ranzion, a da ich weiter nichts von seinem Schicksale erfahren habe.

Bei diesem Vorfall ist doch allerdings bemerkenswerth, daß ein Mensch, dem Anschein nach, sehr vernünftig und mit dem zartesten Gefühl für Vaterland, Frau und Kinder begabt, auf der andern Seite einen solchen Grad der Verrückung haben könne, [64]der ihn zu der grausamsten Operation abhärtet und hinleitet.

Schröder,
Doctor Medicinä.

Erläuterungen:

a: Vgl. Erl. in diesem Stück zu S. 41.


IX.

Beispiel und Folgen einer schwärmerischen Sehnsucht nach dem Tode.

Hellen, Christian Friedrich zur

Beim Durchlesen des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde erinnere ich mich der seltenen Krankheit einer Bauersfrau meiner Gemeine, wovon ich die Hauptzüge in meinen Annotationen aufgezeichnet, hier mittheile:

Vor ohngefähr drei Jahren, wurde ich zu einer kranken Frau gerufen, ihr das heilige Abendmahl zu reichen. Gleich bei meinem Eintritt in das Haus dieser Kranken fand ich deren ganze Familie, die zum Theil aus vernünftig denkenden Bauern bestand, versammlet, die auf mich wartete. Zwar sind dergleichen Versammlungen bei solcher Gelegenheit, (wie der fürtrefliche D. Leß für nöthig hält) hier gewöhnlich; nur diese, auf deren Gesichtern sich ein ungewöhnlich trüber Ernst und tiefes Nachdenken verbreitete, schien mir geheimnißvoll ―. Dieser mir auffallende Anblick enträhtselte sich aber bald, als sich die ganze Gesellschaft um mich versammlete, und mir [65]mit wehmüthiger Stimme zuflüsterte, daß ihre Verwandtin tiefsinnig sey, und schlechterdings sterben wolle. Dabei schien mir der Wortführer schüchtern und mehr zurückhaltend zu seyn, das mich neugieriger machte, in ihn zu dringen, mich nur zutraulich und dreist von dem Zustand dieser Patientin zu unterrichten. Darauf wurde mir denn entdeckt, jedoch ganz blöde, »daß die Patientin seit ihrer letztern Beichte, (die an mehrern Orten hiesiger Gegend noch Gebrauch ist) ganz tiefsinnig geworden, und beständig mit dem Gedanken, sie wolle und müsse jetzt sterben, beschäftigt gewesen sei: ich hätte vielleicht nachdrücklich gesprochen; sie wollten daher bitten, meinen diesmaligen Vortrag besonders darnach einzurichten und zu mildern«. Ich näherte mich der Person selbst, die mich mit anständiger Bescheidenheit empfing, auch ganz vernünftig alle meine Fragen beantwortete, die ich an sie that; nur wußte sie keinen weitern Grund von meiner Herbestellung und ihrem Zubettliegen anzugeben, als: sie wolle und müsse sterben. Ihre Blicke waren dabei wild und ihre Mienen bitter ernsthaft. Ich frug alsdenn nach dem Beruf, den sie jetzt zum Sterben zu haben vermeinte, den sie aber nur aus verschiednen misverstandnen biblischen Sprüchen und besonders aus einem für sie ganz unpassenden schwärmerischen Liede (Gottlob, daß auch diese Lieder, die so vielen Einfältigen zur Verirrung gereichten, durch bessere des neuen preußischen Gesangbuchs in dieser Gemeine willig [66]vertauscht sind ― ich fürchte, auch von dieser Seite nun weniger) hernehmen zu können glaube.

Viele Mühe kostete es, ihre unrichtige Erklärung und Anwendung dieses Liedes zu berichtigen, auf dessen Autorität sie ihren Beruf sterben zu müssen gründete. Endlich gelang mir's, nachdem ich mit ihr über die Bestimmung des Menschen, über die Absicht ihres eignen Lebens und der Verbindung, worin sie sei, etwas umständlich gesprochen hatte, ihre jetzige Lieblingsmeinung zu schwächen. Beredete sie auch, nach vielem Widerstand, einen geschickten Arzt, den ich vorschlug, hohlen zu lassen, nach desselben genauer Befolgung sie gewiß von der Wahrheit meiner Rede und Vorstellung, daß ihr Ziel noch nicht da sei, überzeugt und andrer Meinung werden würde. Ich erfüllte hierauf die Absicht, weswegen ich eigentlich verlangt war, (doch nicht wie die Patientin vorher wünschte, zum Tode eingesegnet zu werden,) und verließ sie unter Anwünschung, daß sie Gott an Leib und Seele bald heilen wolle.

Einige Tage nachher wurde ich wieder verlangt ― »denn die Kranke wolle jetzt sterben« ― Wie ich hinkam, war der Paroxismus, den ich noch nicht kannte, vorüber; die Patientin ganz blaß, entkräftet, und voll der Sterbensgedanken. Ich empfahl ihr, fleißig nach der Vorschrift des Arztes zu mediciniren; gab ihr selbst einigemal ein, laß ihr Gesänge vor, die sich für sie paßten, schlug ihr auch ganze Stellen aus dem N. T. auf, die sie selbst oft lesen mögte. [67]Tages darauf wurde ich wieder gerufen, wo der Paroxismus ebenfalls vorüber war, doch aber bald zurückkehrte: hier wurde sie entfärbt wie der Tod; schrie zum Entsetzen jämmerlich; schlug mit Händen und Füßen so stark um sich, daß sie von drei bis vier Personen mit aller Macht mußte gehalten werden; mit unter stieß sie kurze biblische Seufzer aus; blickte starr und steif; hörte mich reden ― antwortete oft kurz, doch passend und vernünftig, nur all' ihre abgebrochnen Worte verriethen, daß ihre ganze Seele zu Todesgedanken gestimmt sey. Dieser Zustand dauerte über eine Stunde. Nachher war sie ganz matt, konnte kaum sprechen, wuste aber von allem, was vorgefallen war, nichts; gesehen hatte sie nichts, obgleich ihre Augen offen waren und starr sahen; gehört hätte sie ebenfalls nichts, auch gar keine Schmerzen empfunden, nur Aengstlichkeit, Bangigkeit.

Einige Tage darauf währte dieser Paroxismus an drei Stunden, wo der Zustand zwar der nämliche, nur weit heftiger und schaudervoller war, so daß sie mit vieler Mühe gehalten werden mußte; ihr unerträglicher Ton konnte in ziemlich weiter Entfernung gehört werden, daß alles herzulief, in Schreck, und die Gegenwärtigen in Furcht geriethen; selbst der Arzt und ich den schaudererregenden Anblick nicht aushalten konnten. Ihre Entkräftung war stärker, wie gewöhnlich, nur sie selbst wußte von nichts, ob ich gleich zu Anfang dieses Paroxismus viel [68]mit ihr gesprochen, und mit lauter Stimme zugeredet hatte, wobei sie oft in meine Worte fiel, und nichts Verstand- und Sinnloses anbrachte.

Dieser heftige Paroxismus minderte sich nach der gründlichen Vermuthung des geschickten Arztes, an Dauer und Heftigkeit allmälig; nur ihre Sinn- und Gefühllosigkeit blieb bei jedem Anfall, die nämliche. So oft er im Anzuge war, ergriffen die mannfesten Aufseher Hände und Füsse der Patientin, und in dieser höchst unbequemen Lage verlangte sie einst (der Paroxismus verminderte sich schon sehr) eine angezündete Pfeiffe Taback um etwas freier zu werden; so bald sie eine Hand los hatte, fuhr sie in aller Geschwindigkeit mit derselben zum Munde, um sie mit Gewalt zu zerbeissen. Ein andermal verlangte sie, ihre Hand loszulassen, die der Aufseher festhielt, sich die Nase zu wischen; ergrif aber, sobald sie los war, die Hand des Aufsehers, um sie zu beissen, statt ihrer eignen (die durch Gewalt wieder in Sicherheit gesetzt wurde) als sie jene nicht habhaft werden konnte. ― Diese Zufälle waren in ihrer Heftigkeit äusserst schaudervoll, bei ihrer Minderung aber sonderbar und etwas gefährlich; schienen mit Ueberlegung und Bewustsein verbunden zu seyn, und doch wußte sie gleich nach dem Paroxismus von dem allen gar nichts. Mancherlei waren die Urtheile des gemeinen Mannes über diesen, besonders letztern Umstand, der aber doch nach vier bis sechs Wochen [69]durch den Fleiß eines gründlichen Arztes vollkommen gehoben wurde.

Diese Frau ist übrigens an die 40; jetzt völlig gesund an Leib und Seele; sie ist von ernsthafter Gemüthsart, stille, nachdenkend, zur Melancholie geneigt, sonst aber gewissenhaft, und auch eine der christlichsten und bravsten Hausmütter dieser Gemeine.

Zur Hellen ,
Pastor zu Dornberg in der Graf
-schaft Ravensberg.


X.

Sonderbarer Zustand eines nervenkranken Knaben.

Ritter, Johann Gottlieb

Aus einem Briefe aus Schlesien.

Ein Schwestersohn von mir bekam in einem Alter von etwa neun Jahren, aus Schrecken vor einer mit der Nervenkrankheit geplagten Person, selbst diese Krankheit.

Nachdem er hievon genesen, verfiel er ein Jahr drauf, mithin also etwan mit zehn Jahren in eine Art von Schlafsucht, so daß er auch bei Tage, er mochte stehn oder sitzen, unversehens einschlief, und überhaupt weit mehr Zeit schlafend als wachend zubrachte.

[70]

Inzwischen konnte man, besonders, wenn er stehend schlief und man ihn nur hielt, damit er nicht umsinke, auch im Schlafe mit ihm sprechen, und ob er gleich die Augen, wenigstens dem Anschein nach, ganz zu hatte, so sahe und nennte er doch auf Befragen alle die Sachen, die man ihm vorhielt.

Ermunterte man ihn, so wußte er nichts von dem, was man mit ihm im Schlafe gesprochen hatte: man konnte aber von andern Sachen mit ihm sprechen: Bald schlief er wiederum ein; und dann konnte man den Faden der Unterredung, die man vorher im Schlafe mit ihn geführet, fortsetzen.

Erwachte er wieder, so wußte er abermahls nichts vom Gespräche im Schlafe, sondern nur von dem, was man vorher im Wachen mit ihm gesprochen hatte, und in dieser Art wechselte es darinn mit ihm ab, so daß es schiene, als ob er zwei Seelen, nehmlich eine für den Schlaf, und eine für die Zeit des Wachens hätte.

Dieser Zustand dauerte ein Vierteljahr. Nach Verlauf eines Jahres ließ sich wiederum die Nervenkrankheit spüren, wovon er jedoch bald wiederum durch ein Schrecken und durch einen von einem Oesterreichischen Soldaten, (denn es war zur Zeit des siebenjährigen Krieges,) erhaltenen harten Stoß mit dem Gewehr, wovon man ihn für todt aufhob, gänzlich hergestellet wurde. Jetzt ist der damalige Patient ein Kaufmann in Dessau.

Ritter.

[71]

Zur Seelennaturkunde.

I.

Zweifel an eigner Existenz.

Stroth, Friedrich Andreas

Aus einem Briefe.

Ich erinnere mich verschiedener, der Spaldingischen ähnlichen Erfahrungen, nur im schwächern Grade, gehabt zu haben. Eine in ihrer Art ganz besondre Erfahrung, will ich Ihnen wenigstens doch kurz erzählen:

In meinem dreyzehnten Jahre fiel ich durch einen Zufall ins Wasser, in dessen grundlosen Boden ich so lange steckte, daß ich dem Ertrinken nahe war, bis ich endlich durch Hülfe andrer Leute wieder herausgebracht ward.

Von dieser Zeit an glaubte ich, so oft ich zu Selbstbetrachtungen kam, ich sei damals wirklich ertrunken; alles was ich sähe, hörte oder empfände, seyen keine wirklichen Empfindungen in der Körperwelt, sondern Erinnerungen aus dem vorigen Leben.

Ich glaubte keinen Körper mehr zu haben, sondern mich nur dem Geiste nach entweder auf der Erde aufzuhalten, oder doch solche Vorstellungen zu haben, als ob ich mich auf der Erde aufhielte.

[72]

Und alle diese Einbildungen hatte ich in Jahren, wo ich nichts von Skeptikern und Idealisten gehört hatte, wo ich aus meinem gehabten Religionsunterricht, mir Himmel und Hölle als zwei räumlich verschiedne Behälter denken mußte, und wo also meine dermalige Einbildung meinen sonstigen eingeschränkten Ideen gerade widersprach.

