ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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<Realübersicht des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.>

Maimon, Salomon

Ersten Bandes erstes Stück zur Seelenkrankheitskunde.
I. 4-6.

Wird von einem Menschen erzählt, der so blödsinnig war, daß er bei völliger menschlicher Bildung, nicht die geringste Spur von Menschenverstand und Sprache von sich gab. Er forderte nicht einmal die ihm unentbehrlichen Nahrungsmittel. Diese mußten ihm die Eltern, so wie ei-[4]nem Kinde, von Zeit zu Zeit, darreichen. Er blieb in diesem Zustand bis zu seinem Tod, der in seinem fünf und zwanzigsten Jahre erfolgt ist. In seiner Krankheit ließ er, so wie in gesunden Tagen, von seinem Händeklatschen und dem gewöhnlichen Ausrufen: Gack, Gack! nicht ab.

Man gab zur vermuthlichen Ursache dieses Blödsinns an, daß die Mutter dieses Menschen, als sie mit ihm schwanger gieng, einem, in einer Klause gesessenen Unsinnigen das Essen habe zutragen müssen.


II. 7-15.

Ein Mann von vieler Gelehrsamkeit, und, wie man aus seiner zwar nicht zahlreichen aber auserlesenen Büchersammlung und den über einige Bücher von ihm geschriebenen Anmerkungen ersieht, von großer, mit guter Beurtheilung verbundener Belesenheit, der verschiedene Sprachen verstand, sich auf die Jurisprudenz, Weltweisheit und Geschichte legte, und in der Arzneikunde nicht ganz unwissend war, ausser diesem eine Geschicklichkeit in Verfertigung mancher zur Bequemlichkeit des Lebens erforderlichen Dinge besaß, hegte eine lange Zeit den Gedanken, als habe er ein Buch gegen die Religionsgrundsätze des Königs von Preußen [5]geschrieben, worüber er seine Strafe zu befürchten Grund zu haben glaubte.

Er gieng darin so weit, daß er alles für Nachstellung ansah, was nur auf irgend eine entfernte Art dafür angesehen werden kann. Zuletzt verschloß er sich in seinem Zimmer, welches er, um allen Ueberfall zu verhüten, von aussen befestigt und mit Schießgewehr versehen hatte.

Er schrieb seine Träume sorgfältig auf, indem er sie für göttliche Eingebung hielt, und brachte seinen mit ihm eingesperrten Vetter durch Schläge dahin, daß dieser eidlich versichern mußte, daß er seines Onkels Träume für göttliche Eingebung halte.

In diesem Zustande blieb der vorerwähnte Mann bis zu seinem Tod, der im sechzigsten Jahre seines Alters erfolgte.

Die Angaben zur Erklärung dieser sonderbaren Seelenkrankheit sind: 1) War es einigermaßen eine Familienkrankheit. 2) Dazu kommt noch, daß dieser Mann, zur Zeit da er in königlichen Diensten stand, viel mit dem Kopfe hatte arbeiten müssen.


[6]
III. 16-20.

Ein Mann, der eine Profession gelernt hatte, und auf seinen Reisen, wider Willen, in Soldatenstand gerathen war, wurde, aus Widerwillen gegen den Dienst liederlich. Als er nun einst als Deserteur bestraft zu werden, mit Recht zu fürchten glaubte, entschloß er sich aus Lebensüberdruß, Hungers zu sterben. Zu diesem Ende versteckte er sich auf den obersten Boden von eines Tabackspinners Haus, wo er vierzehn Tage nachher ganz vom Hunger entkräftet gefunden wurde. Darauf wurde er in das Lazareth geschickt. Hier hörte er, daß er allem Vermuthen nach Zeitlebens auf die Festung kommen möchte. Um also dieser lebenslangen Strafe zu entgehen, da er ohnedem schon des Lebens überdrüssig war, faßte er den Entschluß, durch einen Mord, seine Strafe zum Tode zu graviren; welchen Entschluß er auch an seinem Kameraden (da ihm die Zeit zu lang war, auf die Wiederkunft seiner ihm gehässigen Wärterin, an der er diese Rache hatte ausüben wollen, zu warten) ausführte. Im Verhöre gestand er alles, und bereuete sehr, daß er das Leben einer unschuldigen Person zum Opfer seines Lebensüberdrusses gemacht hatte.


[7]
IV. 20-24.

Ein spanischer Weber, den vermuthlich das beständige krumme Sitzen, oft scharfes Nachdenken, und weitläuftiges Ueberrechnen bei schweren und künstlichen Mustern, die mit seiner Profession verknüpft sind, zu hypochondrischen Zufällen geneigt gemacht hatten, und wahrscheinlich auch eine Neigung zum Müßiggang, ein bequemeres Leben zu suchen veranlaßte, gerieth auf den Gedanken, Schätze zu graben.

Diese Idee wurde in seiner lebhaften Einbildungskraft so fixirt, daß er zuletzt an ihre Wirklichkeit zu glauben anfieng. Dieses verwirrte schon seinen Verstand. Krankheit, Nothdürftigkeit und Kummer zerrütteten denselben vollends.

Er glaubte im Jahre 1764 wirklich mit Hülfe seines schon verstorbenen Bruders einen Schatz (den er sehr umständlich beschrieb) gefunden zu haben. Die heiligen Engel und Geister, wie auch zwei schon verstorbene Menschen hatten ihnen denselben offenbart, und mit Hülfe eines solchen Geistes und der Wünschelruthe hatte er die Stelle wo der Schatz sich befand, entdeckt. Böse Geister aber hatten ihm und seinem Bruder Hindernisse in den Weg gelegt. Er entdeckte also dieses Geheimniß andern Leuten, die er nannte, und wollte mit ihrer Hülfe die zweite Nacht sein Heil probiren. [8]Diese aber waren zu klug als daß sie auf ihn warten sollten. Sie gruben also den Schatz für sich aus, gaben auch einen Theil davon einem gewissen Prediger, der den ihn bewachenden Geist bannen mußte. Vieles davon kam auch nach P. wie dieser arme Weber versicherte.

Seine Schwester, die der Arzt über die Umstände ihres Bruders befragte, bekräftigte alle seine Einbildung, und war völlig so närrisch wie er. Ein Beleg zu der Erfahrung, daß Wahnwitz ansteckend ist.


V. 26-29.

Ein an sich einfältiger und abergläubischer Mensch gerieth durch allerhand mißliche Umstände in einen ganz ungewöhnlichen Zustand von Furcht und Aengstlichkeit, welche ihn vorzüglich des Nachts quälte, und gar nicht schlafen ließ, und die er, seiner Aussage nach, blos durch Lesen in geistlichen Büchern und Singen geistlicher Lieder vertreiben konnte.

Da er nun fleißig die heilige Schrift las, gerieth er unter andern auf das Buch Daniel. Die darin erzählten wunderbaren Erscheinungen und Verrichtungen wurden ihm durch diese Lektüre so familiär, daß er nun selbst Wunder zu verrichten im Stande zu seyn glaubte.


[9]
VI. 26-29.

Ein Mensch, der von seiner Jugend an den hypochondrischen Zufällen sehr unterworfen, übrigens einfältigfromm war, gerieth durch hinzukommende äußere mißliche Umstände verschiedenemal auf den Gedanken, sich selbst das Leben zu nehmen.

Da ihm dieses aber mißlang, so verfiel er darauf, ein Kind, das er sehr liebte und zur Frömmigkeit anführte, zu ermorden, und sich dadurch die Todesstrafe zuzuziehen.


VII. 30-31.

Ein Mann, der ein unmittelbarer Abgesandter der heiligen Dreieinigkeit zu seyn glaubte, die jetzt die Regierung auf Erden selbst übernommen, und aller anderer Gewalt aufgehoben habe, verpanzerte seinen Leib, aus Furcht vor den ihn plagenden (vermuthlich aus Neid über die Wichtigkeit seines Amts) bösen Geistern, auf eine sehr sonderbare Art. Parallel zwischen diesem und No. II.


[10]
VIII. 31-38.
Grundlinien zu einem ohngefähren Entwurf in Rücksicht auf die Seelenkrankheitskunde.

1) Mangel der verhältnißmäßigen Uebereinstimmung aller Seelenfähigkeiten ist Seelenkrankheit.

2) Die Zerstörung dieses Verhältnisses ist nur alsdann Seelenkrankheit, wenn sie anhaltend ist.

3) Die thätigen Kräfte müssen mit den vorstellenden Kräften in einem gewissen Verhältniß stehen.

4) Die zum Denken erforderliche Klarheit der Vorstellungen, setzt eine verhältnißmäßige Verdunklung andrer voraus.

5) Alle durch Zufall oder durch die freie Wirkung der Einbildungskraft veranlaßten Ideenverbindungen dürfen die durch die Natur der Dinge selbst bestimmte Ideenverbindung nicht aufheben.

6) Einige Seelenkrankheiten können so wie einige Krankheiten des Körpers angeerbt, einem [11]Volke oder Lande eigen, ansteckend, heilbar oder unheilbar seyn.

7) Es giebt gegen die Seelenkrankheiten keine Universalmittel.

8) Es giebt allerdings Seelenärzte, die es im größern oder kleinern Grade sind.


Zur Seelennaturkunde.
I. 39-44.
Einige Beobachtungen über einen funfzehnjährigen Taub- und Stummgebornen.

Er schien es zu wissen, daß ihm der Sinn des Gehörs mangelte. Auch schien er den Mangel der Sprache zu empfinden, welches er durch Zeichen andeutete.

Er bildete gleich Anfangs die zur Hervorbringung der leichten Buchstaben b, d, f, u.s.w. erforderliche Bewegung des Mundes nach, aber er setzte keinen vernehmlichen Laut hinzu, bis [12]ihn derjenige der ihn sprechen lehren wollte, durch Lachen und Husten, das er gleichfalls nachmachte, darauf aufmerksam gemacht hatte.

Der Lehrer bediente sich mit ihm erstlich statt der Buchstaben der natürlichen Zeichen. Er zeichnete ihm eine Wellenlinie vor, welche dieser mit der Volubilität der Zunge verfolgte, und auf diese Weise ein L aussprechen lernte. Eben so verfolgte er den vorgezeichneten geraden Strich mit einem Stoß der Zunge, und lernte das D aussprechen u.d.g.

Nun fieng der Lehrer an, ihn verschiedene Gegenstände mit einzelnen Lauten benennen zu lassen. Auf diese Art lernte er die Arten dieser Gegenstände bezeichnen.

Nach und nach lernte er auch aus Buchstaben Sylben, und aus Sylben ganze Wörter zusammensetzen.

Er hatte eine starke und richtige Einbildungskraft, ein gutes Gedächtniß, und eine gesunde Beurtheilungskraft.


II. 44-47.
Aus einem Tagebuche.

Ein höchst uninteressanter Ausdruck aus einer Arie in einer Operette, den der V. zufälligerweise [13]hatte singen hören, drängte sich demselben unwillkührlich in den ernsthaftesten Geschäften auf.

Die Abenddämmerung veranlaßte beim V. den Wunsch nach den stillen häuslichen Freuden.

Die Veränderung vom langsamen zum schnellen Gehen bestärkte den niedergeschlagenen Muth des V. und belebte seine Hofnungen. Der Glanz der Abendröthe aber erregte in ihm den Wunsch, ein thätiges ruhmvolles Leben zu führen, und erweiterte seine Aussichten.


III. 47-53.

Beobachtungen über das Alpdrücken, die aber nichts ungewöhnliches zur Betrachtung darbieten.


IV. 53-55.

Wird erzählt von Personen, die einige Zeit gewisse Handlungen verrichtet zu haben glaubten, wovon sie nachher überzeugt worden, daß sie dieselbe nie verrichtet hatten.


