ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: I, Stück: 2 (1783)

[<I>]

ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ

oder

Magazin
zur
Erfahrungsseelenkunde

als ein

Lesebuch
für
Gelehrte und Ungelehrte.

Mit
Unterstützung mehrerer Wahrheitsfreunde
herausgegeben
von

Carl Philipp Moritz.

Ersten Bandes zweites Stück.

Berlin
bei August Mylius 1783.

[<II>]

Nachricht.

Von diesem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde sollen allemal drei Stücke, jedes sieben bis neun Bogen stark, einen mäßigen Band ausmachen. Einzeln gilt das Stück 10 Groschen, und der ganze Band 1 Rthlr. 6 Gr. Eine gewisse Zeit der Herausgabe kann nicht bestimmt werden, sondern es kömmt darauf an, wie sehr die Materialien und Beiträge sich anhäufen werden.


Nicht Mangel an Beiträgen und Unterstützung, sondern eine dreimonathliche Krankheit des Herausgebers haben die Erscheinung des zweiten Stücks dieses Magazins so lange verzögert. a

Erläuterungen:

a: Anfang Dezember 1782 erlitt Moritz einen schweren Anfall von Bluthusten. Die etwa bis Februar 1783 anhaltende lebensgefährliche Krankheit wurde in einer Fallgeschichte dokumentiert (vgl. Herz 1793.)

[<III>]

Inhalt.

Seite
I. Auszug aus einem Briefe vom Herrn Auditeur Nenke. 1.
II. Zur Seelenkrankheitskunde.
1. Geschichte des Herrn D., eines noch lebenden Kavaliers, als ein Pendant zur Geschichte des Herrn Klug. 7.
2. Geschichte des Inquisiten Daniel Völkners aus den Kriminalakten gezogen von Herrn Referendarius Frölich. 10.
3. Geschichte des ehemaligen Inspektors am Joachimsthalischen Gymnasium Johann Peter Drieß, nach einer mündlichen Erzählung des Herrn Moses Mendelssohn und einem schriftlichen Bericht des Herrn Assessor Hagen. 18.
4. Sonderbarer Gemüthszustand eines jungen Menschen von funfzehn Jahren vom Herrn V. H. Schmidt, öffentlichen Lehrer und Aufseher der köllnischen Schule in Berlin. 28.
5. Selbstgeständnisse des Herrn Basedow von seinem Charakter. 34.
[<IV>]

Inhalt.

Seite
III. Zur Seelennaturkunde.
1. Ein Brief an Sulzern über eine an sich selbst gemachte Erfahrung vom Herrn Oberkonsistorialrath Spalding. 38.
2. Psychologische Beschreibung seiner eignen Krankheit vom Herrn D. Markus Herz an Herrn D. J. in Königsberg. 44.
3. Sonderbare Handlungsart ohne Bewußtseyn aus dem Engl. des Lord Monboddo übersetzt von G. L. Spalding. 74.
4) Geschichte einer Frau, die ihren Tod vorhersahe, vom Herrn G. E. S. Hennig, Königl. Kirchenrath und Pfarrer im Löbnicht zu Königsberg. 78.
5. Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit vom Herrn Fischer, öffentlichen Lehrer am grauen Kloster in Berlin. 82.
6. Die Hähnische Litteralmethode. 94.
7. Verschiedener Grad des Wahnwitzes in zwei Originalbriefen. 96.
8. Eigne Erfahrung über Willensfreiheit v. d. H. 100.
9. Sprache in psychologischer Rücksicht, vorzüglich die Präpositionen v. d. H. 101.
IV. Zur Seelenzeichenkunde.
Versuch einer Nebeneinanderstellung einzelner jugendlicher Charaktere vom Herrn Seidel, öffentlichem Lehrer am grauen Kloster in Berlin.. 110.
[1]

Magazin zur Erfahrungsseelenkunde.
Ersten Bandes zweites Stück.

<Ohne Rubrik.>

I.

Auszug aus einem Briefe.

Nencke, Karl Christoph

Zu Ihrer Nachricht von dem Leben des Herrn Klug, liefere ich Ihnen einen Pendant, in der Geschichte eines noch lebenden Kavaliers, für deren Wahrheit ich mich verbürgen kann, da sie mir von einem würdigen Freunde, einem Wahrheitsliebenden Manne und denkenden Kopfe, mitgetheilt worden.

Die Bemerkung, daß die ganze Familie des Herrn Klug tiefsinnig und nachdenkend gewesen, und der verstorbene Bruder des Kindermörders Seybell ebenfalls einfältig und tiefsinnig war, scheinet die Lehre zu begründen, daß uns gewisse Tugenden, gleich gewissen Lastern und Thorheiten angebohren werden. Vielleicht würde es auf die Erfahrungs-Seelenlehre ein großes Licht verbreiten, wenn man viele, gewisse Nachrichten von dem Seelen- und Leibeszu-[2]stande des Vaters und der Mutter im Moment der Zeugung hätte. Eine unseelige Scham und verjährte Vorurtheile hüllen dergleichen Acte zum Schaden der Fortschritte unsers Erkenntnißvermögens in ewiges Dunkel.

Wäre es nicht nützlich, vielleicht nothwendig, auch hierüber Gesetze zu geben? Sieht der Staat die jungen Menschen als ein Staatsprodukt an; beurtheilt sie der Theologe als Pflanzen, die der Ewigkeit entgegenreifen; so kann es nicht gleichgültig seyn, zu welcher Jahrszeit sie hervorgebracht, unter welchen Umständen sie ins Daseyn versetzt wurden. Was wird aus der gepriesenen Moralität, was aus den Kompendien der Kriminalisten, wenn der Keim meiner Thorheiten in dem Moment der Zeugung meines trunknen Vaters gelegt wurde? Und ist das, was wir Seele nennen, nur im geringsten Verstande materiell, was ist dann gewisser als dieses?

Daß es nicht nur moralische Aerzte geben kann, sondern dergleichen gegeben hat, beweisen nicht nur Socrates und Kleinjoch, sondern es hat sicher auch noch mehrere solche Seelenärzte gegeben. Sollte dies aber nicht vorzüglich die Pflicht der Geistlichkeit seyn? Man nannte sie vor Alters wohl nicht so ganz umsonst Seelsorger. Freilich gehörten denn mehrere Kenntnisse dazu, Erfahrung und Umgang mit Menschen von allerlei Ständen, welches so manchen dieser Herrn [3]fehlt. Mit dem größten Recht aber sollten Kriminalrichter diese Pflicht auf sich haben. Unsere Lebens- und Leibesstrafen erreichen fast nie die Absicht, die sie haben könnten, und sind daher dem Staat nachtheilig, und oft Grausamkeit fürs leidende Individuum.

Man sollte über jeden Verbrecher ein doppeltes Verhör halten. Das erste, wie es nach dem Verfahren in Kriminalsachen vorgeschrieben und erforderlich ist, um das Verbrechen selbst, und dann dessen gesetzliche Moralität auszumitteln. Wäre dies geschehen, der Verbrecher bestraft, dann müßte ein eigentliches psychologisches Verhör über die That angestellt werden. Der Verbrecher müßte angeben, wie er nach und nach darzu gekommen, daß er ein gewisses Verbrechen ausgeübt. Denn würde sichs zeigen, was derselbe thun oder unterlassen müssen, um nicht diesen Schritt zu thun, und hier ginge eigentlich das Amt des Seelenarztes an. Dieser müßte zuförderst den Verbrecher bemerken lassen, welche nachtheilige Folgen für ihn, für die ganze Gesellschaft, aus seiner Handlung entstanden; er müßte Vorschriften machen, nach welchen sich der Verbrecher zu richten hätte, um nie wieder in eine ähnliche Lage zu kommen. Man müßte zu diesem Ende eigene Besserungshäuser haben, die ganz eine andere Verfassung bekommen müßten, als unsere Zuchthäuser gewöhnlich haben. Man würde dann auch sehr selten in den Fall kommen, jeman-[4]den auf Zeitlebens zu dieser Strafe zu verurtheilen. Todesstrafen — Wie wenig die im Grunde nutzen, besagen eine Menge über diesen Gegenstand seit kurzem erschienene Schriften. Daß die angegebenen Besserungshäuser kein bloßes Hirngespinnst sind, beweißt eine neuerlichst von dem Großherzog zu Toscana getroffene ähnliche Anstalt. Ich lese eben eine Nachricht davon im zehnten Band der Chronologen, a wo es heißt:

Der Großherzog zu Toscana legt ein so genanntes Besserungshaus b im Castel zu St. Johann dem Täufer an. Die Bestimmung dieser Anstalt — einer der menschlichsten und besten Erscheinungen unsers Jahrhunderts — ist diese, das Halblaster zu kuriren. Junge Leute von beiderlei Geschlecht, die entweder aus Mangel der Erziehung, oder durch Mißbrauch ihrer Freiheit, sich von ihrer Pflicht entfernt, und eine gefährliche Neigung zum Laster angenommen haben, werden unter dem dichtesten Schleier des Geheimnisses dahin gebracht, und durch sittliche Mittel zur Ordnung, Tugend und Arbeitsliebe zurückgeleitet. Zu diesem Behuf ist eine Lehrschule und verschiedene Manufacturen mit diesem Institut verknüpft. Niemand wird unter vierzehn Jahren, und niemand über dreißig darinn Platz finden. Auch ist die Dauer des Aufenthalts auf drei Jahre eingeschränkt.

[5]

Was der Verfasser dieses Aufsatzes hinzufügt, scheint mir nicht so durchaus wahr zu sein. Er fährt fort:

Menschen über jenes Alter, vollendete Bösewichter, Verbrecher, denen das Gesetz bereits ihre Strafen bestimmt hat, die sich folglich in jedem Betracht zur Besserung nimmer qualificiren, bleiben wie vorhin, der öffentlichen Justiz überlassen.

Nach dem gewöhnlichen Schlage der Zucht- und Arbeitshäuser werden sie freilich nicht besser, aber auch nicht bei zweckmäßigerer Einrichtung? Oft wiederhohlte Laster, Verbrechen, die schon Temperamentssünde geworden, sind freilich nach dreißig Jahren schwer auszurotten; aber giebts nicht auch Verbrechen, die nur ein einzigesmal begangen worden? Man nehme z.B. eine Kindermörderinn. Ist dies nicht ein Verbrechen, welches nur durch Umstände veranlaßt wird? Verheirathet die Unglückliche, gebt ihr einen Vater, Mittel zur Ernährung ihres Kindes, nehmt die Schande von ihr; wird sie wohl wieder morden?

Die Bemerkung, daß in den Kinderjahren Farben den stärksten Eindruck machen, habe ich auch an mir selbst gemacht; So weiß ich, daß als ich noch so klein war, daß man mich durch Singen einzuschläfern suchte, etwas grünes vor dem Fenster war, und meine Aeltern haben mir hernach erzählt, [6]daß ein Baum da gestanden. Als man mich noch auf dem Arm trug, erinnere ich mich, grün und rothes Band auf meinen Kopfmützen gehabt zu haben. Die frühste Reise, deren ich mich erinnern kann, war in meinem sechsten Jahr, und ich weiß nichts mehr von derselben, als daß zwei Schimmel vor dem Wagen waren. Ich nannte in der Folge auch alle Pferde Schimmel, und noch ist mir, vermuthlich aus jener Zeit her, dieses die liebste Farbe der Pferde.

Finden Sie das Gesagte nicht ganz überflüssig, und glauben Sie, daß gleichartige Erfahrungen verschiedener Menschen einen Grundsatz in der Erfahrungsseelenkunde abgeben können, so hoffe ich, werden Sie die Länge meines Schreibens entschuldigen, u.s.w.

Treuenbritzen,
den 15ten Januar
1783.

Nencke,
Auditeur.

Erläuterungen:

a: Folgendes Zitat aus einem Aufsatz, 'Polizey der Menschlichkeit', in dieser italienischen Zeitschrift: Anonym 1781, S. 156f.

b: Peter Leopold beauftragte den fortschrittlichen Psychiater Vincenzo Chiarugi, eine neue Art von Irrenanstalt zu gründen.

[7]

II. Zur Seelenkrankheitskunde.

1.

Geschichte des Herrn D... als ein Pendant zur Geschichte des Herrn Klug*). 1

Nencke, Karl Christoph

D..., ein offener Kopf, sanguinisch cholerischen Temperaments, studierte die Rechte, und legte sich dabei stark auf die Philosophie, die er noch bei dem seeligen Wolf hörte, von welchem er immer ein grosser Anhänger blieb. Nach geendigten akademischen Jahren trieb er die Advokatur. Seine Geschicklichkeit erwarb ihm Klienten, und sein munteres aufgewecktes Wesen Freunde. So verlebte er verschiedene Jahre in stolzer Ruhe, war zufrieden mit sich und mit der Welt, war immer in dem lustigen Zirkel seiner Freunde der aufgeräumteste. Einige kommissarische Geschäfte machten ihn dem Landesherrn bekannt, und er erhielt den [8]Ruf als Rath in ein Kollegium, seine Freunde, die ihn ungerne verloren, riethen ihm, dem Rufe nicht zu folgen, doch Ehrgeitz, der Grundzug seines Karakters, siegte über ihre Vorstellungen.

Bisher hatte er immer ein freyes unabhängiges Leben geführt, jetzt kam er in ein Verhältniß mit Obern, und ihm ward bisweilen widersprochen, dies kränkte seinen Stolz, der nur gewohnt war, Beifall zu hören, zuletzt überredete er sich, daß die Widersprüche nur aus Feindschaft kämen, er dachte diesen Gedanken so lange, wuste jeden Umstand so lange zu drehen, bis er endlich eine Wahrscheinlichkeit herausbrachte, die denn bei ihm bald zur Gewißheit stieg. Wäre er ein weniger nachdenkender Kopf gewesen, so würden die Folgen für ihn nicht so nachtheilig gewesen seyn, aber zum scharfen Nachdenken gewohnt, gewohnt Schlüsse auf Schlüsse zu bauen, und so jede Sache bis auf ihre äusserste Wirkung zu verfolgen, dachte er sich auch hier die Feindschaft seines Vorgesetzten, dachte sich alles, was jener wohl anwenden könnte, ihm zu schaden, erschrack vor dem Bilde seiner Phantasie, und hielt endlich dies, was blosse Spekulationen waren, für Wirklichkeiten. Nun glaubte er nichts als Verräther und Ausspäher um sich zu haben, entzog sich allem Umgange, weil er alle für Feinde hielt. Mit der äussersten Unruhe ging er ins Kollegium, überdachte, wenn er zu Hause kam, jedes Wort, was gesprochen, jede Miene, die gemacht [9]war, glaubte jedesmal neue Ueberzeugung für seine Meinung erhalten zu haben. Endlich ward seine Unruhe zu groß, die Verfolgungen schienen ihm immer stärker zu werden, und er bat um seine Entlassung. Vergebens versicherte ihn der Landesherr seiner Gnade, seiner Zufriedenheit, that ihm die gnädigsten Anerbietungen, alles war vergebens, er hielt alles nur für Fallstricke. Er erhielt seinen Abschied, verließ den Ort, und ward nicht ruhiger. Die Idee von den Verfolgungen seiner Feinde quälte ihn unaufhörlich, täglich glaubte er festgenommen zu werden, ja selbst auf seinen Reisen in den entfernsten Ländern, glaubte er von der Rache seiner Feinde verfolgt zu seyn. Er kam wieder zurück, weil er nirgends Ruhe fand, schloß sich in seine Stube ein, sprach keinen als seine Frau und seine Kinder, und quälte sich unaufhörlich über die von ihm unschuldig erlittene Nachstellung seiner Feinde.

Jetzt ist er siebzig Jahr alt, zwanzig Jahr schon hat er dieses Leben geführt, hat so oft sich schon in seinen Muthmassungen getäuscht gefunden, aber nichts kann ihm die Ruhe wieder geben, die ihm das sich selbst gemachte Bild der feindlichen Rache geraubt hat.

Da er nun lange schon ein geschäftloses Leben geführt hatte, so ist zwar der erste Gedanke, daß man ihn wegen Untreue in seinen Geschäften bei dem Landesherrn verdächtig machen wollte, verschwunden, allein nun glaubt er, daß man seinen [10]Lebenswandel nachspüre. Es ist unglaublich, auf was für Ideen dieser Gedanke den Mann gebracht hat, und wie er, der sonst seinen gesunden Verstand hat, nichts weniger als verrückt ist, für Dinge sich einbildet, und wie er jedem Dinge, auch dem allerungereimtesten, einen Schein von Wahrscheinlichkeit zu geben weiß, welches die Stärke seiner Denkkraft zeigt, und die Fertigkeit seiner Seele, Schlußfolgen zu ziehen.

Fußnoten:

1: *) Ist mir von dem Verfasser des vorhergehenden Briefes, Herrn Auditeur Nencke, gütigst mitgetheilt. <M.>


2.

Geschichte des Inquisiten Daniel Völkners, aus den Kriminalakten gezogen*) 1.

Frölich, Carl Wilhelm

Dieser Daniel Völkner war aus Friedland sechs Meilen von Königsberg in Preussen gebürtig. Seinen Vater, der daselbst Bürger und Riemer war, verlor er im vierzehnten Jahre, und lernte hierauf in seinem Orte das Schusterhandwerk. Nach geendigten Lehrjahren ging er, um sein Handwerk zu treiben, nach Danzig. Allein, ehe er hier noch Arbeit bekommen konnte, ward ihm sein Felleisen, und mit diesem sein Handwerkszeug und seine Kundschaften gestohlen. Weil er nun ohne diese keine Arbeit erhalten konnte, so ließ er sich in [11]Danzig unter des Major Augustin Kompagnie Dänischen Seeländischen Regiments, auf sechzehn Jahr anwerben, und nach Kopenhagen transportieren. Ob er hier gleich, seiner Erzählung nach, sehr vieles von seinen Officieren ausstehen mußte, hielt er doch seine sechzehn Jahr aus, und als diese vorbei waren, nahm er sich vor, nach Hause zu gehen. Auf seiner Reise aber traf er einen beurlaubten Soldaten Nahmens Börmann, der zu Meyburg an den Meklenburgischen Grenzen Bürger und Schuhmacher war, etwa eine Meile von diesem Orte, an, der ihn in seine Werkstatt aufnahm. Allein die Werkstatt gefiel ihm nicht, und er verließ sie noch an demselben Tage wieder, worauf er in ein Bierhaus ging, und sich gegen fünf Thaler Handgeld von einem Reuter anwerben ließ, der ihn den 11ten März 1753 dem Wintersheimischen Regimente in Burg überlieferte.

Von dieser Zeit an bis zum 23sten May scheinen sich mörderische Gedanken in seiner Seele erzeugt zu haben. Und leider scheint es nur allzuwahr zu seyn, daß eine fromme Schwärmerei den ersten Grund darzu legte. Die Vorstellungen von der Glückseeligkeit eines künftigen Lebens waren vielleicht bei ihm aufs höchste gespannt, da sie in Unmuth und Lebensüberdruß ausarteten, und er auf alle Weise diese Bürde abzuwerfen suchte, doch so, daß er demohngeachtet seelig sterben könnte. Und hiezu sahe er nun gerade den einzigen [12]Weg, sein eigenes Leben durch einen Mord zu verwirken, nach dessen Vollbringung es ihm immer noch frei stehen würde, sich wieder zu Gott zu bekehren.

Nach der Aussage seines Schlafkameraden des Füselier Thomas Gelmroth, lebte er beständig sehr gottesfürchtig, sang alle Morgen einige geistliche Lieder, las fleißig in geistlichen Büchern, wovon er unter andern das hällische goldne Schatzkästlein seinem Schlafkameraden zu dessen Erbauung anbot. Er ermunterte denselben oft zur Frömmigkeit, und erzählte ihm, wie er in seiner Jugend auch ein wilder Mensch gewesen, nunmehro aber auf den rechten Weg gekommen sey. Weil er weder Brandtwein trank, noch mit andern Burschen umging, so hielt ihn sein Schlafkamerad für einen Pietisten.

Einmal fügte es sich, daß letzterer Gesellschaft bei sich hatte, wo man lustig und guter Dinge war, und er dem Völkner Brüderschaft zutrinken wollte, dieser aber nahm an der allgemeinen Freude nicht Theil, und ging mit den Worten aus der Stube: er habe keinen Durst, kam auch den ganzen Tag nicht wieder zurück. Des Tages darauf, stellte Völkner seinen Schlafkameraden hierüber sehr ernsthaft zur Rede, der nun auch anfing alle Gesellschaft zu vermeiden, um nur mit ihm in Einigkeit zu leben, weswegen ihn Völkner sehr lieb gewann.

Als sie einmal zusammen schliefen, fiel es dem Gelmroth ein, seinen Schlafkameraden wegen sei-[13]ner zu hochgetriebenen Heiligkeit etwas aufzuziehen, indem er zu ihm sagte: es sey doch unrecht, daß einige Leute so ganz auszeichnend fromm seyn, und dadurch anzeigen wollten, als wenn sie allein nur die wären, die der Seeligkeit theilhaftig werden könnten. Völkner antwortete darauf, daß sey von ihm sehr unrecht gedacht, man müsse seelig werden, und kurz darauf rief er heftig aus: ich will, ich muß seelig werden! Diese Worte wiederholte er einigemale mit barscher Stimme, wobei er stark mit den Händen fochte, und sich im Bette herumwarf. Nachdem er sich nun noch eine ganze Weile mit dem Gedanken, daß er mit aller Gewalt seelig werden wolle, beschäftiget hatte, brach er in bittre Klagen über sein ehemaliges gottloses Leben aus, und fing mit einmal an: da bin ich so dabei gekommen! welche Worte er wohl drei bis viermal hintereinander wiederholte, und wenn sein Schlafkamerad ihn fragte, wobei denn? so antwortete er eben dasselbe. Nachher wurde er im Verhör über diese Worte vernommen, ob er irgend vor seiner Mordthat in seinem Leben sonst noch ein großes Verbrechen begangen habe, worauf er aber antwortete, daß er sich niemals eines vor dem menschlichen Richterstuhle strafbaren Verbrechens schuldig gemacht. Hieraus läßt sich vermuthen, daß die obigen Worte sich vielleicht auf seine schon im Sinn habende Mordthat beziehen mochten, die er sich schon so gut als geschehen dachte.

[14]

Einige Tage vor den 23sten May traf ihn einer seiner Kameraden Nahmens Kendler auf dem Kirchhofe an, und ging mit ihm spatzieren. Völkner unterhielt, dieses Kendlers Aussage nach, lauter geistliche und gute Gespräche mit ihm, wo er auch unter andern sagte, daß Gott den Menschen so viel Gutes erzeige, und diese demohngeachtet so sehr zum Bösen geneigt wären. Als unter diesen Gesprächen der Abend herauf kam, und die Sterne etwas sichtbar wurden, fing Völkner an: diese Sterne sind unsere Vorboten, man muß sich bestreben, bald dorthin zu kommen!