Diese Täuschung währte drei Jahre lang, bis ich den Ort meines Aufenthalts veränderte, und in ganz neue Situationen kam, worin mich endlich meine neuen Erfahrungen überzeugten, daß es würkliche sinnliche Empfindungen und keine Einbildungen wären. Ich weiß mir diesen sonderbaren Zustand nicht zu erklären.

F. A. Stroth.


II.

Todesahndung*). 1

Anonym

Den 13ten Junius 1773 starb hieselbst (zu Bleicherode in der Grafschaft Hohenstein) a ein junger[73] Mensch von vier und zwanzig Jahren, und die Art seines Todes machte einiges Aufsehen.

Er war ein Zwillingssohn eines hiesigen Raschmachers von gutem Vermögen, und er hatte seines Vaters Handwerk erlernet. Ueber ein halbes Jahr lang hatte derselbe über öftere, jedoch erträgliche Kopfschmerzen geklagt, und dennoch nichts dagegen gebraucht, als daß er einigemal sich schröpfen lassen und purgiret hatte. Bei allen dem hat er sein erlerntes Handwerk in dieser Zeit ordentlich fortgetrieben, neben her noch andere häußliche Geschäfte, woran er Vergnügen gehabt, abgewartet, und ist dabei kein Feind von Gesellschaften gewesen, sondern hat alle die Vergnügungen mit seinen Freunden und Bekannten, jedoch ohne Ausschweifung mitgemacht, denen Leute von seinem Alter gewöhnlich ergeben sind.

Den letzten Pfingsttag und also kurz vor seinem Ende, geht er noch mit einer starken Gesellschaft seiner Bekannten auf ein nahes Dorf, und macht sich mit Tanzen recht lustig, schweift aber weder im Trinken, noch in andern Stücken aus, verläßt auch die Gesellschaft zu rechter Zeit, und kehrt noch bei Tage nach Hause.

Kurz, man hat in keinem Stücke etwas melancholisches an ihm bemerken können. Den letzten Sonntag vor seinem Ende geht er spatzieren, er kömmt auf den Kirchhof, geht bei seines Bruders Grab, welcher vor sieben Jahren an einem hitzigen [74]Fieber gestorben war, und sagt zu seinen Freunden: »auf künftigen Sonntag könnt ihr mich auch hieher tragen«.

In dieser Woche nehmen die Kopfschmerzen zu, er klagt dabei von Tage zu Tage über mehrere Mattigkeit, arbeitet aber doch noch die Woche auf dem Gestelle bis auf den Freitag. Nachdem er an diesem Tage des Morgens aufgestanden, läßt er sich das Bette in die Stube bringen, declarirt gegen jedermann, daß er Morgen Abend um zehn Uhr sterben werde, und verlangt von seinem Beichtvater das heilige Abendmahl, das ihm auch gereicht wird, und wobei er sich nach dem Urtheil aller Anwesenden mit Beten und Singen und sonst ordentlich und vernünftig verhält.

Unterdessen kommt sein Vater nach Hause, der bei einem auswärtigen Medico sich Raths erhohlet hat. Er läßt sich zwar wohl einen Umschlag wider die Kopfschmerzen um den Kopf binden, nimmt aber innerlich nichts, sondern bleibt dabei, er müsse Morgen Abend um zehn Uhr sterben.

Die folgende Nacht hindurch bringt er mit unterbrochenem Schlummer zu. Beim Erwachen sagt er, er wäre bei den Engeln im Himmel gewesen, und als er das Blasen der Musikanten ohnweit seiner Nachbarschaft hört, versichert er, daß die Engel im Himmel viel schönere Musik machten. Endlich zeigt sich den Sonnabend ein offenbares Delirium, in dem er beständig mit den Fin-[75]gern am Bette zupft, dabei er immer viel spricht.

Als den Nachmittag die Gesellen seines Vaters Feierabend machen, nimmt er von einem jeden Abschied und ermahnet sie zu allem Guten; Er nöthigt auch seinen Vater, zehen Träger, die ihn zu Grabe tragen sollen, aufzuschreiben, die er ihm alle benennt. Endlich des Abends um zehn Uhr geräth er in eine völlige Wuth: Er schreiet heftig, redet von lauter fürchterlichen Dingen, macht fürchterliche Geberden und kann kaum von vielen Personen gebändigt werden.

Nachdem diese Scene mit einigen Remissionen, da er nemlich nicht so sehr wüthend gewesen, etwa drei Stunden oder drüber fortgedauert, wird er endlich des Nachts um ein Uhr dem Anschein nach ruhig, seine Helfer entfernen sich, um auszuruhen, als man aber wieder nach ihm siehet, ist er ohnbemerkt verschieden: daß er also desselben Tages gestorben, an welchem sein Bruder sieben Jahr vorher sein Leben geendigt hatte.

Nach seinem Tode hat man in einen Kleiderschrank von ihm eingeschrieben gefunden, daß ihm geträumet: er werde nach drei Jahren an eben dem Tage und um die Zeit sterben, da sein Bruder gestorben wäre.

Fußnoten:

1: *) Dieser Aufsatz ist mir von einem bekannten und glaubwürdigen Mann mitgetheilt, und aus den Akten des Obercollegii Medici würklich genommen. Ich behalte mir vor, in der Folge über diese und ähnliche Vorfälle einiges zu sagen, was mir zu ihrer Erklärung zu dienen scheint.
A. d. H.

Erläuterungen:

a: Kleinstadt im Landkreis Nordhausen, Thüringen. Die Grafschaft Hohenstein befand sich zu dieser Zeit in brandenburg-preußischem Besitz.

[76]

III.

Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte. a

Moritz, Karl Philipp

Antons Mutter hatte das Unglück, sich oft für beleidigt, und gern für beleidigt zu halten, auch wo sie es wirklich nicht war, um nur Ursach zu haben, sich zu kränken und zu betrüben, und ein gewisses Mitleiden mit sich selber zu empfinden, worinn sie eine Art von Vergnügen fand.

Leider scheint sie diese Krankheit auf ihren Sohn fortgeerbt zu haben, der jetzt noch oft vergeblich damit zu kämpfen hat.

Schon als Kind, wenn alle etwas bekamen, und ihm sein Antheil hingelegt wurde, ohne dabei zu sagen, es sey der seinige, so ließ er ihn lieber liegen, ob er gleich wußte, daß er für ihn bestimmt war, um nur die Süßigkeit des Unrechtleidens zu empfinden, und sagen zu können, alle andern haben etwas, und ich nichts bekommen!

Da er eingebildetes Unrecht schon so stark empfand, um so viel stärker mußte er das wirkliche empfinden. Und gewiß ist wohl bei niemanden die Empfindung des Unrechts stärker als bei Kindern, und niemanden kann auch leichter Unrecht geschehen; ein Satz, den alle Pädagogen täglich und stündlich beherzigen sollten. Oft konnte Anton stundenlang nachdenken, und Gründe gegen Grün-[77]de auf das genauste abwägen, ob eine erlittne Züchtigung von seinem Vater recht oder unrecht sey?

Jetzt genoß er in seinem eilften Jahre zum erstenmale das unaussprechliche Vergnügen verbotner Lektüre. Sein Vater war ein abgesagter Feind von allen Romanen, und drohete ein solches Buch sogleich mit Feuer zu verbrennen, wenn er es in seinem Hause fände. Demohngeachtet bekam Anton durch seine Base die schöne Banise, b die Tausend und eine Nacht, c und die Insel Felsenburg d in die Hände, die er nun heimlich und verstohlen, obgleich mit Bewußtseyn seiner Mutter, in der Kammer las, und gleichsam mit unersättlicher Begierde verschlang.

Dieß waren einige der süssesten Stunden in seinem Leben. So oft seine Mutter hereintrat, drohete sie ihm bloß mit der Ankunft seines Vaters, ohne ihm selber das Lesen in diesen Büchern zu verbieten, woran sie ehemals ein eben so entzückendes Vergnügen gefunden hatte.

Die Erzählung von der Insel Felsenburg that auf Anton eine sehr starke Wirkung, denn nun gingen eine Zeitlang seine Ideen auf nichts geringers, als einmal eine große Rolle in der Welt zu spielen, und erst einen kleinen dann immer größern Cirkel von Menschen um sich her zu ziehen, von welchen er der Mittelpunkt wäre: dieß erstreckte sich immer weiter, und seine ausschweifende Einbildungskraft ließ ihn endlich sogar Thiere, Pflanzen, und leblose [78]Kreaturen, kurz alles was ihn umgab, mit in die Sphäre seines Daseyns hineinziehen, und alles mußte sich um ihn, als den einzigen Mittelpunkt umherbewegen, bis ihm schwindelte. Dieses Spiel seiner Einbildungskraft machte ihn damals oft wonnevollere Stunden, als er je nachher wieder genossen hat.

So machte seine Einbildungskraft die meisten Leiden und Freuden seiner Kindheit. Wie oft, wenn er an einem trüben Tage bis zum Ueberdruß und Eckel in der Stube eingesperrt war, und etwa ein Sonnenstrahl durch eine Fensterscheibe fiel, erwachten auf einmal in ihm Vorstellungen vom Paradiese, von Elysium, oder von der Insel der Kalypso, die ihn ganze Stundenlang entzückten.

Aber von seinem zweiten und dritten Jahre an, erinnert er sich auch der höllischen Quaalen, die ihm die Mährchen seiner Mutter und seiner Base im Wachen und im Schlafe machten: wenn er bald im Traume lauter Bekannte um sich her sahe, die ihn plötzlich mit scheußlich verwandelten Gesichtern anblickten, bald eine hohe düstre Stiege hinaufging, und eine grauenvolle Gestalt ihm die Rückkehr verwehrte, oder gar der Teufel bald wie ein fleckichtes Huhn, bald wie ein schwarzes Tuch an der Wand ihm erschien.

Als seine Mutter noch mit ihm auf dem Dorfe wohnte, jagte ihm jede alte Frau Furcht und Entsetzen ein, so viel hörte er beständig von Hexen und [79]Zauberinnen; und wenn der Wind oft mit sonderbarem Getön durch die Hütte pfif, so nannte seine Mutter dieß, im allegorischen Sinn, den handlosen Mann, ohne weiter etwas dabei zu denken.

Allein sie würde es nicht gethan haben, hätte sie gewußt, wie manche grauenvolle Stunde und wie manche schlaflose Nacht dieser handlose Mann ihrem Sohne noch lange nachher gemacht hat.

Insbesondre waren immer die letzten vier Wochen vor Weihnachten für Anton ein Fegefeuer, wogegen er gern den mit Wachslichtern besteckten und mit übersilberten Aepfeln und Nüssen behängten Tannenbaum entbehrt hätte.

Da ging kein Tag hin, wo sich nicht ein sonderbares Getöse wie von Glocken, oder ein Scharren draußen vor der Thüre, oder eine dumpfe Stimme hätte hören lassen, die den sogenannten Ruprecht oder Vorgänger des heiligen Christes anzeigte, den Anton dann im ganzen Ernst für einen Geist oder ein übermenschliches Wesen hielt, und so ging auch diese ganze Zeit über keine Nacht hin, wo er nicht mit Schrecken und Angstschweiß vor der Stirne aus dem Schlaf erwachte.

Dieß währte bis in sein achtes Jahr, wo erst sein Glaube an die Wirklichkeit des Ruprechts sowohl als des heiligen Christes an zu wanken fing.

So theilte ihm seine Mutter auch eine kindische Furcht vor dem Gewitter mit. Seine einzige Zuflucht war alsdann, daß er so fest er konnte die [80]Hände faltete, und sie nicht ehr wieder auseinander ließ, bis das Gewitter vorüber war; dieß nebst dem über sich geschlagnen Kreutze war auch seine Zuflucht, und gleichsam eine feste Stütze, so oft er allein schlief, weil er dann glaubte, es könnten ihm weder Teufel noch Gespenster etwas anhaben.

Seine Mutter hatte einen sonderbaren Ausdruck, daß einem, der vor einem Gespenste fliehen will, die Fersen lang werden, dieß fühlte er im eigentlichen Verstande, so oft er im Dunkeln etwas Gespensterähnliches zu sehen glaubte. Auch pflegte sie von einem Sterbenden zu sagen, daß ihm der Tod schon auf der Zunge sitze; dieß nahm Anton ebenfalls im eigentlichen Verstande, und als der Mann seiner Base starb, stand er neben dem Bette, und sahe ihm sehr scharf in den Mund, um den Tod auf der Zunge desselben, etwa, wie eine kleine schwarze Gestalt, zu entdecken.

Die erste Vorstellung über seinen kindischen Gesichtskreis hinaus, bekam er ohngefähr im vierten Jahre, als seine Mutter noch mit ihm auf dem Dorfe wohnte, und eines Abends mit einer alten Nachbarin, ihm, und seinen Stiefbrüdern e allein in der Stube saß.