VII. 70-84.

Ein in der gelehrten Welt bekannter Mann erzählt von sich folgendes:

[14]

Er habe in der .... Ziehung der Königl. Preuß. Zahlenlotterie auf die Zahlen ..... und ..... gesetzt.

In der Nacht vor dem Tage der Ziehung träumte ihm, er würde des Mittags gegen zwölf Uhr, zu welcher Zeit die Lotterie gezogen zu werden pflegt, von dem Herrn, bei dem er damals in Diensten stand, wegen Besorgung eines Geschäfts, nach einem Hause in der Nachbarschaft des Generallotterieamts geschickt. Gut dachte er! ich werde sobald als möglich ist, mich meines Auftrags entledigen, und gleich nach dem Generallotterieamte laufen, und sehen, ob meine Nummern herauskommen? Er kam dahin, nach bestelltem Auftrage, und fand die gewöhnliche Zurüstung und eine ansehnliche Menge Zuschauer, und in dem Augenblick, da er ankam, wurde beim Hineinzählen der Nummern eine der Nummern, worauf er gesetzt hat, vorgezeigt und ausgerufen. Beim Hinauszählen wurde erstlich die zweite, und darauf auch die erste Nummer, worauf er gesetzt hat, gezogen, vorgezeigt und ausgerufen. Darauf gieng er frohen Muths nach Hause. Hier erwachte er.

Dieser Traum wurde aufs Pünktlichste erfüllt. Der V. führt noch mehrere Beispiele dieser Art an.

Ein anderer erzählt, es habe ihm in .... Nacht geträumt, wie Diebe das Haus seines Oheims (der ausser dem Orte wo sich der V. befand, wohnte) [15]bestohlen, er sehe sie einbrechen, sehe sie dieses oder jenes sich bemächtigen; welches alles zu eben der Zeit aufs Pünktlichste eintraf.


IX. 92-106.
Sprache in psychologischer Rücksicht.

Durch die Impersonale wird eine Veränderung gedacht, ohne sie auf eine handelnde Person, ja selbst auf eine sie hervorbringende wirkende Ursache überhaupt zu beziehen. Es donnert, z.B. heißt so viel als: das Donnern geschieht, u.d.g. Wir gebrauchen dieselben von solchen Veränderungen, deren wirkende Ursache uns unbekannt ist.

Daß wir aber verhältnißmäßig so wenig Impersonale in der Sprache haben, da die Ursachen der mehresten Veränderungen uns unbekannt ist, rührt daher, weil bei uns jede Vorstellung äußerer Gegenstände erst durch die Vorstellung von uns selber, oder von unserm Ich gleichsam durchgehen muß, und wir der ganzen Natur unser Bild eindrücken. Wir betrachten also bloß Veränderungen als Handlungen und beziehen dieselbe auf die nächste, in die Augen fallende Ursache, die wir zu diesem Behuf personifiziren. Z.B. die Bäume bringen Früchte hervor u.d.g.

[16]

Ist aber selbst diese unbekannt, wie z.B. bei den Erscheinungen, die den Geistern zugeschrieben werden, so werden die Impersonale gebraucht. Es wandelt, es spukt u.s.w.

Eben so ist es auch mit den innern Veränderungen. Es scheint mir; es deucht mir u.d.g. zeigt eine Veränderung des Gemüths, deren mir unbekannte Ursache ich ausser mir denke. Dahingegen: ich glaube, eine solche anzeigt, deren Ursache meine Selbstthätigkeit ist.

Hier werden noch mehrere Impersonale angeführt, die auf eben die Art erklärt werden.


[17]
Zweites Stück
II. zur Seelenkrankheitskunde.
10-18.

Ein Schuhmacher, dem auf seinen Reisen, sein Felleisen und mit diesem sein Handwerkszeug und seine Kundschaften gestohlen worden waren, ließ sich als Soldat anwerben. Lebensüberdruß und fromme Schwärmerei spannten sein Verlangen aufs höchste nach der Glückseligkeit eines künftigen Lebens. Er dachte daher darauf, wie er seine körperliche Hülle von sich abwerfen könne, um so bald als möglich dieser Glückseligkeit theilhaftig zu werden; doch so, daß er demohngeachtet selig sterben könnte. Er wählte dazu den Weg, sein Leben durch einen Mord zu verwirken, nach dessen Vollbringung er sich zu Gott zu bekehren, und selig zu werden glaubte.

Diesen Mord übte er nachher wirklich an einem Kinde aus.

Die Bücher die man bei ihm gefunden, und worin er fleißig gelesen hat, waren Arnds wahres [18] Christenthum, das Paradiesgärtlein, Freilingshausens Gesangbuch, und das hällische goldne Schatzkästlein.


18-28.

Ein Schullehrer dem es an philosophischen Kenntnissen nicht mangelte, erhielt wegen Aeusserung einiger sogenannten atheistischen Grundsätze seinen Abschied.

Darauf gerieth er in die äußerste Dürftigkeit. Nun war er fest entschlossen, seinem Leben, das ihm verhaßt geworden war, ein Ende zu machen; brachte sich auch in dieser Absicht zwei Stiche mit einem kleinen Federmesser bei, aber ohne Erfolg.

Da ihm nun dieser Versuch mislungen war, faßte er den festen Entschluß, sich todt zu hungern, den er mit der schrecklichsten Hartnäckigkeit viele Tage lang durchsetzte; und ob er zwar durch vieles Zureden, dann und wann etwas zu sich zu nehmen bewogen wurde, so behielt doch immer der vorige Entschluß die Oberhand.

Da er nun auf diese Art von seinem Entschluß nicht abzubringen war, so gab das Polizeidirektorium einen Befehl, alles anzuwenden, um den Kranken zu bewegen, Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, und ihm besonders, die Versicherung eines Prinzen, [19]ihn zu einer hohen Ehrenstelle zu befördern, zu Gemüthe zu führen.

Dieses wirkte. Er wurde durch die dazu dienlichen Mittel wieder hergestellt.

Da aber dieses Versprechen unerfüllt blieb, und er sich also in seiner Hofnung getäuscht sahe, so verfiel er darüber aufs neue in Raserei, ward ins Tollhaus gebracht, rennte mit dem Kopf gegen die Mauer, und starb.


28-34.

Ein junger Mensch von funfzehn Jahren wurde eine geraume Zeit wegen seines seltsamen Betragens in der Schule für wahnwitzig gehalten.

Der Vater wußte aber bald Mittel ein Geständniß von ihm herauszubringen, er gestand nehmlich, daß das Mißvergnügen über den Unterricht in der französischen Sprache, sein Widerwille gegen den Umgang mit kleinern als er ist, und der Ekel das schon gehörte immer wieder anhören zu müssen, ihn auf den Gedanken gebracht habe, sich wahnwitzig zu stellen.


[20]
III. Zur Seelennaturkunde.
38-43.

Ein berühmter gelehrter Mann von sehr ehrwürdigem Charakter erzählt von sich einen sonderbaren psychologischen Casus von ohngefähr folgender Art:

Er hatte an .... Vormittag in geschwinde abwechselnder Folge viele Leute zu sprechen, vielerlei Kleinigkeiten schreiben müssen, wobei die Gegenstände fast durchgehends von sehr unähnlicher Art waren, und also die Aufmerksamkeit ohne Unterlaß auf etwas ganz anderes gestoßen ward. Zuletzt war eine Quittung zu schreiben. Er schrieb einige dazu erforderliche Worte. Aber auf einmal war er unvermögend, weder die übrigen Wörter in seiner Vorstellungskraft zu finden, noch die dazu gehörige Züge zu treffen.

Er strengte seine Aufmerksamkeit aufs äußerste an, suchte langsam einen Buchstab nach dem andern hinzumahlen, mit beständiger Rücksicht auf den Vorhergehenden, um sich zu versichern, daß er zu demselben passe, merkte aber doch, daß es nicht diejenigen Züge wurden, die er haben wollte, ohne sich [21]dessen was ihnen fehlte im geringsten bewußt zu seyn. Er mußte abbrechen, und blieb ohngefähr eine halbe Stunde hindurch in dem Zustande einer tumultuarischen Unordnung gewisser Vorstellungen, worin er nichts zu unterscheiden vermochte, die sich ihm ganz unwillkührlich aufdrängten, und auf deren Wegschaffung und Vertauschung mit andern Zweckmäßigern er bemüht war.

Er versuchte zu reden. Aber bei aller Anstrengung der Aufmerksamkeit und mit der größten Langsamkeit, womit er hierin verfuhr, folgten nicht anders als unförmliche und ganz unzweckmäßige Worte.

Nach der vollen halben Stunde fieng sein Kopf an heller und ruhiger zu werden. Die sich ihm unwillkührlich aufdringenden Vorstellungen wurden nach und nach weniger lebhaft und brausend; und er konnte mit mehrerer Selbstthätigkeit, seine zweckmäßigen Vorstellungen mit mehrerer Klarheit und Ordnung durchsetzen, und also seine Gedanken durch die Sprache auf eine verständliche Art ausdrücken.

Gleich dachte er auf seine angefangene, aber für irrig erkannte Quittung, und fand anstatt: »funfzig Thaler halbjährige Zinsen« wie es heißen sollte: »Funfzig Thaler durch Heiligung des Bra-« mit einem Abbrechungszeichen, weil die Zeile zu Ende war. Er konnte sich auf nichts in seinen zurückgerufenen Vorstellungen besinnen, welches [22]zu diesen unverständlichen Worten hätte Anlaß geben können.


44-73.

Ein berühmter Arzt beschreibt seine eigene Krankheitsgeschichte.

Von der ganzen auf dreißig Seiten sehr schön beschriebenen Krankheitsgeschichte ist das in psychologischer Rücksicht merkwürdige ungefähr folgendes:

Nach der ersten, sieben Tage dauernden Epoche seiner Krankheit, wovon er sich nichts mehr zu erinnern im Stande ist, gerieth er in den Zustand der Raserei, deren Partikularitäten er sich wohl erinnern kann. Es war, wie er selbst sagt, Methode in seiner Tollheit.

Das Hauptsächlichste davon bestand darin, er konnte sich nicht bereden, daß er sich in seiner eigenen Wohnung befände. Es kam ihm vor, als würde er von einem öffentlichen Platz zum andern geführt, und von seinen Wächtern im Bette festgehalten. Er flehte beständig, man sollte ihn nach seinem Logis in der .... Straße bringen. Man versprach es von Zeit zu Zeit. Man suchte ihn durch Vorzeigung seiner Bibliothek, Kupferstiche u.d.g. seines Irrthums zu überführen. Es half nichts, er hielt alles für Täuschung und Betrug.

[23]

Den Ursprung dieser Einbildung leitet der V. von einer wirklichen örtlichen Veränderung seiner gewöhnlichen Schlafstätte, während seiner Krankheit her, in Verbindung mit einer Schwäche des Gesichts, die ihn gleich zu Anfange seiner Krankheit überfallen, und ihn verhinderte, sich durch die Gegenwart der in seinem Zimmer befindlichen Gegenstände von seiner Einbildung los zu reissen.

Die zweite während seiner Raserei herrschende Phantasie war, daß er alle Menschen, selbst seine besten Freunde, die am meisten seine Wiederherstellung wünschten, und sich um seine Wartung beeiferten, für seine ärgsten Feinde hielt, deren Handlungen er von der schlechtesten Seite beurtheilte.


74-78.

Ein junges Mädchen war mit einer Krankheit behaftet, welche die Engländer Louping nennen. Es ist eine Art von Raserei, welche die Kranken im Schlafe ergreift, und macht daß sie springen und rennen, als ob sie besessen wären.