Seiner Aussage nach, hatte Völkner schon lange den Gedanken mit sich herum getragen, einmal ein Kind zu ermorden, (um vielleicht auf die Weise, wenn er sich nach vollbrachter Mordthat bekehrt hätte, desto eher dorthin zu kommen, in jenes beßre Leben, wohin er sich sehnte) drei Wochen aber vor seiner That hatte er eine besondere Angst und Bangigkeit, es war ihm immer, als ob er jemanden umbringen müsse. Zuweilen schlief er ruhig, zuweilen aber nicht, und gleich beim Anbruch des Tages erwachten mit ihm die Gedanken zu morden. Als man ihn im Verhör fragte, warum er diese Aengstlichkeit nicht dem Feldwebel oder seinen Kameraden, oder dem Feldprediger entdeckte, gab er hönischlächelnd zur Antwort, weil er es nicht gewollt! was aber den Prediger anbeträfe, der hätte ihm doch nicht helfen können.

[15]

Drei Tage vorher, ehe er den Mord beging, spielte er auf eben dem Kirchhofe, wo er die geistlichen und guten Gespräche führte, mit den kleinen Kindern, um eins davon zu tödten, wenn ihn nicht die Menge von Menschen gehindert hätte, seine That, so wie er gewünscht, zu vollführen.

Endlich am 23sten May gegen Abend hielt ihn nichts mehr ab, sein schreckliches Vorhaben ins Werk zu richten. Ein kleines Mädchen, daß zuweilen mit des Feldwebels Tochter zu spielen kam, dessen Eltern er aber nicht kannte, kam auch diesen Abend in das Haus, wo Völkner im Quartier lag. Sein Wirth nebst seinen Schlafkameraden waren ohngefähr eine Stunde vorher ausgegangen. Er rief also die beiden Mädchen in die Stube und theilte erst seine Abendmahlzeit mit ihnen, worauf er dem einen Mädchen die Stirn überbog, und ihr mit einem Messer, daß er, seiner eignen Aussage nach, schon einige Tage vorher hiezu gewetzt hatte, die Gurgel durchschnitt. Das andere Mädchen, welches noch etwas grösser war, sagte während der That zu ihm: was machst Du da? als er es aber bedrohete, schwieg es. Nach verrichteter That ging er sogleich auf die Hauptwache, und gab sich selber an, wobei er gestand, daß ihm nun seine That leid sey. Er ward sogleich in Verhaft genommen, schlief aber die Nacht ganz ruhig: denn seiner eignen Aussage nach hatte sich die Aengstlich-[16]keit, welche er seit drei Wochen empfunden, sogleich nach vollbrachter That verloren.

Den Tag darauf verhörte man ihn, nebst seinen Officiers, und um ihn gewesenen Soldaten. Erstere sagten aus, er sei sehr leicht mit Worten zu ziehen gewesen, und letztere behaupteten einstimmig, daß sie niemals äussere Zeichen von Tiefsinn oder Schwermuth bei ihm bemerkt, er sey zwar nicht sehr lustig, und ausschweifend, aber doch auch nicht gänzlich ein Kopfhänger gewesen.

Er selbst antwortete bei der Untersuchung vernünftig und mit vieler Präcision und bezeigte gegen seine Vorgesetzten sowohl in Worten als Gebehrden viele Ehrfurcht. Er erzählte auf Befragen seinen Lebenslauf, gestand sein Verbrechen mit allen Nebenumständen, und setzte hinzu: er habe wohl gewußt, was eine solche That für Folgen habe, und daß er sie mit seinem Blute würde büßen müssen, indessen wäre ihm dieser Gedanke, zu der Zeit, da ihm sein Leben zur Last war, gar nicht schreckend gewesen, jetzt wünsche er, daß es nicht geschehen wäre. Insbesondere merkwürdig sind folgende Aeusserungen von ihm, welche nur zu deutlich zeigen, wie viel, durch Vorstellung einer höhern Glückseeligkeit erzeugter Lebensüberdruß, und falsche religiöse Vorstellungen von einer nach vollbrachter Mordthat noch anzustellenden Bekehrung, zu der Ausführung seines Entschlusses mögen beigetragen haben:

[17]

Er habe anfänglich Vertrauen auf Gott gehabt, allein dieses sey nachher, da sich die bösen Gedanken erst seiner bemächtiget, geschwächt, und er dadurch verleitet worden von Kirchen und Abendmahl, welches er sonst fleißig genossen, zurückzubleiben. Jetzt wolle er lieber sterben, jedoch seelig sterben, als leben. Jonas habe solches auch gewollt. Zwar wäre dieser nicht auf solche Art gestorben, dieses habe er aber vorher so genau nicht überdacht. Er glaube noch immer, es habe zu seinem Besten gereicht, daß er damals, als ihm in Danzig sein Felleisen gestohlen, zu den Dänen geführt worden sey. Hier sey er rechtschaffen bekehrt worden, habe einen guten Wandel geführt, und bloß auf seiner Reise nach Burg habe sein Christenthum gelitten (vermuthlich, da er sich mit den Reutern einließ). Jetzt sey er nun zwar gänzlich von Gott abgefallen, indeß wisse er doch, wie er es anzufangen habe, wenn er sich wieder bekehren wolle.

Niemals ward er in größere Verlegenheit gesetzt, als wenn man ihm die Frage vorlegte, warum er diese abscheuliche That gerade an einem unschuldigen Kinde, welches ihn nie beleidigt, verübt hätte. Alsdann rieb er sich die Stirne, blieb lange ängstlich stehn, als sinne er auf einen Grund, und wisse ihn selber nicht zu finden, bis er sich endlich bloß auf ein dunkles Gefühl berief, daß ihn dazu getrieben.

[18]

Als man ihn beim Schluß der Untersuchung fragte: ob er einen Defensor verlange, antwortete er: daß er sein Leben verwürkt habe, wisse er wohl, und verlange also keinen Defensor, und als man ihn darauf wieder in die Wachstube führte, sagte er zu dem Officier: Gelt, Herr Lieutenant, das war kurz resolviert! An diesem Tage, als dem andern nach seiner Gefangennehmung mußte ihm sein Schlafkamerad die Bücher bringen; diese waren: Arendts wahres Christenthum, das Paradiesgärtlein, Freylingshausens Gesangbuch, und das hällische goldne Schatzkästlein. a

Fußnoten:

1: *) Die Materialien zu dieser Geschichte sind mir vom Herrn Referendarius Frölich gütigst mitgetheilt. <M.>


3.

Johann Peter Drieß. a

Moritz, Karl Philipp

Was ich theils aus einer mündlichen Erzählung des Herrn Moses Mendelssohn, theils aus einem medicinischen Bericht des Herrn Assessor Hagen von diesem Unglücklichen weiß, theile ich hier mit.

Er war Inspektor am Joachimsthalischen Gymnasium, wo er aber wegen atheistischer Grundsätze, die er häufig geäussert haben soll, seinen Abschied erhielt. Herr Assessor Hagen hat mir einen Aufsatz von demselben mitgetheilt, worinn er seine Meinung über das öffentliche Gebet des Joachimstha-[19]lischen Gymnasiums sagt, welches er aus mehrern Gründen abgeschaft wissen will.

Daß er durch den Vorschlag, das öffentliche Gebet abzuschaffen, sich üble Nachrede zugezogen hat, scheinet aus folgender Stelle in seinem Aufsatze zu erhellen: »Es würde mich zum Lachen bewegen, schreibt er, wenn man sagen wollte, daß die Ruhe des Staats in Gefahr sey, sobald man das öffentliche Gebet abschaffen wollte. Wenn man in einigen Privatgesellschaften in Berlin deswegen in Alarm geräth, und diejenigen, welche diesen Vorschlag thun, als Ungeheuer betrachtet, so ist deswegen die Ruhe des Staats noch nicht in Gefahr.«

Aus folgender Stelle in dem Aufsatze kann man einigermassen auf seine Art zu denken und auf seine philosophische Kenntniß schließen: »Es ist ein Grund übrig, welcher noch schärfer als die vorhergehenden auf die Abschaffung des öffentlichen Gebets dringt. Ich habe oben schon gesagt, daß, wenn man sich einmal ohne alle Vorurtheile in eine unpartheiische Untersuchung der Religion eingelassen, es nicht mehr von uns abhängt, dieses oder jenes Religionssystem willkührlich zu wählen. Dieses gilt auch von den philosophischen Systemen. Wenn man nun in dieser Untersuchung auf ein System fällt, in welchem das Gebet keinen Platz finden kann, wie kann man alsdann im Ernst beten?

[20]

Setzt man aber den Fall, daß einer oder der andre der Herren Professoren, Inspektoren, oder Alumnen, sich für ein solches Lehrgebäude zu erklären, durch die Stärke der Gründe hingerissen worden, was für eine Figur wird dieser in dem Gebet vorstellen.—

Aber ist es möglich, daß ein vernünftiger, ein denkender Mensch, auf ein System fallen kann, in welchem kein Gebet statt findet? Wer diesen Einwurf macht, der möchte sich wohl noch nicht sehr mit freien Spekulationen abgegeben haben. Es ist mehr als möglich! Um sich hiervon kurz zu überzeugen, lese man nur, wenn man die Systeme nicht selbst lesen will, des Herrn Bruckers Historiam Philosophiæ. b Wer sich in diesem Felde ein wenig umgesehen hat, der wird wissen, daß die größten und berühmtesten Denker auf solche Systeme gefallen sind. Wenn ich nicht sehr irre, so kann man behaupten, ohne sich für ein solches System zu erklären (denn ein Denker wird sich nicht leicht für ein System erklären) daß die Lehrgebäude, in welchen das Gebet ausgeschlossen ist, mit eben so vieler, wo nicht mit mehrerer Gründlichkeit aufgeführet sind, als diejenigen, welche dasselbe in sich schließen.«

Nachdem der Verfasser alle seine Gründe für die Abschaffung des öffentlichen Schulgebets gesagt hat, schließt er seinen Aufsatz, auf eine so bescheidne als vernünftige Art, wie folget:

[21]

»Nach meiner Einsicht dringen die philosophischen Gründe auf die Abschaffung des Gebets; allein es kann vielleicht seyn, daß die politischen das Gegentheil thun. Ich wiederhole es nochmals, daß es meine Sache nicht ist, hierüber zu urtheilen, sondern ich glaube, daß dieses niemanden anders zu beurtheilen zukömmt, als der gesetzgebenden Macht, und denen, welche dieselbe vorstellen.

Ich sehe ein, daß es eine gute Ordnung und nützliche Einrichtung ist, die Jugend, besonders des Morgens, zu versammlen, und dieselbe durch eine ernsthafte und nützliche Beschäftigung zuzubereiten, den Tag so zuzubringen, wie es einem vernünftigen Geschöpfe zukömmt. Allein dies kann bei der Aufhebung des Gebets bestehen, wenn man etwas anders an die Stelle desselben setzt. Man kann z.E. gute aber sehr kurze moralische Abschnitte vorlesen lassen, welche auf das thätige Christenthum, oder welches einerlei ist, auf die Ausübung der Tugend dringen. Hier findet man keine Verschiedenheit der Meinungen. Alle Theologen und Philosophen von dem strengsten Orthodoxen an, bis auf den Bayle, Spinoza, und Epikur rufen einmüthig: ihr Menschen seyd gerecht! seyd tugendhaft! und dennoch fehlt es auf dieser Seite immer am meisten.«

Nun wieder zu der Geschichte dieses Unglücklichen, an dessen Verderben vielleicht nur zu sehr [22]eine unbegränzte Eitelkeit, und Begierde in einer höhern Sphäre zu glänzen, Schuld war.

Nachdem er das Joachimsthalische Gymnasium verlassen hatte, gerieth er in die äusserste Dürftigkeit, so, daß ihm zuletzt weiter nichts, als die leeren Wände seines Zimmers, ein Bette und ein Hemde übrig blieb. Und nun war er fest entschlossen, seinem Leben, das ihm verhaßt geworden war, ein Ende zu machen, brachte sich auch in dieser Absicht mit einem kleinen Federmesser zwei Stiche an zwei verschiednen Orten bei, aber ohne sein Vorhaben ins Werk zu richten. Es war dieses am 14ten Januar des Jahres 1774, und er war damals sechsunddreißig Jahr alt.

Da ihm also dieser Versuch mißlungen war, faßte er den festen Entschluß sich todt zu hungern, den er mit der schrecklichsten Hartnäckigkeit viele Tage lang durchsetzte. Vom 16ten Januar fing er an, nichts mehr zu essen und zu trinken. Am 18ten und 19ten stellte sich nach und nach ein brennender Durst ein, welcher unerträglich zu werden anfing; er nahm also den 19ten des Abends um neun Uhr etwas Wasser zu sich, weiter aber im geringsten nichts. Dieß trank er in sehr geringen Quantitäten bis zum 21sten.

Um diese Zeit ohngefähr war es, da er auf Bitten seines vertrauten Freundes vom Herrn Moses Mendelssohn besucht ward. Als dieser in das Zimmer trat, erblickte er, ausser einem [23]Glas Wasser, das auf dem Tische stand, weiter nicht das mindeste, was zu den Bedürfnissen oder Bequemlichkeiten des Lebens gehört. Der Kranke lag in einem sehr schmutzigen Hemde im Bette.

Herr Mendelssohn gab sich erst für einen pohlnischen Arzt aus, welcher seine Kunst auszuüben hieher gereißt sey; allein der Kranke wollte nichts weder von einem Arzt, noch von irgend einiger Hülfe, die bei ihm möglich wäre, wissen. Endlich errieth er, wer der Unbekannte sey, und fragte ihn: sind Sie nicht Mendelssohn? Dieser bejahte es, indem er ihm zugleich die Hand gab, wobei er die Hand des Kranken heiß und brennend, und doch gewissermaßen wie erstorben in der seinigen fühlte.

Nun wollte der Kranke anfangen, über allerlei Materien mit Herrn Mendelssohn zu disputiren, fand sich aber zu schwach zum Reden. Herr Mendelssohn nutzte diese Gelegenheit, indem er ihm freundschaftlich zuredete: er möchte sich durch den Genuß von etwas Speise erst so weit wieder erhohlen, daß er anhaltend reden könnte; jetzt stiege ihm bei jedem Worte, das er sagte, eine schreckliche Röthe ins Gesicht, die seine ausserordentliche Mattigkeit anzeigte; sobald er wieder dazu fähig sey, wolle Herr Mendelssohn gern Stundenlang mit ihm disputiren, und wenn er ihn gleich einmal überwunden, von vorne wieder mit ihm anfangen.

[24]

Der Kranke ließ sich diesen Vorschlag gefallen, und Herr Mendelssohn nahm Abschied von ihm, mit dem Versprechen, ihn sobald wie möglich wieder zu besuchen. Kaum aber war er weg, so änderte sich auch der gefaßte Entschluß des Kranken. Dieß sey ein neuer Kunstgrif, sagte er, wodurch man ihn nur habe bewegen wollen, von seinem Vorsatze abzuweichen: und bald darauf schrieb er in sein Tagebuch: Herr Mendelssohn habe ihn an diesem Tage betrügen wollen; auch verlangte er denselben nachher nicht mehr zu sprechen.

Seiner Aussage nach hatte er die Zeit über, da er nichts gegessen, auch nicht den geringsten Hunger empfunden, und nunmehr, da der Durst nachließ, so enthielt er sich auch des Wassertrinkens bis zum 28sten, wo er nach einer vorhergegangnen Vorstellung und Ueberredung, nachdem er nun seit zwölf Tagen nicht das mindeste genossen, alle Stunden, von ein Uhr des Nachmittags bis um sechs Uhr, jedesmal einen Eßlöffel voll Kalbsbrühe nahm.

Allein der Entschluß zu verhungern behielt wiederum die Oberhand, und der Kranke verließ aufs neue dieses Nahrungsmittel, wogegen er sich wieder wie vorher etwas wenigen Wassers bediente, welches er theils hinunterschluckte, theils den Mund damit ausspühlte, worinn er eine ausserordentliche Dürre bemerkte, so daß, wenn er redete, die [25]Zunge am Gaumen kleben blieb, und wenn er sie bewegte, einen Laut verursachte.

Seine Stimme ward nun immer schwächer, und er konnte sich zuletzt nicht mehr allein im Bette aufrichten. So erwartete er, wie er sagte, sein Ende, unter wechselweisen Schlafen und Wachen, bis den 3ten Februar, da ihn Seine Königl. Hoheit der Prinz Heinrich des Abends um sechs Uhr besuchte. Hierauf kam der Herr Hofrath und Leibmedikus, wie auch hiesiger Stadtphysikus Lesser zu ihm, der ihn auch vorher schon besucht hatte, um ihn zu überreden, Speise und Trank zu sich zu nehmen, allein seine Bemühung war bis jetzt noch umsonst.

Der Herr Geheimerath und Stadtpräsident Philippi trug darauf, vermöge schriftlichen Befehls, von wegen des Polizeidirektoriums, dem Herrn Stadtchirurgus, und jetzigen Assessor Assessor Hagen, auf, mit dem Herrn Hofrath und Stadtphysikus Lesser, gemeinschaftlich alles anzuwenden, um den Kranken zu bewegen, Nahrungsmittel zu sich zu nehmen; und ihm insbesondere zu Gemüthe zu führen, wie er, in Betracht der erhaltnen gnädigsten mündlichen und schriftlichen Versicherungen von des Prinzen Heinrichs Königl. Hoheit, (dessen Lektor zu werden er Hofnung hatte) die vortheilhaftesten Aussichten in Ansehung seines zeitlichen Glücks vor sich habe.

[26]

Wenn aber alle diese wirklich gegründeten Vorstellungen, und alles freundschaftliche Zureden, wider alles Vermuthen, fruchtlos seyn, und der Inspektor Drieß schlechterdings darauf beharren sollte, verhungern zu wollen, so sey alsdann, in diesem nicht zu verhoffenden Fall, selbst wider den Willen desselben, und mit der dazu erforderlichen Gewalt, dem Inspektor Drieß dienliche Nahrung einzuflößen und beizubringen.

Diesem Befehl zu Folge ging Herr Hagen den 4ten Februar des Morgens zu dem Kranken, und deutete demselben an, daß ihm von Seiten des Polizeidirektoriums anbefohlen wäre, ihm nochmals in Güte anzutragen, ob er, sein Leben zu erhalten, Nahrungsmittel zu sich nehmen wolle, widrigenfalls solle Schärfe gebraucht werden. Allein der Kranke wollte noch von nichts wissen, bis er erst den Befehl selbst gesehen hätte: als ihm dieser aber selbst vorgezeigt ward, so änderte er nun auf einmal seinen Entschluß, und nahm um zehn Uhr Vormittags zum erstenmale wieder einen Eßlöffel voll Chokelade, und ein halb Glas voll reiner Milch, seitdem er nun wirklich beinahe zwanzig Tage lang gehungert hatte. Man fuhr fort, ihm alle Stunden Chokelade und Milch zu geben, und von nun an nahm er völlig und unausgesetzt, was man ihm gab. Den folgenden Tag, am 5ten Februar, nachdem er zwei Tassen Kaffee getrunken und zwei Zwiback dazu gegessen, befand er sich [27]merklich besser, und sein Puls, der am vorigen Tage des Vormittags noch kaum zu fühlen war, schlug wieder voller und munterer.

So erhohlte er sich von Tage zu Tage, und am 9ten fing er schon wieder an Fleisch zu essen, und aufzustehen, ja er ward so stark, daß er am folgenden Tage den ganzen Tag ausser dem Bette aufsitzen konnte, und am 11ten Februar schon wieder an zu arbeiten fing, welches er den 12ten fast den ganzen Tag fortsetzte, so daß man ihn mit Mühe davon abhalten mußte. So erschöpft sein Körper noch vor einigen Tagen war, so nahm er jetzt zusehends wieder an Kräften zu, und in kurzem war er völlig wieder hergestellt.

Herr Moses Mendelssohn hatte ihn seit dem ersten Besuch nicht wieder gesehen, als er nach einiger Zeit auf einmal unvermuthet, sehr vornehm gekleidet, in dessen Zimmer trat, um ihm anzuzeigen, daß er nun bei Sr. Königl. Hoheit dem Prinzen Heinrich Lektor geworden sey; und als Herr Mendelssohn sich seiner nicht gleich erinnerte, sagte er: »ich bin der Elende, den Sie einmal Ihres Besuchs gewürdiget haben. Und nennen Sie's Eitelkeit, wie Sie wollen, genug ich fühlte, daß ich für eine größere Sphäre bestimmt war. — Nun bin ich glücklich!«

Herr Mendelssohn fand nicht für gut, sich nach dieser Erklärung eben weiter mehr mit ihm einzulassen. Der neue Glückliche erwachte bald [28]aus seinem Traume, und da er zu bemerken glaubte, daß man auch hier nur eine Komödie mit ihm gespielt habe, und darüber aufs neue in Raserei verfiel, ward er ins Tollhaus gebracht, rannte mit dem Kopf gegen die Mauer, und starb*). 1

Fußnoten:

1: *) Wie sehr wünschte ich von den Lebensumständen dieses Unglücklichen, seinen ersten Anlagen, seiner Erziehung, u.s.w. mehr zu erfahren! <M.>

Erläuterungen:

a: Inspektor am Joachimsthalischen Gymnasium in Berlin. Verlor wegen atheistischer Äußerungen seine Stelle, trotz Unterstützung seiner Freunde (u.a. Mendelssohn und Nicolai) und kurzer Wiederherstellung seiner Gesundheit nahm er sich das Leben.

b: Brucker 1731-1736 und Brucker 1742-1744.


4.

Sonderbarer Gemüthszustand eines jungen Menschen von funfzehn Jahren*). 1

Schmidt, Valentin Heinrich

Ein hiesiger Bürger brachte vor etwa drei Jahren seinen Sohn in die Stadtschule. Seine Fähigkeiten waren seiner körperlichen Grösse nicht angemessen; daher ward er in die zweite Klasse gesetzt. [29]Hier saß er oft unter einer gemischten Anzahl der Kleinern, deren kindisches Betragen ihm bei seinem reifern Alter nicht mehr gefiel.

Da er sich aber sonst gut betrug und mit anhaltendem Fleiße die Lehrstunden besuchte, gewann er das Vertrauen seiner Lehrer. Dies dauerte eine Zeit, bis die zu große Ungleichheit seiner Mitschüler und die Abneigung gegen die französische Lehrstunde, wo er den Unterricht unter seinen Fähigkeiten zu seyn glaubte, den Wunsch in ihm rege machten, die Schule bald möglichst wieder zu verlassen.