Das Gespräch fiel auf Antons kleine Schwester, die vor kurzem in ihrem zweiten Jahre gestorben war, und worüber seine Mutter beinahe ein Jahrlang untröstlich blieb.

[81]

Wo wohl jetzt Julchen seyn mag? sagte sie nach einer langen Pause, und schwieg wieder. Anton blickte nach dem Fenster hin, wo durch die düstre Nacht kein Lichtstrahl schimmerte, und fühlte zum erstenmale die wunderbare Einschränkung, die seine damalige Existenz von der gegenwärtigen beinahe so verschieden machte, wie das Daseyn vom Nichtseyn.

Wo mag jetzt wohl Julchen seyn? dachte er seiner Mutter nach, und Nähe und Weite, Gegenwart und Zukunft blitzte durch seine Seele. Seine Empfindung dabei mahlt kein Federzug, tausendmal ist sie wieder in seiner Seele, aber nie mit der ersten Stärke erwacht.

Wie groß ist die Seeligkeit der Einschränkung, die wir doch aus allen Kräften zu fliehen suchen! Sie ist wie ein kleines glückliches Eiland in einem stürmischen Meere: wohl dem, der in ihren Schooße sicher schlummern kann, ihn weckt keine Gefahr, ihm drohen keine Stürme. Aber wehe dem, der von unglücklicher Neugier getrieben, sich über dies dämmernde Gebürge hinauswagt, das wohlthätig seinen Horizont umschränkt.

Er wird auf einer wilden stürmischen See von Unruh und Zweifel hin und her getrieben, sucht unbekannte Gegenden in grauer Ferne, und sein kleines Eiland, auf dem er so sicher wohnte, hat alle Reize für ihn verlohren.

[82]

Eine von Antons seeligsten Erinnerungen aus den frühesten Jahren seiner Kindheit ist, als seine Mutter ihn in ihren Mantel eingehüllt, durch Sturm und Regen trug. Auf dem kleinen Dorfe war die Welt ihm schön, aber hinter dem blauen Berge, nach welchem er immer sehnsuchtsvoll blickte, warteten schon die Leiden auf ihn, die die Jahre seiner Kindheit vergällen sollten.

Da ich einmal in meiner Geschichte zurückgegangen bin, um Antons erste Empfindungen und Vorstellungen von der Welt nachzuhohlen, so muß ich hier noch zwei seiner frühesten Erinnerungen anführen, die seine Empfindung des Unrechts betreffen.

Er ist sich deutlich bewußt, wie er im zweiten Jahre, da seine Mutter noch nicht mit ihm auf dem Dorfe wohnte, von seinem Hause nach dem gegenüberstehenden, über die Straße hin und wieder lief, und einem wohlgekleideten Manne in den Weg rannte, gegen den er heftig mit den Händen ausschlug, weil er sich selbst und andre zu überreden suchte, daß ihm Unrecht geschehen sey, ob er gleich innerlich fühlte, daß er der beleidigende Theil war.

Diese Erinnerung ist wegen ihrer Seltenheit und Deutlichkeit merkwürdig; auch ist sie ächt, weil der Umstand an sich zu geringfügig war, als daß ihm nachher jemand davon hätte erzählen sollen.

Die zweite Erinnerung ist aus dem vierten Jahre, wo seine Mutter ihn wegen einer wirklichen [83]Unart schalt; indem er sich nun grade auszog, fügte es sich, daß eines seiner Kleidungsstücke mit einigem Geräusch auf den Stuhl fiel: seine Mutter glaubte, er habe es aus Trotz hingeworfen, und züchtigte ihn hart.

Dieß war das erste wirkliche Unrecht, was er tief empfand, und was ihm nie aus dem Sinne gekommen ist; seit der Zeit hielt er auch seine Mutter für ungerecht, und bei jeder neuen Züchtigung fiel ihm dieser Umstand ein.

Ich habe schon erwähnt, wie ihm der Tod in seiner Kindheit lächerlich vorgekommen sey. Dieß dauerte bis in sein zehntes Jahr, als einmal eine Nachbarinn seine Eltern besuchte, und erzählte, wie ihr Vetter, der ein Bergmann war, von der Leiter hinunter in die Grube gefallen sey, und sich den Kopf zerschmettert habe.

Anton hörte aufmerksam zu, und bei dieser Kopfzerschmetterung dachte er sich auf einmal ein gänzliches Aufhören vom Denken und Empfinden, und eine Art von Vernichtung und Ermanglung seiner selbst, die ihn mit Grauen und Entsetzen erfüllte, so oft er wieder lebhaft daran dachte. Seit der Zeit hatte er auch eine starke Furcht vor dem Tode, die ihm manche traurige Stunde machte.

Noch muß ich etwas von seinen ersten Vorstellungen, die er sich ebenfalls ohngefähr im zehnten Jahre von Gott und der Welt machte, sagen.

[84]

Wenn oft der Himmel umwölkt, und der Horizont klein war, fühlte er eine Art von Bangigkeit, daß die ganze Welt wiederum mit eben so einer Decke umschlossen sey, wie die Stube, worinn er wohnte, und wenn er dann mit seinen Gedanken über diese gewölbte Decke hinausging, so kam ihm diese Welt an sich viel zu klein vor, und es däuchte ihm, als müsse sie wiederum in einer andern eingeschlossen seyn, und das immer so fort.

Eben so ging es ihm mit seiner Vorstellung von Gott, wenn er sich denselben als das höchste Wesen denken wollte.

Er saß einmal in der Dämmerung an einem trüben Abend allein vor seiner Hausthüre, und dachte hierüber nach, indem er oft gen Himmel blickte, und dann wieder die Erde ansahe, und bemerkte, wie sie selbst gegen den trüben Himmel so schwarz und dunkel war.

Ueber dem Himmel dachte er sich Gott, aber jeder, auch der höchste Gott, den sich seine Gedanken schufen, war ihm zu klein, und mußte immer wieder noch einen größern über sich haben, gegen den er ganz verschwand, und so ins Unendliche fort.

Doch hatte er hierüber nie etwas gelesen noch gehört. Was am sonderbarsten war, so gerieth er durch sein beständiges Nachdenken und in sich gekehrt seyn, sogar auf den Egoismus, der ihn beinahe hätte verrückt machen können.

[85]

Weil nehmlich seine Träume größtentheils sehr lebhaft waren, und beinahe an die Wirklichkeit zu grenzen schienen; so fiel es ihm ein, das er auch wohl am hellen Tage träume, und die Leute um ihn her nebst allem, was er sahe, Geschöpfe seiner Einbildungskraft seyn könnten.

Dieß war ihm ein erschrecklicher Gedanke, und er fürchtete sich vor sich selber, so oft es ihm einfiel, auch suchte er sich dann wirklich durch Zerstreuung von diesen Gedanken loß zu machen.

Nach dieser Ausschweifung wollen wir der Zeitfolge gemäß in Anton Geschichte wieder fortfahren, den wir eilf Jahre alt bei der Lektüre der schönen Banise und der Insel Felsenburg verlassen haben. Er bekam nun auch Fenelons Todtengespräche, nebst dessen Erzählungen zu lesen, und sein Schreibemeister fing an, ihn eigne Briefe und Ausarbeitungen machen zu lassen.

Dieß war für Anton eine noch nie empfundne Freude. Er fing nun an, seine Lektüre zu nutzen, und hie und da Nachahmungen von dem Gelesnen anzubringen, wodurch er sich den Beifall und die Achtung seines Lehrers erwarb.

Sein Vater musicirte mit in einem Konzert, wo Ramlers Tod Jesu f aufgeführt wurde, und brachte einen gedruckten Text davon mit zu Hause. Dieser hatte für Anton so viel Anziehendes, und übertraf alles Poetische, was er bisher gelesen hatte, [86]so weit, daß er ihn so oft, und mit solchem Entzücken las, bis er ihn beinahe auswendig wußte.

Durch diese einzige so oft wiederhohlte zufällige Lektüre bekam sein Geschmack in der Poesie eine gewisse Bildung und Festigkeit, die er seit der Zeit nicht wieder verloren hat; so wie in der Prose durch den Telemach; denn er fühlte bei der schönen Banise und Insel Felsenburg, ohngeachtet des Vergnügens, das er darinn fand, doch sehr lebhaft das Abstechende und Unedlere in der Schreibart.

Von poetischer Prose fiel ihm Carl v. Mosers Daniel in der Löwengrube g in die Hände, den er verschiednemale durchlas, und woraus auch sein Vater zuweilen vorzulesen pflegte.

Die Wirthin im Hause, eine Schusterfrau, ließ sich von Anton gerne daraus vorlesen, weil es ihr so moralisch klang: moralisch hieß nehmlich bei ihr so viel als erhaben; und von einen gewissen Prediger, der immer in einem sehr schwülstigen Tone sprach, sagte sie, daß er ihr gefiele, weil er so moralisch predige; auch ein Beweiß, wie sehr man sich in Büchern und Reden für das Volk dergleichen Ausdrücke zu enthalten habe, die unter uns nicht populär sind; in England weiß der ungebildetste Mensch, was morals heißt.

Diese Schusterfrau war übrigens eine sehr verständige Frau, und ihr Sohn, der das Handwerk trieb, ein heller Kopf, den aber seine zu starke Empfindlichkeit schon frühzeitig zu religiösen [87]Schwärmereien verleitete, wovon er nachher durch eigne Kraft und vernünftige Ueberlegung zurückkam. Dieser Schuster ist nachher beständig für Anton eine sehr merkwürdige Person geblieben.

Antons Vater ließ ihm auf Zureden einiger Bekannten, in seinem zwölften Jahre, in der öffentlichen Stadtschule eine lateinische Privatstunde besuchen, damit er wenigstens auf alle Fälle, wie es hieß, einen Kasum solle setzen lernen. In die übrigen Stunden der öffentlichen Schule aber, worinn Religionsunterricht die Hauptsache war, wollte ihn sein Vater, zum größten Leidwesen seiner Mutter und Anverwandten, schlechterdings nicht schicken.

Nun war doch einer von Antons eifrigsten Wünschen, einmal in eine öffentliche Stadtschule gehen zu dürfen, zum Theil erfüllt.

Beim ersten Eintritt waren ihm schon die dicken Mauren, dunkeln gewölbten Gemächer, hundertjährigen Bänke, und vom Wurm durchlöcherten Katheder, nichts wie Heiligthümer, die seine Seele mit Ehrfurcht erfüllten.

Der Konrektor, ein kleines muntres Männchen, flößte ihm ohngeachtet seiner nicht sehr gravitätischen Miene, dennoch durch seinen schwarzen Rock und Stutzperucke einen tiefen Respekt ein.

Dieser Mann ging noch auf einen ziemlich freundschaftlichen Fuß mit seinen Schülern um: gewöhnlich nannte er zwar einen jeden ihr, aber [88]die vier öbersten, welche er auch in Scherz Veteraner hieß, wurden vorzugsweise er genannt.

Ob er dabei gleich sehr strenge war, hat doch Anton niemals einen Vorwurf noch weniger einen Schlag von ihm bekommen: er glaubte daher auch in der Schule immer mehr Gerechtigkeit, als bei seinen Eltern zu finden.

Er mußte nun anfangen, den Donat auswendig zu lernen, allein freilich hatte er einen wunderbaren Accent, der sich bald zeigte, da er gleich in der zweiten Stunde sein Mensa auswendig hersagen mußte, und indem er Singulariter und Pluraliter sagte, immer den Ton auf die vorletzte Silbe legte, weil er sich beim Auswendiglernen dieses Pensums, wegen der Aehnlichkeit dieser Wörter mit Amariter, Jebusiter, u.s.w. fest einbildete, die Singulariter wären ein besonders Volk, das Mensa, und die Pluraliter ein andres Volk, das Mensä gesagt hätte.

Wie oft mögen ähnliche Mißverständnisse veranlaßt werden, wenn der Lehrer sich mit dem ersten Worte des Lehrlings begnügen läßt, ohne in den Begrif desselben weiter einzudringen!

Auch laß Anton schon damals nach seiner Art das lateinische ae wie unser deutsches ä, welches in neuern Zeiten von verschiednen angenommen ist; damals ward er von allen seinen Mitschülern, und vom Konrektor selber darüber ausgelacht.

[89]

Nun ging es rasch an das Auswendiglernen. Das amo, amem, amas, ames, ward bald nach dem Takte hergebetet, und in den ersten sechs Wochen wußte er schon sein oportet auf den Fingern herzusagen; dabei wurden täglich Vokabeln auswendig gelernt, und weil ihm niemals eine fehlte, so schwang er sich in kurzer Zeit von einer Stuffe zur andern empor, und rückte immer näher an die Veteraner heran.