Der Paroxysmus ergriff sie allemal bei Tageszeit zu Morgens, nachdem sie schon einige Stunden außer Bette war. Sie verfiel alsdann in eine Art des Schlafs mit verschlossenen Augen.

[24]

In diesem Zustande sprang sie mit erstaunenswürdiger Behendigkeit, lief mit größerer Schnelligkeit, als sie beim Wohlbefinden thun konnte.

Das Laufen geschahe allemal nach irgend einem bestimmten Orte in der Nachbarschaft, mit unveränderter Richtung.

Oft sagte sie, wenn sie den Paroxysmus herannahen fühlte, sie wolle nach diesem Orte gehen, war sie nun an dem Orte ihrer Bestimmung angelangt, so kam sie in derselben sichern Richtung zurück, ob sie sich gleich nicht immer auf der großen Landstraße hielt, sondern häufig einen nähern Weg querfeld ein lief; und ungeachtet dieser Fußsteig oft sehr rauh war, so fiel sie doch niemals.

Wenn sie bei Annäherung des Paroxysmus sagte, sie wolle nach diesem oder jenem Orte laufen, so pflegte sie dabei zu erzählen, es habe ihr die Nacht vorher geträumt, sie solle dahin laufen, und ohnerachtet man ihr zuweilen von irgend einem bestimmten Orte, wegen einiger Gefahr abrieth, so wollte sie doch diesen und keinen andern Weg laufen.

Nach dem Erwachen pflegte sie sich sehr schwach zu fühlen, kam aber bald wieder zu Kräften. Wurde sie aber im Laufen gehindert, so befand sie sich viel kränker.

War sie nun zu sich selbst gekommen, so hatte sie nicht die geringste Erinnerung von dem, was während ihres Schlafs vorgefallen war.

[25]

Einige Zeit ehe die Krankheit sie verließ, träumte ihr, wie sie erzählte, das Wasser eines benachbarten Brunnens Tropfbrunnen genannt, werde sie heilen. Diesem zufolge, trank sie in reichem Maße davon, sowohl in als außer dem Paroxysmus.

Reichte man ihr während des Paroxysmus anderes Wasser, so stieß sie es mit Widerwillen von sich. Brachte man ihr hingegen das Wasser aus diesem Brunnen, so trank sie es sehr gierig mit immer verschlossenen Augen.

Vor ihrem letzten Paroxysmus sagte sie: nun habe sie gerade noch drei Sprünge zu machen, und dann wolle sie weiter weder springen noch laufen.

Diesem zufolge, nachdem sie in ihren gewöhnlichen Schlaf gefallen war, sprang sie auf das Gesimse des Kamins, und wieder herunter. Dies that sie dreimal, hielt drauf Wort, und sprang niemals wieder.


78-82.

Einer Frauensperson von sehr lebhaftem Temperament und feuriger Einbildungskraft, von sehr feinem Nervenbau und folglich sehr empfindsam, ist im Jahre .... Monat .... ein Kind, das sie ungemein zärtlich liebte, durch den Tod entrissen worden.

[26]

Schon damals sagte sie, daß sie dies Kind nicht lang überleben würde; auf folgendes Jahr würde sie in eben diesem Monat wieder entbunden werden, und in diesen Sechswochen würde sie sterben.

Ihr Mann suchte ihr dieses aus dem Gemüthe zu bringen. Es gelang ihm aber nicht.

Hierauf ward sie wirklich im folgenden Jahre in diesem Monat, ja an diesem Tage, an welchem ihr Kind voriges Jahr gestorben war, entbunden.

Sie versicherte noch immer daß sie gewiß sterben würde, und auf Befragen, woher sie dieses wisse? antwortete sie, sie könne es zwar nicht sagen, doch aber sey ihr das gar wohl erinnerlich, daß schon am Sterbetage ihres vorigen Kindes, welches nun ein Jahr sey, dieser Gedanke ihr sehr lebhaft geworden wäre. Aller ihr gemachten Hofnung zur Genesung ungeachtet, blieb sie bei diesem Gedanken fest. Sie starb wirklich in dem darauf folgenden Monat.


[27]
Drittes Stück. Seelenkrankheitskunde.

III. 28-32.

Eine Frauensperson von der Herrnhutischen Brüdergemeine, entleibte sich selbst aus einem aufs höchste gestiegenen Religionsenthusiasmus.

Ein Tagebuch der Brüdergemeine, welches Denksprüche aus der heiligen Schrift auf jeden Tag im Jahre enthält, fand sich aufgeschlagen, nahe bei dem Bette der Verstorbenen. Der Tag den sie zur Ausführung ihres Vorhabens gewählt hat, war ein großer Festtag dieser Brüdergemeine.

Vor ihrem Tode rief sie auf eine sehr feierliche Art mit immerfort gefalteten Händen, aus: In deine Wunden mein Heiland — Ja? — ja!

Die Seitenwunde die sie sich beibrachte, war wahrscheinlicherweise eine Nachahmung der Seitenwunde des Heilands.


[28]
IV. 32-40.

Aufsätze eines Selbstmörders, die unmittelbar vor der That geschrieben worden sind, und worin er die Bewegungsgründe seines Selbstmordes zu rechtfertigen sucht.


Zur Seelennaturkunde.
I. 46-75.
Erklärung der No. III. erzählten psychologischen Erscheinungen.

Bei jeder äußerlichen willkührlichen Handlung geschieht eine Art von Uebergang aus der Seelenwelt in die körperliche. Die körperliche Veränderung erfolgt aus dem vorgestellten Bewegungsgrund der Seele. Die Vorstellung des Zwecks ist die Ursache, und die, zur Erreichung desselben erforderliche Bewegung die Wirkung.

Was während diesem Uebergange aus dem Geistigen in das Materielle noch geistig ist, kann [29]die wirksame Idee (im Gegensatze der blos spekulativen Ideen, die sich nicht über das Gehirn und die Empfindungsnerven erstrecken, ohne auf die Bewegungsnerven Einfluß zu haben), und was davon in die Materie zuerst übergeht, organischer Anstoß genannt werden. Die wirksame Idee erzeugt den organischen Anstoß, den Anfang der Bewegung, die sich nach den Gesetzen der Bewegung alsdann in der Materie weiter fortsetzt, und zum Ziele führt.

Ist eine freiwillige oder willkührliche Bewegung aus mehreren einfachen zusammengesetzt; so wird eine Folge von organischen Stößen a b c d mit einer, ihr entsprechenden Reihe von wirksamen Ideen A B C D gleichförmig fortrücken, dergestalt daß in dem ersten Augenblicke der Veränderung die Idee A, das aus der Vorstellung des begehrlichen Guten entspringende Bestreben, nach demselben das größte Moment der Wirksamkeit haben, und den organischen Stoß a hervorbringen wird. In dem zweiten Augenblick wird die Vorstellung B an Wirksamkeit das größte seyn, und den Stoß b verursachen u.s.w., bis die Absicht erreicht wird.

Dieses geschieht anfangs bei ungeübten Handlungen kraft des Vorsatzes, mit vollem Bewustseyn, gleichsam unmittelbar auf Befehl der Seele; wie wenn man schreiben oder auf einem Instrument [30]spielen lernt. Nach öfterer Wiederhohlung dieser Handlung aber entsteht eine solche Verbindung zwischen den Ideen sowohl, als zwischen den organischen Stößen, daß sie sich einander, wie die Glieder einer Kette, nachziehen, sobald das erste Glied fortgezogen wird. Alsdann ist das deutliche Bewustseyn bei jeder einzelnen Handlung nicht mehr nöthig. Das Bewustseyn des Vorsatzes im ganzen erzeugt die erste wirksame Idee; diese die ihr entsprechende organische Regung. Alles Uebrige erfolgt von selbst, nach dem Gesetze der Ideenassociation, als Wirkung der Seele, aber ohne Bewustseyn. Das anfängliche Bewustseyn nimmt bis zum völligen Verschwinden, nach dem Gesetze der Thätigkeit, nach und nach ab; ohne daß deswegen die Handlung selbst der Seele entzogen wird.

Dieses kann im Allgemeinen so ausgedrückt werden:

Wenn x und y veränderliche Grade vorstellen, und wir bemerken, daß Ax und By unter mancherlei Ab- und Zunahme von x und y, in Kausalverbindung stehen, so muß diese Kausalverbindung nicht aufhören, wenn auch x oder y oder beide = 0 werden.

Es ist eine Anwendung der, in der Algebra so nützlichen Fluxionsmethode auf die unausgedehnte [31]Größe, die in der Philosophie mit gutem Nutzen gebraucht werden kann.

So läßt sich z.B. durch diese Methode beweisen, daß die Seele im tiefsten Schlafe nicht aufhöre, Vorstellungen zu haben u.s.w.

Gewohnte und geübte Handlungen, worin wir einige Fertigkeit erlangt haben, können wir verrichten, und zugleich etwas anderes deutlich denken; d.h. wir können eine Reihe von wirksamen Ideen fortsetzen, und die ihnen gemäßen organischen Veränderungen hervorbringen, indem wir eine heterogene Reihe von unwirksamen Ideen mit den Gedanken verfolgen, deren wir uns bewust sind; ja wir können neben einer Reihe von unwirksamen Vorstellungen mehr als eine Reihe von wirksamen Ideen verfolgen, auf mehr als ein Organ des Körpers zugleich wirken, ohne daß sich diese verschiedenen Reihen einander hemmen oder verwirren.

So kann ein Musikus z.B. auf einem Instrument mit beiden Händen und Füßen spielen, und zugleich etwas anders denken und sprechen. Auf solche Art kann die Seele viele Reihen von wirksamen Ideen zugleich durchsehen, und neben denselben eine heterogene Reihe von deutlichen Gedanken verfolgen, ohne sie zu verwirren.

[32]

Es ist aber unglaublich, daß sie mehr als eine Reihe von unwirksamen Begriffen zugleich haben, d.h. mehr als eine Kette von deutlichen Gedanken auf einmal führen kann, ohne sie zu verwirren.

So oft wir verschiedene Reihen von wirksamen Ideen mit einer von deutlichen Begriffen verbinden sollen, muß keine einzige Vorstellung eintreten, die durch ihre Stärke oder ihr Interesse, die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Sobald dieses geschieht, wird die Wirkung der Ideenverbindung gehemmt, die Handlung unterbrochen, bis sich die Seele sammelt, und kraft des deutlich bewusten Vorsatzes wiederum den ersten Stoß giebt. Einen solchen Zustand nennt man Zerstreuung, wenn man nehmlich durch fremde angelegentliche Vorstellungen, verhindert wird, eine sonst gewohnte Handlung in gehöriger Ordnung zu verrichten, wenn man nicht Gegenwart des Geistes besitzt.

Hieraus läßt sich erklären, warum gewisse Handlungen niemals besser von statten gehen, als wenn sie mit einiger Geschwindigkeit verrichtet werden; hauptsächlich in den Fällen, wo die zusammengesetzte Handlung ein stetiges Ganze ausmachen soll, wie z.B. in den schönen Künsten. Durch die Schnelligkeit wird alsdann verhütet, daß keine fremde Idee sich einschleiche, und den Zusam-[33]menhang der wirksamen Begriffe, so wie der organischen Regungen unterbreche, indem das öftere Ablassen und Ansetzen der willkührlichen Handlung ihr das Ansehen der Aengstlichkeit giebt, welches Misfallen erregt.