Er versuchte unter mancherlei Vorwand von seinen Eltern die Erlaubniß dazu zu erhalten, die ihm aber jederzeit versagt wurde. Endlich sagte er es ihnen ohne Rückhalt, daß ihm die Anfangsgründe der Sprache, die man in der untern Klasse trieb, hinlänglich bekannt wären, und er daher jede Stunde, die er dort zubrächte, für verloren hielte. Diese aber schrieben es bei einer strengen Erziehungsart ihrer Kinder auch diesesmal seinen noch unreifen Einsichten zu, und hielten ihn noch nachdrücklicher zum fleißigen Besuche der Schule an.

Nun aber änderte sich auf einmal sein ganzes Betragen. Er schien tiefsinnig und schwermüthig zu werden. In der Zeichenstunde, nahm er statt zu arbeiten, eine abgestumpfte Feder oder eine Mohrrübe, befestigte sie in den Tisch, und hieb den obern Theil mit einem Streich herunter. Hie-[30]zu hatte er von dem Tage an stets ein ungewöhnlich großes Messer bei sich. So wird mirs auch gehen, setzte er hinzu, und bald darauf drangen Thränen aus seinen Augen.

In diesem Zeitpunkte antwortete er auf alle Fragen seiner Mitschüler nichts. Es schien, als wenn eine tiefe Schwermuth, die mit einer Reue über ein begangenes Unrecht verknüpft war, sich seiner bemächtigt hatte. Er sah starr und still auf jeden, der ihn befragte, und selbst seine Lehrer erhielten entweder keine oder nur abgebrochene Antworten von ihm, die keinen Sinn hatten.

Man hielt es anfänglich für eine vorübergehende Schwäche, als er es aber mehrere Tage fortsetzte, ununterbrochen bald weinte, bald durch Worte, Gebehrden und Handlungen Verwirrung des Verstandes äusserte, befragte man ihn genauer, und erhielt noch keine befriedigende Antwort. Man fand für gut, nicht mit Schärfe in ihn zu dringen. Seine Mitschüler entfernten sich von ihm.

Hierauf schnitt er in den Tisch einen Galgen, oder bemahlte damit ein Papier, setzte sich das Messer an die Kehle oder auf die Brust, sprach vom Ersäufen, mit dem Zusatz, daß er es längst würde gethan haben, wenn er seinen Eltern diesen Gram hätte verursachen können, drohete einige seiner Mitschüler, und besonders auch den französischen Lehrer zu erstechen, einen Balken herunterzureissen [31]und ihnen damit auf den Kopf zu werfen, und dergleichen mehr.

Bei dem allen kehrten stets seine Thränen zurück; und dies schien ihm Erleichterung zu verschaffen, und ruhige Zwischenzeiten zu geben. Dann sahe er stets vor sich hin, und bekümmerte sich um keine Gegenstände, die um ihn waren. Aus der Schule ging er öfters so, daß er sich vor den Kopf schlug, verzweiflungsvolle Gebehrden machte, mit den Füssen stampfte und noch mehrere Zeichen des Unwillens von sich gab.

Man schonte ihn noch immer und suchte durch Zureden und freundschaftliche Behandlung sein Vertrauen zu gewinnen, um wo möglich auf die Spur seines sonderbaren Betragens zu kommen; aber er blieb sich stets gleich und antwortete höchstens, daß ihm nichts fehle. Ueberhaupt schien es, daß er mehr durch Güte zu lenken war, denn Trotz und Widersetzlichkeit äusserte er nur, wenn man strenge mit ihm verfuhr.

Da die Kinder dieses ihren Eltern entdeckten und einige besorgten, daß er wohl gar einen seiner Mitschüler beschädigen könnte; so meldete man es seinen Eltern, mit der Bitte, ihn auf einige Zeit zu Hause zu behalten. Der strenge Vater wendete diese Tage an, ihn durch scharfe Zucht und durch Einsperren von seinen Narrheiten zu heilen, besonders da er im väterlichen Hause nie dergleichen gezeigt hatte.

[32]

Er schickte ihn wieder; aber ohne Erfolg. Jetzt sprach er von Kuren, denen er sich habe unterwerfen müssen, vom Bade, in das er getaucht wäre, um seinen Kopf wieder in Ordnung zu bringen. Als man in der Lehrstunde einen Brief diktirte, schrieb er, statt des Diktirten, viel verwirrtes Zeug nieder, das keinen Sinn hatte. Nun lief sogar von einem Vater eines andern Schülers ein Schreiben an einen Lehrer ein, worinn er bat, auf diesen Menschen Acht zu haben, weil er einen seiner Mitschüler zu erstechen gedroht habe.

Dieser Wink nebst den vielen nachtheiligen verdrehten Gerüchten über diesen Vorfall, noch mehr aber folgender Brief, der von diesem Jüngling selbst einem Lehrer in dessen Abwesenheit ins Haus gebracht wurde, veranlaßte, daß man gewissere Auskunft darüber suchte. Ich will ihn ganz wörtlich mittheilen.

»Mein lieber Herr K..,

Ich bedanke mich auch für Ihren guten Unterricht, den ich bishero von Ihnen gehabt habe; denn ich werde nunmehro nach Italien reisen, Leben Sie wohl; ich werde mich beständig an Sie erinnern, weil ich Ihnen so gut gewesen bin, als allen meinen Maiters, und ich von Ihnen am meisten gelernt habe. Ich verbleibe mit vieler Hochachtung, u.s.w.«

[33]

Der Schulmann besuchte hierauf die Eltern des jungen Menschen, redete mit Zurückhaltung und Schonung von dem Zustande und den Aeusserungen ihres Sohnes, wo es sich denn zeigte, daß keiner von den Seinigen etwas von einer Reise nach Italien wußte.

Der strengere Vater wußte bald Mittel, ein Geständniß aus ihm zu bringen, welches ihn selbst sowohl als seine Lehrer in Erstaunen setzte. Er gestand nemlich, daß das Mißvergnügen über den Unterricht in der französischen Stunde, sein Widerwille gegen den Umgang mit den Kleinern und der Eckel das schon einmal gehörte immer wieder anhören zu müssen, ihn auf den Gedanken gebracht habe, sich wahnwitzig zu stellen, um dadurch seine Entfernung aus der Schule zu bewirken.

So lößte sich das Geheimniß von seinem Wahnwitze auf, den unter sechs Lehrern einige für gewiß, andere für wahrscheinlich hielten, und wodurch er achtzig seiner Mitschüler zu hintergehen wußte. Diese Rolle hat er über sechs Wochen anhaltend gespielt.

Bald darauf fand der Vater für gut, ihn aus der Anstalt zu nehmen. Ich selbst habe noch kürzlich mit ihm über diesen Vorfall gesprochen, wo er sich des Ausdrucks bediente: jenes wären nur Kindereien gewesen. Sonst ist er äusserst dienstfer-[34]tig und gefällig, und hat besonders vorzügliche Talente zur Musik, worinn er auch itzt mit Beifall Unterricht ertheilt.

V. H. Schmidt.

Fußnoten:

1: *) Dieser Aufsatz, welcher mir von dem Herrn Konrektor Schmidt, meinem Freunde und nächsten Kollegen an der Kölnischen Schule mitgetheilt worden, ist der erste in diesem Journal, der gleich unmittelbar in die Pädagogik einschlägt, möchten doch bald mehrere Schulmänner mich mit ihren gütigen Beiträgen zu diesem gemeinnützigen Endzweck unterstützen? <M.>


5.

Selbstgeständnisse des Herrn Basedow von seinem Charakter*). 1

Basedow, Johann Bernhard

Ach wäre ich, wie vom Geize, also eben so frey von verdienten Vorwürfen unsittlicher Würkung des beim Widerspruche ruhmredigen Kraftgefühls, welches wahrlich den Stärksten schwächt; und des übertriebnen Grams, wenn gemeinnützige Anschläge mißlingen; und des kurzen aber heftigen Zorns gegen Widersacher, wenn die Stärke des Getränks mit dem Grame wirkt; und von den Vorwürfen der Ungezogenheit, die in solchem Zustande, auch wohl in der seltnen Fröhlichkeit, deutlich zeiget, daß sich in dem Gegentheile aller Arten der guten Erziehung [35]aufgewachsen, und daß mein bischen Politur ein zu spätes Kunstwerk sey.

Wäre dieses Schicksal nicht so wirksam durchs ganze Leben; was hätten wir denn Wahres zu reden von dem so hohen Wehrte eines philanthropisirenden, und also unsers, Institutes?

Ach wäre ich so frey von Vorwürfen des Spiels zu gewissen Zeiten, welches von jeher, bald mehr bald weniger meine einzige Zerstreuung war; da nur ein Zehntel der Natur in meine von Jugend auf schwache Augen fällt, da die Tonkunst mir fremd geblieben ist, und da nur wenige Arten von gesellschaftlichen Gesprächen mich unterhalten, nehmlich solche, wodurch ich merklich lernen oder merklich lehren kann. Die von der ersten Art aber sind in meinem Alter schwer zu finden; die von der andern Art werden meinen Gesellschaftern bald unangenehm.

***

Ich muß, (so ist meine Natur und Verwöhnung,) wenn mir etwas gelingen soll, nicht anders arbeiten, als mit einer ausserordentlichen Anstrengung und Ausdaurung, welche zuweilen fast allen Schlaf hindert. Sonst verliere ich gar leicht den Faden in dem Labyrinthe, in welches ich, als ein Erfinder und Beurtheiler der Wahrheiten und vornehmlich der Methoden und Lehrmittel, mich hineinbegeben habe.

[36]

Dadurch verfalle ich denn endlich in einen Zustand, daß ich eine Vernichtung aller Geisteskräfte, sogar der Vernunft, befürchten muß, wenn ich mich nicht auf eine Zeitlang, gleichsam mit Gewalt, loßreiße und zerstreue, und gewisser Besorgnisse wegen, zuweilen ausser Hauses. Eben die Wirkung hat der Anfall des starken Grams.

Und, o Gott, du weißt es, wie selten ich seit einigen Jahren in Dessau von der Uebermacht desselben befreit gewesen bin, seitdem ich dem Lande habe dienen, und ein Philanthropin stiften wollen, wovon ein guter Rest nachgeblieben ist! Trinke ich nun in einem solchen Zustande keinen Wein, oder höchst wenig, so werden meine, entweder zu arbeitsamen oder zu kummervollen Grübeleien nicht unterbrochen, und so bleibe ich in Gefahr, gänzlich zu erliegen, davon ich den Anfang sehr trauriger Wirkungen zuweilen schon erlebt habe.

Ich kenne in der Mischung dieses Lichts und Schattens meines Gleichen nicht. Vielleicht liegt eine natürliche Ursache darinnen, daß mich ein ausserordentlich lebhafter Vater gezeugt, und eine mehrentheils bis zum Wahnsinne melancholische Mutter geboren hat.

In diesem Zustande kann ich nun schlechterdings nicht vorher errathen, wie viel oder wenig mir diene. Wirkt ein unvermuthetes Erinnerungsmittel einer Kette von Ursachen des Grams, so [37]scheint sich, wenn ich auch fernerhin Wasser trinke, (besonders wenn ich zum verdrüßlichen Reden veranlaßt werde,) die Kraft des schon getrunknen Weins zu vervielfachen. Ich rede erst wahr und derb, dann wahr und unvorsichtig, dann wahr und unsittlich, weil ich bis ins achtzehnte Jahr unter lauter sehr gemeinen Leuten, durch schlechte Redensarten, erzogen bin, und also, wenn ich die Feder nicht in der Hand habe, jeder unbesonnene Affekt mich in diese ungeschlifne Sprache wieder zurückführt.

Daher wähle ich zuweilen, wenn Gelegenheit ohne mich da ist, in solchem Drange meiner Gedankennoth, lieber ein, die Aufmerksamkeit erzwingendes, Spiel, als den Wein. Wenn ich aber nicht entweder zur Verbesserung der Wissenschaften, oder im Grame grüble; alsdann, und also gemeiniglich, lebe ich höchst ordentlich und enthaltsam von Wein und Spiel.

Fußnoten:

1: *) Da die Schrift, woraus ich dies gezogen habe, eine Privatstreitigkeit betrift, die nicht jeden interessirt, diese Selbstgeständnisse in derselben aber einen jeden, als Mensch, interessiren müssen, so glaube ich, ist dieser Auszug nicht überflüßig und unzweckmäßig. <M.>

[38]

III. Zur Seelennaturkunde.

1.

Spalding an Sulzer. a

Spalding, Johann Joachim

Berlin am 31. Januar 1772*). 1

Ich hatte heute Vormittag in geschwinde abwechselnder Folge viele Leute sprechen, vielerlei Kleinigkeiten schreiben müssen, wobei die Gegenstände fast durchgehends von sehr unähnlicher Art waren, und also die Aufmerksamkeit ohne Unterlaß auf etwas ganz anderes gestoßen ward. Zuletzt war eine Quitung wegen Zinsen für Kirchenarme zu schreiben. Ich setzte mich nieder, schrieb die beiden ersten dazu erforderlichen Wörter; aber in dem Augenblicke war ich nicht weiter vermögend, weder die übrigen Wörter in meiner Vorstellungskraft zu finden, noch die dazu gehörigen Züge zu treffen. Ich strengte aufs äusserste meine Aufmerksamkeit an, suchte langsam einen Buchstab nach dem an-[39]dern hinzumahlen, mit beständigem Rückblick auf den vorhergehenden, um sicher zu seyn, ob er auch zu demselben passe, merkte aber doch und sagte es mir selbst, daß es nicht diejenigen Züge wurden, die ich haben wollte, ohne mir indessen im geringsten vorstellen zu können, was ihnen fehlete. Ich brach also ab, hieß den Mann, der darauf wartete, theils einsilbigt, theils durch Winken, weggehen, und überließ mich unthätig dem Zustande, in welchen ich mich gesetzt fand. Es war eine gute halbe Stunde hindurch eine tumultuarische Unordnung in einem Theile meiner Vorstellungen, in welchen ich nichts zu unterscheiden vermogte; nur daß ich sie ganz zuverläßig für solche Vorstellungen erkannte, die sich mir ohne und wieder mein Zuthun aufdrängten, deren Unwichtigkeit ich einsahe, auf deren Wegschaffung ich arbeitete, um den eigenen und besseren Ideen, deren ich mir im Grunde meiner Denkkraft bewußt war, mehr Luft und Raum zu schaffen. Ich warf mich nämlich, so viel ich unter dem Schwarm der andringenden verwirrten Bilder konnte, auf die mir geläufigen Grundsätze von Religion, Gewissen und künftiger Erwartung zurück; ich erkannte sie für gleich richtig und fest; ich sagte mir selber mit der größten Deutlichkeit und Gewißheit: wenn ich, das eigentliche denkende Wesen, jetzt gleich, etwa durch eine Art von Tod, aus diesem in dem Gehirn erregten Getümmel, welches mir, nach meiner in-[40]nersten Empfindung, immer etwas fremdes, ausser mir selbst vorgehendes blieb, herausgesetzt würde, so würde ich in der besten glücklichsten Ordnung und Ruhe fortdauren und fortdenken. Bei dem allen war nicht die mindeste Täuschung der äusserlichen Sinnlichkeit; ich sahe und kannte alles um mich herum in seiner wahren Gestalt; nur des fremden Andranges und Gewirres im Kopfe konnte ich nicht loswerden. Ich versuchte zu reden, gleichsam zur Uebung, ob ich etwas Zusammenhangendes hervorzubringen im Stande wäre; aber so sehr ich auch Aufmerksamkeit und Gedanken mit Gewalt zusammenzwang, und mit der äussersten Langsamkeit dabei verfuhr, so merkte ich doch bald, daß unförmliche und ganz andere Wörter erfolgten, als die ich wollte; meine Seele war jetzt eben so wenig Herr über die innerlichen Werkzeuge des Sprechens, als vorhin des Schreibens. Ich gab mich also zufrieden, in der, freilich an sich nicht erfreuenden Erwartung, daß, wenn dieser Zustand beständig so fortdauren sollte, ich auf meine Lebenszeit weder würde reden noch schreiben können, daß aber meine eigenen mir bewußten Grundsätze und Gesinnungen immer dieselben und also auch, bis zu der völligen Absonderung von diesem ungestümen Spiele des Gehirns, mir noch stets eine einheimische Quelle der Beruhigung und der Hofnung des Besseren bleiben würden. Ich bedauerte nur meine Angehörigen und Freunde, daß sie mich, [41]auf solchen Fall, für Pflichten und Geschäfte, selbst für allen eigentlichen Umgang mit ihnen, verlieren und als eine Last der Erde sehen müßten. Aber, Gottlob, diese traurige Besorgniß währete nicht mehr lange. Nach der vollen halben Stunde fing nach und nach mein Kopf an, heller und ruhiger zu werden; die fremden, mir so überlästigen Vorstellungen wurden weniger lebhaft und brausend; und ich konnte das, was ich aus meinem eigenen Grunde denken wollte, schon mit schwächerer Unterbrechung von jenen, mit etwas mehrerer Klarheit und Ordnung durchsetzen. Ich wollte nun dem Bedienten klingeln, damit er meiner Frau sagen möchte, zu mir herauf zu kommen; allein ich hatte doch noch einige Zeit nöthig, um mich zu oft wiederhohltenmalen im richtigen Aussprechen der hiezu erforderlichen wenigen Worte zu üben; und die erstern nachherigen Unterredungen mit den Meinigen geschahen noch von meiner Seite, eine andere halbe Stunde hindurch, mit einer langsamen und gewissermaßen ängstlichen Bedächtlichkeit, bis ich mich endlich wieder eben so frei und heiter, als am Anfange des Tages, fand und nur einen sehr gelinden Kopfschmerz fühlete. Hier dachte ich an meine angefangene, aber für irrig erkannte Quitung, und sahe, daß, anstatt: »funfzig Thaler halbjährige Zinsen,« wie es heißen sollte, mit so reinen und geraden Zügen, als ich je in meinem Leben mochte gemacht haben, geschrieben da stand: [42]»funfzig Thaler durch Heiligung des Bra-« mit einem Abbrechungszeichen, weil die Zeile zu Ende war. Es war mir nicht möglich, mich auf etwas in meinen vorhergegangnen Vorstellungen oder Geschäften zu besinnen, welches durch einen dunklen mechanischen Einfluß zu diesen unverständlichen Worten hätte Anlaß geben können.

***

Diese Erzählung mag gar leicht in den Augen anderer, die aus der Erfahrung oder aus Lektüre mehr mit den mannichfaltigen Erscheinungen in der menschlichen Natur bekannt sind, weit weniger Befremdendes und Sonderbares an sich haben, als in den meinigen. Der seelige Sulzer selbst sagte mir in seiner Antwort hierauf manche Seltsamkeiten von etwas ähnlicher Art, die er theils an sich, theils an Bekannten erlebt hatte; doch gestand er einen beträchtlichen Unterschied zwischen denselben und dem gegenwärtigen Fall.

So viel, dünkt mich, folgt aus diesem letzteren, daß es nicht so leicht sey, von der Verstandesverrückung eines andern zu urtheilen. Ich erinnerte mich mitten in meinem oben beschriebenen Zustande eines damals in dem hiesigen Irrenhause befindlichen Candidaten, der anfänglich auch verwirrt und unverständlich gesprochen hatte, und dessen Verrückung nachher darein gesetzt ward, daß er zu gar keinem weiteren Sprechen zu bringen war. [43]Wer weiß, dachte ich, ob er nicht seine eigenen ordentlichen Gedanken so gut für sich hat, als ich jetzt die meinigen, und nur deswegen nicht sprechen will, weil er weiß und empfindet, daß er seiner innersten Sprachorganen nicht Meister ist, sich also scheuet, im Sprechen wahnwitzig zu erscheinen, da er es im Denken nicht ist?

Weitere Schlüsse aus meiner gehabten Erfahrung zu machen, will ich mir ja nicht herausnehmen, ob ich gleich sehr wünsche, die folgende Bedenklichkeit aufgekläret zu sehen: wenn die ganze Denkkraft von dem jedesmaligen Zustande des Gehirnes abhängt, oder eigentlich darinn liegt, so muß, in meinem Fall, der eine Theil meines Gehirns gesund, in gehöriger Lage und Ordnung, der andere in unordentlicher, verwirrter Bewegung gewesen seyn. Und welcher von beiden sagte denn: ich? unterschied die durch einander kreuzenden Vorstellungen von sich selber? urtheilete von der Unrichtigkeit derselben? fühlte so innig sich selbst, als etwas ganz anderes und abgesondertes von jenen? Wie viel oder wie wenig daraus zu folgern sey, überlasse ich gerne der Entscheidung der Sachkundigern.

J. J. Spalding.

Fußnoten:

1: *) Diese kurze Erzählung schrieb ich an demselbigen Tage Nachmittags auf, und schickte sie an meinen Freund Sulzer.

Erläuterungen:

a: Vgl. zu diesem Beitrag Goldmann 2015, S. 169-173.

[44]

2.

An Herrn Doktor J.. in Königsberg. a

Herz, Marcus

Mein lieber wahrer Freund!

Die Erstlinge meiner Kräfte, die mir die Feder erlauben, seyn Ihnen gewidmet, mein wahrer Busenfreund! Sie haben, wie ich gehört und gesehn, nicht an meinen Zustand Theil genommen, haben ihn ganz mitgefühlt. Ihr inniglicher Herzensbrief, der nur einige Tage nach dem Anfange meiner Genesung kam, hat mein ganzes viertel Wesen, das ich zu der Zeit noch war, ausser Fassung gebracht, das wenige Mark in meinen Gebeinen durchdrungen, und eine Stundelang meine Augen unter Wasser gehalten. Wie viel hätt' ich an diesem Leben verloren, dachte ich, der ich während meiner Krankheit so wenig an diesem Leben zu verlieren glaubte, wenn es den Genuß einer solchen Glückseeligkeit enthält, einen solchen Freund zu besitzen!

Ich habe einen von allen Seiten betrachtet schrecklichen Sturm ausgehalten. Die Spitze des Mastes küßte schon die Wellen; das Fahrzeug leck; und die Kräfte der Arbeiter erschöpft. Noch einige Augenblicke, und es wäre geschehn gewesen: und auf einmal heitres Wetter, Windstille, die Arbeiter erholen sich; das Fahrzeug wird ausgebessert, und erwachend aus der Ohnmacht finde ich mich auf dem Trocknen! Ein kleines Wunder war in der [45]That meine Errettung, das behaupten alle meine Freunde, alle die um mir waren, alle meine Aerzte; und hätt' ich nicht richtigere Begriffe von den Gesetzen der Natur, und wäre ich nicht überzeugt, daß die Blatlaus nicht minder Zweck, nicht minder Bestimmung (obschon mindren Zweck, mindre Bestimmung) in der Schöpfung hat, als der Cherub: so könnte mich wohl Eigenliebe zu glauben verleiten, daß die Vorsehung aus und zu ganz besondern Absichten meine Erhaltung veranstaltet.