Welch eine glückliche Lage, welch eine herrliche Laufbahn für Anton, der nun zum erstenmale in seinem Leben einen Pfad des Ruhms vor sich eröfnet sahe, was er so lange vergeblich gewünscht hatte.

Auch zu Hause brachte er diese kurze Zeit ziemlich vergnügt zu, indem er alle Morgen, während daß seine Eltern Kaffee tranken, ihnen aus dem Thomas von Kempis von der Nachfolge Christi vorlesen mußte, welches er sehr gern that.

Es ward alsdann darüber gesprochen und er durfte auch zuweilen sein Wort dazu geben. Uebrigens genoß er das Glück, nicht viel zu Hause zu seyn, weil er noch die Stunden seines alten Schreibmeisters zu gleicher Zeit besuchte, den er, ohngeachtet mancher Kopfstöße, die er von ihm bekommen hatte, so aufrichtig liebte, daß er alles für ihn aufgeopfert hätte.

Denn dieser Mann unterhielt sich mit ihm und seinen Mitschülern oft in freundschaftlichen und [90]nützlichen Gesprächen, und weil er sonst von Natur ein ziemlich harter Mann zu seyn schien, so hatte seine Freundlichkeit und Güte desto mehr Rührendes, das ihm die Herzen gewann.

So war nun Anton einmal auf einige Wochen in einer doppelt glücklichen Lage: aber wie bald wurde diese Glückseeligkeit zerstört! Damit er sich seines Glücks nicht überheben sollte, waren ihm fürs erste schon starke Demüthigungen zubereitet.

Denn ob er nun gleich in Gesellschaft gesitteter Kinder unterrichtet ward, so ließ ihn doch seine Mutter die Dienste der niedrigsten Magd verrichten.

Er mußte Wasser tragen, Butter und Käse aus den Kramläden hohlen, und wie ein Weib mit dem Korbe im Arm auf den Markt gehen, um Eßwaaren einzukaufen.

Wie innig es ihn kränken mußte, wenn alsdann einer seiner glücklichern Mitschüler hönischlächelnd vor ihm vorbeiging, darf ich nicht erst sagen.

Doch dieß verschmerzte er noch gerne, gegen das Glück in eine lateinische Schule gehen zu dürfen, wo er nach zwei Monathen so weit gestiegen war, daß er nun an den Beschäftigungen des öbersten Tisches oder der sogenannten vier Veteraner mit Theil nehmen konnte.

Um diese Zeit führte ihn auch sein Vater zum erstenmale zu einem äußerst merkwürdigen Manne in H., h der schon lange der Gegenstand seiner Ge-[91]spräche gewesen war. Dieser Mann hieß Tischer, und war hundert und fünf Jahr alt.

Er hatte Theologie studiert, und war zuletzt Informator bei den Kindern eines reichen Kaufmanns in H. gewesen, in dessen Hause er noch lebte, und von dem gegenwärtigen Besitzer desselben, der sein Eleve gewesen, und jetzt selber schon beinahe ein Greiß geworden war, seinen Unterhalt bekam.

Seit seinem funfzigsten Jahre war er taub, und wer mit ihm sprechen wollte, mußte beständig Dinte und Feder bei der Hand haben, und ihm seine Gedanken schriftlich aufsetzen, die er dann sehr vernehmlich und deutlich mündlich beantwortete.

Dabei konnte er noch im hundert und fünften Jahre sein kleingedrucktes griechisches Testament ohne Brille lesen, und redete beständig sehr wahr und zusammenhängend, obgleich oft etwas leise, oder lauter als nöthig war, weil er sich selber nicht hören konnte.

Im Hause war er nicht anders, als unter dem Nahmen der alte Mann bekannt. Man brachte ihm sein Essen, und sonstige Bequemlichkeiten, übrigens bekümmerte man sich nicht viel um ihn.

Eines Abends also, als Anton gerade bei seinem Donat saß, nahm ihn sein Vater bei der Hand und sagte: komm, jetzt will ich Dich zu einem Manne führen, in dem Du den heiligen Antonius, den heiligen Paulus, und den Erzvater Abraham wieder erblicken wirst.

[92]

Und indem sie hingingen, bereitete ihn sein Vater immer noch auf das, was er nun bald sehen würde, vor.

Sie traten ins Haus. Antons Herz pochte. Sie gingen über einen langen Hof hinaus, und stiegen eine kleine Windeltreppe, die sie in einen langen dunkeln Gang führte, worauf sie wieder eine andre Treppe hinauf, und dann wieder einige Stuffen hinabstiegen: dieß schienen Anton labyrinthische Gänge zu seyn.

Endlich öfnete sich linker Hand eine kleine Aussicht, wo das Licht durch einige Fensterscheiben erst von einem andern Fenster hineinfiel.

Es war schon im Winter, und die Thüre auswendig mit Tuch behangen; Antons Vater eröfnet sie: es war in der Dämmerung, das Zimmer weitläuftig und groß, mit dunkeln Tapeten ausgeziert, und in der Mitte an einem Tische, worauf Bücher hin und her zerstreut lagen, saß der Greiß auf einem Lehnsessel.

Er kam ihnen mit enblößten Haupt entgegen. Das Alter hatte ihn nicht darnieder gebückt, er war ein langer Mann, und sein Ansehn war groß und majestätisch. Die schneeweißen Locken zierten seine Schläfe, und aus seinen Augen blickte eine unnennbare sanfte Freundlichkeit hervor. Sie setzten sich.

Antons Vater schrieb ihm einiges auf. Wir wollen beten, fing der Greiß nach einer Pause an, und meinen kleinen Freund mit einschließen.

[93]

Darauf entblößte er sein Haupt und kniete nieder, Antons Vater neben ihm zur rechten, und Anton zur linken Seite.

Freilich fand er nun alles, was ihm sein Vater gesagt hatte, mehr als zu wahr. Er glaubte wirklich neben einem der Apostel Christi zu knieen, und sein Herz erhob sich zu einer hohen Andacht, als der Greiß seine Hände ausbreitete, und mit wahrer Inbrunst sein Gebet anhub, das er bald mit lauter, bald mit leiserer Stimme fortsetzte.

Seine Worte waren, wie eines, der schon mit alle seinen Gedanken und Wünschen jenseit des Grabes ist, und den nur noch ein Zufall etwas länger, als er glaubte, disseits verweilen läßt.

So waren auch alle seine Gedanken aus jenem Leben gleichsam herüber gehohlt, und so wie er betete, schienen sich seine Augen, und seine Stirne zu verklären.

Sie standen vom Gebet auf, und Anton betrachtete nun den alten Mann in seinem Herzen beinahe schon wie ein höheres, übermenschliches Wesen; und als er den Abend zu Hause kam, wollte er schlechterdings mit einigen seiner Mitschüler sich nicht auf einem kleinen Schlitten im Schnee herumfahren, weil ihm dieß nun viel zu unheilig vorkam, und er den Tag dadurch zu entweihen glaubte.

Sein Vater ließ ihn nun öfters zu diesem alten Manne gehen, und er brachte fast die ganze Zeit des Tages bei ihm zu, die er nicht in der Schule war.

[94]

Alsdann bediente er sich dessen Bibliothek, die größtentheils aus mystischen Büchern bestand, und las viele davon von Anfang bis zu Ende durch. Auch gab er dem alten Manne oft Rechenschaft von seinen Progressen im Lateinischen, und von den Ausarbeitungen bei seinem Schreibemeister. So brachte Anton ein paar Monathe ganz ungewöhnlich glücklich zu.

Aber welch ein Donnerschlag war es für Anton, als ihm beinahe zu gleicher Zeit die schreckliche Ankündigung geschahe, daß noch mit diesem Monathe seine lateinische Privatstunde aufhören, und er zugleich in eine andere Schreibeschule geschickt werden solle.

Thränen und Bitten halfen nichts, der Ausspruch war gethan. Vierzehn Tage wußte es Anton vorher, daß er die lateinische Schule verlassen sollte, und je höher er nun rückte, desto größer ward sein Schmerz.

Er grif also zu einem Mittel, sich den Abschied aus dieser Schule leichter zu machen, den man einem Knaben von seinem Alter kaum hätte zutrauen sollen, anstatt, daß er sich bemühete, weiter heraufzukommen, that er das Gegentheil, und sagte entweder mit Fleiß nicht, was er doch wußte, oder legte es auf andre Weise darauf an, täglich eine Stuffe hinunter zu kommen, welches sich der Konrektor und seine Mitschüler nicht erklären konnten, und ihm oft ihre Verwundrung darüber bezeugten.

[95]

Anton allein wußte die Ursach davon, und trug seinen geheimen Kummer mit nach Hause und in die Schule. Jede Stuffe, die er auf die Art freiwillig herunterstieg, kostete ihm tausend Thränen, die er heimlich zu Hause vergoß, aber so bitter diese Arznei war, die er sich selbst verschrieb, so that sie doch ihre Wirkung.

Er hatte es selber so veranstaltet, daß er gerade am letzten Tage der unterste werden mußte. Allein dieß war ihm zu hart. Die Thränen standen ihm in den Augen, und er bat, man möchte ihn nur noch heute an seinem Orte sitzen lassen, morgen wolle er gern den untersten Platz einnehmen.

Jeder hatte Mitleiden mit ihm, und man ließ ihn sitzen. Den andern Tag war der Monath aus, und er kam nicht wieder.

Wie viel ihm diese freiwillige Aufopfrung gekostet habe, läßt sich aus dem Eifer und der Mühe schließen, wodurch er sich jeden höhern Platz zu erwerben gesucht hatte.

Oft wenn der Konrektor in seinem Schlafrock aus dem Fenster sahe, und er vor ihm vorbeiging, dachte er, o könntest du doch dein Herz gegen diesen Mann ausschütten, aber dazu schien ihm die Entfernung zwischen ihm und seinem Lehrer noch viel zu groß zu seyn.

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 31-44 u. 800-815.

b: Höfisch-historischer Barockroman von dem schlesischen Dichter Heinrich Anshelm von Zigler und Kliphausen (KMA 1, S. 801, Erl. zu 32,14).

c: Geschichten- und Märchensammlung (KMA 1, S. 801, Erl. zu 32, 14).

d: Johann Gottfried Schnabel veröffentlichte 1731-1743 den Roman in 4 Bänden (KMA 1, S. 801f., Erl. zu 32, 14-15).

e: Die Zwillinge Johann Gottlieb und Anton, vgl. KMA 1, S. 772, Erl. zu 13,23-24.

f: Passionsoratorium. Vgl. KMA 1, S. 807, Erl. zu 37,29-30.

g: Moser 1763.

h: Hannover.

[96]

IV.

Selbstgeständnisse des Herrn Doktor Semler, von seinen Charakter und Erziehung. a

Semler, Johann Salomo

I. Von seinen Kinderjahren.

Von meinem Leben als Kind kann ich eben so wenig, als viele andre Menschen, viel auffallendes und großes erzählen.

Ich war sehr beliebt, das weiß ich, meine Mutter wendete alles an, mir darin noch mehr beförderlich zu sein. Ich war noch dazu überaus glücklich durch die Pocken gekommen, die meiner Schwester desto mehr Schaden gethan hatten.

Lesen, etwas schreiben und rechnen konnte ich schon zu Hause; mein Vater und Bruder sorgten dafür, und meine Mutter half, wo sie nur von der Haushaltung abkommen konnte, dazu, daß ich sehr bald recht gut lesen konnte.

Viele Sprüche, Verse aus Liedern lernte ich eben so, durch ihre tägliche Vorsorge und Anleitung. Da sie mich sehr liebte, als den letzten noch übrig gebliebenen Sohn, außer meinem noch viel ältern Bruder; so suchte sie mir Eindrücke beizubringen, die mich für Schaden und Nachtheil gewisser bewahren möchten.

Sie gewöhnte mich zu einer geraden Aufrichtigkeit, erst bei ihr um alles zu fragen; zum öftern [97]Andenken, an den Unterschied böser Menschen, die ich kennen lernte durch ihre Unfälle, davon man fast täglich was erzählte.

Ich habe oft nachher mit Vergnügen zurückgedacht, nachdem ich von dem so großen Pabst Hadrian dem Sechsten gelesen habe, daß er auch seiner Mutter die erste Erziehung bis ins sechste und siebente Jahr oft gedankt habe, wegen der festen Eindrücke, die sein kindlich Alter davon angenommen, und in unveränderlichen Keimen und Sprossen nach und nach fortgesetzt hat.

Esopi Fabeln mußte ich gar oft wieder erzählen; eine Anzahl Lateinischer Vocabeln gab mir mein Bruder die Woche zwei bis dreimal auf, und wenn ich sie gut lernte, bekam ich von meinem Vater ein Lob über Tische, etwas geschenkt, oder durfte mit ihm spatzieren gehen, da ich immer mehr Vocabeln lernte, und auf vorkommende Dinge schon anwendete.