Ferner müssen auch nie zwei wirksame Ideen zusammenstoßen, die auf eben dasselbe Organ wirken, und Verrichtungen verschiedener Art hervorzubringen bemüht sind; woraus eine Unbestimmtheit der Wirkung, die wir in Rücksicht auf die Sprachorgane Stottern nennen, entspringt.

Dieser Fehler ist mehr psychologisch als mechanisch oder organisch, aus folgenden Gründen.

1) In Affekt sind wir mehr oder weniger diesem Fehler unterworfen.

2) Man ist demselben in einer fremden Sprache mehr ausgesetzt, als in der Muttersprache.

3) Mehr wenn jemand zugegen ist, vor dem wir uns scheuen, diese Schwachheit merken zu lassen.

4) Am wenigsten aber, wenn man allein ist, laut und langsam spricht oder singt.

5) Wenn der Stotternde zu sprechen fortfahren will, so wiederholt er einige bereits ausgesprochene Sylben, um gleichsam auszuholen, und fährt mit der äußersten Geschwindigkeit über die schwierige Sylbe, sehr oft ohne Anstoß hinweg. Zuweilen muß die Operation zu diesem Behuf wie-[34]derholt werden. Dieses alles läßt sich aus dem Vorhergehenden psychologisch erklären.

Gesetzt es trete in der Reihe der wirksamen Ideen A B C D u.s.w. an die Stelle von D eine fremde auf eben dasselbe Organ wirksame Idee K ein, die mit D gleiches Moment hat, so wird ein Hin- und Herschwanken zwischen D und K entstehen, und anstatt des organischen Stoßes D kann K erfolgen, oder gar ein Stocken im Sprechen entstehen.

Die fremde Idee ist zuweilen aus einer ganz andern Reihe. Mehrentheils aber scheint sie eine spätere Idee zu seyn, die der Stotternde antizipirt. Das Stottern ist, diesem zufolge, nichts anders als eine Art von Kollision einer zweckmäßigen mit einer unzweckmäßigen Idee, welche beide auf die Sprachwerkzeuge zugleich wirken wollen, und fast gleiche Momente der Kraft haben. Dieses geschieht besonders in einer Gemüthsbewegung.

Eben so verhält es sich auch mit Erlernung einer fremden Sprache.

Beim langsamen sprechen oder singen wirkt die Seele weniger nach dunklen Ideenreihen und Fertigkeiten, als durch Aufmerksamkeit und Vorsatz; sie kann daher weniger von einer fremden unzweckmäßigen Vorstellung in Verwirrung gebracht werden. Im lauten Lesen hilft noch das Gehör mit zur Fixirung der Seele auf die zweckmäßigen Vorstellungen.

[35]

Das Schwanken und Taumeln der Berauschten und Fieberhaften, das Zittern der Alten und Schwächlichen, so wie auch Schwindel hat mit dem Stottern viel Aehnliches, und läßt sich auf eben die Art erklären. Nun zur Erklärung des vorgelegten psychologischen Phänomens.

Dieser berühmte Gelehrte erzählt von sich: er habe zu eben der Zeit in geschwinder abwechselnder Folge, viele Leute sprechen, vielerlei Kleinigkeiten schreiben müssen, »wobei die Gegenstände fast durchgehends von sehr unähnlicher Art waren.« Es entstunden in ihm also verschiedene Ideenreihen, die zugleich auf die Organe des Sprechens und Schreibens wirksam waren. Diese mußten sich einander durchkreuzen und in Verwirrung bringen, je mehr die Aufmerksamkeit immer auf etwas anders gestoßen ward. Besonders bei einem Manne, der zu anhaltenden bündigen Betrachtungen gewohnt ist, und dergleichen geringfügige Geschäfte mit Unlust zu verrichten pflegt. Seine Aufmerksamkeit wurde durch die große und ungewohnte Vertheilung geschwächt, und zuletzt so betäubt, daß sie sich nicht mehr vom Bewustseyn des Vorsatzes lenken ließ.

Die Seele dieses Selbstbeobachters konnte, wie aus seiner Erzählung erhellt, in Ansehung der spekulativen Ideen, ihre Funktion ohne Fehler und Verwirrung verrichten. Nicht aber die Funktion der wirksamen Ideen die in die Gliedmaße des [36]Schreibens und Sprechens wirken, und die ihnen gemäßen körperlichen Veränderungen hervorbringen sollten.

Hier hatten sich mancherlei unzweckmäßige Ideen dermaßen gehäuft, und die gedachte Verwirrung verursacht.

Die Aufmerksamkeit, so weit als es angieng, zu sammeln, und auf die geläufigen spekulativen Ideen zu richten, war eben nicht das beste Mittel wider diese Verwirrung, die nicht die spekulativen, sondern die wirksamen Ideen betraf. Alles übrige läßt sich aus dem vorhergehenden leicht erklären.

Anmerkung.

Dieser Aufsatz, der mit sehr vielem Scharfsinn und einer diesem Verfasser eigenthümlichen Eleganz des Stils abgefaßt worden ist, verdiente gewiß ganz gelesen zu werden. Ich stimme in der Erklärung des vorgelegten psychologischen Phänomens vollkommen überein, und bemerke nur so viel:

Der V. legt seiner Erklärung die aus der Erfahrung bekannte Verbindung von Seele und Körper, als Faktum, zum Grunde, ohne sich in die neuern Hypothesen über die Art dieser Verbindung einzulassen, (S. 48.) und hierin hat er vollkommen Recht. Aber diesem zufolge, sollte er auch die Substantialität der Seele als Individuum und ihr fortdauerndes Wirken, wenn auch ohne Bewustseyn, (50-51) die in der That auch [37]nichts anders als eine Hypothese der neuern ist, ganz unberührt lassen.

Nach der Hypothese der Alten von der Weltseele ist die Seele als Individuum keine Substanz. Die allgemeine Weltseele äußert sich in jeder individuellen Organisation auf eine individuelle Art. Hört diese Organisation völlig auf, (wie im Tode) oder fehlt es ihr an der zur Aeusserung der Seelenwirkung erforderlichen Spannung (wie im Schlafe, Ohnmacht u.d.g.) so hört auch das Daseyn der Seele als Individuum auf.

Zur Erklärung psychologischer Erscheinungen ist es hinlänglich, wenn man besondere psychologische Erscheinungen den allgemeinen Gesetzen subsumirt. Diese Gesetze aber betreffen blos die Wirkungsart der Seele während sie wirkt, und lassen die Dauer dieser Wirkung ganz unbestimmt.

Ich habe schon (Streifereien im Gebiete der Philosophie über die Progressen der Philosophie) das Ungegründete, ja das Widersinnige in der Lehre der dunklen Vorstellungen, die die Neuern als Lückenbüßer der Seelensubstantialität gebrauchen, genugsam gezeigt.

Man kann allerdings die Methoden der Fluxion, der Interpolation u.d.g. in der Philosophie mit Nutzen gebrauchen, wie ich (ibid.) gezeigt habe. Nur muß man nicht vergessen, daß es bloße Methoden, d.h. nützliche Fiktionen sind. Das unendlich Kleine ist so wenig in der [38] Philosophie als in der Mathematik ein reelles Objekt, sondern blos eine Grenzidee. Aber hier ist der Ort nicht, mich hierüber weitläuftiger einzulassen. (Siehe am gedachten Orte.) S. M.


II. 7-82.

Der Taubstumme, wovon No. I. gesprochen worden ist, hatte sogar Religionsbegriffe von Gott und Christo, und selbst religiöse und andächtige Empfindungen.

Er bezeigte einen großen Haß gegen die Juden, weil sie, wie er durch Zeichen zu erkennen gab, Christum gekreuzigt haben, und daher vom Teufel in die Hölle werden geworfen werden.

Der Lehrer wollte untersuchen, ob er wohl einen Begriff von Sünde habe. Zu dieser Absicht zeichnete er ihm ein Kruzifix aufs Papier vor, mit Attributen, womit der Taubstumme den Teufel vorstellte. Sein Abscheu darüber war ganz unbeschreiblich. Er sah seinen Lehrer starr und mit Entsetzen an, und indem er auf denselben wies und einen Bart bezeichnete, äußerte er, daß dieser selbst ein Jude oder noch schlimmer seyn möchte; und zweifelte sehr an dessen Seligkeit.

Er hielt zugleich den Selbstmord für eine große Sünde, und mehreres dergleichen.

Er hatte zugleich viele abergläubische Begriffe von Hexen u.d.g.

[39]

Auch hatte er einen sehr richtigen Kalender im Kopfe, und konnte die vornehmsten Festtage bei ihrem Eintritt bezeichnen.

Er konnte auch an dem Standpunkte der Sonne die Tagszeit mit Genauigkeit angeben.


III. 82-102.
Nachrichten von der mit Erfolg gebrauchten Lehrart bei einer Taubstummen.

Zweiten Bandes erstes Stück.
III. 16-18.

Ein Soldat, der sich sonst gut aufgeführt hat, bekam auf einmal ein Ahndungsgefühl, das ihn veranlaßte um Urlaub anzuhalten, um seine Mutter (die sich außer dem Orte, wo er zu Garnison lag, befand) aufs Schleunigste zu besuchen.

Da es nun kurz vor der Revüe war, und also dieses Gesuch ihm abgeschlagen werden mußte, so drohte er, daß wenn man ihm dieses nicht gutwillig zugestehe, er es mit Gewalt durchsetzen wolle. Man achtete auf seine Drohung nichts.

Gegen Mitternacht unterdeß unternahm dieser Mensch seine Desertion wirklich. Weder Wälle noch Graben, noch die vielen Schildwachen, die damals, wegen der häufigen Desertionen scharfe Patronen gehabt haben sollen, konnten ihn abschrecken.

[40]

Er wurde gleich von der ersten Schildwache entdeckt. Dies störte ihn unterdeß nicht, und unter dem Feuer von beinahe dreißig Posten, kam er dennoch glücklich aus den Festungswerken heraus.

Er lief, so zu sagen, in einem Athem nach Hause, wo er erst gegen Tage ankam.

Hier fand er ganz wider Vermuthen die Hausthür offen, und als er oben in die Stube trat, waren zwei Spitzbuben beschäftigt, seine Mutter zu knebeln.

Bei seinem Anblick ergriffen sie die Flucht, und ließen die bereits zusammengepackten Sachen zurück.

Nachdem er auf diese Weise seine Mutter von der ihr drohenden Gefahr gerettet hatte, fand er sich wieder von selbst beim Regimente ein, wo er, wegen des sonderbaren Zufalls mit einer gelinden Strafe davon kam.


IV. 18-19.

Ein Rekrut beim .... Bataillon der eines von ihm begangenen Diebstahls wegen bestraft werden sollte, gestand beim Verhör, daß ohne durch Noth oder Liederlichkeit dazu angetrieben zu werden, er einen unwiderstehlichen Hang zum Stehlen habe.

Der Paroxysmus überfällt ihn gewöhnlich mit Zittern und entsetzlicher Angst, und er wird nicht eher ruhig, bis er etwas, es mag ihm nutzen oder nicht, genommen habe. Oft ergreift er in dieser [41]Angst Töpfe und andere zerbrechliche Dinge, die er denn in Stücken zerschmeißt und sodann ruhig wird. Noch ein Beispiel dieser Art. ebend.


VII. 54-59.

Ein Sattlerbursche, der nach einem Schnitt in die Finger, zur Erlernung dieser Profession untüchtig, und also das für ihn von seinem Vater vorausgezahlte Lehrgeld, von seinem Meister auf eine unrechtmäßige Weise erhalten worden zu seyn glaubt, geräth auf den Einfall, seinen Meister um so viel zu bestehlen, als sein Vater für ihn ausgezahlt hat, um es demselben wieder zuzustellen. Da er aber fürchtete, es diesem geradezu zu wissen zu thun, so schmiß er das Geld auf den Weg, wo er wuste, daß sein Vater gehen, und dasselbe gewiß finden würde. Der Vater faßte Verdacht, entdeckte diesen Vorfall dem Meister, und so wurde nach untersuchten Umständen alles entdeckt.