Sie wollen meine Krankheit, und ihren ganzen Gang wissen, mein lieber Freund, und das von mir! An meine Aerzte hätten Sie sich wenden müssen. Ich war den größten Theil der Zeit nicht ich, und den Uebrigen hielt meine Phantasie mich in einer ganz andren Welt, in einem ganz andren Zusammenhange der Dinge fest. — Indessen so viel ich davon weiß, empfunden oder erzählen hören, will ich Ihnen mittheilen. Ich kenne das menschliche Gemüth, es wird Ihre unverstellte Freude über meine Genesung zuverläßig erhöhen.

Meine Krankheit dauerte, von dem ersten Tage an, da ich zu Hause blieb, bis zu dem, da man mich Gefahrfrey sprach gerechnet, siebenzehn Tage. Ueber ihre Benennung waren und sind meine Aerzte noch uneinig. Einige nennen sie ein Faulfieber, andre ein bösartiges Katarrhalfieber, andre ein hitziges Nervenfieber. Genug es war eine Krankheit, in welcher meine Aerzte [46]mich schlechterdings aufgaben. S.. mein einziger ordinirender Arzt, dem ich ganz allein mein Leben zu danken habe, kündigte meinen Todt den zweiten Tag meiner Krankheit allen meinen Bekannten an; ob schon ich noch in der Stube herumging. Er kennt, wie er sich ausdrückte, diese Krankheit vorzüglich, hat sie sehr oft behandelt, und noch nie ist ihm einer daran genesen. Die Uebrigen, als M.., F.., V.. sahn die Wichtigkeit der Krankheit nicht sobald ein, und wurden daher erst einige Tage nachher meine Todesverkündiger. Es war die Krankheit, an der Hirschel und der junge Muzel starb; die Krankheit, von der, der vierzig Jahr prakticirende M.. sagt, daß er nur zwei Menschen daran curirt habe!

Empfänglichkeit einer so schweren Krankheit, hatte ich ohne Zweifel schon lange vorher in meinem Körper gehabt. Fast alle Menschen sagten mir lange vorher: ich sähe schlecht und mißfarbig aus, obschon ich selbst, vermuthlich wegen der übertriebnen Anstrengung meiner Seelenkräfte, nichts widernatürliches im Körper verspürte. Es ist bekannt (wiewohl deßwegen nicht minder wunderbar) daß eine lebhafte Aufmerksamkeit, oder eine überspannte Thätigkeit, auf eine kurze Zeit, die größte Unordnung im Körper oft unfühlbar zu machen fähig ist, (man wird daher auf Reisen, wo abwechselnde mannichfaltige Gegenstände unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, nur selten krank, und die [47]schmerzhaftesten Gefühle selbst verschwinden oft plötzlich beim Anblick eines fürchterlichen, schrecklichen oder sonst auffallenden Gegenstandes.) Aber freilich nur auf eine kurze Zeit. Die Folgen pflegen alsdann gewöhnlich durch ihre Wichtigkeit das zu ersetzen, was man an der Dauer erspart.

Ich war ein ganzes Vierteljahr vorher mit der Ausarbeitung meines Colegii beschäftigt. Ich fing an zu lesen, und der ganze unerwartete Beifall von einer Menge Zuhörer aller Stände, vergrösserte mit jeder Vorlesung meine Arbeitslust, und die Anstrengung meiner Kräfte. Ich brachte die Stunden, die mir meine praktische Geschäfte liessen, ununterbrochen bald mit Vorbereitung zur nächsten Vorlesung zu, bald mit Vorarbeiten der künftigen. Zugleich verfaste ich ein Compendium zum Druck für meine Zuhörer, das ausgearbeitet, korrigirt, durchgesehn, abgeändert, und wieder korrigirt seyn mußte.

Dazu kam, daß grade meine praktische Geschäfte sehr häufig und interessant waren, und mein Schwiegervater in acht Wochen wegen eines Stosses am Fuß die Stube hüten mußte; ich also auch den größten Theil seiner Geschäfte mit zu versehn hatte. Dreißig Krankenbesuche täglich ohne das Lazareth, das eben so viel Kranke enthielt, war das Gewöhnliche; meine Muse war zu geringe, und ich mußte die frühen Morgen, und ganz wieder meine Gewohnheit die spätesten Abendstunden mit zu Hülfe [48]nehmen. Meine Arbeit schien zu gedeihen, und so ward ich von Pflicht und Eitelkeit gespornt, meine Nerven allmählich geschwächt, meine Verdauungskräfte über den Haufen geworfen, ohne daß ich auf alles dieses merkte, bis das Maaß zu voll ward, um nicht bei der mindesten Gelegenheit überzulaufen. Montag den 18ten November stand ich auf mit einem geringen Grad meiner gewöhnlichen Migräne. Sie nicht achtend, machte ich mich aus bei meinen Kranken, sie ward aber gegen Mittag so heftig, daß ich zu Hause mußte, und ein Vomitiv nahm. Des Nachmittags war alles gut. Ich besuchte des Abends noch Kranke, und brachte den übrigen Theil desselben ganz vergnügt bei meinen Schwiegereltern zu.

Den 19ten stand ich völlig gesund auf. Es war eine grimmige Kälte; ich hatte häufige Geschäfte, und lief von neun bis gegen zwei Uhr zu Fuß herum. Länger konnte ich's nicht aushalten. Ich fühlte meinen ganzen Körper durchfroren, müde und einigermassen niedergeschlagen, kam nach Hause mißmuthig, und sogleich stellte sich ein drückender Schmerz im Hinterhaupt ein. Ich aß ohne Lust. Der Nachmittag war indessen wieder gut. Ich beschäftigte mich in Gesellschaft einiger Studenten ein Gehirn zu zerschneiden, um mich zu meiner künftigen Vorlesung vorzubereiten. Um sieben Uhr des Abends überfiel mich auf einmahl ein gewisses Krankheitsgefühl, das ich noch nie aus eigner Er-[49]fahrung kannte, und daß ich Ihnen auch nicht beschreiben kann. Mein Kopfschmerz am Hinterhaupt fing heftig an; ich ward mit einmal läßig und niedergeschlagen; empfand einen geringen Schauer; der Toback wollte nicht schmecken; Essen und Menschen und Welt waren mir gleichgültig oder gar zuwider. Ich konnte nicht aufdauren. Die Nacht ward unruhig und schlaflos zugebracht. A.. wachte in meiner Schlafstube.

Den 20sten wandelte ich läßig in meiner Stube herum; bald warf ich mich auf den Sopha, bald stand ich wieder auf; mein drückender Kopfschmerz hielt an; es kam dazu ein Druck auf den Sehnerven. Ich spürte etwas Fieber im Puls, und Schwere in allen Gliedern, und Unlust an allen Gegenständen meiner sonstigen Neigung. Ich hielt es vor ein Katarrhalfieber und verschrieb mir eine temperirende Mixtur. Des Abends nahm dieses Krankheitsgefühl zu. Ich fühlte deutlich die Annäherung einer überaus schweren Krankheit in meinem Körper, von der ich nichts geringeres (warum weiß ich selbst nicht) als den Tod mir vorstellte. Ich sprach auch beständig, wiewohl in einer gleichgültigen Laune, die beinahe an die fröhliche gränzte, vom Sterben, und als denselben Abend der Assessor R.. mich besuchte, und mir für mein Collegium pränumerirte, weigerte ich mich ernstlich das Geld anzunehmen. Ich habe erst zwölf Stunden gelesen, mein Freund, sagte ich ihm, und wer [50] weiß ob ich je weiter lesen werde! ich zweifle daran.

Die Nacht bracht' ich wiederum unter heftigen Kopfschmerzen, Unruhe und völliger Schlaflosigkeit zu. A.. bewachte mich abermals in meiner Schlafstube.

Den 21sten stand ich auf, ging nach meiner Studierstube; der Grad der Krankheit, die alle Anwesende noch immer für ein simples Katarrhalfieber hielten, nahm zu, und ich, brachte den Tag ungeduldig, läßig, und übel bald auf dem Sopha, bald am Ofen zu, brauchte auch noch immer eine schweißtreibende Salzmixtur, die ich selbst A. diktirte. Des Abends stieg die Krankheit, ich konnte nicht mehr aus der Stube, und man lagerte mich in der Studierstube auf den Sopha, wo ich die Nacht ohne allen Schlaf in den heftigsten Kopfschmerzen zubrachte.

Den 22sten nahmen alle bisherige Zufälle zu; ich konnte kaum mehr aufdauren, ich schickte nach meinem Freund dem Professor S.., dem ich mich ganz übergab. Er nahm sogleich die Krankheit von einer ernstlichen Seite, muthmaßte oder sah schon Bösartigkeit und so wie ich gegenwärtig aus den Rezepten sehe, verschluckte ich denselben Tag eine ansehnliche Menge hitziger schweißtreibender Mittel. Ich fing an zu transpiriren, aber ohne Erleichterung. Die Zufälle blieben in ihrem Grade oder stiegen. Des Abends brachte man mein [51]Gardinenbett aus der Schlafstube in mein Studierzimmer, es wurde an die Stelle des Tisches am Bücherschranken gestellt, (ich erwähne mit Bedacht diese Kleinigkeiten, denn die waren in der Folge meiner Krankheit von vielem Einflusse) wo ich die vierte Nacht höchstelend durchwachte. Meine F.., A.. und C.. waren meine Hüter.

Den 23sten hatte alles schon eine ernsthaftere Gestalt, obschon ich mich aufmachte und in der Stube herumtaumelte; obschon ich in einer Gesellschaft von Freunden verschiedentlich scherzte, und sie zum Lachen brachte, so muß meinem Arzte doch sehr bange gewesen seyn. Ich finde, daß er mir denselben Tag drei ganz heterogene Rezepte verschrieben: einen Laxiertrank, eine starke Potion aus dem mindererischen Geist, und eine Emulsion. Sie wissen wohl, wie es um unsre Kranken steht, wenn die Umstände so hartmäulig sind, und uns so oft von unsrem vorgesetzten Weg abführen, uns bald im Kreise, bald nach entgegengesetzten Queerstrassen hinschleppen. In der That wie ich jetzt höre, hat mein einsichtsvoller Freund diesen Tag bereits die ganze künftige Krankheit vorausgesehn, und nicht nur sie, sondern auch ihren schlimmen Ausgang allenthalben kund gemacht. Gegen Abend ward ich ganz kraftlos, von vielen Freunden ins Bette gebracht. Die Nacht war wie die vorhergehenden Nächte, schlafloß und quaalvoll. Zu meinen vorigen Wächtern kam noch M.. und H..

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Den 24sten des Morgens war der Kopfschmerz unerträglich. Ich schlug meinem Arzt S.., zu dem noch meine Freunde V.. und F.. kamen, vor, mir Igel an die Schläfe setzen zu lassen. Dies geschahe; sie bluteten sehr, brachten aber keine Aenderung hervor; vielmehr nahm die Krankheit an Bösartigkeit ungemein zu, und ich fing die heftigsten Schweißmittel an zu brauchen. Die Schlaflosigkeit hielt nun die sechste Nacht an.

Den 25sten des Morgens überfiel mich nach einem Stuhlgange eine Entkräftung, die unbeschreiblich ist. Es war als wenn alle Nerven auf einmal abgespannt wurden, und aller Mark aus allen meinen Gebeinen vertrocknet wäre. Ich hatte dabei mein Bewußtseyn und empfand diese Schwäche, so, daß ich zu meinen Aerzten und den Anwesenden sagte: das Gefühl meines Ich's gleicht jetzt dem Selbstgefühl einer Mücke. Eine Menge alten Weins brachte mich wieder zu mir. Diesen Tag gesellte sich M.. zu meinen Aerzten, und sie beschlossen mir die China b zu geben. Ich bekam auch einige Bisampulver, über die ich mich aber beschwerte, daß sie mir zu viel Hitze machten; sie wurden ausgesetzt. Die Nacht schlief ich ein oder ein paar Stunden; meine Freunde schöpften Hofnung, aber vergeblich; der Schlaf war nicht erholend, und ich erwachte in einem noch mehr geschwächten Zustande.

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Den 26sten des Morgens stellte sich nach dem Stuhlgang die gestrige Entkräftung ein, der Wein hob sie. Meine Arzeney des Tages über, waren starke Doses Kampherpulver.

So weit reicht die erste Epoche meiner Krankheit, während welcher die Malignität von allen meinen Aerzten einstimmig erkannt wurde, alle einstimmig mich aufgaben, ich mein völliges Bewußtseyn und den Gebrauch meiner Seelenkräfte hatte; von welcher ganzer sieben Tage daurenden Epoche ich von meiner nachherigen Genesung an, noch bis jetzo mir nicht das allermindeste zu erinnern weiß. Diese Tage sind gleichsam aus dem Tageregister meines Lebens gänzlich verloschen, obschon wie man mir sagt, ich diese ganze Zeit über eine Menge Besuche von guten Freunden hatte, mit denen ich Stundenlang mich unterhielt, und von meinem bevorstehenden Tode gesetzt und ruhig sprach. Was ich Ihnen bis jetzo davon gesagt, ist bloß Erzählung meiner Aerzte und Freunde.

Des Abends, von da sich die zweite Epoche meiner Krankheit anfing, änderte sich die Scene. Anstatt daß ich bis dahin mit völligem Bewußtseyn und vollständigem Gebrauch meiner Vernunft, bloß über körperliche Schmerzen, Ermattung und Unruhe klagend, lag; verloren sich jetzo alle diese Gefühle. Ich fühlte mich stark und schmerzlos, aber meine Seele bekam einen Stoß aus dem wirklichen Zusammenhang der Dinge. Die wahren Gegen-[54]stände um mich, und die Klarheit ihrer Wirkung verschwanden bis zur unsichtbarsten Entfernung. Die dunkelsten Scheine bloß, die sie zurückliessen, gaben meiner taumelnden Seele den Stof, woraus sie sich eine ganz neue Verkettung der Begebenheiten, eine ganz neue, häßliche, sie quälende Welt zusammensetzte. Mein Puls hob sich, stieg bis zu 120 Schläge in einer Minute. Mein Gesicht ward roth; mein Auge glühend, und schrecklich heiter, eine Hitze durchwebte meinen ganzen Körper, und in meinem Gehirn befand sich eine Erleuchtung von vielen tausend Lampen. Ich rasete.

Ich sagte Ihnen, daß ich mir nichts von dem, was in meiner ersten Epoche mit mir vorging, zu erinnern weiß: die ganze zweite hingegen, die acht ganze Tage und Nächte dauerte, ist von dem ersten Augenblick meiner Raserei bis zur Stunde meiner Genesung noch ganz lebhaft in meinem Gedächtnisse. Ich könnte Ihnen phantastisches Bild, nach phantastischem Bilde, Thorheit nach Thorheit an den Fingern herzählen, wenn es der Mühe lohnte, und ich ein Vergnügen darüber bei Ihnen vermuthen könnte. Aber doch will ich Ihnen die Hauptthemata meiner Phantasien erzählen; es war Methode in meiner Tollheit, und ich kann mir ihre Entstehung und ihren Zusammenhang sehr gut psychologisch erklären. Vielleicht können Sie der Arzt einigen Nutzen daraus schöpfen. Es ist nichts [55]seltnes, daß die Beobachtung der Narren uns weiser macht.

Die erste und vornehmste mich am meisten quälende Phantasie bestand darin: daß ich mich nicht bereden konnte, daß ich mich in meiner eignen Wohnung befinde. Ich wurde von einer Strasse zur andren geführt, und meine Einbildung war fruchtbar genug, mir jeden Augenblick einen anderen öffentlichen Platz vorzumahlen, auf welchem mich meine Wächter in meinem Bette festhielten. Ich flehte fast beständig mich nur in die Heiligegeiststrasse nach meinem Logie zu bringen; und da dieses zu bewerkstelligen meinen Wächtern unmöglich war, so suchten sie mich zu besänftigen, indem sie meine Einbildung bestärkten. Es hieß dann immer: in einigen Stunden soll es geschehn; morgenfrüh; es ist jetzo Nacht, u.s.w.; und so lag ich, das Ende dieser einigen Stunden, dieses Morgenfrühs, mit Schmach erwartend, und wenn es da war, ward das Versprechen doch nicht erfüllt. Sie können sich vorstellen, in der üblen Laune darinnen ich war, wird meine trunkene Phantasie eben nicht die angenehmsten Plätze zu meinem Auffenthalt geschaffen haben. Bald lagerte sie mich mit meinem Bette zwischen zwei engen Mauren, wo ich von keiner Seite einen Arm bewegen konnte, bald auf eine Grabstäte, bald in einen Stall, und bald auf einen öffentlichen Platz vor dem Lazareth. Alle Beweißgründe meiner Freunde und Wächter, [56]die auch meine Freunde waren, daß ich mich wirklich in meiner Stube befinde, waren vergebens; die Darzeigung meiner Bücher, an denen ich dichte lag, meiner Kupferstiche, die mir gegenüber hingen, war mir blosser Betrug dieser Leute. Bald hielt ich weder Bücher noch Kupfer für die meinigen, bald glaubte ich, man hätte sie an die Oerter meines Aufenthalts hingebracht. Diese Idee war für mich die schrecklichste, die, wenn sie nicht endlich nach acht Tagen unterbrochen worden wäre, mir gewiß den Tod zuwege gebracht hätte. Ich schreibe ihr allein mit sehr vielem Grunde meine völlige Schlaflosigkeit zu.

Den Ursprung dieser Einbildung leite ich bloß von der wirklichen örtlichen Veränderung meiner gewöhnlichen Schlafstätte während meiner Krankheit her. Es ist eine bekannte Sache, daß wir die erste Nacht in einem fremden Bette oder in einer fremden Stube, selbst im gesunden Zustande, schlaflos und unruhig zubringen. Der Mangel der gewöhnten Gegenstände, deren Vorstellung, die Seele bei ihrem Geschäft, (denn Geschäft kann man die willkührliche Herabspannung der Nerven und Unterdrückung der lebhaften Ideen bei gesundem Gehirn, allerdings nennen) des Zurückziehens aus dem Gewebe der Ideen, zu begleiten pflegt, von der einen Seite, und die stärkere Wirkung der neuen und ungewöhnlichen Gegenstände von der andren Seite, beides fesselt die Aufmerksamkeit [57]der Seele, und ihr Abstraktionsvermögen hat um so vielmehr Schwierigkeiten zu überwinden. Und natürlich müssen diese Schwierigkeiten fast unüberwindlich in einem Zustande seyn, wo die sinnlichen Organen übermäßig gespannt sind, der Umlauf des Bluts durch das Gehirn, und folglich die Absonderung der Lebensgeister sehr schnell geschieht, und bei unmächtiger Willkühr tausend Ideen immer bereit sind, sich mit den neuen zu verketten, und ihre Lebhaftigkeit zu vermehren, so entfernet auch ihre Verwandschaft mit diesen seyn mag. Dieß war der Fall bei mir. Die Grundidee war, man hat mich aus meinem Schlafzimmer weggebracht. Meine Sehnerven haben von Anfang an einen Druck gelitten; die Gegenstände des Gesichts, die mich allenfalls auch in meiner Studierstube an meine Heimat hätten erinnern können, wirkten auf das Organ zu schwach, ich sah alles dunkel, zerstümmelt oder verkehrt. Meine übrigen Organen hingegen waren um so mehr gespannt, Gehör, Geruch, und Gefühl waren ungemein scharf; ihre Gegenstände wirkten mit verstärkter Lebhaftigkeit, und es war also sehr leicht, daß die Vorstellungen, die sie hervorbrachten, mit der Hauptvorstellung: der örtlichen Veränderung meiner Gegenwart, sich zusammengesellten. Ein Ständchen bei meinem Nachbar, ein blasender Postillion, oder auch der Nachtwächter versetzten meinen Auffenthalt auf einen öffentlichen Platz, wo Musik und Tanz war. [58]Das Wiehern eines Pferdes auf der Straße, in einen Stall, und der üble Geruch meines Schweißes, oder stockenden Blutes in meiner Nase, davon beständig eine Menge abging, auf eine Grabstäte.

Meine zweite Einbildung bestand darinn, daß ich von der ganzen Welt gehaßt und verfolgt werde, alle meine Freunde haben von mir abgelassen, alle meine Kunden auf mich Verzicht gethan, und der ganze übrige Theil der Menschen mich verachtet, oder mit den gleichgültigsten Augen angesehn. Die Ursache dieser Phantasie war vermuthlich, weil ich keinen von meinen vertrautesten Freunden um mich sah. F..r war in Leipzig. W.. war zu delicat, um sich in einer Krankenstube aufzuhalten, und M..n war selbst schwächlich. Dies kam zu dem Mißtrauen, das, wie meine Freunde mir versichern, in gesunden Tagen schon mir gegen die Welt eigen war. Indessen war diese Vorstellung mir lange nicht so viel Marter als die vorige. Sie wirkte bei mir eine Gegenverachtung meiner Verächter; eine verzweifelnde Ruhe, und ein Verlangen nach dem Tode, als nach dem erwünschungswerthesten Zustande. Daher kam es, daß so oft (und es war sehr oft) bei überfallenden Schwächen, oder bei einem sonstigen innren Gefühle ich die Annäherung des Todes glaubte, ich ruhig und zufrieden lag, voller Erwartung des entscheidenden Augenblicks, der endlich den Knoten zwischen mir [59]und der lumpichten Welt zerhauen wird. Hätte ich damals gewußt, was ich nachher bei meiner Genesung erfahren, daß ich so vielen Menschen nichts weniger als ein gleichgültiger Gegenstand war, daß alle meine Bekannten, alles, von der verschiedensten und entgegengesetztesten Denkungsart, wegen meiner Gefahr in höchster Unruhe waren, mein Daseyn inniglich wünschten, und kaum daß ich mich erholen werde, zwanzigweise zu mir kommen werden, um aus vollem Herzen ihre Freude zu bezeugen; hätt' ich dies alles gewußt, so wäre mir die Idee des Todes, die bitterste und quaalvollste gewesen; wer weiß, ob ich die Krankheit überstanden hätte. Vorzüglich war mein Haß und Widerwille gegen diejenigen gerichtet, welche mir die meisten Wohlthaten in meiner Krankheit erzeigten, und ohne deren unermüdete Wartung ich gegenwärtig zuverläßig nicht mehr wäre. A.. M.. H.. R.. H.. (den ich in meinem Delirio wegen seiner poßirlichen Figur immer Fallstaf nannte) die Geliebte meines Herzens, T.., alle diese kamen im genauesten Verstande Tag und Nacht nicht von meinem Bette, und drei ganzer Wochen nicht aus ihren Kleidern. Sie wuschen, und hoben und bewachten mich, und waren zugleich zu jeder Stunde die willfährigsten Läufer nach Doktor, Barbier, Apotheke, so wie die Umstände es erfoderten. Und gerade diese waren es, die ich als meine ärgste Feinde ansah, die bloß mich zu necken, höhnen, [60]und von meiner empfindlichsten Seite mich zu kränken, um mich wären.