II. Von seinen Jugendjahren.

Semlers Vater, welcher in Saalfeld Prediger und ein gerader ehrlicher Mann von sehr gesunder Vernunft war, hatte sich doch noch in seinem Alter zu der damals herrschenden Parthei der sogenannten Frommen, nebst seinem ältesten Sohne, mit hinüberziehen lassen, und wollte nun auch, daß sein jüngster Sohn sich zu dieser Parthei schlagen, [98]und ein sogenannter Wiedergebohrner werden solle. Der junge Semler sträubte sich lange dagegen, bis ihn endlich ein sonderbarer Vorfall darzu bewog, den wir ihn selbst wollen erzählen lassen.

»Immer mehr wurde ich von nun an in die Klemme gebracht, daß mir wirklich Essen und Trinken darum unangenehm wurde, weil ich meinem guten Vater unter den Augen sitzen, und sein stetes Anliegen täglich aufs neue bemerken mußte. Ein Sonntag war endlich schrecklich für mich.

Ich hatte schon lange Zeit her, zum Dank für meinen Claviermeister, ihm die Frühkirchen abgenommen, die zumal im Winter dem schwächlichen Manne sehr beschwerlich fielen.

Er mußte im Schnee und Regen von seinem Häusgen an, den weiten Weg in die Stadtkirche und über eine sehr hohe Kirchentreppe machen. Wenn er also nicht kommen wollte, so schickte er mir Abends die Orgelschlüssel und die Lieder zu, da ich dann auf Clavier und Pedal sie vorher gut genug mir bekannt machen konnte, wenn ja eine schwere Melodie vorkam.

Vor der Amtspredigt, stund ich auch meist gleich hinter ihm, wenn er mir winken wollte, die Orgel zu nehmen, indem ihm zuweilen nicht wohl wurde. Diesen Sonntag hatte er die Amtspredigt zu bedienen; er hatte seine andächtigen vielen Gebete mit gewöhnlicher Inbrunst hergesagt, welches in der That [99]mir allemal erbaulich zu sehen war; so inbrünstig und ohne alle Menschenfurcht hielt er seine Andacht.

Allein wie nach dem Kyrie das Lied, Allein Gott in der Höh sey Ehr, b angefangen werden sollte, merkte man schon eine Unordnung im Pedal, wo ein Ton unaufhörlich fortschallte, nach und nach fehlete es auch in der rechten Hand; und der Cantor hieß mich gleich fortspielen, und dem Organisten herunter helfen; es hatte ihn ein Schlagfluß getroffen.

Ich spielte also fort, bis die Kirche aus war; und der Cantor bestellte mich wieder bis auf weitere Einrichtung. Wie ich zu Hause komme, so erzählte ich die Sache, ganz modest, um nicht zu pralen.

Mein Vater sagte, dieß habe ich lange für mich ebenfalls gefürchtet, und die Ursach kann der wohl wissen. Er wies auf mich. Mein Bruder war eben zugegen, wie er uns gemeiniglich des Sonntags besuchte; der sagte: Deus habeat suas horas et moras; c und die distinctiones gratiae

Indessen redete er auch mit mir, warum ich nicht in diese Versammlungsstunde gehen wollte. Die kindliche Hochachtung überwand mich also; daß ich sogleich beschloß, mit Krause und Lorentz*), 1 die ohnehin in der Classe meine Nachbaren waren, nach und nach, anhänglicher umzugehen.

[100]

Diese bezeugten eine sehr grosse Freude; nahmen mich mit in die nächsten Stunden. Es machte großes Aufsehen in der Stadt; die Parthei ließ es zu sehr merken, daß ihr an Unterwerfung mehr als an wahrer Tugend, die ohnehin Naturwerk hieß, gelegen sei.

Ich kann nicht sagen, daß mich in der ersten Zeit diese Stunde sehr bewegt oder gerührt hätte; so gar viel abgeschmacktes kam vor, unter den Erzählungen des Seelenzustandes nach den einzelnen Tagen und Stunden; von dem Seelenfreund ― ― immer einerlei; nur immer schlechter und gezwungener.

Nach und nach konnte ich doch mein Urtheil wirklich selbst verwerfen, als natürliche sündliche Feindschaft gegen Gott; und so willigte ich wirklich in allem Ernst in alle Schritte und Tritte der neuen Frömmigkeit.

Meine bisherige Frölichkeit entwich; ich wurde nun ganz ernsthaft; ich vermied meine vorigen lieben Gesellschafter so sehr, daß ich ihnen aus dem Wege gieng; und wenn mich ja einer anhalten konnte, so redete ich würklich so feierlich und gutmeinend, daß manche Thränen fallen liessen.

Weil aber ihre Eltern in der Lage nicht waren, als mein Vater seyn mochte; so wurde aus der Nachfolge, die man von mir her berechnet hatte, fast gar nichts.

[101]

Nun ich bevestiget gnug schien, so wurde der ganze Zug der ersten vier bis fünf recht frommen Schüler, gar nach Hofe bestellt zum Herzog ins Zimmer; wohin wohl noch niemal solche blaue Mäntel gekommen waren.

Der Herzog war ganz allein; ließ uns setzen, redete mit uns über den Zustand des Herzens; und hieß uns endlich nach der Reihe niederknieen und in seiner Gegenwart beten. Ueber eine ganze Stunde dauerte diese fromme Audienz.

Da ich nicht heucheln konnte, so suchte ich nun mit allem Ernst die sogenannte Versiegelung und die Gewisheit, daß ich ein Kind Gottes, in welcher besondern Bedeutung wußte ich freilich nicht, worden sey.

Kein Winkel im Hause war übrig, wo ich nicht, um gewiß allein und unbemerkt zu seyn, oft geknieet und viele Thränen geweint habe, Gott möge mich dieser großen Gnade würdigen; allein nun fehlete mir das, was jene Glauben nannten; nun sollte ich den Schluß gleich gemacht, und mich selbst durch große Gedanken für alles das angesehen haben, was jene so leicht redeten.

Ich blieb also unter dem Gesetz, in einem gesetzlichen Zustande, wie es hiesse. Herrnhutische Lieder halfen mir eben so wenig, als manche andre neue, die in Salfeld jetzt bekannt, und in diesen Gesellschaften zumal gesungen wurden; ob ich sie gleich auch lieber sang, als manche alte Kirchenlieder.

[102]

Diese haben gleichwol mehr Realität und ganz gewiß große gemeinnützige Wahrheiten zum Inhalte; aber es muste alles neu seyn.

Ich untersuchte mich aufs alleraufrichtigste, ob ich wissentlich noch einer geistlichen Unart nachhienge, oder einen Bann behielte; ich besann mich, daß ich zwei oder dreimal einen Sechser behalten, und einen Pfennig oder Dreier dafür in die Armenbüchse des Sonntags gesteckt hatte.

Ich sagte es meinem Vater und bat um so viel Groschen, die ich nächstens mit großer Freude einsteckte; und ich freute mich schon darauf, wenn ich auf der Universität mir würde etwas abziehen können, um es frommen Armen zu geben.

Noch entdeckte ich, bei Erblickung eines kleinen Buchs, daß ich dieß einmal bloß eingesteckt, und der Schusterfrau unter den Läden, nicht mit andern aufgewiesen hätte.

Sie war freilich mit dem dafür überlieferten großen Papier überflüßig vergnügt; aber ich überwand mich, das Buch ihr selbst zu zeigen, ich hätte es damalen nicht mitgezählet, da sollte sie dieß Papier noch dafür annehmen.

Sie bot mir an, dafür fünf bis sechs Bücher noch auszusuchen; aber ich that es nicht. Meine Aengstlichkeit litte es nicht.

Ich hatte aus unvorsichtigen lateinischen und griechischen Asceten, würklich Principia von eigener Büssung und Genugthuung im Kopfe; [103]und bei dieser innerlichen Unruhe, war die selbst dictirte Strafe und Erniedrigung wirklich eine innerliche Beruhigung. Aber wie unordentlich war demnach die Gemüthsfassung! In Salfeld fehlte es an Psychologie und menschlicher Erfahrung; alles hieß Erbauung oder Wirkung der Gnade, was gar begreiflicher menschlicher Mangel und Fehler war. Ich rechnete es indeß zur Aufrichtigkeit und meiner Schuldigkeit recht traurig zu seyn; mehrere Monathe war ich in diesem Hange zur steten geistlichen Betrübniß.


Auf der Universität in Halle ging Herr Semler mit zweien Leute, Nahmens Woltersdorf und Krause, um, die ihn gern zu ihrer frommen Parthei ziehen wollten. Die Wirkung, welche dieß auf ihn that, und wie er sich dabei verhielt, erzählet er selbst, wie folget:

»Eine ganz besondre, fast unwiderstehliche Herzlichkeit im ganzen Betragen hatten diese zwei Menschen ganz in ihrer Gewalt; so natürlich leicht diese Aufführung Eingang finden muste, bei allen Personen meines Temperaments, wurde es doch als eine Folge der Gnade des lieben Heilandes angesehen, der mich nun noch mehr zu sich zöge.

Ich war nie leichtsinnig oder frech gewesen, so bald ich von geistlichen Begriffen und Wahrheiten hörete; es war also sehr leicht, mir alle Aufmerksamkeit einzuflößen. Ich sprach zuweilen einige [104]Worte, woraus Woltersdorf schloß, ich sey dem Heiland schon sehr nahe. Ich trat ans Clavier und spielte einige Herrnhuthische Melodien.

Er war fast außer sich, und konnte dieß nicht begreifen, daß ich gar die Lieder auswendig konnte, ohne noch an dem Inhalt und den sonst so gewöhnlichen Folgen Theil zu nehmen. Endlich hieß es, nichts gar nichts hindre mich noch, als das unselige Studiren; ich sollte es wegwerfen; der Heiland könne besser lehren, als Menschen; darum ginge er auch nicht in Collegia, und genösse dafür unaussprechliche Seelenruhe und Unterricht des Heilandes.

Studiren ganz weglegen war mir sehr auffallend, zumal ich nicht wußte, ob der gute Mann jemalen was ernstliches gelernt hätte; ich hatte schon ehedem Weigels Ausschweifungen wider Schulen und Universitäten kennen lernen. Allein es entstunde doch eine seltsame Unruhe in mir; ein ängstliches Misfallen an mir selbst, an allen noch so rechtmäßigen oder unschuldigen Handlungen; ich fieng an, eine innere Stille und Unthätigkeit mir zu wünschen; und hatte noch nichts von Molinos oder neuern Mystikern gelesen.

Krause half dazu, um, wie er meinte, mich vollend zur Uebergabe zu bringen; allein eben die Lage, da man mir nie Sachen oder ihre kenntlichen Beschreibungen, sondern stets Tropen und viele sinnliche Bilder vorlegte, machte, das ich mich nie davon überzeugen konnte, ich hätte nun die Gnade; denn [105]nie bekam ich eine solche Gemüthsfassung, als diese Leute doch an sich zeigten, wenn sie gleich die Gnade noch niemalen mir beschrieben oder erklärt hatten.

In Collegiis war ich fast lauter Gebet und Application; kam von bösen Menschen vor in Psalmen oder Historie: so sagte ich mir immer, so böse waren die doch nicht, als ich.

Recht gut weiß ich es noch, daß ich einst ganz allein, Abends aus dem Collegio auf dem großen Platze des Waisenhauses spatziren ging, in tiefer Betrübniß, und wünschte, o wäre ich dieser Klumpe Eis, dieses Stücke Holz!« ―


Ich blieb lange in diesem schwankenden unruhigen Zustande, der mich bis in lächerliche Bedenklichkeiten herabsetzte. Ich hatte etwa um Neujahr 1744 auf der Wage, wo stets Bücher zum Verkauf stunden, die scriptores rei rusticae d in 4to, eine Heerwagische Ausgabe gefunden.

Die so alte Neigung zu humanioribus kam wieder zur Kraft; wo ich nur den Blick hinwarf in dies Buch, fand ich was ganz unbekanntes, ich hatte nicht so viel bey mir, als dafür gefordert wurde; bezahlete aber 8 Gr. darauf; und lief in größter Eil nach dem Waisenhaus, um mehr Geld aus meinem Koffer zu holen.

Eben so schnell lief ich zurück, und nun trug ich meinen Schatz nach Hause. Ich weiß nicht, ob Krause etwas empfindlich war, über meine Erobe-[106]rung; denn diese Aufwallung behielt sein Temperament noch immer; oder ob ich eine zu ausgelassene Freude bezeugte; er gab mir eine viel bedeutende Ermahnung, für mein Herz besser zu wachen, daß ich nicht mehr verlöre, als dieses alte Buch werth wäre.