VIII. 60-64.

Ein Soldat, der seine Frau und seine Kinder, die er bei seiner Anwerbung hatte verlassen müssen, sehr zärtlich liebte, gerieth auf den sonderbaren Einfall, sich selbst zu kastriren, damit er als zum Dienste untüchtig, wieder nach Hause kommen, und mit seiner Frau und Kinder leben dürfte. —


[42]
IX. 64-69.

Eine Frau von melancholischem Temperament und schwärmerischer Gemüthsart, bekam, durch einige misverstandene Stellen aus dem Gesangbuch und der heiligen Schrift, verleitet, eine unüberwindliche Sehnsucht nach dem Tode. Sie verfiel darüber von Zeit zu Zeit in eine Art von Raserei, wider welche alle Bemühungen ihrer Freunde und des ihr zuredenden Predigers fruchtlos waren, bis endlich ein tüchtiger Arzt durch ganz andere Mittel, sie von dieser Krankheit befreiet hat.


X. 69-70.

Ein Knabe von etwa neun Jahren verfiel, nachdem er von einer überstandenen Nervenkrankheit genesen war, in eine Art von Schlafsucht, daß er auch bei Tage, er mochte stehen oder sitzen, unversehens einschlief, und überhaupt weit mehr Zeit schlafend als wachend zubrachte.

Man konnte mit ihm im Schlafe sprechen, und ob er gleich die Augen zu hatte, so nannte er doch auf Befragen, die Sachen die man ihm vorhielt.

Bei seinem Erwachen wuste er von dem allem nichts, was man mit ihm im Schlafe gesprochen hatte. Man konnte aber mit ihm von andern Sachen sprechen, bald schlief er wieder ein, und dann konnte man den Faden der Unterredung, die man vorher im Schlafe mit ihm geführt, fortsetzen.

[43]

Erwachte er wieder, so wuste er abermal nichts vom Gespräche im Schlafe, sondern nur von dem was man vorher im Wachen mit ihm gesprochen hatte; und wechselte es mit ihm darin ab, so daß es schiene als habe er zwei von einander unabhängige Seelen; eine für den Schlaf und eine für den Zustand des Wachens.

Dieser Zustand dauerte ein Vierteljahr. Nach Verlauf eines Jahres ließ sich wiederum die Nervenkrankheit spüren, wovon er aber durch einen gewaltigen Schreck völlig hergestellt wurde.


Zur Seelennaturkunde.
I. 71-72.

Ein Mann, der in seinem dreizehnten Jahre durch einen Zufall ins Wasser gefallen, und wäre nicht schleunige Hülfe gekommen, dem Ertrinken sehr nahe gewesen, glaubte von dieser Zeit an, so oft er zu Selbstbetrachtung kam, durch vorerwehnten Zufall wirklich ertrunken zu seyn, keinen Körper mehr zu haben, und hielt denselben und die ihn betreffenden Empfindungen für bloße Erinnerungen aus dem vorigen Leben.

[44]

Dieses alles zu einer Zeit, wo er noch von den skeptischen und idealistischen Vorstellungsarten gar nichts wuste.

Diese Täuschung währte drei Jahre lang, bis er, nachdem er den Ort seines Aufenthalts verändert, und in ganz neue Situationen gerieth, davon los geworden ist.


II. 72-75.

Ein Zwillingsohn eines .... dessen Bruder zur Zeit dieser Begebenheit schon längst gestorben war, klagte über ein halbes Jahr lang über öftere Kopfschmerzen. Dieses hinderte aber nicht, daß er nicht sein erlerntes Handwerk und andere häusliche Geschäfte abwarten sollte.

Den letzten Sonntag vor seinem Ende geht er spazieren, kommt auf den Kirchhof, geht bei seines Bruders Grab, welcher vor sieben Jahre gestorben ist, und sagt zu seinen ihn begleitenden Freunden: »auf künftigen Sonntag könnt ihr mich auch hieher tragen.«

In dieser Woche nahmen die Kopfschmerzen zu, er arbeitete aber noch die Woche auf dem Gestelle bis auf den Freitag.

Nachdem er an diesem Tage des Morgens aufgestanden, läßt er sich das Bette in die Stube bringen, deklarirt gegen jedermann, daß er morgen Abend um zehn Uhr sterben werde; verlangt das [45]heilige Abendmahl, und verhielt sich dabei ganz ordentlich und vernünftig.

Die folgende Nacht hindurch bringt er mit unterbrochenem Schlummer zu. Beim Erwachen sagte er, er wäre bei den Engeln im Himmel gewesen, und als er das Blasen der Musikanten in der Nachbarschaft hörte, versicherte er, die Engel im Himmel machten viel schönere Musik.

Den Sonnabend gerieth er in ein offenbares Delirium.

Den Nachmittag nimmt er von seinen Freunden und Bekannten Abschied, und läßt Träger, die er namhaft macht, bestellen, die ihn zu Grabe tragen sollen.

Endlich des Abends um zehn Uhr geräth er in eine völlige Wuth. Dieses dauerte mit einiger Remission, bis über drei Stunden fort, worauf er unbemerkt verschied.

Er ist an eben dem Tage gestorben, an welchem sein Bruder sieben Jahr vorher sein Leben geendigt hat.

Nach seinem Tode hat man in einem Kleiderschrank von ihm eingeschrieben gefunden, er werde nach drei Jahren an eben dem Tage, und um die Zeit sterben, da sein Bruder gestorben wäre.


[46]
Zweites Stück zur Seelenkrankheitskunde.
II. 14-16.

Eine Magd aus einem Dorte wurde nach einem, eine kleine Stunde davon entlegenem Orte geschickt, um Fleisch einzukaufen.

Sie verrichtete ihren Auftrag, und trat den Rückweg gesund an.

Auf einmal kam es ihr vor, als ob es gewaltig hinter ihr rausche, wie das Rauschen vieler Wagen, und mitten in demselben Gerausch tritt ein kleines graues Männchen in Kindesgröße neben sie, und fordert von ihr, daß sie mit ihm gehen solle.

Sie antwortet nichts, und geht ihren Weg fort. Die kleine Figur verfolgte sie mit seiner Aufforderung beständig, bis sie in den Hof ihrer Herrschaft anlangte, und als der Kutscher sie fragte, wo sie gewesen sey, erhielt er von ihr die gehörige Antwort. Er sieht ihren kleinen Begleiter nicht, sie aber sieht ihn, und hört noch an der Schloßbrücke zum letztenmale seine Aufforderung mitzugehen; und da sie sich noch immer weigerte, die Drohung, daß sie vier Tage blind und stumm seyn sollte, und damit geht das Männchen seiner Wege.

[47]

Die Magd eilt aufs Schloß in ihr Schlafgemach, wirft sich aufs Bette, und kann Mund und Augen nicht mehr öffnen.

Sie wird da aufgesucht. Man weiß nicht was ihr begegnet. Sie verstand alles, was mit ihr geredet wurde, und suchte besonders ihre lamentirende Mutter durch Zeichen zu beruhigen, konnte aber nicht sprechen.

Man wandte alle nur erdenkliche Mittel zu ihrer Wiederherstellung an. Aber ohne Erfolg. Nach Verlauf von vier Tagen aber steht sie wieder auf, ist gesund, sieht und spricht wie zuvor, und erzählt ihre Begebenheit selbst.


III. 16-17.

Wird von einem Manne erzählt, der ein solches Ahndungsvermögen besaß, daß er einem Menschen aus dem Gesichte lesen konnte, ob er bald und plötzlich sterben werde.


VII. 66-72.
Schreiben des Herrn Direktor Heinicke an den Abbe l'Epee. Ueber die Lehrart der Taubstummen.

Der V. habe die Lehrart des Abbe's (durch Schriftzeichen) schon längst vorher ehe dieser seine Institution bekannt machte, aber ohne Erfolg bei den Taubstummen angewandt.

[48]

Die Taubstummen lernen zwar auf eine mühsame Art, mit schriftlichen Wörtern Begriffe zu verbinden, diese Wörter aber samt manchen Begriffen, die sie bezeichnen, verschwinden bei ihnen leicht, und gehen in Vergessenheit über.

Der Grund davon liegt in der Irregularität der mannigfaltigen Abwechselung in der Zusammenfügung der Wörter.

Es ist falsch, wenn man glaubt, der Sinn des Gesichts vertrete durch Schriftsprache, bei den Taubstummen, den Sinn des Gehörs. Durchs Gesicht erlangen wir zwar Vorstellungen von Farben und Gestalten, die wir nachher auch abwesend, in unserer Einbildungskraft darstellen können. Worte hingegen, obschon sie sich aufs Papier darstellen lassen, können doch nicht deswegen in Abwesenheit von uns vorgestellt werden, und kaum können wir einzelne Buchstaben in uns mit Stetigkeit vorstellen.

Es kann ein jeder leicht den Versuch machen, ob er irgend ein schriftliches Wort, z.B. Paris, wenn er von dessen Ton abstrahirt, in seiner Einbildung vorstellen kann? Er wird es gewiß nicht können. Er wird zwar bei diesem Versuche, einen Buchstab nach dem andern gaukelnd und neblicht zu diesem oder jenem Worte, nicht aber ein ganzes Wort lesbar darstellen können. Weil schriftliche Worte, wegen ihrer Irregularität, unmittelbar empfunden, nicht aber in Abwesenheit vorgestellt [49]werden können. Der Taubstumme, ehe er eine Schriftsprache lernt, denkt durch allerlei sinnliche von ihm anerkannte Zeichen von sinnlichen Gegenständen und in die Augen fallenden Handlungen. Nachher lernte er auch durch Analogie aus der sinnlichen in die intellektuelle Welt übergehen. Erlernt er nun eine Schriftsprache, so ist sie, nicht wie bei uns die Kopie der Tonsprache und des dadurch bezeichneten Gegenstandes zugleich, sondern bloß eine charakteristische Bedeutung von diesem. Er kann diesen Gegenstand, auch in seiner Abwesenheit durch das gegenwärtige ihn bezeichnende schriftliche Wort, nicht aber das Wort selbst, wenn es nicht gegenwärtig ist, denken.

Nimmt man dem Taubstummen die geschriebenen Zeichen weg, so behält er nichts mehr als die von ihm selbst gewählten bildlichen Zeichen.

Eben die große Fertigkeit pantomimisch zu denken, macht, daß er die Schriftsprache vernachläßigt.

Wir andern denken durch die Tonsprache, die Gegenstände selbst schweben uns dunkel vor.

Um also diesen Mängeln in der Lehrart der Taubstummen abzuhelfen, gerieth der V. auf eine neue Methode, nehmlich die Taubstummen sprechen, und laut lesen (durch Nachahmung der Mundsbewegungen) zu lehren.


[50]
VIII. 73-82. und drittes Stück 73-81.
Antwort des Herrn Abbe l'Epee auf das vorige Schreiben.

Der V. tadelt die Lehrart des Herrn Direktor Heinicke (welche, wie er behauptet, mit der Methode des Perriere übereinstimmt) weil dieser Lehrart zufolge, die ganze lange Zeit die die Taubstummen auf die mechanische Erlernung der Sprache verwenden müssen, für ihren Verstand verloren geht.