Die traurigen Verzerrungen ihrer Gesichter, oder vielleicht auch bisweilen das unwillkührliche bittere Lächeln über meine ausschweifende Phantasien, kamen meinem trunknen Gehirne als Züge der ausgelassensten Freude vor: und ihr freundschaftliches Betragen und Gebehrden war mir nichts als beleidigender Hohn. Ich kränkte und quälte diese gute Leute auf eine erstaunliche Weise, und ich fange an auf die Menschheit stolz zu werden, die so viel Selbstverleugnung dem Gefühle der Freundschaft und der Menschenliebe zu opfern vermag.

Die Ursache dieses Mißtrauens hing vermuthlich mit meiner ebenerwehnten Einbildung, dem Mißtrauen gegen die ganze Welt zusammen. Dazu kam, daß dieses grade die Leute waren, an denen ich sonst das gefälligste und nachgebendste Betragen gewohnt war, und die nun alles thaten, was in meiner Schwärmerei mir höchst zuwider war. Sie zwangen mir Medizin ein, wollten mich nicht aus dem Bette lassen, quälten meinen Körper äusserlich mit Zugpflaster und allerhand schmerzhaften Dingen, und widersetzten sich allen meinen Anschlägen und Vorsätzen. Was anders konnte auf eine verrückte Einbildung dieses wirken als den bittersten Haß und Widerwillen?

Meine übrigen Phantasien waren vielleicht die gemeinsten, die jedem Delirio eigen sind. Die [61]Blumen meiner Bettgardinen und des Schirms, erschienen mir als Menschen, die in beständiger Bewegung sind. Sie gingen alle nach der Wand zu, und da es lauter Bekannte waren, die mir meine Phantasie in ihnen darstellte, so ging ich ihnen oft nach, und befand mich mit ihnen in grossen erleuchteten Zimmern zwischen den Wänden, wo ich die tiefsten und verborgensten Familiengeheimnisse, die in der Oberwelt jeder Mensch in der innersten Kammer seines Herzens vergraben hält, erfuhr. Ich habe einst meine Geliebte ans Bette gerufen, und ihr eine schreckliche Begebenheit zweier unsrer Bekannten und Freunde erzählt, die ich in dieser geheimen schauervollen unterirdischen Versammlung erfahren hatte, und dies mit so vielem Zusammenhang und so grosser Wahrscheinlichkeit, daß sie es für nichts anders, als für eine wahre Geschichte hielt, die ich längst vor meiner Krankheit schon wußte, ohne sie ihr zu entdecken, und daß ich etwa aus Unbesonnenheit jetzt schwatzhaft wurde. So tief und unauslöschlich stach der Grabstichel der Natur die Gesetze in unserer Seele, daß sie, in dem widernatürlichsten Zustande dieser, dem flüchtigen Auge zwar unkenntlich scheinen, den forschenden bewaffneten aber in ihrer völligen Deutlichkeit sich darstellen. Der größte Theil menschlicher Begriffe sind Verhältnißbegriffe. Ordnung und Unordnung bestimmen wir nach willkührlich von uns vorausgesetzten Regeln, an sich ist Unordnung in der Na-[62]tur annehmen Unsinn und Gotteslästerung. In der ausschweifendsten Raserei der Fieberhitze, in dem höchsten Grad der Trunkenheit, giebt es so wenig bei den Seelenwirkungen etwas regelloses als in der Neutonschen Seele, da sie sich mit dem Bewegungssystem der Himmelskörper beschäftiget! und nun genug davon.

Beim Anfang meiner Raserei wurden meine Aerzte herbei gerufen, denen es nichts unerwartetes war, so wie es ihnen, ausser meiner Genesung, kein Umstand in der ganzen Krankheit war. Ich wurde reichlich mit spanischen Fliegen belegt, und innerlich bekam ich alle zwei Stunden zwei Gran Kampher. Die Nacht brachte ich im heftigsten Delirio zu. Daß sie schlaflos war, sage ich ihnen nicht mehr, die Nächte wie die Tage waren es alle bis zum siebenzehnten Tage.

Den 27sten war der Zustand derselbe. Einige Stunden ließ das Fieber nach, kam aber hernach wieder mit der vorigen oder mit grösserer Heftigkeit. Während der Remißion befand ich mich in Ansehung des Delirii in einem seltnen Mittelzustand. Meine Einbildung verfertigte zwar keine neue phantastische Bilder, aber die während der Eracerbation verfertigten, hielt sie auch dann für wirkliche Naturdinge, in ihnen lebte und webte meine Seele immer fort. So lebhaft war meine Phantasie bei Verfertigung dieser Bilder, so schwach mein Verstand bei ihrer Erinnrung. Da diese [63]Bilder mich quälten, so gab ich mir bei der Remißion oft Mühe, sie aus meinem Gedächtnisse zu verbannen, und suchte allerhand kindische Zerstreuungen. Einst ließ ich mir vom Markte ein Regiment hölzerne Soldaten, eine Kegelbahn und dergleichen Spielzeug mehr holen, und mein alter Schwiegervater und meine Geliebte mußten mit mir spielen. Mit welchem Gemüthe können Sie sich leicht vorstellen. Indessen sobald der Anfall des Fiebers wieder herankam, so war meine Stärke die Bilder zu unterdrücken verloschen; eine Wärme durchdrang meinen ganzen Körper, und auch meine ganze Seele; mein Gehirn ward wieder erleuchtet, und das ganze Schattenspiel drang sich mir wieder mit äusserster Lebhaftigkeit auf. Unter den Rezepten dieses Tages finde ich bloß einen Trank aus dem Wermuthsalz. c Zu welchem Ende errathe ich nicht. Die Nacht war gräßlich, meine Raserei war überschwenglich, noch schlimmer aber der folgende Tag, der 28ste. Die Heftigkeit meiner Raserei ließ gegen Mittag nach, dagegen verfiel ich in einen Tetanum. Ich war kaum im Stande ein einziges Glied zu bewegen. Ich hatte mein Bewußtseyn, und wollte gerne mit meinen Aerzten sprechen, aber meine Zunge war völlig gelähmt. Ich hielt diesen Zustand ganz gewiß für die äusserste Grenze zwischen dem Reiche des Lebens und des Todes, und lag ruhig und zufrieden, die erwünschte Ueberfahrt erwartend. Aus Mangel der Sprache [64]schrieb ich meinem Freund V.. in die Hand: Paß. Man konnte Anfangs meinen Gedanken nicht errathen, bis ich durch Mienen es erklärte, daß er mir den Paß unterschreiben sollte; wohl verstanden, dies geschahe scherzweise, und aus einer Art von Uebermuth, weil ich mich meinem Ziele so nahe fühlte. Dieser Zustand hielt einige Stunden an, und verlor sich auf den Gebrauch des Weines.

Alles dieses waren Vorbothen der darauf folgenden Nacht. Es überfiel mich in derselben eine ungemeine Schwäche, darauf folgten unwillkührliche stinkende Stuhlgänge; mein Bewußtseyn entwich; mein Puls verschwand; meine Augen verdrehten sich; ein kalter Schweiß bedeckte mich; ich schnarchte, röchelte, las Federn, zupfte an der Bettdecke, war steif, ungelenkig: ich befand mich in der wahren Agonie, der Vorstadt der Zukunft. Meine wachende Freunde waren in der äussersten Bestürzung, einige liefen zu meinem Arzt S.., um ihn herbei zu rufen. Als sie ihm aber meinen Zustand erzählten, so wollte er nicht mehr kommen, er, der sonst unverdrossen Tag und Nacht fast alle zwei Stunden bei mir war. Ich kann da nichts mehr machen, die Kunst ist da zu Ende, sagte er, gehn Sie hin zu seinem Schwiegervater und lassen ihn die jüdischen Sterbeceremonien verrichten; und sie gingen und vollführten diesen Auftrag, es war Nachts um zwei Uhr, kamen bei meinem verehrungs- und [65]liebenswürdigen Alten. »Gehn Sie hin zu ihrem sterbenden Sohn, und ertheilen ihm Ihren letzten Seegen, dies ist alles, was Sie der Vater noch thun können, Sie der Arzt vermögen nichts mehr.« Der gute Mann springt aus dem Bette, ziehet sich an, aber auf einmal fiel er hin mit einer Lähmung an der Zunge, und einem Zittren an den Gliedern, ward kalt, und konnte nicht aus der Stelle. Stellen Sie sich, mein Freund! dieses schreckliche Familiengemählde vor, recht lebhaft vor, und begleiten Ihren Gedanken über die Würde der Menschheit dennoch mit keinem Seufzer, über den Werth des Lebens mit keinem Achselzucken, und Sie sind das Ideal von Weltweisen, für dessen Freundschaft ich der Vorsehung nie genug danken kann. Denken Sie sich nemlich, hier einen Vater von sieben Kindern und einer anhangenden Familie, die ganz durch sein Schaffen erhalten wird, plötzlich in Lebensgefahr; um ihn eine schwangere Gattin, deren Herzen, das schon so lange von dem Zustande ihres geliebten Sohns gequält und mürbe worden, nun zwei solche verderbende Schläge zu gleicher Zeit drohn, da einen sterbenden Sohn; um ihn ein liebes jähriges Weib, dessen Wesen ganz mit ihm verwebt ist, das nur in und durch ihn glücklich zu seyn glaubt; eine Mutter, eine Schwester, denken Sie sich dieses, mein Freund!

S.. ward nunmehr aus dem Bette geholt, nicht mehr zu dem schon aufgegebnen verlornen [66]Sohn, sondern zum Vater, daß er dem Sohne nicht nacheile. Es wurde ihm zur Ader gelassen, Brechmittel gegeben, und sonstige topische Mittel angewendet, man brachte ihn ins Bette.

Während meiner Agonie, die zwei Stunden dauerte, waren A.. und die übrigen Freunde um mich beschäftigt mich zu erwecken. Man belegte mich von oben bis unten mit Zugpflaster, Meerretig, Sauerteig u.s.w., ohne daß ich von allem das mindeste fühlte. Endlich ward ich durch eine spanische Fliege, die auf der Stelle einer andern noch nicht zugeheilten von neuem zwischen den Schultern gelegt wurde, zurück in das Getümmel meiner phantastischen Welt gerissen. Ich fing an zu fühlen, zu schlucken, mein Puls hob sich, ich ward warm, bald darauf heiß; ich war wieder da, wo ich ausgegangen war, ich rasete wieder meine vorige Raserei, aber um so heftiger. Mein Arzt kam nun wieder, und fing an, mit doppelten Kräften zu arbeiten. Auf die Nachricht, die man meinem Schwiegervater von meiner Erholung brachte, stellte sich augenblicklich der Gebrauch seiner Sprachwerkzeuge ein. Gottlob! war das erste, was er hervorbrachte. Ein inniglichers, inbrünstigers und vielleicht auch Gott angenehmeres Gottlob ist wohl nie über die Lippen eines Heiligen gekommen, das bin ich überzeugt.

Man reichte mir nunmehro wechselweise, halbstündlich um halbstündlich die Serpentaria d in [67]Substanz und die China, so daß ich von der ersten allein binnen zwei Tage über <anderthalb Unzen> verschluckte, dabei auch an ein halb Quentchen Kamphor.

Den 29sten ging also mein Delirium immer ununterbrochen fort. Ich blieb noch immer unter meinen vorigen Phantasien, nur daß ihre Vorstellung noch viel lebhafter, und wirklich scheinender waren als vorher; ich glaubte noch immer jede Stunde, daß sie die nächste zu meinem Ende wäre.

Den Morgenfrüh gleich nach meiner Erwachung aus der Agonie, rasete ich gewaltig, ich jagte A.. und M.., zwei Freunde, (um deren geleisteten Dienste einigermassen zu erwiedern allein, ich mir jetzo wünsche, sehr glücklich zu seyn) als meine ärgsten Feinde aus der Stube, wollte sie nie wieder vor Augen haben, und obschon ich sie des Abends wieder zu mir kommen ließ, und sie um Verzeihung bat, so jagte ich sie bei Annehrung der Exacerbation doch wiederum weg, so, daß ich sie bis lange nach meiner Genesung nicht wieder zu sehen bekam. Des Abends ward die Idee des Sterbens etwas lebhafter in mir. Ich schickte nach M..n, zu welchem Ende weiß ich jetzt nicht mehr so recht deutlich; so viel ich mich erinnre, war es ein gewisses Eitelkeitsgefühl: ich wollte diesem Manne zeigen, und ihn versichern, wie ruhig und zufrieden ich die Welt verlasse, und daß ich voller Ueberzeugung von einer andern glücklichern Welt meine Reise antrete. Unpäßlichkeit-[68] halber kam er nicht. Nicht lange hernach schickte ich nach den Aeltesten der Gesellschaft der Krankenbesucher, (eine Gesellschaft bei unserer Nation, die ihre Einrichtung und Gesetze vom Throne der Menschheit unmittelbar empfangen zu haben scheint) ich sagte ihnen mit völligem und klarem Bewußtsein, daß ich meinen baldigen Todt fühlte, jetzo wäre die beßte Zeit mich dazu vorzubereiten. Dieß verrichteten diese gute Leute auf die sanfteste und menschenfreundlichste Weise, die ich nie vergessen werde. Sie diktirten mir einige der gewöhnlichsten Beichtformeln, unter beständiger Versicherung, daß ich Gefahrfrey wäre. Dies dauerte ungefähr fünf Minuten, alsdann verabschiedete ich sie, mit der Bitte, daß sie in meinem letzten Augenblicke nicht so viel Weinens und Schreyens an meinem Bette, wie dies gewöhnlich beim Sterbenden geschieht, machen lassen möchten. Sie versprachen es und gingen.

Von diesem Tage an bis zum 3ten Januar ging nichts merkwürdiges vor. Der ganze Zustand der Krankheit blieb derselbe, immerfort schlaflos, immerfort rasen, immerfort zanken und flehn, daß man mich nach meinem Logie, und zwar nach meiner Lesestube, wo Wolfs und Neutons Bildnisse hängen, bringen möchte. Meine Aerzte schöpften aus der Dauerhaftigkeit meines Körpers, und aus andern Symptomen einen geringen Grad von Hofnung, aber alles hing nun vom Schlafe ab. [69]Ohne diesen hätte ich binnen einigen Tagen dennoch darauf gehn müssen. Meine würdige Schwiegermutter bestand schon einige Tage vorher darauf, daß man meinem Verlangen willfahre, und mich nach meiner Lesestube bringe, aber meine Aerzte wollten, aus welchem Grunde weiß ich nicht, es nicht zugeben.

Den 3ten endlich setzte sie es durch. Sie erhielt die Erlaubniß meines Arztes: weil man nichts mehr zu verlieren hat. Meine Phantasie lagerte mich gerade diesen Tag in der neuen Friedrichsstrasse auf irgend einen Boden. Als ich auf mein Bitten, man möchte Kutsch und Pferde holen, um mich nach meiner Lesestube zu bringen, von meiner lieben Schwiegermutter die Versicherung erhielt, daß es binnen einigen Stunden geschehen wird, so war ich ausser mir, und versicherte allen: daß ich da ruhig und gesund werde. Und als man mir nach einigen Stunden die Thüre öfnete, und sagte: ich wäre nahe an meinem verlangten Zimmer, so rief ich voller Freude: nun bedarf es ja nicht einmal der Kutsch und Pferde!

Des Mittags war meine Lesestube erwärmt; ein neues Bett zubereitet, und man brachte mich hinein. Mit dem Augenblick änderte sich mein ganzes innres Gefühl. Ich lag ungefähr zehn Minuten und auf einmal überfiel mich, zum größten Erstaunen aller, ein sanfter ruhiger Schlaf, der zwei Stunden anhielt; erwachte darauf einige Mi-[70]nuten, delirirte sehr wenig, und schlief gleich wieder ein. Und so hielt der Schlaf, nur von einigen Augenblicken Erwachung unterbrochen, bis zum 4ten des Mittags an.

Ich erwachte, und weg war meine Krankheit, da mein völliges Bewußtseyn. Die Freude meiner Aerzte, Freunde, und Familie in diesem Augenblick, können Sie sich leicht vorstellen, oder auch nicht leicht vorstellen. Alles um mich herum war vergnügt und frölich, nur ich war niedergeschlagen, bis auf den höchsten Grad ermattet. Mein ganzes ich war mir nicht fühlbar, beinahe kam es mir vor, daß der Genesene ein ganz andres Subjekt neben mir im Bette wäre. Meine Seele war indessen heiter. Während dieses Schlafs hat die Krankheit die seltenste Metastasis gemacht, die in den Schriften der Aerzte vorkömmt. Ich spürte gleich bei meiner Erwachung, daß mir die ganze innre Höle des Mundes wehe that, und ich nicht schlucken konnte. Und als mein Freund S. mir im Mund sahe: so fand er mit Erstaunen, daß er ganz nebst dem Zapfen bis tief herunter im Schlunde mit Schwämmen überzogen war, die eine dicke gräuliche Haut bildeten. Er war erfreut über diese Crisis, so sehr ich auch von diesem Zufall gequält wurde. Das Herunterschlucken eines Tropfen Wassers machte mir die gräßlichsten Schmerzen. Nun übernam mein Freund V.. mich, ich wurde Tag und Nacht alle Stunden ge-[71]pinselt, gesprützt, gegurgelt mit den schärfsten und reizendsten Dingen, bis binnen einer Zeit von zwölf bis funfzehn Tagen die Schwämme sich verloren, und ich meinen Mund allmälig wieder brauchen konnte.

Dieses Zufalls ungeachtet fingen meine Körper- und Seelenkräfte an, augenscheinlich zuzunehmen. Den 7ten brachte man mich auf mein Verlangen auf den Sopha, wo ich wie ein unbeweglicher Knaul eine halbe Stunde da lag; dann wieder ins Bette. Binnen zehn Tagen, da ich an meinen Mund noch sehr litt, hatte ich schon das Vermögen in der Stube herumzuwandeln; den ganzen Tag aufzudauren, und von Morgen bis Abend in abwechselnden zahlreichen Gesellschaften von Verwandten, Freunden, Bekannten und Unbekannten vergnügt zuzubringen. Damals erfuhr ich, was ich, wie ich Ihnen bereits gesagt, acht Tage eher, um vieles nicht möchte gewußt haben: die allgemeine aufrichtige Theilnehmung an meinem Zustande, die allgemeine Unruhe so vieler Bekannten in den Stunden meiner Gefahr, und die Freude über meine Wiederherstellung. Sie hat mir mehr als einmal Thränen gekostet, diese herzliche Simpathie. Sie setzt Verdienste und Würdigkeit voraus, deren ich mir nicht bewußt bin, und die zu besitzen ich wünsche. Allgütiger! welch einen Schatz von Seeligkeit, hast du mit dem himmlischen Gefühl der Geselligkeit in des Menschen Herz gelegt! [72]wer ihn nur recht brauchen will diesen Schatz! wer ihn nur recht zu brauchen weiß!

Und dieser angenehmen Empfindung der vielfältigen Theilnehmung, die ich so einige Wochen hintereinander genoß, nicht den Leckerbissen und den köstlichen Weinen schreibe ich meine über alle Erwartung schnelle Erholung meiner verlornen Kräfte zu. Ich bin nunmehr schon in der dritten Woche wiederum auf den Beinen, fühle mich stark, besuche meine Kranken, die Funktionen meines Körpers gehn fertiger und richtiger von statten als je zu einer Zeit in meinem Leben. Meine Seelenkräfte sind heiter, und besitzen ihre vorige Spannung wieder; und in Ansehung meines Gemüths, meiner Zufriedenheit, meiner Laune und meiner Gesinnungen gegen Menschen hoffe ich so viel gewonnen zu haben, daß ich um vieles nicht diese Krankheit nicht möchte überstanden haben. So treflich, mein Freund! ist der Dinge Zusammenhang, so weise die Verkettung des Guten mit dem Uebel in der Welt eines Schöpfers wie Gott!

Ich schicke Ihnen hier die ersten drei Bogen meines Kompendii von der medicinischen Enciclopädie. e Meine Krankheit hat mich an der Fortarbeitung unterbrochen. Ausgangs künftigen Monats setze ich meine Vorlesungen und die Ausarbeitung dieses Werks fort, wiewohl die Anstrengung meiner Kräfte von nun an gewiß mit mehr Schonung geschehn soll.

[73]

Leben Sie wohl, mein Lieber, seyn Sie vergnügt und zufrieden, und nicht zu voreilig und geschwindschlüßig in Bestimmung Ihrer zukünftigen Umstände aus den gegenwärtigen. Es ist wahr, die Gegenwart geschwängert vom Vergangnen, wird Mutter vom Zukünftigen, aber wissen Sie auch, daß weder das Gebähren noch das Empfangen dieser Mutter auf einmal geschieht; sondern allmälich. Sie empfängt und gebährt ununterbrochen fort, und jede ihrer Früchte wird augenblicklich bei der Entstehung wieder Empfängerinn und Gebährerinn; und daher kann die ganze Frucht von uns Endlichen weder umfast, noch vorausgesehn werden. Aber Der sie umfast und voraussehn kann, hat sie vorausgesehn und nach eignem Gefallen bestimmt. Und da Er gut und weise ist, zum Besten eines jeden von uns bestimmt.

Fahren Sie fort mich zu lieben, so wie ich Sie von ganzem Herzen liebe.

Marcus Hertz.

Erläuterungen:

a: Vgl. zu diesem Beitrag Goldmann 2015, S. 23-47 und Kull 2015.

b: "Rinde eines Baumes, welcher auch der China-Baum genannt wird, in dem Königreiche Peru in Süd-Amerika wächset, und durch die kräftige Wirkung seiner Rinde in dem kalten Fieber bekannt geworden ist." (Adelung 1811, Bd. 1, Sp. 1327.)

c: Der Wermuth: "Nahme einer bekannten Pflanze von sehr bitterem Geschmacke, Absinthium Linn. [...]wegen seiner Bitterkeit schon sehr frühe als ein Gegenmittel gegen die Würmer, besonders im menschlichen Leibe, bekannt." (Adelung 1811, Bd. 4, Sp. 1506.)

d: Schlangenwurzel: "Die Wurzel einer Art der Osterlucey, und die Pflanze selbst, welche in Virginien einheimisch ist, und als ein schweißtreibendes Mittel dem Gifte und der Fäulniß widerstehet."(Adelung 1811, Bd. 3, Sp. 1506.)

e: Herz 1782.