Da entfiel mir auf einmal diese Frölichkeit; ich wollte das Buch wieder hintragen, und etwas am Gelde einbüssen, allein ich dachte eben so leicht, der arme Verkäufer hat das Geld nöthiger; du must eben deine Strafe daran leiden, und nun bat ich Gott oftmalen um Vergebung dieser so großen Sünde.

Es gehört zum Menschen, wenn er eine moralische Geschichte für sich selbst anfängt, daß er solchen Mängeln als ein moralisches Kind unterworfen ist; er sammelt sich eigne Erfahrung, und kann alsdenn unläugbar mit andern viel besser und zuverlässiger umgehen.

Ich beruhigte mich nach und nach, weil ich es mir bewußt war, daß ich herzlich gern in alle meine Besserung einwilligte, wenn ich auch als Mensch diese Art Fehler an mir hätte! da ich an andern unleugbar noch Fehler fand, die sie nicht einmal merkten. Ueberhaupt war mein Gefühl viel schärfer, als bei den meisten meiner andern Freunde.

Seine männlichen Jahre, und insbesondere sein häußliches Leben.

Was die eigene Erziehung unserer Kinder betrift, so haben wir uns dieser großen Pflicht der [107]Eltern mit gemeinschaftlicher Treue unterzogen; wenn wir gleich die besondere Unterweisung in einzelnen Stunden, einigen ausgesuchten Studiosis anvertrauet haben. Es haben schon mehr verständige Männer sich hierin selbst mehr auf Erfahrung, als auf Speculationen eingelassen, wobei gemeiniglich die ersten Proben noch mißlingen; oder noch nicht eben klar am Tage liegen.

Wir hatten die Kinder fast stets um uns, wenn sie nicht bei ihren Lehrern sein mußten; wir haben ihnen das Lesen meist beigebracht; alsdenn übten wir sie, daß sie wechselsweise uns ein Lied, einen Psalm, oder einige Seiten aus einem guten Buche vorlesen mußten. Wir lehreten sie ein Lied mitsingen, und fragten sie darüber; bis die mittelste so viel auf dem Clavier spielen konnte, daß sie alle die Töne leichter hielten. Gellerts Lieder e und andre unschuldige Arien ― lernten sie auswendig.

Die weibliche Geschicklichkeit besorgte die Mutter, so treu und unermüdet, als sie selbst aus eigner Erfahrung, zumal bei ihrer Tante in Salfeld, diese Erziehung wuste.

So war in unserm Zirkel lauter Ruhe und Zufriedenheit; das Gesinde sahe und hörte nichts zweideutiges, geschweige eine Unordnung; jedes fühlte die Ueberlegtheit der Frau in allen vorkommenden Geschäften; jedes unsre gleiche Liebe und Uebereinstimmung; in allen blos häuslichen Sachen hieng [108]ich gerne ab von der Einrichtung und der Erkenntniß einer so treuen Hausmutter.

So ist zwanzig Jahre lang eine grosse Gleichförmigkeit unsers Lebens unterhalten worden, wir und unsre Kinder wusten und fühleten es, daß wir die allernächste engste Gesellschaft auf der ganzen Welt seyn, und also beobachteten wir die daraus entstehenden Pflichten, ohne Geräusch, und ohne Ausnahme.

Es war freilich damalen lange so viel nicht von Erziehung geschrieben worden; aber wir schöpften aus der reinen Quelle der Religion; und es fehlete nichts, wenn wir auch vielen Schimmer entbehreten.


Was unsere tägliche Lebensordnung betrift: so habe ich recht, nach dem Wunsch und Verlangen meiner lieben Frau, sie stets um mich gehabt, ob ich gleich eine so genannte Studierstube hatte, welche also nur für meine Bücher bestimmt war.

So lebten wir in Altdorf, f und so setzten wir es in Halle g fort; und ich fand nur selten eine wichtige Ursache, einige halbe Tage wirklich allein zu seyn.

Wir haben uns dadurch ein vertrauliches Vergnügen geschaft, das täglich zunahm; und so setzte ich wirklich diese Stubengesellschaft fort, da sie Kinder hatte.

[109]

Sie setzte sich mit ihrer weiblichen Arbeit neben mich; und es konnte völlig so aussehen, als wollten wir einander zur Arbeit anhalten.

Nur selten hatten wir einige Gesellschaft, die, ihrer Absicht nach, uns trennen sollte. Ich konnte mit meinen Arbeiten nie fertig werden; und sie hatte eben so wenig in so vielen Stunden des ganzen Jahres, jemalen viele übrig, die blos zum Zeitvertreibe hätten dienen sollen. Ich habe mich durch diese stete Gesellschaft so gewöhnet, daß mich auch ein ziemlich lautes Geräusch von mehrern, die mit einander über ganz andre Sachen sprechen; und ein freies Spielen der Kinder, nicht im geringsten hindert, ich mag zu schreiben oder zu lesen haben, was es immer sey.

Seine tägliche Bewegung, (als ein Beitrag zur Seelendiätätik.)

So viel ich auch täglich zu thun hatte, und keine Lücke in meiner Zeit machen durfte: so habe ich doch eine Stunde, meist nach Tische, von eins bis zwey zur Motion angewendet, um wenigstens den Unterleib vor nachtheiliger Unordnung zu bewahren. Lange Zeit machte ich mir in dem Graben, zwischen dem Stein- und Neumärkischen Thore die ordentliche Bewegung dadurch, daß ich bei dem einen Wirth oder Einwohner mir zwei oder drei Kegelkugeln bereit hielt, die ich entweder in einer gewissen Weite hin, und wieder zurück schoß; oder auf den Ueberbleibseln des Walles mir oben ein Ziel von Steinen [110]machte, und nun mit diesen Kugeln es von unten umzuwerfen suchte, folglich, weil die Kugeln oft über den Wall auf die andere Seite des Grabens fielen, genug zu gehen, oder wenn es Winter war, zu laufen hatte. Zuweilen gieng ich auch einen ziemlichen Weg; zumal nach Beesen; wohin in der ganzen Zeit, als Baumgarten krank war, und über ein Jahr lang fast alle Tage Nachmittags dahin fuhr, ich nach meiner Arbeit, um vier oder fünf nachzukommen pflegte. Ein einzigmal, bald in der ersten Zeit meines Hierseyns, weiß ich es, daß Baumgarten und Herrnschmidt, der damalen noch als Consistorialrath hier stund, es wagten, zu Fuße diesen Weg zu gehen, und vor dem Thore abzusteigen; rückwärts aber fuhren sie doch. Da redete Baumgarten noch von der Zeit, da seine Brüder hier gewesen, und sie wohl über die kleinen Heuhaufen wegzuspringen sich getrauet hätten. Zum Holzsägen habe ich mich auch zuweilen, aber viel seltener bringen lassen; ich urtheile aus der schlechten Gesundheit Baumgartens, der doch keinen Tag sein Holzsägen aussetzte, und so oder so viel tausend Stösse durch seine Kinder, welche darin abwechselten, abzählen ließ: daß diese Bewegung in der Stube, (denn in der Stube that er es;) sehr wenig wahren Nutzen schaffen konnte, den ich vielmehr und vorzüglicher in der freien Luft, als in der Bewegung allein, zu finden glaubte. Ich bin daher oft im Winter, im stärksten Schnee und Wind meinen [111]täglichen Weg gegangen, und daher zuweilen wegen Dichtheit des Schnees, gar in eine unrechte Gegend gerathen. Ich hielte aber durchaus über diese Ordnung, mich sogleich umzukleiden, und trug daher, wenn ich in Beesen h mich einige Stunden aufhalten wollte oder mußte, das Nöthige an der Wäsche selbst bei mir.


Als Herr Semler mit den Herrn Spalding, Ebert und Jerusalem in Magdeburg zusammenkam, i äußert er folgendes Urtheil von sich selber:

»Alle drei so vortreflichen Männer sahe ich fast in einem gleichen Licht, daß sich in der großen Welt, in täglichen Geschäften gleichsam entzündet; ich fühlete es gar zu sehr, so wenig mich jemand damit drücken wollte, daß ich nur in vier Wänden zeither meist gewohnet hatte.«

Sorgfältige Anwendung der Zeit.

Ich habe freilich auch viele alchymistische Bücher gelesen, aber nirgend eine sonst nützliche Stunde damit verdorben; sondern ohne einigen Zeitverlust mir zuzuziehen.

Alle Monath oder alle vierzehn Tage suchte ich eine Anzahl leichter und geringhaltiger Schriften zusammen, die ich doch auch durchblättern, wo nicht durchlesen wollte; und stellte sechs, zehn bis siebzehn davon auf den Abtritt; wo ich denn ohne Zeitverderb auch diese Lectüre endigen konnte; indem ich [112]auf des alten Prof. Junkers ernstliche Vorstellung und Erklärung mich gewöhnet hatte, des Tages gewiß zweimal und meist dreimal diesen Ort zu besuchen, und Leibesöfnung j geduldig abzuwarten.

Es traf ein, was mir dieser grosse glückliche Arzt gesagt hatte, daß man sich auf die eine Viertelstunde gewöhnen, und alsdenn ganz sicher auf die Natur verlassen könnte, die diese Ordnung unausbleiblich beobachten würde, und dieß sei der sicherste Weg aller Unordnung des Unterleibes ohne viele Arzeneien vorzubeugen.

Ich konnte unmöglich ganz müssig so zubringen, weil ich anfänglich ziemlich Zeit haben muste, bis, wie er sagte, die Natur sich gewöhnte; daher stellete ich immer eine Anzahl Bücher dahin; und so habe ich seit vielen Jahren einige hundert Bücher gelesen oder durchgeblättert, und konnte doch es merken, wenn irgend etwas unerwartetes erhebliches vorkam.

Diese freilich sonderbare Einrichtung schafte mir einmal ein grosses Vergnügen.

Es sollte der geh. Rath Carrach, wo ich noch wohnete, eine Music in seinem Hause bekommen; ich weiß die Veranlassung nicht mehr. Er hatte unter andern auch die Baumgartensche Familie gebeten, von drei Uhr an Nachmittags.

Baumgarten nahm dergleichen Veränderungen wohl mit, er hatte es aber, so gut als wir, die wir im Hause wohneten, zugleich von einem Abendbrod verstanden, indem sich die Music über sieben Uhr [113]Abends erstreckte. Da es nun ans Aufstehen ging, und einige andere Professores so gerade weggingen, sagte Baumgarten zu mir, das war also verrechnet; ich dachte einen Abend ohne meine Arbeit zuzubringen; und soll ich so gerade wieder zu Hause gehen; das kommt mir ganz seltsam vor; ich will mit Ihnen ein Butterbrodt essen.

Ich meldete es gleich meiner Frau, daß die sich noch eine kurze Zeit eher wegbegeben, und einige Anstalt machen könnte, zu einigem warmen Essen. Sie hatte nach ihrer Ordnung immer etwas vorräthig; also bekamen wir in einer Viertelstunde fünf bis sechs Gäste, die wir ausnehmend hoch schätzten, und die unsre Willigkeit für noch mehr gelten ließen.

Da mußte ich nun, ehe wir uns zu Tische setzten, dem D. Baumgarten diesen Ort zeigen, und er nahm ein Licht mit. Nachdem er ziemlich lange sich aufgehalten hatte, kam er mit herzlichem Lachen wieder und sagte: man lernt doch nie aus.

Ich dachte, daß ich die Zeit sehr gut eintheilen könnte; aber da hab ich noch etwas neues abgesehen. Und über ihre Wahl und Urtheil freue ich mich noch mehr, daß sie gerade solche Bücher dahin stellen, die man im Nothfall selbst angreifen dürfte.

Es waren unter andern auch einige Bände der sogenannten unschuldigen Nachrichten hingestellt, welches weitläuftige Werk ich noch aus Nürnberg mitgebracht, und davon redete Baumgarten insbesondere; ob er gleich gestand, daß dieses Buch ei-[114]nen kleinen Anfang hätte machen helfen, von mehr theologischer Bücherkenntniß, worinn damalen freilich immer einerlei Vorschrift und Zuschnitt des magern Urtheils statt finden mußte.

Dieß war also gemeiniglich der Ort, wo ich Hexen- und Geisterbücher, chymische, teutsche, lateinische und französische Schriften so durchlesen konnte, daß es mir keine Zeit kostete, die meinen ernsthaften Arbeiten freilich gehörete.

Selbstenthaltung bei öffentlichem Lobe.

Ich habe mich in der That stets in dem Hange befunden, meine Fehler oder was mir noch alles mangele, immer vor Augen zu haben.

Schon vor mehrern Jahren lase ich nie eine Recension von irgend einer meiner Arbeiten, die vortheilhaft wurde, ohne alsdann das Lesen abzubrechen.