Die Methode des V. ist weit natürlicher, indem die frühsten Lehrer der Jugend, Ammenwärter u.s.w. sich, ohne den Nutzen davon einzusehen, derselben bedienen. Sie begnügen sich nicht mit der Benennung der Dinge, sondern sie bedienen sich zugleich noch anderer sichtbarer Zeichen.

Die Taubstummen lernen mit dem geschriebenen Alphabet zugleich ihr Handalphabet. Sie bringen ihre Finger in verschiedene Lagen, die mit den geschriebenen Buchstaben einige Aehnlichkeit haben.

Das Buchstabiren geschieht nicht durch einen Laut der Stimme, sondern durch eine Folge dieser abwechselnden Lagen. Man schreibe z.B. das Wort Fenster und lasse den Taubstummen seine Augen darauf richten. Dieser bedient sich sogleich der Handzeichen, womit er jeden einzelnen Buch-[51]stab andeutet, dieses wiederholet er einigemal, so daß er seine Augen auf das Wort richtet, und alle die Buchstaben in ihrer Ordnung bezeichnet. Alsdann kehrt er die Augen von dem Worte weg, und bezeichnet dieselben Buchstaben in derselben Ordnung durch seine Daktylologie. Darauf muß er wieder dieses Wort, ohne es vor sich geschrieben zu haben, von seinem Handalphabet in das gewöhnliche Alphabet abschreiben.

Gegen die Behauptung, daß die Gestalt der Buchstaben nicht ausgezeichnet genug ist, um unwandelbare Vorstellungen in der Einbildungskraft zurück zu lassen, beruft sich der V. auf die Erfahrung, indem die Taubstummen in einer sehr kurzen Zeit, die einzelnen Buchstaben, auf Befragen, auch in Abwesenheit des Geschriebenen, durch ihr Handalphabet darzustellen lernen.

Die geschriebenen Buchstaben sind freilich schwer im Gedächtniß zu behalten, wenn man sie an sich abstrahirt von dem Grunde, worauf sie geschrieben sind, betrachtet. Nimmt man hingegen diesen zu Hülfe, so befördert die beständige Abwechselung der Farben (das Schwarze der Buchstaben mit dem Weißen des Grundes) ihren Eindruck in der Einbildungskraft.

Es ist nicht an dem, daß wir immer in der uns geläufigen Tonsprache denken. Wir denken sehr oft ohne alle Sprache, die Einbildungskraft reicht uns eine Menge Vorstellungen dar, wozu wir [52]gar keine Namen haben, auch fallen uns oft Gegenstände bei, ohne daß wir uns auf ihre Namen besinnen können.

Die Taubstummen sollen auch nicht durch die Methode des V. alle Wörter einer Sprache erlernen, sondern nur die nothwendigsten derselben.

Durch Hülfe der Daktylologie allein können die Taubstummen zwar lesen und schreiben, nicht aber die Bedeutung der Wörter verstehen lernen. Zu diesem Behuf sind die methodischen Zeichen (Bewegungen und Mienen) unentbehrlich. Diese sind keiner besondern Sprache eigen. Sie bezeichnen keine Wörter oder Buchstaben, sondern Ideen. Dahingegen die Daktylologie zur Bezeichnung der nomina propria, welche durch methodische Zeichen nicht ausgedrückt werden können, brauchbar ist.

Eben diese methodischen Zeichen müssen einer zu erfindenden allgemeinen Sprache zum Grunde gelegt werden; die jede Nation in ihre Muttersprache leicht übertragen kann. Die Verschiedenheit der Wortfolge in verschiedenen Sprachen thut hier nichts zur Sache, indem hier nicht aus einer besondern Sprache in eine andere, sondern aus der allgemeinen (Ideenbezeichnenden) in eine jede besondere übersetzt wird, und so auch umgekehrt.


[53]
Zweites Stück. 81-93.

Der V. macht seine Beobachtungen und Bemerkungen über das Taubstummeninstitut in ... H. St. lehrte die Taubstummen nach der Methode des l'Epee durch methodische Zeichen sprechen.

Er hat dreierlei Zeichen. 1) Für einzelne Buchstaben. 2) Für Worte und die dadurch angezeigten Begriffe. 3) Für grammatische Bestimmungen der Worte.

Die Zeichen der sinnlichen Begriffe von Sachen und Handlungen sind die dargestellten Sachen und Handlungen selbst. Die Lehrlinge haben auch eine besondere Fertigkeit im Lesen, d.h. die, den Schriftzeichen entsprechende, pantomimische Zeichen mit allen grammatischen Bestimmungen zu machen. Auch im Schreiben, d.h. die pantomimischen Zeichen in Schriftzeichen überzutragen.

Der V. zweifelt aber, ob sie auch die, durch diese Zeichen zu bezeichnenden Begriffe hatten? Besonders wenn es gar zu abstrakte Begriffe sind. Die Zeichen der nichtsinnlichen mit den sinnlichen analogischen Begriffen, führen eine unvermeidliche Zweideutigkeit mit sich; indem es in besondern Fällen zweifelhaft bleibt, ob dadurch die sinnlichen selbst, oder die ihnen analogischen nichtsinnlichen Begriffe angedeutet werden? Auch muß die Art sich durch methodische Zeichen auszudrücken wegen [54]Veränderung der Wortfolge, Mangel der Artikel, Hülfswörter u.s.w. sehr unvollkommen seyn.

Der V. muthmaßt, daß die Fertigkeit im Schreiben mit aller grammatischen Sprachrichtigkeit, keineswegs eine Folge der damit verknüpften Gedanken, sondern bloß die Folge eines guten Gedächtnisses ist, welches das Geschriebene, so wie es dasselbe erhalten hat, treulich wieder darstellt, weil es sonst nicht so grammatischrichtig hätte ausfallen können.

Anmerkung.

Die Zweifel, die der V. hier äußert, betreffen nicht mehr die Lehrart der Taubstummen als die Lehrart aller Kinder überhaupt.

Laßt uns sehen, wie lernt ein Kind sprechen? Das bloße Aussprechen einzelner Töne und ganzer Wörter lernt es durch das Nachahmen. Die Bedeutung der Wörter lernt es durch Darstellung der Gegenstände selbst bei ihrer Benennung. So lernt es z.B. die Bedeutung des Worts Brod dadurch, daß man zu wiederholten malen dieses Wort ausspricht, indem man zugleich auf das gegenwärtige Brod hinweist.

Wie lernt es aber die Bedeutung solcher Worte, deren Gegenstände nicht sinnlich darstellbar sind? Wie lernt es z.B. die Bedeutung des Wortes Verstand. Es hat zwar hierin einen Vorzug vor dem Taubstummen, daß es das Wort nach- [55] sprechen, in Ansehung der Bedeutung hingegen befindet es sich mit diesem in eben denselben Umständen. Man spreche das Wort Verstand aus, und ztige dabei z.B. auf den Kopf (als den fühlbaren Sitz des Verstandes) das Wort Kopf muß in diesem Falle, als die Benennung des dadurch bezeichneten Theil unsers Körpers, dem Kinde schon bekannt seyn, weil es sonst glauben könnte, daß das Wort Verstand, indem man dabei auf den Kopf zeigt, diesen körperlichen Theil bedeutet. Nun aber denkt es, Verstand kann nicht diesen körperlichen Theil bedeuten, weil dieser schon einmal Kopf heißt, sondern etwas was mit demselben in irgend einer Beziehung steht. Da es aber mehrere Dinge seyn können, die mit dem Kopfe in irgend einer Beziehung stehen, und mehrere Arten dieser Beziehung, so muß das Kind sie alle in seiner Einbildungskraft die Musterung passiren lassen, und alle die Dinge und Beziehungsarten, deren Namen ihm schon bekannt sind, als solche, die das Wort Verstand nicht bedeuten kann, verwerfen, und nur auf diejenige, deren Namen ihm noch unbekannt sind, seine Aufmerksamkeit richten. Dieses läßt noch immer eine Vieldeutigkeit zurück, bis es endlich so viel von der Sprache erlernt hat, daß es gewiß seyn kann, daß dieses Wort nichts anders als dieses Vermögen bedeutet. (Freilich kann das Kind nicht alles dieses deutlich denken, aber es muß doch dunkel in seiner Vorstellungskraft vorgehen.)

[56]

Warum soll nun der Taubstumme nicht auf eben die Art die richtige Bedeutung der Wörter lernen? Bei ihm vertritt das geschriebene Wort die Stelle des ausgesprochenen. Das eine ist so gut ein willkührliches Zeichen als das andere. Man schreibt ihm das Wort Verstand auf, und nachdem er Lesen, d.h. die pantomimischen Zeichen die der Lehrer anfangs mit diesem geschriebenen Worte verknüpft (z.B. das Zeigen auf die Stirn) in seine Einbildungskraft zurückzurufen, gelernt hat, so wird er auch wissen, daß dieses geschriebene Wort nichts anders als das Denkensvermögen bedeuten kann, weil er für alle andere Sachen, die mit eben diesen pantomimischen Zeichen angedeutet werden können, schon andere geschriebene Wörter erlernt hat.

Das Ungrammatische in der Wortfolge u.s.w. kann bei dem Taubstummen so wenig als bei irgend einem andern der eine Sprache lernt, ein Beweis von dem Mangel der Gedanken abgeben. Das giebt sich schon, und wird durch Nachahmung anderer die der Sprache mächtig sind, nach und nach verbessert. Sonst müßte man behaupten, daß wenn z.B. ein Anfänger der französischen Sprache viel Germanismen begeht, er ganz und gar nicht weiß, was er spricht! Der Taubstumme kann auch mit der Zeit, die grammatische Wortfolge in seiner pantomimischen Sprache, nach der grammatischen Wortfolge der Schriftsprache einzurichten lernen. [57]Anfangs aber muß ihm freilich die natürliche Wortfolge leichter seyn, als die willkührliche. Durch vieles Beobachten auf die Wortfolge im Schreiben lernt er auch sie im Lesen beobachten. Nicht bloß Kinder und Taubstumme, sondern auch Erwachsene, die ihre Muttersprache in völligem Besitz haben, gerathen dennoch in Ansehung der zu sehr abstrakten und komponirten Worte nicht selten in Mißverständnisse und Vieldeutigkeit, die nur durch Bemühung der Philosophen, nach und nach gehoben werden können, wenn nicht diese selbst nicht selten, eben durch ihre an sich sehr löblichen Bemühungen die Worte richtig zu bestimmen, neue Misverständnisse veranlaßt hätten. Doch davon bei einer andern Gelegenheit!

S. Maimon


Nachtrag zur Seelenkrankheitskunde.
I. 83.

Eine besondere Art Krankheit, worin die mit dem Nachtwandeln ähnlichen Erscheinungen vorkommen.


[58]
II. 99-101.

Verschiedene Beispiele von einem Ahndungsgefühl.


Drittes Stück.
118-121.

Abermal Beispiele eines Ahndungsgefühls.


Dritten Bandes erstes Stück.
IV. 47-56.

Ein Mann von sehr gesunden Leibeskräften und heiterm Gemüth, ahndete seinen bevorstehenden Tod vier Wochen vorher, und sprach davon sehr oft.

Seinem Freunde, der ohngefähr eine Viertelmeile von ihm wohnte, träumte einst: er würde von den Kindern seines Freundes gerufen, um sie bei ihrem harten Schicksal aufzurichten, da sie in Gesellschaft ihres Vaters nach ..... gereist, und an .... durch die scheugewordene Pferde umgeworfen, ihr Vater mit dem Kopfe an einen am Wege stehenden Fichtenbaum geschlagen, ihn zerschmettert, und ohne einen Laut von sich zu geben, todt liegen geblieben sey.

Dieser Traum wurde aufs genaueste erfüllt.