[74]

3.

Sonderbare Handlungsart ohne Bewußtseyn. a

Burnett, Lord Monboddo (übersetzt von Georg Ludwig Spalding)

Eine Erscheinung sonderbarer Art trug sich zu, von welcher ich mich sehr umständlich und genau zu unterrichten Gelegenheit hatte. Dies war der Fall eines jungen Mädchens in der Nachbarschaft meines Landhauses. Sie war mit einer Krankheit behaftet, die ganz wohl unter dem Namen Louping d.i. hüpfendes Fieber bekannt ist. Es ist nichts anders als eine Art von Raserei, welche die Kranken im Schlafe ergreift, und macht, daß sie springen und rennen, als ob sie besessen wären.

Das Mädchen ward von dieser Krankheit drei Jahr vorher im Frühling angefallen, da sie ohngefähr sechzehn Jahr alt war, und das Uebel dauerte etwas über drei Monate. Der Paroxismus ergrif sie allemal bei Tageszeit, gewöhnlich gegen sieben oder acht Uhr des Morgens, wenn sie schon zwei oder drei Stunden ausser dem Bette gewesen war. Es fing mit einer Schwere des Kopfes und Schläfrigkeit an, die sich in Schlaf endigten, wenigstens in eine Art davon, denn ihre Augen waren fest zugeschlossen.

In diesem Zustande war sie vermögend, mit einer erstaunenswürdigen Behendigkeit auf Tische und Stühle zu springen. Hernach suchte sie auch [75]wol aus dem Bauernhäuschen, worinn sie mit ihren Aeltern und ihrem Bruder lebte, herauszukommen, und mit größerer Heftigkeit, auch weit schneller, als sie beim Wohlbefinden jemals thun konnte, zu laufen.

Allemal geschah' dies aber mit einer gewissen Richtung nach irgend einem bestimmten Orte in der Nachbarschaft. Oft sagte sie, wenn sie den Paroxismus herannahen fühlte, sie wolle nach diesem Orte gehen. War sie nun an dem Ort ihrer Bestimmung angekommen, und erwachte daselbst noch nicht, so kam sie in derselben sichern Richtung zurück, ob sie sich gleich nicht immer auf der grossen Landstrasse hielt, sondern häufig einen näheren Weg queerfeldein lief.

Freilich hatte sie eben deswegen oft einen sehr rauhen Fußsteig, aber sie fiel ohngeachtet der Heftigkeit, mit welcher sie lief, dennoch niemals. Indessen die ganze Zeit, da sie lief, waren ihre Augen völlig geschlossen, wie ihr Bruder bezeugt, welcher oft mit ihr lief, um Sorge für sie zu tragen, und welcher, obgleich weit älter, stärker und hurtiger, es doch kaum mit ihr aushalten konnte. Wenn sie, vor der Herannäherung des Paroxismus, sagte, nach welchem Orte sie zu wollte, pflegte sie dabei zu erzählen, es habe sie die Nacht vorher geträumt, sie solle dahin laufen; und ohngeachtet man ihr zuweilen von irgend einem bestimmten Orte abrieth, als von meinem Hause zum Exempel, wo die Hunde [76]sie beissen könnten, behauptete sie, sie wolle den Weg laufen und keinen andern.

Wenn sie erwachte, und von ihrem Wahnwitze befreit war, fühlte sie sich sehr schwach; aber bald kam sie wieder zu Kräften, und befand sich um nichts schlimmer; im Gegentheil, hatte man sie im Laufen gehindert, so war sie um ein großes kränker. War sie nun zu sich selbst gekommen, so hatte sie nicht die geringste Erinnerung von dem, was sich während ihres Schlafes zugetragen hatte. Manchmal pflegte sie auch wohl auf dem obern Rande der irdenen Mauer herumzulaufen, die ihres Vaters kleinen Garten umgab, und, obgleich die Mauer eine unregelmäßige Figur hatte, auch oben sehr schmal war, fiel sie doch nie herunter, noch von der Spitze des Hauses, wohinauf sie sich zuweilen mit Hülfe dieser Mauer half, ohne daß sich ihre Augen auch dabei im geringsten eröfneten.

Einige Zeit, ehe die Krankheit sie verließ, träumte sie, wie sie erzählte, das Wasser eines benachbarten Brunnens, genannt Tropfbrunnen, werde sie heilen. Dem zu folge trank sie in reichem Maaße davon, sowol ausser als während des Paroxismus. Einsmals in demselben äusserte sie durch Zeichen eine heftige Begierde davon zu trinken, (denn in dem Anfall sprach sie nicht deutlich genug, um verstanden zu werden.) Und, da man ihr anderes Wasser brachte, ließ sie es sich nicht nahe [77]kommen, sondern stieß es mit Zeichen von großem Abscheu von sich.

Hingegen da man ihr Wasser aus diesem Brunnen brachte, trank sie's sehr gierig mit immer verschlossenen Augen. Vor ihrem letzten Paroxismus, sagte sie, nun habe sie gerade noch drei Sprünge zu machen und dann wolle sie weiter weder springen noch laufen. Dem zu folge, nachdem sie in ihren gewöhnlichen Schlaf gefallen war, sprang sie auf das Gesimse des Kamins, und wieder herunter. Dies that sie dreimal, und hielt darauf ihr Wort, und sprang niemals weiter.

Jetzt ist sie vollkommen gesund. Diese Nachricht bekam ich von dem Vater, der Mutter, dem Bruder, die ich jeden insbesondere und alle zusammen ausfragte, und ebenfalls von dem Mädchen selbst, in so weit sie sich der Sache erinnern konnte. Denn, wie ich gesagt habe, hatte sie keine Erinnerung von allem, was sich während ihres Paroxismus zugetragen.

Dagegen besann sie sich auf alles, was ausser demselben vorging, und besonders auf ihre Träume. Sie sagte mir, sie schlafe des Nachts sehr gut, habe einen guten Appetit, und befinde sich in jeder Rücksicht wohl, bis der Paroxismus sie anfalle.

Es fing, sagte sie, bei den Füssen an, und kroch gleich einer allmäligen Erkältung und Taub-[78]heit immer höher und höher, bis es zum Herzen kam, worauf sie weiter kein Gefühl von dem Zustande hatte, in dem sie sich befand.

Aus dem Engl. des Lord Monboddo
übersetzt von G. L. Spalding.

Erläuterungen:

a: Vorlage: Monboddo 1779, S. 159-161.


4.

Hat die Seele ein Vorhersehungsvermögen?

Hennig, Georg Ernst Sigismund

Königsberg den 18ten März 1783.

Als ich vor einiger Zeit das erste Stück Ihres Magazins zur Erfahrungsseelenkunde zu lesen bekam, war mir eben ein Vorfall begegnet, den ich Ihnen sogleich als einen Beitrag zu dem psychologischen Problem: ob die Seele (wenigstens hie und da irgend eine und die andre) ein Vorhersehungsvermögen habe, zuzuschicken mir vornahm.

Ich war nehmlich vor einigen Wochen zu einer hiesigen Kaufmannsfrau, Namens Krausin, im Löbnicht wohnhaft, gerufen worden, die nicht lange zuvor niedergekommen war, und mich jetzt in ihrer Krankheit, wegen einiger Gewissensangelegenheiten zu sprechen verlangte. Bei dieser Frau hatte sich im vorigen Jahr 1782 im Monath Januar der Umstand ereignet, daß eines ihrer Kinder gestorben war, welches sie ungemein zärtlich liebte. Schon [79]damals hatte sie gesagt, daß sie dies Kind nicht lange überleben würde. Aufs folgende Jahr würde sie im Monath Januar wieder entbunden werden und in diesen Sechswochen würde sie sterben.

Ihr Mann, ein sehr vernünftiger Mann, der sie zugleich ungemein zärtlich liebte, stellte ihrem Vorgeben mancherlei Gründe entgegen, wie niemand sein Ende wissen könne, und sich nicht vor der Zeit unnöthigen Kummer machen müsse u.d.m., allein man konnte ihr diese Meinung nicht aus dem Sinne reden — Genug sie fühlte sich einige Monathe darauf würklich in andern Umständen und dachte also auch desto lebhafter an ihr Ende.

Sehr oft fand ihr Mann, wenn er von seinen Geschäften nach Hause kam, sie in Sterbensbetrachtungen vertieft, sehr oft auch in vielen Thränen, die sie jedoch nicht eigentlich wegen ihres, wie sie glaubte, bevorstehenden Todes willen vergoß, sondern vielmehr um einiger Gewissensangelegenheiten willen, die ihr beständigen Kummer verursachten.

Sie ward hierauf würklich im vergangnen Monath Januar gerade zu derselben Zeit, ja an diesem Tage entbunden, an welchem ihr Kind voriges Jahr gestorben war — Doch lebte dies Kind auch nur einige Wochen, worüber sich indeß die Mutter gar nicht betrübte, weil es ihrem Manne, wie sie sagte, nur eine desto größre Last seyn würde. Uebrigens war die Geburt, wenn auch schwer, doch glück-[80]lich vorübergegangen und schien nirgend etwas von einer Gefahr zu befürchten zu seyn. Indessen fand sich ein Geschwür am Unterleibe, welches der Arzt für eine Drüse hielt, wo sich die Milch hingezogen und verhärtet hätte, wobei sie die erstaunlichsten Schmerzen empfand.

Ihr Mann, mit dem ich mich vorher unterredet, eh' ich ins Krankenzimmer trat, hatte mir alle diese vorher angezeigten Umstände entdeckt, die mir aber zum Theil schon bekannt waren, da sie zu unsrer Gemeinde gehörte. Nach mancherlei Gesprächen über ihren Seelenzustand, wo sie, nachdem sie jedermann hinauszugehen ersucht hatte, alle ihre Gewissensangelegenheiten und Zweifel entdeckt, lenkte ich denn auch die Unterredung auf die vorhererwehnte Materie, wünschte aber zugleich, daß Gott ihr bald an Leib und Seele helfen wolle.

Hier indeß versicherte sie mich, daß sie gewiß sterben werde, und da ich sie näher um die Gründe, die sie davon hätte, befrug, antwortete sie mir: daß sie zwar nicht sagen könnte, woher sie es eigentlich wisse, doch aber sei ihr das gar wohl erinnerlich, daß schon an dem Sterbenstage ihres vorigen Kindes, welches nun ein Jahr sei, dieser Gedanke ihr sehr lebhaft geworden wäre. Bei diesen Gedanken blieb sie auch beständig, obgleich der Arzt ihr jetzt noch immer alle Hofnung der Gene-[81]sung gab und zu ihrer Hülfe nicht das geringste versäumt wurde.

Bisweilen wünschte sie wohl um ihrer Kinder und ihres Mannes willen noch zu leben, schien es auch, wegen der guten Vertröstungen, die man ihr gab, zu hoffen, allein sie kehrte immer gar bald wieder zu ihrer vorigen Meinung zurück, und da einst ihre Kinder vor ihrem Bette stunden und sie in ihrer Unschuld baten, sie möchte doch nicht sterben, nahm sie das älteste bei der Hand und sagte sehr lebhaft: »Ja sterben werde und muß ich, meine guten Kinder, aber ihr behaltet einen guten Vater, der für euch sorgen wird, dem folget allezeit.« Sie starb auch wirklich den 8ten Februar, nachdem sich zuvor der Brand in den Eingeweiden gefunden hatte.

Sie war übrigens eine Person von einem sehr lebhaften Temperament, und feuriger Einbildungskraft, schien einen sehr feinen Nervenbau zu haben, mithin sehr empfindsam, ungemein biegsam und weich, und von sehr zärtlichem Gewissen. Ich habe das fast bei allen denen gefunden, die mit ihr ähnliche Vorfälle gehabt, und dies oder jenes vorausgesehn oder wenigstens voraussehen zu können geglaubt haben.

Sie starb indeß nicht eher, als bis sie ihrer Zweifel wegen hinreichend beruhigt war, welches [82]ich immer bei denjenigen wahrgenommen, die in der Art und in dem Grade nach Vergebung und Gnade dürsteten, wie ich es bei ihr gefunden habe. Ich bin u.s.w.

G. E. S. Hennig,
Königl. Kirchenrath und Pfarrer im Löbnicht
zu Königsberg.


5.

Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit.

Fischer, Ernst Gottfried

Hier haben Sie eine Parallele zu Ihren Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit (Erstes St. Seite 65). Meine Erinnerungen gehn zwar nicht so weit zurück als die Ihrigen, nur bis in mein drittes Jahr; vielleicht aber sind sie doch nicht ganz unwichtig, da sich zwischen Ihren und meinen ein sehr merklicher Unterschied findet.

Vielleicht gewinnt die Seelenlehre durch die Beobachtung ganz gewöhnlicher Wirkungen unserer Seele, die jeder bey sich selbst und bey andern leicht anstellen und prüfen kann, eben so viel, oder mehr, als durch die Bemerkung ausserordentlicher Erscheinungen, die zwar oft eine ganz neue und unverwartete Aussicht eröfnen, aber theils nicht selten zwei-[83]felhaft sind, theils sich nicht wiederhohlen lassen, so daß man meistentheils die gefundne Spur nicht weit verfolgen kann.

Die Erinnerungen aus meiner Kindheit, von denen ich hier reden will, schränken sich auf die ersten vier Jahre meines Lebens oder vielmehr nur auf das dritte und vierte ein, denn von den beyden ersten ist alle Erinnerung verschwunden. Meine Eltern wohnten damals auf dem Lande. Ihr nachheriger Aufenthalt war zwar nur eine Meile von dem vorigen entfernt, ich bin aber dennoch seitdem nie wieder in meinen Geburtsort gekommen. Gleichwohl schwebt mir das Bild desselben noch so lebhaft, so bestimmt vor Augen, als wenn ich ihn erst vor wenigen Jahren verlassen hätte.

Der Ort war ein bloßer Flecken von vier bewohnten Häusern mit Nebengebäuden und einer Kirche, von denen allen ich noch ziemlich bestimmte Vorstellungen habe. Besonders aber erinnere ich mich der Wohnung meiner Eltern, aller Stuben, Kammern, der Küche, des Kellers, u.s.f. aller Nebengebäude, des Hofes, der Gärten so deutlich und mit so vielen kleinen, unbedeutenden Umständen, daß ich mir getraue von jedem Theil derselben eine ganz bestimmte Zeichnung zu entwerfen.

Alle diese Erinnerungen aber müssen nothwendig unmittelbare Erinnerungen seyn, da sie lauter solche Gegenstände betreffen, von denen man durch Beschreibungen und Erzählungen keine be-[84]stimmte Vorstellungen erhalten kann. Ich gebe gerne zu, daß sich in diese Erinnerungen wohl manches falsche mag eingeschlichen haben. Die Einbildungskraft ist nur gar zu bereitwillig, unvollständige Bilder auszumahlen, ja ich habe sogar öfters bemerkt, daß Vorstellungen von solchen Gegenständen, die ich nur kurze Zeit betrachtet hatte, und denn ein Jahr lang, oder länger nicht wiedersah, sich fast ganz verändert, und ihre erste Wahrheit verloren hatten.

Ich habe aber Grund zu glauben, daß es mit den Erinnerungen aus meiner Kindheit nicht so gegangen ist. Es haben mich öfters Augenzeugen, denen ich sie erzählte, von ihrer Richtigkeit versichert. Ja ich habe mich einigermaßen selbst durch den Augenschein davon überzeugt, indem ich vor wenig Jahren von einem Berge bey Saalfeld, meinen Geburtsort, der noch etwas über eine halbe Meile entfernt war, durch einen Tubus gesehen habe. Ich fand alles, so viel ich sehen konnte, so, wie ich mir's vorstellte, bis auf die Farbe des Wohnhauses, die aber in zwanzig Jahren wohl verändert seyn konnte. Doch könnte dieses auch wohl einen andern Grund haben, den ich weiter unten angeben will.

Ob meine Vorstellung von der absoluten und verhältnismäßigen Größe der Gebäude richtig wäre, konnte ich in der Entfernung so genau nicht entscheiden, doch schloß ich aus verschiedenen Umstän-[85]den und Vergleichungen, daß ich mir alles zu groß vorgestellt hatte. Das kann auch nicht anders seyn.

Der Maaßstab, nach dem sich die Vorstellungen körperlicher Größen bilden, ist unser eigener Körper, je kleiner dieser ist, um desto größer müssen uns alle Gegenstände vorkommen.

So wie wir größer werden verkleinern sich zwar allmälig die Vorstellungen von der Größe der uns umgebenden Gegenstände, und selbst von denen, deren wir uns nur erinnern, (denn sonst müßten alle unsere Erinnerungen aus dem kindischen Alter Riesengestalten seyn): aber gewöhnlich verkleinern wir die letztern doch nicht so sehr, daß sie mit denen uns umgebenden Körpern in gleiches Verhältniß kämen.

Ich glaube, es wird nicht leicht jemand seyn, der nicht die Beobachtung gemacht hätte, daß wenn man in den Jahren des Wachsthums, nach einer langen Abwesenheit, an einen Ort zurückkommt, man die Fenster, Thüren, Tische und alle Gegenstände immer kleiner findet, als sie in der Erinnerung waren. Wie oft hört man sagen: »als ich noch in den untern Klassen der Schule war, saßen ganz andere Leute als jetzt in der obersten Klasse«.

Was mir am merkwürdigsten bey den Erinnerungen aus meiner Kindheit vorkommt, ist dieses: daß überall die Vorstellungen von Figuren und Gestalten sich unauslöschlich eingeprägt haben, die Erinnerungen an Farben aber so dunkel und unge-[86]wiß sind, daß sie sich fast gar nicht fixirt zu haben scheinen. Ich kann schlechterdings nicht mit Gewißheit sagen, welche Farbe die Thür unserer Wohnstube hatte, ich bin gänzlich ungewiß, ob die Wände der Stube weiß, oder, wie es dort auf dem Lande sehr gewöhnlich ist, mit Brettern ausgeschlagen waren. Nur dunkel erinnere ich mich eines weissen Anzugs, den ich trug.

Von welcher Farbe die häußliche Kleidung meiner Eltern, Geschwister, und anderer Leute im Hause war, erinnere ich mich gar nicht.

In meinem dritten Jahr zog ein Theil der Reichsarmee nach der Schlacht bei Roßbach bei meinem Geburtsort vorbey; ich scheine mich noch sehr deutlich zu erinnern, daß ich mit meinen Geschwistern vor der Thür unsers Hofes stand, und den Zug mit ansah, aber die Farben ihrer Uniform sind gänzlich verschwunden. (Dieß ist, so viel ich weiß, meine frühste Erinnerung.)

Weiß und schwarz scheint sich noch am stärksten eingeprägt zu haben, so erinnere ich mich sehr deutlich, einer Kuh, der ich besonders gewogen war, mit einem weissen Fleck auf der Stirne; eines schwarzen Hundes; der weissen Tücher, die die Bauerweiber nach dortiger Landesart, statt Mäntel, umhatten, wenn sie aus den eingepfarrten Dörfern zur Kirche kamen, u.d.gl.m. Ueber diese Beobachtungen will ich noch einige Anmerkungen machen.

[87]

Ich habe von meiner ersten Kindheit an, ein schlechtes Gesicht gehabt, und ehemals noch im höhern Grad als jetzt; denn ich erinnere mich, daß ich in meinem sechsten und siebenten Jahr nicht zwey Buchstaben in der hallischen kleinen Bibel deutlich unterscheiden konnte, die ich doch jetzt, obgleich nicht ohne alle Anstrengung deutlich genug erkenne.

Auf diese Unvollkommenheit meines Gesichts würde ich die ganze Schuld der bemerkten Unvollkommenheit meiner Erinnerungen schieben, wenn mir nicht jene und andere Erfahrungen, die ich gemacht habe, bei einer genauern Prüfung die sonderbarscheinende Behauptung abnöthigen: daß es bei Fixirung sinnlicher Vorstellungen nicht auf die Lebhaftigkeit des sinnlichen Eindrucks, nicht auf die innere Deutlichkeit der Vorstellungen ankömmt, und daß Lebhaftigkeit und Deutlichkeit höchstens nur mitwirkende Ursachen sind. Ich will damit nicht läugnen, daß beide unsern Vorstellungen einige Dauerhaftigkeit geben, dieß zeigen tausend Erfahrungen: aber jene unauslöschlichen Eindrücke, von denen ich rede, bringen sie nicht hervor. Die erste Ursache von diesen muß tiefer liegen, es sey nun in der Organisation des Gehirns, oder in der innersten Anlage der Seelenkräfte. Meine Gründe sind folgende:

Ich habe so viele Versuche und Beobachtungen mit meinen Augen gemacht, daß ich den Grund ihrer Unvollkommenheit mit vieler Zuverläßigkeit [88]angeben zu können glaube. Meine Augennerven haben keine geringere, sondern eher eine stärkere Empfindlichkeit, als bei andern; denn im Dunkeln sehe ich so gut, oder besser als viele andere.

Aber der Bau der innern Theile, besonders der Kristalllinse, ist vermuthlich fehlerhaft; es würde aber zu weitläuftig seyn, wenn ich meine Gründe, unter nähern Bestimmungen hier auseinander setzen wollte. Es wird zu gegenwärtiger Untersuchung hinlänglich seyn, wenn ich bemerke, daß es den Bildern in meinem Auge an Schärfe und bestimmten Gränzen fehlt, besonders sehe ich eine senkrecht vor mir stehende Linie so undeutlich, daß sie fast einem Strich gleicht, den man mit sehr flüßiger Tinte auf Löschpapier macht, überdem weiß ich aus Gründen und Erfahrungen, daß mir die Breite der Gegenstände in Vergleichung mit ihrer Höhe etwas zu groß erscheint.

Hieraus folgt nun, daß die Eindrücke der Farben bei mir sehr lebhaft, die sinnlichen Vorstellungen von Figur und Umriß aber nicht nur sehr undeutlich und unbestimmt, sondern sogar unrichtig sind. Hält man dieses gegen das vorige, so ist unleugbar, daß, bei mir wenigstens, weder Lebhaftigkeit noch Deutlichkeit der Vorstellungen die Ursache war, warum sich gewisse Arten derselben so fest einprägten. Daß ich mich in diesem Urtheil nicht irre, zeigen mir noch andere Erfahrungen.