Ich habe mir manche rechtmäßige Aufmunterung hiemit geraubet; aber ich hatte einmal diesen Hang; ich hatte wenig vertraute Freunde, die Selbsterniedrigung mußte ich schon lange als ein Mittel ansehn, weniger Anstoß in meinem nächsten Zusammenhange zu veranlassen!

[115]

Fußnoten:

1: *) Zween junge Leute von der frommen Brüderschaft.

Erläuterungen:

a: Vorlage: Semler 1781/1782, Theil I, S. 9f.; 59f., 61f.; 78f.; 81f.; 249; 283; 284-286; 311; 329-331; Theil II, Vorrede [unpag.]

b: Lutherisches Kirchenlied.

c: Lat. Sprichwort: "Gott hat seine Zeiten und seine Verzögerungen."

d: De re rustica (Über die Landwirtschaft) von Lucius lunius Moderatus Columella.

e: Gellert 1757.

f: 1751 wurde er als Professor der Historie und der lateinischen Poesie an die Universität Altdorf berufen.

g: 1753 wechselte er durch die Vermittlung Baumgartens nach Halle als Professor der Theologie.

h: Dorf bei Halle (Saale). Heute Stadtteil von Halle.

i: Das sogenannte Mageburger Theologentreffen fand im Sommer 1770 zur Diskussion des Zustands und der Entwicklung der theologischen Wissenschaft statt.

j: Stuhlgang.

V.

Selbstgeständnisse des Herrn Professor Jung*) 1
aus Stillings Jugendjahren. a

Jung-Stilling, Johann Heinrich

Um das Ende dieser Zeit, etwa mitten im Julius, ging er an einem Sonntage Nachmittage durch eine Gasse der Stadt Schauberg; die Sonne schien angenehm, und der Himmel war hier und da mit einigen Wolken bedeckt; er hatte weder tiefe Betrachtungen, noch sonst etwas sonderliches in den Gedanken; von ohngefähr blickte er in die Höhe, und sah eine lichte Wolke über seinem Haupte hinziehen.

Mit diesem Anblick durchdrang eine unbekannte Kraft seine Seele, ihm wurde so innig wohl, er zitterte am ganzen Leibe, und konnte sich kaum enthalten, daß er nicht darnieder sank.

Von dem Augenblick an fühlte er eine unüberwindliche Neigung, ganz für die Ehre Gottes, und das Wohl seiner Mitmenschen zu leben und zu sterben; seine Liebe zum Vater der Menschen, und zum göttlichen Erlöser, desgleichen zu allen Menschen, war in dem Augenblick so groß, daß er willig sein Leben aufgeopfert hätte, wenns nöthig gewesen wäre.

[116]

Dabei fühlte er einen unwiderstehlichen Trieb, über seine Gedanken, Worte und Werke zu wachen, damit sie alle Gott geziemend, angenehm, und nützlich seyn möchten.

Auf der Stelle machte er einen festen und unwiederruflichen Bund mit Gott, sich hinführo lediglich seiner Führung zu überlassen, und keine eitle Wünsche mehr zu hegen, sondern wenn es Gott gefallen würde, daß er Lebenslang ein Handwerksmann bleiben sollte, willig und mit Freuden damit zufrieden zu seyn.


Er war bei einem Kaufmann als Informator seiner Kinder, wo es ihm sehr übel ging, bis er auf folgende Weise den Entschluß faßte, dieß Haus zu verlassen.

Um neun Uhr als er in seinem Kerker am Tisch saß, und ganz in sich selbst gekehrt das Feuer seiner Leiden aushielt, fühlte er plötzlich eine gänzliche Veränderung seines Zustandes, alle seine Schwermuth und Schmerzen waren gänzlich weg, er empfand eine solche Wonne und tiefen Frieden in seiner Seelen, daß er vor Freude und Seligkeit nicht zu bleiben wußte.

Er besann sich und wurde gewahr, daß er willens war wegzugehen; dazu hatte er sich entschlossen ohne es zu wissen, so in demselbigen Augenblick stund er auf, gieng hinauf auf seine Schlafkammer, und dachte nach; wie viel Thränen der [117]Freude und der Dankbarkeit daselbst geflossen sind, können nur diejenigen begreifen, die sich mit ihm in ähnlichen Umständen befunden haben.


Als er bei einem jungen Frauenzimmer, mit der er sich nachmals verheirathet hat, in ihrer Krankheit wachte, hatte er folgenden Vorfall mit ihr.

Des Nachts um ein Uhr sagte die Kranke zu ihren beiden Wächtern: sie möchten ein wenig still seyn, sie glaubte, etwas schlafen zu können.

Dieses geschah. Der junge Herr schlich indessen herab um etwas Caffee zu besorgen; er blieb aber ziemlich lange aus, und Stilling begonnte auf seinem Stuhl zu nicken.

Nach etwa einer Stunde regte sich die Kranke wieder. Stilling schob die Gardine ein wenig von einander, und fragte sie; ob sie geschlafen habe?

Sie antwortete: Ich habe so wie im Traume gelegen. »Hören Sie, Herr Stilling, ich habe einen sehr lebhaften Eindruck bekommen, von einer Sache, die ich aber nicht sagen darf, bis zu einer andern Zeit.«

Bey diesen Worten wurde Stilling ganz starr, er fühlte vom Scheitel bis unter die Fußsohlen eine noch nie empfundene Erschütterung, und mit einemmal fuhr ihm ein Strahl durch die Seele wie ein Blitz.

[118]

Es wurde ihm klar in seinem Gemüth, was jetzt der Wille Gottes sey, und was die Worte der kranken Jungfer bedeuteten.

Mit Thränen in den Augen stand er auf, bückte sich ins Bett, und sagte: »Ich weiß es, liebe Jungfer! was sie für einen Eindruck bekommen hat, und was der Wille Gottes ist.« Sie fuhr auf, reckte ihre rechte Hand heraus, und versicherte: wissen Sie's? ―

Damit schlug Stilling seine rechte Hand in die ihrige, und sprach: »Gott im Himmel segne uns! Wir sind auf ewig verbunden!« ― Sie antwortete: »ja! wir sinds auf ewig!«

Fußnoten:

1: *) Da der Herr Professor Jung sich öffentlich erklärt hat, daß Stillings Geschichte seine eigne Geschichte sey, so ist sie auch in psychologischer Rücksicht merkwürdig.
A. d. H.

Erläuterungen:

a: Vorlage: Jung-Stillings Autobiographie umfasst 6 Bde., zwischen 1777 und 1817 veröffentlicht; der erste Band von Goethe ohne Stillings Wissen, der letzte Band posthum von seinem Enkel. Der erste Band hat den Titel Heinrich Stillings Jugend, aber die drei zitierten Stellen entstammen dem 3. Band, Heinrich Stillings Wanderschaft, aus Kapitel 2, 3 und 9.


VI.

Sprache in psychologischer Rücksicht.

Moritz, Karl Philipp

Die Fugen des Verbums, wodurch es sich nach dem Substantivum richtet, sind im Deutschen in der einfachen Zahl die Buchstaben e, st und t, und in der mehrfachen n und t, indem wir z.B. sagen, ich liebe, du liebest, er liebet, wir lieben, ihr liebet, sie lieben.

Sage ich, du liebest, so verstärkt das st gleichsam meine Vorstellung von der Handlung des Liebens durch die Bezeichnung ihrer Wirklichkeit, indem ich mir eine Person dabei vorstelle, die ich [119]anrede, und die wirklich der Urheber dieser Handlung ist, wovon ich rede, so daß ich die Person und die Handlung nicht voneinander trennen kann.

Sobald ich mir aber in der Anrede die Wirklichkeit von der Handlung hinwegdenke, fällt auch das st weg, und ich sage im befehlenden Tone, liebe du, und nicht, liebest du, weil die Handlung des Liebens durch meinen Befehl erst wirklich werden soll, aber es noch nicht ist; so sage ich, du giebst; aber im befehlenden Tone, wo das Geben noch nicht wirklich geschieht, sage ich, gieb!

Sage ich nun, er liebet, so bezeichnet das t ebenfalls eine Wirklichkeit der Handlung, aber nicht mit solchem Nachdruck, wie das st, weil ich hier keine Person anrede, sondern nur von einer Person rede, die der Grund desjenigen ist, was ich rede, und die ich gleichsam in einem schwächern Lichte betrachte, als die Person, welche ich anrede.

Denke ich mir aber die Wirklichkeit von der Handlung hinweg, und wünsche ich z.B. bloß, daß dieselbe geschehen möge, so fällt auch hier das nachdruckvolle t weg, und ich sage anstatt, er geht, oder er kömmt, bloß, er gehe! oder, er komme!

Daß aber st und t die Wirklichkeit bezeichnen, scheinet daher zu kommen, weil sie verursachen, daß die Stimme länger auf dem Worte ru-[120]het, und am Ende gleichsam noch einen gewissen Stoß oder einen Nachdruck darauf setzt.

Wenn wir aber von uns selber reden, so scheinet es, als ob wir es für überflüßig halten, die Wirklichkeit desjenigen, was wir von uns selber reden, oder dessen wir uns selbst schon hinlänglich bewußt sind, noch besonders zu bezeichnen; daher sagen wir, ich liebe, indem wir bloß ein e hinzusetzen, oder von lieben das n wegwerfen, wodurch sonst eigentlich die Wirklichkeit aufgehoben wird: denn wenn ich sage, das Lieben, oder zu lieben, so nenne ich beinahe bloß den Nahmen einer Handlung, ohne mir dabei vorzustellen, daß sie wirklich geschiehet.

Demohngeachtet aber heißt es nun in der mehrfachen Zahl, wir lieben, ihr liebet und sie lieben: eigentlich sollte es heißen, wir liebent, und sie liebent, wie man es auch in alten deutschen Schriftstellern findet; allein der Begrif von der Mehrheit pflegt gern die übrigen Begriffe zu verdrängen, und das ist auch hier der Fall; weil die Handlung nicht einer einzigen Person, sondern mehrern zugeschrieben wird, so denkt man sich auch ihre Wirklichkeit nicht so genau und bestimmt, als ob sie nur einer einzigen Person wirklich zugeschrieben würde.

Allein bei der Anrede wird auch in der mehrfachen, eben so wie in der einfachen Zahl, der [121]stärkste Nachdruck auf das Verbum gesetzt, und es heißt, ihr liebet.

Auf die Weise haben wir gesehen, wie sich das Verbum nicht nur nach dem Substantivum richtet, sondern sich zugleich als gewiß oder ungewiß, als wirklich oder nicht wirklich, in den Zusammenhang unsrer übrigen Vorstellungen fügt. ―

Da sich aber alle unsre Vorstellungen an dem Begriffe von der Zeit fest halten müssen, so muß sich das Verbum auch nach diesem Begriffe fügen. Dieses thut es nun, indem sich, um die Vergangenheit zu bezeichnen, noch ein t zwischen das b und e einschiebt, so daß es heißt, ich liebte, du liebtest, u.s.w.

Um das Vergangne zu bezeichnen, muß die Stimme gleichsam einen Aufenthalt finden, und darf nicht so schnell von dem b, als von dem letzten Buchstaben des eigentlichen Worts, zu dem angehängten e, st, u.s.w. hinübergehen, als wenn die gegenwärtige Zeit ausgedrückt werden soll: denn der Begrif von der Vergangenheit schiebt sich gleichsam zwischen die Vorstellung von der Handlung und von ihrer Wirklichkeit hinein, weil das Vergangne doch eigentlich jetzt nicht mehr wirklich ist.

Darum fällt auch, wenn ich nur von einer Person rede, das Zeichen der Wirklichkeit wieder weg, und es heißt nicht, er liebet, sondern er liebte.

[122]

Allein unsre Sprache bezeichnet die Vergangenheit auch auf eine andre Art, die zwar nicht so künstlich und regelmäßig als die vorhergehende ist, aber weit natürlicher und ausdruckvoller zu seyn scheinet.

Sie verwandelt nehmlich, um die Vergangenheit zu bezeichnen, den höhern Vokal gewöhnlich in den tiefern, als, ich singe, ich sang; ich fließe, ich floß; ich grabe, ich grub, u.s.w.

So verhält sich nemlich die Vergangenheit in unserer Vorstellung zu der Gegenwart, wie die entferntere, gedämpfte Musik zu der tönenden und rauschenden, wie die Dämmerung zu dem Lichte ― und wie Bedeutungsvoll wird dieses durch die Verwandelung des höhern Vokals in den tiefern ausgedrückt!

Freilich wird auch zuweilen der tiefere Vokal in einen höhern verwandelt, indem unsre Sprache die Vergangenheit bezeichnet, als ich blase, ich bließ; ich gehe, ich ging; allein hieran mag wohl eine übertriebene Verfeinerung der Sprache schuld seyn; und daß die Verwandlung des höhern Vokals in den tiefern natürlicher ist, sieht man auch daraus, weil die Sprache des gemeinen Volks sich wieder dahin neigt, indem man unter demselben öfter hört, ich bluß, und ich gung, als ich bließ, und ich ging.