V. 56-74.

Wird die Nichtigkeit des Ahndungsvermögens mit nichtigen Gründen bewiesen. Der V. leitet [59]die diesem Vermögen zugeschriebenen Wirkungen aus dem Temperament und dem Zufalle ab. Von der Wirkung selbst aber führt er zwei unbezweifelte Fakta an.

Anmerkung.

Daß z.B. ein Mensch von melancholischem Temperament leicht auf traurige Ahndungen verfällt, ist sehr natürlich. Es ist aber hier die Frage nicht, wie der Mensch auf solche Gedanken verfällt? sondern, wie es kommt, daß die Naturbegebenheiten, die nach nothwendigen Gesetzen folgen, und keinesweges von dem Temperament dieses Menschen abhängen können, mit seinen melancholischen Gedanken zutreffen?

Treffen also diese beständig zu, wie man in diesem Magazin Beispiele genug davon antrift, so ist dieses nicht mehr eine Wirkung des Zufalls.

Es wäre freilich übereilt, deswegen ein Ahndungsvermögen anzunehmen. Nur alsdann wird ein neues Vermögen angenommen, wenn eine besondere Wirkungsart, nach besondern Gesetzen, entdeckt wird. Die Ahndungsgesetze sind noch unbekannt. Wir wissen noch nicht von welcher Beschaffenheit die Personen sind die Ahndungen haben, und in welchem Verhältniß sie mit den andern, von denen sie Ahndungen haben, seyn müssen? Die Behauptung eines Ahndungsvermögens will für jetzt nichts mehr sagen, als: Es giebt unbezwei-[60]felte Fakta von Personen, deren Ahndungen genau eintreffen.

Auf der andern Seite ist es auch eitel, Fakta, die sich, alle Umstände genau untersucht, aus den bekannten Gesetzen nicht erklären lassen, dennoch in dieselben hineinzwingen zu wollen.

S. M.


II. 88-89.

Ein junger Studirender sollte einen Gedanken in zwei griechischen Versen ausdrücken. Aber es wollte ihm nicht gelingen. Er schläft an einem Abend unter der Bemühung, diese Verse herauszubringen, ein. Steht in der Nacht auf, schreibt die zwei Verse nieder, und läßt sie auf seinem Schreibetisch liegen.

Nach dem Erwachen wuste er von nichts was in der Nacht geschehen ist, setzte sich aufs neue, an den herauszubringenden Versen zu arbeiten, aber mit nicht besserm Erfolg als bisher.

Endlich findet er diese von ihm selbst aufgeschriebenen Verse, wuste aber nicht, woher sie gekommen waren, bis ihm seine Aufwärterin (die ihm des Nachts hatte Licht bringen müssen) den Vorfall erzählt hatte.


Zweites Stück.
I. 1-14.

J. Varmeier, ein gelehrter Mann, der aber schon von seiner frühesten Jugend an zur Me-[61]lancholie geneigt, worin er durch verdrüßliche Zufälle noch immer tiefer gerathen war, erwachte einst um zwölf Uhr in der Nacht mit dem Gedanken, an das betrübte Kriegeswesen, und daß Gott den Obristen von .... durch einen schleunigen Tod von dieser Welt absondern wolle, mit einem grausamen Antrieb, den er für eine besondere göttliche Eingebung hielt, daß jene That durch ihn geschehen sollte.

Die Lesung der heiligen Schrift, besonders des Buchs Judith, vermehrte noch seinen Enthusiasmus und bestimmte ihn den Obristen (den er mit Holofernes verglich) zu ermorden, welche grausame That er an ihm wirklich vollzog.


III. 58-62.

Einen jungen Menschen, der mit seinem jüngern Bruder in einem Bette schlief, überfiel einst der Gedanke, er solle diesen mit dem auf dem Tische liegenden Federmesser erstechen.

Die brüderliche Liebe kämpfte eine lange Zeit mit diesem Vorsatz. Er umarmte den so unbekümmert Schlafenden, küßte ihn, stand auf, ergriff das Messer, legte es zusammen, und verbarg es sorgfältig zwischen Bücher und Papier, legte sich wieder zu ihm nieder, umarmte ihn nochmals und — betete.

[62]

Nach und nach verschwand dieser grausame Gedanke, und die Ausführung unterblieb.


Drittes Stück.
I. 1-14.

Wird 1) von einem Manne erzählt, der die Erinnerung seines Zustandes während einer fünfwöchentlichen Krankheit aus dem Bewustseyn gänzlich verloren hatte, so daß die letzte Vorstellung, die diesem Zustande vorhergieng, die erste war, die auf denselben folgte.

2) Ein Schullehrer in .... hatte mehrere Wochen an einem hitzigen Fieber darnieder gelegen, sein Tod schien unvermeidlich. Er starb endlich nach der Meinung der Umstehenden wirklich. Man legte ihn in einer Kammer aufs Stroh. Man bestellte einen Sarg. Nachdem dieser herbeigeschaft worden war, gieng man in gedachte Kammer, um den Todten in den Sarg zu bringen. Aber wie wurde man nicht erstaunt, als man ihn völlig angezogen sein gewöhnliches Geschäfte verrichtend fand: und als man alles was mit ihm während seiner Krankheit vorgefallen war, erzählte, konnte er sich an nichts erinnern, ja nicht einmal daß er krank war. Nach einem halben Jahre erst war er im Stande, sich alles dessen zu erinnern.

3) Ein Mann hielt auf dem Gerüste eines zu erbauenden Hauses eine Rede. Das Gerüste stürzte [63]nieder, und er mit demselben. Er lag einige Tage sinn- und sprachlos. Als er wieder zu sich selbst kam, setzte er seine Rede fort, die durch den Einsturz des Gerüstes unterbrochen war.

4) Ein Professor hatte nach einer gewissen Krankheit, so wenig Besinnungskraft behalten, daß ihm selbst das Alphabet ganz fremd vorkam, und er genöthigt war, mit den Elementen der Schriftsprache wieder den Anfang zu machen, bis nach einiger Zeit alles Licht in seine Seele zurückkehrte.


II. 14-19.

Ein Mann, dessen Gedächtniß mit dem Alter sehr geschwächt wurde, hatte sich den unglücklichen Gedanken in den Kopf gesetzt, daß er geschlachtet und aus seinem Fleische Würste gemacht werden sollten, den ihm bis zu seinem Tode niemand hatte ausreden können, obschon er zuweilen die Thorheit davon selbst einsah.


III. 46-47.

Wird von einer Person erzählt, die bei dem Worte Aderlassen allemal in eine Art von Ohnmacht verfällt.


Vierten Bandes erstes Stück.
110-113.

Eine Frauensperson wurde für eine Prophetin gehalten. Sie pflegte darüber selbst zu spaßen.

[64]

Aus bloßer Gefälligkeit, nachdem sie sich genug geweigert hatte, sagte sie jemanden allerlei vor, wovon sie behauptete, es werde nie eintreffen.

Im Scherz gefodert, im Scherz gesagt, und es traf dennoch völlig ein.

Ein Landkavalier hatte sich zur Lust, jemanden zu überraschen, im Predigerrock versteckt.

Der Scherz glückte, der Mann dem es galt, verkannte ihn wirklich. Die vorerwähnte Frauensperson aber sagte: Spotten sie nicht mit dem schwarzen Rock, vielleicht kommt noch unter vier und zwanzig Stunden ein Bote, und meldet ihnen etwas, wo sie wirklich nachher einen tragen müssen. Wenn es aber geschieht, so bedeutet es eine reiche Erbschaft; auch liegt der Kranke ihrem Herzen nicht nahe, wohl aber der Frau Gemahlin, gehen sie zu ihr, um sie zu trösten.

Sie sagte es bloß um seine Lust zu dämpfen, er nimmt es auch so, nachdem er aber ins Haus tritt, findet er wirklich den Boten. Dieser meldete ihm, sein Schwager, dem noch wenige Stunden seines Lebens übrig wären, verlangte ihn zu sprechen. Der Kavalier reist, der Schwager stirbt; die Frau als die Schwester des Verstorbenen, erbt ansehnlich.

Noch eine Begebenheit von eben der Art.


[65]
Zweites Stück.
80-86.

Eine Frau von ohngefähr sechzig Jahren hat seit ihrem funfzehnten Jahre von jedem Todesfall, der sich unter ihren Bekannten und Verwandten ereignete, nicht bloß Ahndung, sondern wirkliche Erscheinung.

In ihrem funfzehnten Jahre erschien ihr ihre Großmutter an einem Nachmittag in einem Zimmer, wo sie zu gehen pflegte; sie glaubte auch es sey die Großmutter, redete sie an. Das Bild verschwand vor ihren Augen.

Einige Wochen darauf aber war die Großmutter todt, die bei der Erscheinung noch frisch und gesund war.

Von diesem Zeitpunkte an hat sie öftere Erscheinungen dieser Art gehabt, und die Erfahrung hat sie gelehrt, daß solche zuverlässig den nahen Tod der erscheinenden Personen bedeutet. Die Erscheinungen sind aber nicht immer gleich; bald erscheint die Person ganz, wie sie im Leben ist, bald erscheint ein weißes Bild von ihr.

Ein einzigesmal erschien ihr die Leiche völlig angekleidet im Sarge, von einer lebenden Bekanntin.

Es ist mit dieser Frau so weit, daß wenn jemand krank ist, man sie frägt, ob er wieder wird [66]hergestellt werden, oder nicht? Und ihre Wahrsagung ist Gewißheit.

Eine ihrer Freundinnen war gefährlich krank, die Aerzte hatten ihr schon das Leben abgesprochen. Die Geisterseherin aber behauptete, ihre Freundin würde nicht sterben, weil sie noch davon keine Erscheinung gehabt hatte.

Die Freundin wurde wirklich wieder gesund. Alle Erscheinungen die sie in der ganzen angekleideten Gestalt der Personen gehabt hat, sind ihr immer rückwärts erschienen, und die weißen Bilder, welche ihr erschienen, haben niemalen ein ordentliches Gesicht, sondern das Gesicht ist wie ein dunkler Schatten, die einzige vorhererwähnte Erscheinung von der Leiche im Sarge ausgenommen, wo sie ein deutliches kennbares Gesicht sahe.

Wenn ein Todesfall unter ihren Blutsverwandten entsteht, so hat sie öftere Erscheinungen von dem nehmlichen Bilde; bedeutet es aber einen ihrer Bekannten, so hat sie die Erscheinung nur einmal.

Doch ereignete sich einmal, daß sie den Tod eines Verwandten, der sich in P. aufhielt, nicht vorhergesehen hat.


88-91.

Ein Knabe von eilf Jahren wurde in eine lateinische Schule gegeben, wo in der Klasse, in welcher er saß, eine gewisse Rangordnung unter [67]den Schülern statt fand, die sich nach dem jedesmaligen Rufe des Fleißes und der Aufmerksamkeit richtete. Die zur Uebung aufgeworfenen Fragen wurden zuerst an den obersten, und wenn dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden u.s.w. gethan. Welcher denn die Antwort wuste, wurde über denjenigen gesetzt, der sie nicht gewust hatte.

Nun träumte diesem Knaben einsmals, er befände sich in der lateinischen Klasse. Der Lehrer warf eine Frage über den Sinn einer lateinischen Phrasis auf. Die Frage wurde diesem Knaben, der gerade der erste in der Reihe war, zuerst vorgelegt. Er konnte bei aller Mühe die er sich deswegen gab, sie nicht beantworten. Die Frage wurde also dem Folgenden vorgelegt, der sogleich den Sinn der Phrasis deutlich auseinander setzte.

Anmerkung.