[89]

Die Eindrücke der gröbern Sinne sind unstreitig weit lebhafter und stärker, als die Empfindungen des Auges. Gleichwohl kann ich mich sehr weniger Empfindungen des Ohres, und gar keiner von den übrigen Sinnen aus meiner Kindheit erinnern. Keines einzigen Nahmens von Leuten, die ich in meiner Kindheit gekannt, erinnere ich mich unmittelbar. Doch besinne ich mich noch ziemlich deutlich auf die willkührlichen Unterscheidungsbenennungen, die die einzelnen Stuben und Kammern des Hauses und andere Theile der Gebäude hatten. Auch scheinen mir die Namen von ein paar eingepfarrten Dörfern, aus unmittelbarer Erinnerung noch im Gedächtniß zu seyn. Des Blöckens der Kühe, die einmal durch einquartierte Artillerie-Pferde aus ihren Ställen vertrieben wurden, und bei rauher Witterung unter freiem Himmel bleiben mußten, erinnere ich mich noch sehr lebhaft.

Von andern Leuten habe ich gehört, daß die Musik in meiner Kindheit viel anziehendes für mich gehabt, daß ich Melodien gelernt, ehe ich vernehmlich reden konnte, aber aus eigener Erinnerung weiß ich nichts davon. Und doch haben die Empfindungen des Gehörs noch einen ziemlichen Grad von innerer Klarheit, oder Deutlichkeit, und bei mir vielleicht mehr als die Empfindungen des Auges.

Der Grund, warum nur eine Gattung von Vorstellungen bei mir hängen geblieben, alle übrige [90]aber fast gänzlich verloschen sind, ist also gewiß weder Lebhaftigkeit noch Deutlichkeit derselben.

Was ich übrigens über den wahren Grund dieser Erscheinungen bei weiterem Nachdenken gefunden habe, befriedigt mich nicht völlig. Am allerwenigsten will ich wagen, das Gesetz, nach welchem sich überhaupt die Vorstellungen fixiren, in seinem ganzen Umfang zu bestimmen. Vielleicht dürfte es so ganz einfach nicht seyn. Ich will indessen meine Gedanken, so unvollkommen sie sind, niederschreiben.

Alles, was die mir noch gegenwärtigen Erinnerungen aus meiner Kindheit gemein haben, läuft auf folgende zwei Punkte hinaus.

Erstlich. Die meisten derselben betreffen Gegenstände, die lange und anhaltend auf meine Sinne würkten. Allein dieser Umstand erklärt doch im Grunde wenig oder nichts, weil unzählige andere Eindrücke, die eben so lange und anhaltend, und vielleicht mit größerer Stärke auf mich würkten, gänzlich verschwunden sind. Die längere Dauer, und öftere Wiederhohlung eines Eindrucks, kann also auch nichts weiter, als höchstens nur mitwirkende Ursache seyn.

Zweitens. Von allen Vorstellungen und Empfindungen meiner Kindheit, scheint fast, bloß das meßbare, so weit es durchs Auge empfunden wird, bei mir sich fixirt zu haben. Und vielleicht führt diese Bemerkung etwas weiter als die erste.

[91]

So weit ich in meine Kindheit und Jugend zurückdenken kann, finde ich in der Wirksamkeit meiner Seele einen ganz eigenen Hang zum Messen, und ein besonderes Wohlgefallen an Ebenmaaß. Ich entdecke diesen Hang selbst schon in den Spielen meiner Kindheit, so weit ich mich ihrer erinnere.

Unter andern spielte ich sehr gerne mit hölzernen Stäbchen, die ich in regelmäßige Figuren zusammenlegte, allerlei daraus bauete, schnitzte u.d.gl.m. Man hat mir öfters erzählt, daß ich in meiner ersten Kindheit (höchstens im vierten Jahre) einmal eine Frage gethan, die mir sonderbar vorkommt. Ich mochte etwa drei oder vier Thürme in meinem Leben gesehen haben, und fragte jemanden, der mit mir aus dem Fenster nach einem Thurm sahe, sehr bedächtlich: ob denn alle Thürme in der Welt auch so hoch wären?

Der zu frühe Tod meines Vaters, der eine starke Vorliebe zur Mathematik, und nicht gemeine Kenntnisse darinn hatte, entzog mir einen frühzeitigen Unterricht in der Meßkunst. Vielleicht hätte ich schon in der Kindheit schnelle Fortschritte darinn gemacht.

In meinem achten oder neunten Jahr gerieth ich zum erstenmal über ein eigentlich mathematisches Buch, und noch jetzt ist mir die Erinnerung angenehm, wie begierig ich es für mich durchstudierte. [92]Schade nur, daß mich der Zufall auf ein sehr unvollkommnes geleitet hatte. Es war Hedrichs Anleitung zu den mathematischen Wissenschaften. Doch sammelte ich mir daraus allerlei historische Kenntnisse von mathematischen Dingen, besonders von der Astronomie, lernte Sonnenuhren machen, freilich nur mechanisch, und andere dergleichen Dinge. Und eben dieselbe Vorliebe zur Mathematik und ihren Anwendungen ist noch jetzt bei mir überwiegend, und wird es wohl immer bleiben.

Mich dünkt dieser schon in der frühsten Kindheit sich äussernde Hang, setzt unleugbar eine ganz eigene innere Stimmung der Seele voraus, die sie nicht erst durch äussere Umstände und sinnliche Eindrücke erhielt, d.h. irgend eine nicht von aussen, sondern durch innere Anlagen mehr oder weniger bestimmte Richtung der Seelenthätigkeit. Die allgemeine Erfahrung, daß jedes Kind in seinen Handlungen schon etwas unterscheidendes hat, zeigt, daß bei jedem Kinde so etwas statt finden müsse.

Und nirgends anders als in dieser Stimmung der Seele ist wohl der Grund zu suchen, warum gewisse Vorstellungen aus der Kindheit so fest haften, andere wieder verschwinden. Wo ich nicht irre, so kann eine Vorstellung bei einem mäßigen Grad von Lebhaftigkeit und innerer Klarheit, wenn der Eindruck nur nicht zu schnell vorübergehend ist, sich unauslöschlich ein-[93]prägen, wenn er mit dieser Stimmung der Seele harmonirt.

Daß übrigens diese meine Auflösung ihre Unvollkommenheiten hat, sehe ich sehr deutlich ein, und zwar aus folgenden beiden Gründen.

1) Ich halte sie nicht für unrichtig, aber sie erschöpft die Sache nicht. Manches, dessen ich mich aus der Kindheit erinnere, läßt sich aus dem angegebenen Grunde nicht erklären.

2) Der Begrif, einer besondern Richtung der Seelenthätigkeit, ist höchstens klar, aber nichts weniger als deutlich. Ich wenigstens getraue mich nicht, ihn metaphysisch bis in seine ersten Bestandtheile aufzulösen und zu entwickeln.

Wie sehr würde ich mich freuen, wenn mein Versuch über diesen für die Seelenlehre und praktische Erziehungswissenschaft gewiß sehr wichtigen Gegenstand für andere Beobachter der menschlichen Seele eine Gelegenheit würde, diese Materie genauer und besser, als es meine Kräfte erlauben, zu untersuchen.

Fischer.

[94]

6.

Die Hähnische Litteralmethode.

t..s..m

Bei einer öffentlichen Prüfung fragte der Lehrer nach dieser Methode:

Was ist bei der christlichen Lehre zu merken?

Antw Erstens die Benennung.

Dies wurde von einem jeden langsam und deutlich ausgesprochen, und nachdem alle fertig waren, an die Tafel gezeichnet d. B.

Zweitens die Beschreibung

welches nun eben so wie das erste von einem jeden ausgesprochen, und alsdann an die Tafel die Buchstaben d. B. s. gezeichnet wurden.

Indem nun die Kinder nach den Buchstaben auf der Tafel sahen, wurde das Ganze noch einmal durch jeden einzelnen wiederhohlt.

Nun folgte die Frage:

Welches ist die Beschreibung? (der christlichen Lehre.)

Antw Sie ist eine Sammlung —

Alle wiederhohlten dies nacheinander, und dann wurden an der Tafel die Buchstaben s. i. e. S. vorgezeichnet, und so die ganze Definition erst stückweise von allen hergesagt, die Anfangsbuchstaben jedes Worts auf die Tafel gebracht, und endlich das Ganze nochmals theilweise von allen wiederhohlt. —

[95]

Man gab dem Lehrer zu erkennen, daß dies mehr eine Uebung des Gedächtnisses, als im Denken sey, und man sich von dem letztern auch eine Probe ausbitte. Worauf er denn die Schriftstelle Joh. 5. v. 25-29 wieder von allen von Komma zu Komma hersagen ließ, die Anfangsbuchstaben an die Tafel schrieb, und es gerade so wie vorher machte.

Auf eben die Art wurden auch die übrigen Wissenschaften vorgetragen, und dem Gedächtniß eingezwängt.

Es ist schon schlimm genug, wenn die Seele bloße Worte als Zeichen von Gedanken, ohne irgend einen Gedanken selbst, zu fassen gewöhnt wird, noch schlimmer, wenn sie sich, wie hier, sogar an einzelnen Buchstaben als Zeichen von den Zeichen der Zeichen soll begnügen lernen. Welch ein Schatten von vernünftiger Idee kann da noch wohl übrig bleiben?

Es wäre wohl der Mühe werth zu beobachten, in wie fern eine solche entsetzlich einseitige Bearbeitung einer so untergeordneten Seelenkraft, als das Gedächtniß ist, den menschlichen Verstand verrücken könne, wenn er nicht durch anderweitige zufällige Bildung noch immer aufrecht erhalten, und wieder zurecht geschoben würde?

t..s..m

[96]

7.

<Verschiedener Grad des Wahnwitzes in zwei Originalbriefen.>

Anonym

Folgende beide Briefe sind mir von einem verehrungswürdigen Manne, der den Verfasser derselben persönlich kannte, im Original mitgetheilt. Bei alle dem Unsinn, welcher darinn herrscht, werden sie demohngeachtet dem Kenner und Beobachter der menschlichen Seele nicht ganz unwichtig seyn. Sie sind beide, wie man siehet, über einerlei Gegenstand, der erste im Anfange der Verrückung, und der andere einige Zeit nachher, geschrieben, da nur noch wenige Spuren von Zusammenhang in den Gedanken zu bemerken sind. In dem ersten Briefe ist der Ausdruck gleichsam schon gelähmt; ein paar Perioden lang bleibt noch Sinn in den Worten, am Ende derselben aber verliert er sich plötzlich, indem oft ein ganz fremdes Wort die Stelle des dahin gehörigen ersetzen muß.

Der zweite Brief, welcher nicht gar lange nach dem ersten geschrieben ist, zeigt, wie sehr die Verrückung in dieser kurzen Zeit zugenommen habe. Der Faden der Gedanken, die sich immer um einen Gegenstand zu drehen scheinen, reißt alle Augenblick, und hält keinen einzigen Perioden mehr aus. Wer weiß, ob bei dieser Lähmung des Ausdrucks nicht auch völliges Bewußtseyn dieses Zustandes statt fand?

[97]
1.

Insonders hochgeehrte Frau Schwester,

Der unvermuthete Todes-Fall des Herrn Bruders vor ganz kurtzer Zeit durch den auch allzufrühen Abgang von dieser Welt abgefordert: Dero einzigen herzlich geliebten Jungfer Muhme sind heimgesucht worden, hat mich desto mehr bestürzet und erschrecket, je näher so wohl das Geblüt, als die Freundschaft und Zuneigung mit meinen hochgeehrten Herrn Bruder mich verhauen*) 1 Mache demnach meiner Schuldigkeit zu Folge meine betrübte Kondolenz hiedurch ab, dabey gestehe gern, daß mein hochgeehrter Herr Vetter ziemliche Ursache hat, der Traurigkeit bey so schmerzlichen Verlust nachzuhängen, da gewiß nach dem Zeugniß aller, welche die Selige und in Gottruhende gekennet, dieselbe eine recht fromme und tugendhafte Jungfer Muhme sowohl als auch eingebüßet und verlohren haben. Hiernächst fasset ein jeder zu dero Christlichen Gelassenheit das gute Vertrauen, es werden mein Hochgeehrter Herr in solchem Leidwesen sich gebührend zu auch einen zu wissen, und zuförderst erwegen, daß es Gott der Allerhöchste sey, so die selige Herr zu sich genommen, und dessen allein weiser Schluß es mit den Seinigen niemahls auch ein solcher meinet. Und da auch desselben Güte meinen hochgeehrten [98]Herrn Bruder zwei Söhnlein nebst dero Frau Mutter, mein auf ein solcher liebste Jungfer Muhme gelassen, so wollten Sie zu jener Auferziehung Dero Gesundheit schonen, und sich nicht vor der Zeit durch unmäßigen Gram ihnen allen entziehen. Indem ein jeder dafür hält, daß es besser ein Kind, als die Eltern einbüßen absonderlich da noch einige ungezogene Kinder vorhanden. Ich wünsche von Grund der Seelen, daß zu deren Wohlfahrt die Göttliche Allmacht meinen hochgeehrten Herrn Vetter und Jungfer Muhme noch lange Zeiten bei guter Gesundheit, und allem Wohlseyn erhalten wolte, und nebst Bezeugung aller Geflissenheit verbleibe

Meiner Hochgeehrten Frau Schwester

p. s. unser ganzes Hauß, und Familie Empfehlung zu machen denn ich verharre

ergebenster Bruder.

2.

Hertzlichste Frau Schwester

Derohalben die angenehmen an ihre Zuschreiben in dieser Zeit da man ein für allen sehrer mögen ich haben als auch ein solcher wissen gehöret haben in dessen ihre Todfall erzeichtich getrösten lassen, ich wünsche von ganzen Hertzen ein die Zeit aller sehrer Vorsatz in dieser Verlust vor aller sehrer an dieser in die Frau Schwester ihre Frau Muhme ich kann sicher glauben, daß sie großer Schmertzen empfunden haben, abgefordert, ich wünsche daß ihre Trau-[99]rigkeit verwahr lassen sich selbst ihre gutes Muthes zu seyn; Ich muß aber zwar an ihre gesund, und ihre kleine Familie noch lange leben, ich erkenne die Frau Schwester in sondern Vorsatz ihre tröst, und aller gütig laß uns trost zu; seyn, und gütig gute Freunde, und hat sie viele gutes Muths, daß sie ihre abgegangen sind, ich erkenne Frau Muhme noch mehr zu denken aber zwar sich selbst unterlassen ihre die Frau Schwester soll großer Freunde seyn; vor aller möglich, und vergnügt sich selbst als ein solcher schicket in dieser Zeit auch aller möglich geschlecht müßen; Ob zwar in dieser Zeit weil ich aber in dieser gesund, und Vorsatz gewesen seyn untereinander aus eine sehrer Freunde indessen vergnügt, und Vorsatz sich werden bald nicht leben ich erkenne sich zwar in aller mögen ich finde sie recht wohl ich bin gutes muths sich selbst sehrer angenehmen Freunde, und vergnügt an dieser aller Ort; Ich wünsche von ganzen Herzen die Frau Schwester ferner ihre gesund, und aller möglich gewesen sind als ein solcher vergnügt, und aller Vorsatz großer Freunde an sich selbst ihre gefristet zu lassen haben, so haben wir indeßen vor aller möglich, und Vorsatz sicher zu seyn; Ob ich zwar die angenehme Zeit sich selbst ander möglich, und gütig Zeit zu lassen Unsern ganzen Hauß Empfehlung zu machen Der ich bin ganz Gehorsamste Freundschaft aus

Dero

gehorsamsten Bruder.

[100]

Fußnoten:

1: *) verbinden war ausgestrichen.

8.

Willensfreiheit.

Moritz, Karl Philipp

Ich stand verschiedenemal auf einem hohen Thurme, wo mir das Geländer bis an die Brust ging, und ich also vor dem Herunterstürzen völlig gesichert war: demohngeachtet aber fiel mir plötzlich ein schrecklicher Gedanke ein: wie wenn ich mich nothwendig gedrungen fühlte, oben auf den Rand des Geländers zu steigen, und so herunterzuspringen!

Es wurde weiter nichts erfordert, als mein Wille, dieß Vorhaben nicht ins Werk zu richten, und doch erfüllte mich dieser Gedanke mit Schaudern und Entsetzen, es war, als ob ich meiner eignen Willensfreiheit nicht trauete, oder mich vor meinem eignen Willen fürchtete; ich konnte den Zustand keine Minute länger ertragen, und mußte schnell herabsteigen.

Eben so ging es mir in jüngern Jahren zuweilen in der Kirche; wo ich mir das Aufsehen und die Unordnung lebhaft vorstellte, die daraus entstehen würde, wenn ich mitten während der Predigt anfinge laut zu reden; auf einmal war es mir so, als würde ich laut reden müssen, ich war darüber in der entsetzlichsten Furcht, und dieser Gedanke quälte mich oft die ganze Predigt über.

M.

[101]

9.

Sprache in psychologischer Rücksicht.

Moritz, Karl Philipp

Das Pronomen Possessivum.

Die Vorstellungen von dem, was wir das Unsrige nennen, drehen sich beständig um die Vorstellung von unsrem eignen Ich. Die Kreise aber, in welchen sie sich um diese Vorstellung bewegen, sind so mannichfaltig und verschieden, als die Dinge, welche uns umgeben. Und der engste Kreis verliert sich sogar in dem Mittelpunkte selber, denn wir sagen mein ich, und fühlen keinen Widerspruch dabei, wenn wir uns selbst, als etwas außer uns selber, denken.

Die Präposition um.

Die deutsche Sprache bedienet sich der Präposition um figürlicher Weise, bei unkörperlichen Dingen, sehr häufig, und vielleicht nicht ohne Grund: denn da wir doch das Unkörperliche einmal mit dem Körperlichen vergleichen müssen, wenn wir es benennen wollen, so scheinet es, als ob die Einschließung oder allseitige Annäherung und Berührung, etwas sey, wovon wir oft in unsren Vorstellungen von dem Unkörperlichen etwas Aehnliches bemerken, das wir nicht schicklicher, als mit diesem Nahmen benennen können, da wir keinen eigentlichen dafür haben.

[102]

Ueberhaupt verdient es wohl eine eigne Untersuchung, warum man bei unkörperlichen Handlungen oder Gegenständen sich oft gerade dieser oder jener Präposition bedient, warum man z.B. sagt, über eine Sache denken, und nicht in oder um eine Sache denken? was der Unterschied zwischen an, auf und über eine Sache denken, für eine Aehnlichkeit mit dem Unterschiede der körperlichen Verhältnisse an, auf und über habe? u.s.w.

Diese Vergleichungen unkörperlicher Gegenstände mit den körperlichen müssen sich doch aus einem natürlichen Gefühl bei den Erfindern und Anbauern der menschlichen Sprache herschreiben. Will man einwerfen, diese ersten Erfinder und Anbauer waren keine Philosophen, so konnte jenes erste starke noch durch keine Künsteleien verstimmte Gefühl, doch wohl den Mangel dessen ersetzen, was der Mensch erst lange nachher erfunden, und Philosophie genannt hat.

Wollte man also diesen einfachsten Vergleichungen in der Sprache weiter nachspüren, so wäre dieß vielleicht ein Weg, selbst in das innere Wesen unsrer Vorstellungen von dem Unkörperlichen einzudringen: und welche fruchtbare Vergleichungen mehrerer Sprachen untereinander ließen sich nicht hierüber anstellen?

Ich habe in meinen Schriften über die deutsche Sprache, auch in dieser Rücksicht, schon ver-[103]schiedene Versuche gemacht, die ich hier weiter auszuführen gedenke. Zu dem Ende will ich jetzt das Wesen der Präposition um oder vielmehr unsrer Vorstellung bei dem Wort um, etwas näher zu bestimmen suchen.

Der Begrif eines Cirkels ist einer der zusammengesetztesten und schwersten Begriffe, die wir haben. Man versuche es so lange man will, wenn man nicht auf dem Meere ist, sich rund umher nichts als Himmel und Wasser zu denken, und man wird bemerken, daß auf einer Seite, in unsrer Vorstellung immer noch ein Stück Land übrig bleiben wird, welches wir nicht daraus verbannen können. Unser Begrif von dem unendlichen Zirkel muß sich an etwas Endlichen festhalten, wenn er nicht verschwinden soll.

Wir sagen: die Bäume stehen um das Haus, und ob nun gleich diese Bäume auf einmal um das Haus her sind, so können wir sie uns doch nicht auf einmal, als um das Haus herstehend, denken, sondern müssen sie in unsern Gedanken gleichsam fortrücken lassen, bis sie das ganze Haus umgeben haben.

Dieß kömmt daher, weil um ein zusammengesetzter Begrif ist, der aus den Begriffen von hinter, vor, neben u.s.w. besteht. Ehe ich mir also denken kann, daß die Bäume um das Haus stehen, muß ich mir erst vorher nacheinander ge-[104]dacht haben, daß sie theils vor, theils hinter, theils neben dem Hause stehen.

Ein Cirkel mag nun gehend oder stehend beschrieben werden, so kann ich ihn mir doch nicht auf einmal denken; denn wenn er an sich auch noch so stille steht, so muß er sich doch immer durch meine Vorstellung bewegen, oder er muß vielmehr erst in derselben durch eine Folge mehrerer Begriffe entstehen.

Eine Reihe von Personen, die um mich her steht, beschreibt eben sowohl einen Cirkel, als eine einzelne Person, die um mich her geht, indem die Reihe die Bewegung der einzelnen Person durch ihre Ausdehnung ersetzt: ob nun gleich diese Reihe von Personen zugleich vor mir, hinter mir, und neben mir, schon wirklich befindlich ist, so beschleunigt doch dieses meine Vorstellung von dem Cirkel, den sie beschreibt, eben so wenig, als ob sie erst nach und nach dahin kämen.

Daß man sich auf die Weise ohne Widerspruch eine Bewegung in der Ruhe denkt, ist ein sonderbares Erforderniß der Eingeschränktheit unsrer Vorstellungskraft: so sagen wir, eine Reihe von Menschen steht den Berg hinauf, wie, ein Mensch geht den Berg hinauf. Mit dem Begrif hin ist nothwendig Bewegung, so wie mit stehen Ruhe verknüpft. Allein die Bewegung der einzelnen Person wird hier ebenfalls durch die Ausdehnung der ganzen Reihe ersetzt, die ich nun [105]in meinen Gedanken, so wie die einzelne Person fortrücken lasse.

Eben so wie sich der Standort einer einzelnen Person, die den Berg hinauf geht, alle Augenblick verändert, so verändert sich auch der Standort der ganzen Reihe, indem ich sie mir denke. Das macht die ganze Reihe findet eigentlich nirgends, als in meiner Vorstellung statt: nun kann ich aber den Begrif von der Reihe auf einmal umfassen und festhalten, weil er aus dem besteht, was die Menschen, die ich sehe, Aehnliches miteinander haben; aber den Begrif von dem Standorte der Reihe kann ich nicht so mit einemmale umfassen und festhalten, weil er aus demjenigen besteht, wodurch sich alle die Menschen, die ich vor mir sehe, sie mögen sich sonst so ähnlich seyn, wie sie wollen, voneinander unterscheiden.