Diese übertriebene Verfeinerung der Sprache macht, daß sie immer mehr und mehr von ihrer be-[123]deutenden Kraft verliert: so vertauscht man z.B. schon das nachdrucksvolle erscholl, mit dem matten und regelmäßigen erschallte, und eben so macht man es in mehrern Fällen.

Nun ist es merkwürdig, daß man dasjenige, was nicht wirklich ist, ebenfalls beinahe so wie die Vergangenheit bezeichnet, indem man z.B. sagt, ich liebte dich, wenn du es verdientest. Weil nehmlich die Vergangenheit jetzt auch nicht mehr wirklich ist, so hat man sich das gar nicht Wirkliche, und das jetzt nicht Wirkliche beinahe auf einerlei Art gedacht und bezeichnet.

Bei dem Verbum aber, wo der höhere Vokal zu einem tiefern herabgestimmt wird, um die Vergangenheit zu bezeichnen, als ich trage, ich trug, unterscheidet man das gar nicht Wirkliche, von dem nicht mehr Wirklichen, indem man den tiefern Vokal wiederum gleichsam zu einem halben, schwankenden Tone stimmt, und sagt z.B. ich trüge deine Bürde, wenn sie mir nicht zu schwer wäre.

Denn ä, ö, und ü, sind gleichsam unter den Vokalen das, was in der Musik die halben Töne sind, darum sind sie am schicklichsten, das Schwankende, Ungewisse, und nicht Wirkliche bei dem Verbum zu bezeichnen.

Wir sagen daher, ich sang, ich flog, ich trug, um etwas anzuzeigen, das gar nicht wirklich, sondern nur möglich ist ―

[124]

Allein wenn ich z.B. sage, ich sang, so denke ich mir die Handlung meines Singens, als vergangen, und doch als unvollendet; ich stelle mir vor, daß sie noch fortdauerte, indeß etwas anders anging, als, ich sang ein tröstend Lied, da verschwand mein Kummer, u.s.w.

Es wird uns schwer, wenn wir uns irgend etwas als ganz vollendet, oder als ganz vergangen denken wollen, weil die Folge der Dinge in der Welt einen so festen Zusammenhang hat, wie die Glieder einer Kette, wo sich immer eins in das andre schließt, und wo man sich also nicht gut eins ohne das andre denken kann.

So müssen sich unsre Vorstellungen von dem Entferntern auch an den Vorstellungen von dem Nähern und Gegenwärtigen festhalten, wenn die Kette unsrer Gedanken nicht zerreissen soll.

In unsrer Seele verdrängt ein Bild nicht plötzlich das andere, sondern schiebt sich ihm allmälig vor, und fügt sich zugleich an dasselbe hinan.

Weil es nun wegen des nähern Zusammenhanges der aufeinander folgenden Dinge am allernatürlichsten ist, sich das Vergangne nicht als vollendet, sondern in Ansehung desjenigen, was darauf folgt, noch als fortdaurend zu denken, so bezeichnet unsre Sprache die Vergangenheit auch bloß auf diese Art unmittelbar.

Wollen wir uns aber dem ohngeachtet das Vergangne als ganz vollendet denken, so müssen wir[125]dieses mittelbar thun, indem wir zu den Begriffen von seyn oder haben unsre Zuflucht nehmen, das wir uns vorher als gegenwärtig gedacht haben müssen, um zu dem Begriffe von der gänzlichen Vergangenheit zu gelangen. ―

Um uns also die gänzliche Vergangenheit z.B. der Handlungen des Liebens und des Gehens zu denken, sagen wir, ich habe geliebt, und ich bin gegangen.

Durch haben bezeichnen wir sonst dasjenige, was ausser uns ist, und was wir nur mit in den Kreis unsers Daseyns ziehen; durch seyn aber was in uns ist, und was mit zu unserm Wesen gehört, indem wir z.B. sagen, ich habe ein Kleinod, und ich bin ein Mensch: eben so sagen wir auch, ich habe geliebt, und ich bin gegangen, indem wir uns lieben als eine Handlung vorstellen, die von uns ausgeht, gehen aber als eine Handlung, die sich gleichsam in uns selber zurückwälzt, und auf die Weise schon mehr in unser Daseyn verwebt ist. So lange aber eine Handlung noch nicht vollständig, oder ganz vollendet ist, kann ich sie noch nicht zu dem zählen, was ich habe oder was ich bin: diese Vollständigkeit der Handlung nun, welche nothwendig ist, wenn ich mir dieselbe, als ganz vergangen, denken will, wird durch die Silbe ge ausgedrückt, die gemeiniglich eine Zusammenfassung desjenigen bezeichnet, was auf einander folgt, so wie z.B. in dem Worte Gemur- [126] mel, wo ich ein oftwiederhohltes Geräusch, das ich murmeln nenne, zusammenfasse, und mir es wie ein Ganzes denke.

Eben so fasse ich nun unter der Silbe ge in geliebt, die Vollständigkeit der Handlung meines Liebens zusammen, wie dieselbe nicht nur von mir ausgegangen, sondern auch schon auf einen andern Gegenstand übergegangen ist, und also ihre Endschaft erreicht hat; und in gegangen fasse ich eine wiederhohlte Bewegung, die ich gehen nenne, zusammen, und denke sie mir nun als etwas vollständiges, oder als etwas, das seine Endschaft erreicht hat.

(Die Fortsetzung folgt künftig.)

[<127>]

Inhalt.

Seite
Zur Seelenkrankheitskunde.
1) Fortsetzung von Robert G... s Lebensgeschichte, oder, die Folgen einer unzweckmäßigen öffentlichen Schulerziehung, vom Herrn J. L. H. Jakob, Lehrer am Gymnasium in Halle. 1.
2) Ein Kindermörder aus Lebensüberdruß, aus den Kriminalakten. 13.
3) Desertion aus einem unbekannten Bewegungsgrunde. 16.
4) Ein sonderbarer Hang zum Stehlen; nebst den beiden vorhergehenden Aufsätzen vom Herrn Auditeur Nencke. 18.
5) Geschichte eines Hofmeisters oder die traurigen Folgen einer melancholischen Gemüthsart bei einem Erzieher, vom Herrn J. F. Seidel. 20.
6) Auszug aus Paul Simmens Lebensgeschichte, v. d. H. 38.
7) Ein Diebstahl aus Großmuth von einem siebzehnjährigen Knaben; vom Herrn Auditeur Nencke. 54.
[<128>]

Inhalt.

Seite
8) Grausamkeit eines gefangnen Soldaten gegen seinen eignen Körper, vom Herrn Doktor Schröder. 60.
9) Beispiel und Folgen einer schwärmerischen Sehnsucht nach dem Tode, von Herrn Zur Hellen, Pastor zu Dornberg in der Grafschaft Ravensberg. 64.
10) Sonderbarer Zustand eines nervenkranken Knaben, aus einem Briefe vom Herrn Hof- und Kriminalrath Ritter zu Großglogau. 69.
Zur Seelennaturkunde.
1) Selbsterfahrung des Herrn Kirchenrath Stroth in Gotha. 71.
2) Todesahndung, aus den Akten des Oberkollegii Medici. 72.
3) Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte, v. d. H. 76.
4) Selbstgeständnisse des Herrn Doktor Semler von seinem Charakter und Erziehung. 96.
5) Selbstgeständnisse des Herrn Professor Jung von seinem Charakter. 115.
6) Sprache in psychologischer Rücksicht. 118.
[<129>]

<Verlagsankündigungen.>

Bey dem Verleger ist ferner herausgekommen und zu haben:

Bahrdts D. Carl Fr. Ausführung des Plans und Zwecks Jesu. In Briefen an Wahrheitsuchende Leser, 1stes Bändchen, 8. 784. 12 Gr. Dieß ist eine Fortsetzung der bekannten Briefe, über die Bibel im Volkston, wovon nächstens mehrere Theile erscheinen werden.

Ciceronis M. Tull. Historia Philosophiae antiquae, ex omnibus illius Scriptis collegit disposuit aliorumque auctorum cum latinorum tum graecorum locis & amplificavit Fr. Gedike, 8. maj. 1782 22 Gr.

Cole, Thomas, Betrachtungen über die Ueppigkeit, Unglauben und Schwärmerey, aus dem Englischen, 8. 767. 10 Gr.

Coners, Gerh Jul. über die nöthige Auswahl der Wahrheiten, und die beste Lehrart zum gemeinnützigen Unterricht in der christlichen Religion, 8. 779. 6 Gr.

Heynatz, Joh. Fr. deutsche Sprachlehre zum Gebruach der Schulen, dritte Auflage, 8. 777 8 Gr.

— — Lehre von der Interpunktion, oder richtiger Gebrauch der Unterscheidungszeichen, zweyte Auflage, 8. 782. 3 Gr.

— — Briefe die deutsche Sprache betreffend, 6 Theile, 8. 771-775. 1 Thlr. 12 Gr. (ein jeder Theil kostet 6 Gr. und werden fortgesetzt.)

Landwirth, der, in und nach dem Kriege, von dem Verfasser der Oeconomis forensis, gr. 8. 779. 1 Rthl. 8 Gr.

Lüdke, Fr. Germanus, über Toleranz und Gewissensfreyheit, insofern der rechtmäßige Religionseifer sie befördert, und der unrechtmäßige sie verhindert, 1 und 2tes Buch, 8. 774. 18 Gr.

— — vom falschen Religionseifer, 8. 767. 10 Gr.

Ovids Verwandlungen, ins Deutsche übersetzt, und mit Anmerkungen herausgegeben von J. S. Saft, gr. 8. 766. 2 Thlr. 8 Gr.

Predigten von Protestantischen Gottesgelehrten, 6 Theile, (von Sack, Spalding, Teller und andern berühmten Männern,) gr 8. 771-775. 4 Thlr. 12 Gr. (ein jeder Theil kostet 18 Gr.)

Prüfung der philosophischen und moralischen Predigten, 8. 767. 12 Gr.

[<130>]

Ranis, Heinr. Chr. Anweisung zur Fechtkunst, mit Kupf. 8 771. 16 Gr.

Reclam-Stosch, Made. Recueil de pieces fugitives, 8. 777. 16 Gr.

Sammlung witziger Einfälle, Kleiner scherzhaften Erzählungen und Sinngedichte, besonders für Kinder und junge Leute, 8. 729. 16 Gr. (ist ein Auszug aus dem Vademecum.)

Schröcks, Joh. Matth. allgemeine Biographie, fünf Theile, gr 8. 4 Rthlr. 16 Gr.

Schulze, Joh. Carl, neue und erweiterte Sammlung logarithmischer, trigonometrischer, mechanischer und anderer, zum Gebrauch der Mathematik unentbehrlicher Tafeln, nebst Anweisung zu deren Gebrauch, 2 Bände, gr. 8. 778. 4 Thlr.

— — Taschenbuch für diejenigen, so einen gründlichen Gebrauch von der Meßkunst machen wollen, 1ster Theil, welcher die Geometrie, 2ter Theil, welcher die Trigonometrie enthält, m. viel. Kupf. 8. 782. 3 Rthlr.

— — J. M. F. die wahre Liebenswürdigkeit oder das Geburtstagsgeschenk, ein Lustspiel für Kinder, 8. 779. 6 Gr.

Simsone Grisaldo, ein Schauspiel in fünf Akten von F. M. Klinger, 8. 776. 8 Gr.

Storia della Vita, e tragica morte di Bianca Capello, Gentildonna di Venezia e Gran’ Duchessa di Toscana, del Signore di Sanseverino, 8. 776. 14 Gr.

Stosch, S. J. E. Versuch in richtiger Bestimmung einiger gleichbedeutenden Wörter der deutschen Sprache, viel Theile, gr. 8. 5 Rthlr.

Tellers W. A. Wörterbuch des neuen Testaments zur Erklärung der christlichen Lehre, dritte durchaus verbesserte und vermehrte Auflage, gr. 8. 780. 1 Rthlr. 8 Gr

Trüblers, des Abt, Versuche über verschiedene Gegenstände der Sittenlehre und Gelehrsamkeit, aus dem Französischen übersetzt, 4 Bände, gr. 8. 765. 2 Thlr. 12 Gr.

the Vicar of Wakefield, a Tale supposed to be written by himself, the third edition, 8. 780. 20 Gr.

Villette, C. L. Unterredungen über die Glückseligkeit des künftigen Lebens, nebst einer vorangesetzten Betrachtung, über die Erwartung eines zukünftigen Lebens, mit einer Vorrede, Herrn O. C. R. Spaldings, 8. 766. 1 Thlr.