Der Begrif von dem Standorte der Reihe muß sich also durch den Begrif von der Reihe selber gleichsam hindurch bewegen, und muß durch diese Bewegung demselben nachgeholfen werden. So wunderbar tönen unsre Ideen ineinander, und die anscheinenden Mißlaute lösen sich in Harmonie auf.

Doch nun wieder zur Präposition um. Sie ist, wie wir gesehen haben, gleichsam die Summe oder das Resultat von verschiednen andern Präpositionen, auf die wir daher auch jetzt einen Blick werfen, und uns einen allgemeinen Begrif davon bilden müssen.

[106]

Der Mensch drückt in der Sprache der ganzen Natur sein Bild auf. Und die Begriffe von auf, an, unter, u.s.w. sind höchstwahrscheinlich zuerst vom menschlichen Körper hergenommen, und bezeichnen die drei Haupterscheinungen in der Körperwelt, Annährung, Berührung und Verlassung.

Oben und Unten sind bloß von unserm Körpern hergenommene Begriffe; denn wenn wir auf dem Kopfe gingen, so würde uns das oben seyn, was uns jetzt unten ist. Wir bezeichnen daher die Kopfberührung durch auf, die Seitenberührung durch an, und die Fußberührung durch unter: die Kopfannäherung durch über, die Seitenannäherung durch bei oder neben, und die Fußannäherung eben so wie die Berührung auch durch unter, vermuthlich weil wir mit den Füssen fast immer etwas berühren. Die Verlassung zu bezeichnen haben wir nur zwei eigentliche Präpositionen von und aus.

Zur allgemeinen Uebersicht hiervon dienet beiliegende Tabelle von den deutschen Präpositionen, auf die ich mich öfter beziehen werde, und mich auch jetzt in Ansehung der Präposition um beziehe, welche die Annäherung oder Berührung aller Horizontalseiten, oder aller möglichen Seiten einer Person oder eines Dinges bezeichnet: wenn ich also die Begriffe auf, an, unter, hinter, vor, oder über, bei, unter, hinter, vor, zusammen-[107]rechne, so wird die Summe derselben der Begrif um seyn.

Tabelle von den deutschen Präpositionen. Zu Pag. 106.
  sich nähernd. berührend. verlaßend.
Dem Kopfe (den Kopf) einer Person, oder der (die) Spitze eines Dinges. über
Als dem Orte.
Ueber seinem Kopfe hing ein Schwerdt.
Als dem Ziele.
Ueber mich stürze der Himmel ein!
auf.
Als den Ort.
Auf seiner Scheitel ruhte die Last einer Krone.
Als das Ziel.
Auf sein Haupt fiel der Schlag.
Nach der Berührung.
über – weg.
Ueber dem Berge zog sich die Wolke weg.
Nach der Annäherung.
von.
Von seinem Haupte wurde der Lorbeerkranz gerissen.
Der (die) Seite einer Person oder eines Dinges. bei.
Als dem Orte.
Bei mir stand mein Freund.
neben.
Als dem Ziele.
neben mich stellte sich mein Bruder.
an.
Als den Ort.
An seiner Hüfte glänzte sein Schwerdt.
Als das Ziel.
Der Pfeil flog an den Schild.
Nach der Berührung
von ab
von seinem Schilde prallte der Pfeil ab.
Nach der Annäherung.
von.
Sein Freund ging von ihm.
Dem Fuße (den Fuß) einer Person, oder dem niedrigsten Theile (Theil) eines Dinges. unter.
Als dem Orte.
Unter dem Himmel schwebt das Gevögel.
Als dem Ziele.
Unter den schattigten Baum lagern sich die Thiere.
unter.
Als den Ort.
Unter meinen Füßen wankte der Boden.
Als das Ziel.
Unter meine Füße trat ich den Wurm.
Nach der Berührung.
von ab.
Von den Füßen schüttle ich den Staub ab.
Nach der Annäherung.
unter weg
Unter der Falle lief die Maus weg.
Dem Gesichte (das Gesicht) einer Person, oder dem Theile (den Theil) eines Dinges, welcher unserm Gesichteam meisten zugekehrt seyn soll. vor.
Als dem Orte.
Vor dem Richter stand die Tafel.
Als dem Ziele.
Vor die Tafel trat der Missethäter.
vor.
Als den Ort.
Vor dem Gesichte trug er eine Maske.
Als das Ziel.
Vor das Gesicht hing sie einen Schleier
Nach der Berührung.
vor weg
Vor dem Gesichte nahm sie den Schleier weg.
Nach der Annäherung.
Vor dem Tische trat er weg
Dem (den) Rücken einer Person, oder dem Theile (den Theil) eines Dinges, welcher von unserm Gesichte am meisten entfernt seyn soll. hinter.
Als dem Orte.
Hinter mir stand der Mörder.
Als dem Ziele.
Hinter die Wand hatte er sich versteckt.
hinter.
Als den Ort.
Hinter dem Buche stand der Titel.
Als das Ziel
Hinter den Nachen schlugen die Wellen.
Nach der Berührung.
hinter weg
Hinter dem Wagen war der Koffer weg.
Nach der Annäherung.
Hinter mir ging mein Begleiter weg.
Den (die) Seiten zweier Personen oder Dinge zugleich. zwischen.
Als dem Orte.
Zwischen beiden stand das Opfer.
Als dem Ziele.
Zwischen sie trat sein Retter.
zwischen.
Als den Ort.
Zwischen den Klauen trug der Adler die Beute.
Als das Ziel.
Zwischen die Zähne nahm der Krieger sein Schwerdt.
Nach der Berührung.
zwischen weg.
Zwischen den Klauen fiel dem Adler die Beute weg.
Nach der Annäherung.
zwischen hervor.
Zwischen seinen Feinden trat er hervor.
Allen (alle) Horizontalseiten einer Person oder eines Dinges. um.
Nur als dem Ziele.
um den Saturnus ist ein Ring.
um.
Nur als das Ziel.
um seine Stirne windet sich ein Kranz.
Nach der Berührung.
um weg.
Um die Stirne ist der Kranz weg.
Nach der Annäherung.
Um den Saturnus ist der Ring weg
Allen (alle) möglichen Seiten einer Person oder eines Dinges. um.
Nur als dem Ziele.
um die ganze Erde wölbt sich der Himmel.
um.
Nur als das Ziel.
um das ganze Brodt zieht sich die Rinde.
Nach der Berührung.
um weg.
Um das ganze Brodt fiel die Rinde weg.
Nach der Annäherung.
um weg.
Um ihn zog sich das Dunkel weg.
Allen (alle) Seiten eines Dinges, das sich wiederum von allen Seiten dem nähernden nähert, den berührenden berührt, und den verlaßenden verläßt, oder:
allen (alle) Seiten der Umgebung.
in
Als dem Orte.
In dem Tempel steht der Altar.
Als dem Ziele.
In den Tempel brachte er sein Opfer.
in.
Als den Ort.
In
dem Meere schwimmt der Fisch.
Als das Ziel.
In das Meer taucht sich der Schwimmer.
aus.
Nach der Berührung.
Aus dem Meere stieg Aphrodite.
Nach der Annäherung.
Aus dem Tempel trat der König.
allmälig der (die) Umgebung eines Dinges und dieselbe zugleich verlassend. durch.
Nur als dem Ziele.
Ich gehe durch die Thüre.
durch.
Nur als das Ziel.
Ich steche durch das Papier.
Anm. Die Verlaßung liegt bei durch schon mit in der Annäherung und Berührung.
Einem Dinge überhaupt, ohne zu bestimmen, ob die Annäherung auf Spitze, Seite, Fuß oder Umgebung desselben gerichtet ist. gegen.
Nur als dem Ziele.
Ich seegle gegen den Wind.
Ich marschiere gegen den Feind.
nach.
Nur als dem Zweck.
Ich gehe nach Hause.
Ich reise nach Spanien.
zu.
Nur als dem Zweck.
Ich komme zu dir.
Ich gehe zu Bette.
Anm. Um die Berührung im Allgemeinen anzuzeigen, giebt es keine eigne Präposition. Anm. Um die Verlaßung im allgemeinen anzuzeigen, giebt es ebenfalls keine eigne Präposition: denn weg kann nicht für sich allein vor einem Worte stehen.

Um zeigt schon einen weit stärkern Grad der Berührung oder Annäherung an, als auf, an, unter, u.s.w., weil es die Annäherung oder Berührung aller auswendigen Seiten eines Dinges bezeichnet. Aber ein höherer Grad der Berührung läßt sich nicht denken, als wenn etwas alle Seiten eines Dinges zugleich berührt, und wieder von allen diesen Seiten zu gleicher Zeit berührt wird. Und diese reciprokalische Berührung ist es, welche durch in ausgedrückt wird. Daher scheint es auch zu kommen, daß die Verlassung in diesem Falle durch ein eignes darzu bestimmtes Wort, nehmlich durch aus bezeichnet wird, da sie in allen übrigen Fällen nur durch von oder durch Umschreibungen ausgedrückt werden kann.

Da wir nun die Präposition um nach ihrer Natur und ihrem Standorte unter den übrigen Präpositionen betrachtet haben, so wollen wir noch auf einige Fälle aufmerksam seyn, wo man sich ihrer zur Bezeichnung des Unkörperlichen bedienet. Wenn wir uns die fortdaurende Richtung einer Handlung auf einen bestimmten Zweck vorstellen wollen, so denken wir uns diesen Zweck als den Mittelpunkt, um welchen sich unser Handeln drehet, und so umschreibt in unsrer Vorstellung immer ein Kreis den andern, oder einer wird wieder der Mittelpunkt des andern, wenn wir z.B. sagen: ich lerne, um weise [108] zu werden; ich höre, um zu lernen; ich schweige, um zu hören; u.s.w. so lange meine Handlung fortdauert, erreiche ich den Zweck nicht, aber ich bleibe immer in gleicher Richtung auf denselben, wie der Kreis auf seinen Mittelpunkt.

Der Zweck, warum ich etwas thue, ist ein Gedanke in mir, um welchen sich meine Handlung gleichsam, wie ein Rad um seine Axe bewegt, das ohngeachtet dieser gleichförmigen Bewegung dennoch fortrückt. Wenn ich also sage, ich gehe, um das Haus zu sehen, so drehet sich gehen immer um die Vorstellung von sehen, demohngeachtet aber behält es auch die Richtung nach dem äußren Gegenstande, als dem Hause, das ich sehen will.

Auf die Art bewegen sich alle unsre Handlungen um einen gewissen Endzweck oder Vorsatz, der die innere Grundlage ihrer Bewegung ist, und ihnen zugleich ihre Richtung nach irgend einem Gegenstande giebt, der wenigstens außer demjenigen Umkreise liegt, welchen sie umfassen, derselbe mag nun übrigens außer uns oder in uns seyn.

Aus der Präposition um, in diesem letztern Verstande genommen, scheinet auch die Frage warum entstanden zu seyn, welche sich bei allem, was wir denken unsrer Seelen aufdringt, weil sie ein nothwendiges Bedürfniß des Denkens ist. Denn sie ist gleichsam der Mittelpunkt unsrer Vorstellungen, [109]nach welchem sich alle unsre Gedanken hinsenken, und in welchem sie zusammentreffen.

Eben so wenig wie ein Stein sich in der Luft erhalten kann, eben so wenig können wir einen Gedanken in unsrer Seele schwebend erhalten, so daß er sich zu keinem Warum heruntersenken sollte, auf dem er ruhen könnte.

Je schwerer uns freilich der Gedanke ist, desto länger wird er auch rollen müssen, ehe er einen festen Ruhepunkt findet, und der, den er gefunden hat, wird oftmals unter ihm einsinken, so daß er vermöge seiner ihm eigenthümlichen Schwere sich immer tiefer heruntersenken muß, bis er endlich oder niemals einen festen Grund findet, der ihn tragen kann.

M.

[110]

IV. Zur Seelenzeichenkunde.

Nebeneinanderstellung einzelner jugendlicher Charaktere.

Seidel, Johann Friedrich

*** Ist ein Knabe von ungefähr zwölf Jahren, und meinem Urtheile nach einer der liebenswürdigsten Schüler. Er hat bei einem gehörigen Maaß von Munterkeit viel Gesetztes; aber gerade wie es sich für sein Alter schickt: er ist nicht flatterhaft, nicht zu ernsthaft. Eigentlicher Unarten scheint er kaum fähig zu sein.

Er hat ungemein viel Sanftes, viel Freundliches in seinem Aeußern, und sein Herz scheint ganz gut, ganz unverstimmt zu seyn. Lob ist ihm angenehm; aber es macht ihn so wenig stolz, daß er vielmehr die Augen dabei voll Bescheidenheit niederschlägt.

Wenn ein guter Karakter geschildert wird, so werden seine Augen lebhafter, sein ganzer Körper geräth in einige Bewegung, und er kann seine Freude darüber nicht zurückhalten. »Das ist [111]schön!« hat er in solchen Fällen schon oft mit einem Antheil und mit einer Lebhaftigkeit ausgerufen, die beide seinem Herzen zur Ehre gereichen.

Auf die Frage: warum ist das gut? — sucht er alles Schöne, alles Edle zu entwickeln, mehr, um sein Gefühl zu rechtfertigen, als zu zeigen, daß ers weiß.

Wenn ihm etwas nicht gefällt: so wird er ernster, seine Augen sind weniger lebhaft, und seine Antworten kurz.

Sein Gang ist bedächtlich, sein Ton angenehm, etwas schnell und mehrentheils voll Ausdruck.

Er hat eine wahre, offne Miene, und scheint überall das Nützliche dem blos Angenehmen vorzuziehen.

Er ist reinlich und ordentlich, ohne eines zu übertreiben; gesellig, ohne unruhig, und außer sich zu sein. Kleine Neckereien seiner Mitschüler stören ihn selten in seiner Aufmerksamkeit; er übersieht sie, oder weiß sie gemeiniglich durch eine Miene, oder durch ein Wort zu unterdrücken.

Dabei lieben ihn alle seine Mitschüler. Sie scheinen es zu wissen, daß er Vorzüge hat, und daß er Vorzüge verdient, ohne daß sie ihn beneideten, welches fast bei ihm allein der Fall ist.

Sein Kopf ist vortreflich, und sein Fleiß und innerer Trieb ausdauernd und rühmlich. Wenn er in seiner weitern Ausbildung und Erziehung nicht verwahrloset wird, wenn er die Verführungen, [112]denen ein junger Mensch freilich so häufig ausgesetzt ist, glücklich vermeidet: so verspricht sein Kopf und sein Herz überaus viel. Er kann es in den Wissenschaften und in dem Gebiete der Wahrheit bis zu einer ansehnlichen Höhe bringen.

Dabei werden seine Freunde in ihm einen edeldenkenden Freund; seine Mitbrüder einen offnen, gefälligen, bescheidnen Gesellschafter, einen frohen Theilnehmer ihres Glücks und bereitwilligen und thätigen Freund im Unglück finden. Viel solche Jünglinge, und dann Männer, wie sie werden könnten: — wahrlich ein entzückender Gedanke für Menschenfreunde und für Beobachter der Menschen!


*** Ungefähr acht bis neun Jahr alt, gehört zu den Kindern, denen man beim ersten Anblick gut seyn muß. Völlig unschuldig, genießt er die Vorrechte der ersten Jugend: froh zu seyn.

Seine Miene verkündigt durchgehends diese herrschende Neigung zur Freude, die aber nicht ausgelassen ist; und er scheint sich darauf nicht wenig zu gute zu thun.

Zuweilen will ein kluger Ernst unter der kindischen Zufriedenheit hervorkommen, und dann möchte sich vielleicht auch die mürrische Miene des verdrießlichen Alten über sein Lächeln aufheitern. [113]Der Jugendfreund wird gefesselt, und behält sie gewiß lange Zeit in seiner Seele gegenwärtig.

Alles ist ihm freilich noch im Grunde Spiel, und er hat auch immer etwas, womit er sich beschäftigt. Ein Blick und ein Wort schränkt ihn zwar ein, aber nicht lange. Weiß man irgend eine Sache ihm etwas wichtig zu machen, so heftet sich sein kleines Nachdenken daran, so faßt ers schnell, und scheint sich darüber zu wundern, wie so etwas möglich ist.

Man darf ihm nur einen kleinen Vorzug vor andern geben, so zeigt sich sein Ehrtrieb in allen Zügen des Gesichts, und besonders durch ein heitres, reines Lächeln.

Ich sagte einmal zu ihm, daß er besser plaudern könne, als sein kleiner Nachbar, der eine Stelle über ihn hat, und daß er daher verdiene, über ihm zu sitzen; allein er hatte keine Lust dazu, blickte mich mit schamhafter Freundlichkeit an, und verstand, was ich sagen wollte.

Verweise müssen, und dürfen auch nur sehr sparsam seyn, denn sie schlagen ihn zu sehr nieder, als daß sie die gehörige Wirkung thun sollten. Er ist lebhaft und feurig, wenn er bei einer Sache interessirt ist.

Einmal hatte sein Nebenschüler ihn beschuldigt, daß er geplaudert habe. Nach den geendigten [114]Schulstunden setzt er ihn darüber zur Rede und schlägt ihm auf die Backe. Aber gleich reut es ihn, und, sicher mehr, weil es ihm leid ist, als weil er Strafe befürchtet, giebt er für den kleinen Schmerz so viel Geschenke, als er von seinen Spielsachen bei sich hatte.

Uebrigens hält er auf Ordnung, und scheint bei einem guten Kopf viel Fleiß und Trieb zu bekommen. Es kömmt darauf an, daß seine Aufmerksamkeit mehr geschärft, auf mehr Gegenstände gerichtet wird: so wird er immer im Fache der Gelehrsamkeit sehr brauchbar seyn können.

Sein Ehrtrieb würde bei gehöriger Einschränkung rühmlich und nützlich seyn; aber ohne weise Mäßigung des Lobes bei ihm, ohne zu rechter Zeit angebrachten Tadel könnte dieser Trieb, der bei ihm nicht klein ist, einen stolzen, rechthaberischen und heftigen Menschen verkündigen.

Seine kleine, leidenschaftliche Hitze wird ihn wahrscheinlich manche zu rasche That bereuen lassen; aber seine Güte des Herzens wird hoffentlich verursachen, daß er nicht lange fehlt, und daß er vielleicht überall einen festen und sanften Karakter bekommt.


Es wäre wünschenswerth, wenn man lauter Betrachtungen, wie die vorhergehenden bei einer [115]Menge von Kindern und Knaben anstellen könnte; aber man muß die Menschen überhaupt, und auch schon die jüngern Menschen nehmen, wie sie sind.

*** ist ungefähr funfzehn bis sechzehn Jahr alt. Seine Anlagen sind durchaus gemein und unbedeutend. Sein Fleiß ist seinen Anlagen völlig gleich, und sein Herz scheint ganz ohne Gefühl zu seyn.

Seine Miene verspricht einen Menschen, der über alles weg ist, den weder Freude noch Schmerz; aber auch weder Gutes noch Böses rührt.

Er scheint gar kein Interesse für irgend eine Sache zu haben, und es ist ihm völlig einerlei, ob er auf eine Frage Antwort geben kann, oder nicht. Völlig gleichgültig gegen Lob und Tadel ändert er auch da keine Miene. Das erste ist ihm von keiner Erheblichkeit, ist für ihn keine Aufmunterung; das letzte hat für ihn kein Gewicht, ist für ihn keine Schande. Und so läßt er freilich wenig oder gar keine Hofnung von sich machen.

Sein Gang, seine ganze Stellung ist schleppend, und einerlei da sich seine Seele mit nichts Reellen und Wichtigen beschäftigt: so ist er immer unruhig, er ist es aber mehr insgeheim, als öffentlich.

Alles ist bei ihm Nachäffung und Billigung dessen, was er bei andern sieht. Tücke und Bos-[116]heit sind wohl nicht in seiner Seele; aber wie gesagt, auch schwerlich eine besondre Anlage zu irgend einer Tugend. Sich anstrengen und aufmerksam seyn — kann er durchaus nicht.

Seine ganze Erziehung scheint nicht sonderlich zu seyn, und er wird in seinem Leben schwerlich etwas anders, als einer der simpelsten Bürger des Staats, und diesem freilich nicht schädlich, aber auch nicht sehr nützlich werden.

Seidel.

[<117>]

<Verlagsankündigungen.>

Nachricht.

Die Buchhändler Franzen und Grosse zu Stendal machen bekannt, daß sie sich entschlossen haben, von dem Magazin für gerichtliche Arzneikunde und medizinische Polizey, den 1sten Jahrgang, so aus vier Stücken besteht, davon der Preiβ 3 Rthlr. ist, um 2 Rthlr. denenjenigen zu überlassen, die sich entschließen auf den 2ten Jahrgang mit 1 Rthlr. 18 Gr. in Conventionsgeld vorauszubezahlen, und versäumt haben zu pränumeriren, wenn sich die Liebhaber noch vor dem Abdruck des vierten Stücks melden. Stendal im Jun. 1783.

[<118>]

Bei dem Verleger dieses Magazins sind zur Leipzigen Ostermesse 1783 fertig geworden.

Archiv für Freymäurer und Rosenkreuzer. 1ster Theil. gr. 8.

1 Rthlr. 12 Gr.

Bahrdts, D C. F. Neues Testament, dritte mit dem Commentar vermehrte Auflage. 2 Theile. gr. 8.

2 Rthl. 12 Gr.

Carmers, des Königl. Preuß. Großkanzlers, Schreiben an den Kriegsrath Cranz. 8.

1 Gr.

Gedikens, Fr., Französisches Lesebuch für die ersten Anfänger. 8.

8 Gr.

NB. Wird bald nach der Messe fertig.

Moritz, C. Ph., Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte. 1. und 2tes Stück. gr. 8. geheft

20 Gr.

Pyl, Joh. Theod., Aufsätze und Beobachtungen aus der gerichtlichen Arzeneiwissenschaft. 1ste Sammlung. gr. 8.

18 Gr.

Sammlung der besten und neuesten Reisebeschreibungen im Auszuge, mit K. 23ster Band. gr. 8.

1 Rthl. 8 Gr.

Schulze, J. C., Taschenbuch für diejenigen, so gründliche Anwendung der Meßkunst machen wollen, 2ter Theil, welcher die Trigonometrie enthält. m. K. 8.

1 Rthl. 12 Gr.

Selle, C. G., neue Beiträge zur Natur- und Arzeneiwissenschft. 2ter Theil. gr. 8.

18 Gr.

Vademecum für lustige Leute etc. 9ter Theil. 8.

10 Gr.