Dieser Traum hat viel Aehnlichkeit mit dem prophetischen Traume in Daniel, wo es heißt:

»Daniel hatte einen Traum etc.« Mein Gemüth wurde unruhig, und meine nächtliche Erscheinung setzte mich in Schrecken. Ich näherte mich einem der Umstehenden, bat ihn um eine Erklärung und Auslegung darüber, die er mir auch gab. Diese vier großen Thiere u.s.w. (Daniel VII. 15)

S. M.


[68]
75-78.

Ein Rendant hatte das Unglück, daß ihm durch einen Bedienten eine beträchtliche Summe Kassengelder entwendet wurden. Der Thäter war plötzlich mit seinem Raube entwichen, so daß man seinen Aufenthalt nicht hatte entdecken können.

Die Zeit, da er Rechnung ablegen sollte, rückte an, das Fehlende sollte ersetzt werden, ohne daß er Hülfe zu finden wuste.

Nun träumte ihm in der einen Nacht, er möchte in die ** Straße in das ** Haus gehen. In dem Hause nun soll er zwei Treppen hinaufgehen, sich aber auf der zweiten in Acht nehmen, daß er nicht herunterfalle, und so würde er das nöthige Geld erhalten.

Am Morgen des folgenden Tages kommt einer seiner Freunde zu ihm, dem er seinen Traum erzählt, und von dem er zugleich erfährt, wer in dem bezeichneten Hause in der zweiten Etage wohne, und der ihm übrigens so unbekannt war, daß er sich nur erinnerte, ihn ein einzigmal in einer großen Gesellschaft gesehen zu haben, und da er ohnedem von Träumen nichts hielt, so vernachläßigte er es, und suchte anderwärts Hülfe; aber vergebens.

Am zweiten Tage nach seinem gehabten Traum glaubte er seiner eigenen Ruhe doch das schuldig zu seyn, zu dem Unbekannten zu gehen, besonders da er nichts zu verlieren hatte.

[69]

Er geht also in das geträumte Haus, kommt die erste Treppe glücklich hinauf, und erinnert sich der ihm gegebenen Warnung bei der zweiten Treppe.

Er gerieth wirklich, durch einen Zufall in die Gefahr, herunter zu fallen. Der Bewohner dieser Etage kam ihm entgegen, entschuldigte sich wegen der Eilfertigkeit, womit er auf ihn zulief, durch die Eilfertigkeit seiner Geschäfte.

Dieser trug ihm seine Anliegen ohne Umwege vor. Worauf jener: »warum sind sie nicht gestern gekommen? ich habe eine noch größere Summe verliehen, die ich ihnen gern gegeben hätte. Doch da sie jetzt Hülfe brauchen, so will ich denjenigen, dem ich das Geld geliehen habe, und der es jetzt nicht so nöthig hat, zu bewegen suchen, noch einige Zeit zu warten, weil ich ihm bald das noch Fehlende an der verlangten Summe geben kann.«

Dies geschahe, und der Mann ward durch seinen Traum, aus seiner Verlegenheit gerissen.

Fünften Bandes erstes Stück.
1-8.

Gründe wider das Ahndungsgefühl. 1) Streitet ein solches Gefühl mit der natürlichen Entstehungsart unsrer Empfindungen und Vorstellungen, und hebt die Identität unseres Erkenntnißvermögens durch eingeschobene Ideen, auf.

[70]
Anmerkung.

Daß ein solches Ahndungsgefühl nach unsern bisherigen Einsichten in der Natur der Seele aus den bekannten Gesetzen unsers Erkenntnißvermögens, unerklärbar ist, hat allerdings seine Richtigkeit. Woher können wir aber mit Gewißheit behaupten, daß es damit streitet? Es kann mehrere Wirkungsarten der Seele geben, die sich nur unter gewissen Umständen äußern, und die mit den uns bekannten Wirkungsarten in einem natürlichen Verhältnisse stehen. Die verschiedenen Associationsarten (der Koexistenz, der Folge u.d.g.) heben sich in ihren Wirkungen wechselseitig auf, eine jede Reihe von Ideen, die durch eine dieser Associationsarten bestimmt wird, wird durch eingeschobene Ideen aus einer andern Associationsreihe unterbrochen, ohne daß deswegen die Identität des Vorstellungsvermögens im Ganzen unterbrochen wird.

S. M.

2) Wird dieses Vermögen bei unzähligen Menschen gar nicht bemerkt; am wenigsten aber NB. bei aufgeklärten und vorurtheilsfreien Menschen.

3) Würde ein solches Vermögen mehr zu unsrer Quaal als zu unsrer Glückseligkeit beitragen.

[71]
Anmerkung.

Da dieses Vermögen sich bei sehr wenigen äußert, so stört es bloß die Glückseligkeit dieser wenigen. Ueberhaupt beweist ein teleologischer Grund nichts gegen die Möglichkeit der Sache an sich.

S. M.

4) Die meisten Ahndungen lassen sich sehr natürlich aus psychologischen Gründen erklären. Hierauf folgen einige dazu brauchbare Erklärungsarten, die aber nichts unbekanntes enthalten, daß sie hier besonders angeführt werden sollten.


55-62

Herr von .... hatte ein halbes Jahr vor seiner Krankheit und seinem Tode folgenden Traum, den er oft erzählte und schriftlich aufgesetzt hat.

Es erschien ihm im Traume ein Mann von gewöhnlicher Gestalt und Kleidung, welcher ihm sagte, er sollte sich eins von den beiden nach Gefallen von ihm ausbitten, welches er ihm auch gewähren wolle; nehmlich entweder seine vergangenen oder künftigen Schicksale sich der Reihe nach, vorgestellt zu sehen. H. von .... wählte das Erstere. Der Mann hielt ihm einen Spiegel vor, worin er die Szenen seines vergangenen Lebens, deren er sich im Wachen kaum bewust war, aufs Lebhafteste und Deutlichste erblickte, bis er zuletzt [72]durch eine sehr interessante Liebesszene aus seinem Traume erwachte.

Darauf schlief er wieder ein. Der nehmliche Mann erschien ihm noch einmal, fragte ihn, ob er mit dem, was er ihm gezeigt habe, zufrieden sey; und ob er noch einmal die Menschen, welche er in seinem Leben gekannt, zu sehen wünschte? Nachdem dieser diese Frage mit ja beantwortet, hielt ihm jener abermal einen Spiegel vor, worin er wirklich alle seine Bekannten, Lebende und Verstorbene der Reihe nach vorübergehen sahe. Mit dem Unterschiede, daß die noch lebenden Glücklichen seiner Bekannten ihn freundlich ansahen und stehen blieben, die Unglücklichen hingegen alle mit der Hand vor den Augen schnell ohne sich umzusehen, vorübergiengen. An den Verstorbenen bemerkte er gleichfalls diesen Unterschied.

Jetzt wachte er zum zweitenmal auf. Er gieng aus dem Bette, um sich zu zerstreuen. Gegen drei Uhr Morgens legte er sich etwas beruhigt abermal nieder.

Er fieng an im Traume über seinen vorigen Traum nachzudenken, und verfertigte im Schlafe ein recht hübsches Gedicht darüber, welches er auch zugleich in Musik setzte. Nach dem Erwachen schrieb er den ganzen Traum, das Gedicht und die Komposition auf.


[73]
103-105.

Ein Student in H. wurde krank. Er versicherte seinen Lehrer Pr. M. der ihn besuchte, daß er gewiß sterben würde; weil er darüber einen sonderbaren Traum gehabt hatte. Dieser wurde von ihm aufgeschrieben, und nach seinem Tode unter seinen Papieren gefunden.

Es träumte ihm nehmlich als gieng er auf dem H...schen schönen Kirchhofe spazieren, wo er die vielen Leichensteine und Epitaphien, die ihm außerordentlich gefielen, eines nach dem andern besahe, und ihre Aufschriften las; als er sich endlich entfernen wollte, stieß er auf einen Leichenstein, welcher ihm besonders auffiel. Er las nehmlich darauf seinen eigenen Vor- und Zunahmen, und sogar den Tag seines Todes angezeigt (an dem er wirklich gestorben ist) nur das Jahr seines Todes war nicht deutlich genug. Das dem Leichenstein bedeckende Moos saß gerade auf der vierten Ziffer der Jahrszahl, und indem er das Moos davon wegkratzen wollte, wachte er auf.


[74]
Drittes Stück zur Seelenkrankheitskunde.
15-18.

Ein junges Frauenzimmer hatte an einer heftigen Nervenschwäche lange krank gelegen, und war endlich allem Ansehen nach gestorben, und als man sich aller Merkmale des Todes versichert hatte, brachte man sie aus dem Zimmer, legte sie in einen Sarg, und bestimmte ihren Begräbnißtag.

Der Tag erschien, es wurden nach der Gewohnheit des Landes, Sterbelieder vor der Thüre gesungen, und als man endlich den Sarg zunageln und wegtragen wollte, gab sie von sich Zeichen des Lebens, schlug mit einem erbärmlichen kreischenden Geschrei die Augen auf, und bekam die heftigsten Konvulsionen, wovon sie durch Hülfe der Aerzte nach einigen Tagen wieder hergestellt wurde. Sie erzählte nachher von sich, es sey ihr wie im Traume vorgekommen, als ob sie wirklich gestorben wäre, und doch hat sie alles deutlich vernommen, was außer ihr während dieses Todesschlafs vorgegangen, alle Reden, die man in Ansehung ihrer geäußert, alle Handlungen, die man mit ihr vorgenommen u.s.w. Sie wurde darüber in eine un-[75]aussprechliche Seelenangst versetzt, ohne daß sie Kraft hatte, dieses zu äußern. Diese Seelenangst ist zuletzt aufs höchste gestiegen, als man die Sterbelieder zu singen und den Sarg zuzunageln angefangen hatte, und äußerte sich endlich in einer heftigen Muskelbewegung und einem kreischenden Geschrei.


18-22.

Eine Ehefrau, die sehr glücklich mit ihrem Manne lebte, wurde durch eine Reise, die dieser vornehmen mußte, auf einige Zeit von demselben getrennt. Sie tröstete sich während dieser Zeit mit den von ihrem Manne erhaltenen Briefen, und als sie einmal über der Lesung eines solchen Briefs einschlief, worin ihr Mann sie seines Wohlbefindens versicherte, wachte sie auf einmal mit einem kreischenden Geschrei auf. »Mein Mann ist dahin, sagte sie zu den Umstehenden, ich habe ihn eben sterben gesehen. Er war an einer Wasserquelle, um welche einige Bäume herum standen, sein Gesicht war todtenblaß; ein Offizier in einem blauen Kleide bemühte sich das Blut zu stillen, das aus einer großen Wunde an seiner Seite floß. »Er gab ihm darauf aus seinem Huthe zu trinken u.s.w.« Man gab sich alle mögliche Mühe sie zu beruhigen. Aber vergebens.

[76]

Als sie darauf wieder einschlief, wurde sie bald durch den nehmlichen Traum abermal erwacht, an der Wahrheit dessen Inhalts sie nun nicht mehr zweifelte. Sie verfiel darauf in ein heftiges Fieber mit Verrückung.

Während der Zeit ihrer Krankheit kam wirklich die Nachricht ein, daß ihr Gemahl unterwegs getödtet worden sey.

Einige Monate nachher gieng sie zur Messe. Nachdem diese geendigt war, fiel ihr plötzlich ein fremder Kavallier in die Augen, worauf sie ein großes Geschrei erhub und in Ohnmacht sank. Nachdem sie wieder zu sich gebracht worden war, sagte sie, sie habe diesen Kavallier für eben denjenigen erkannt, der die letzten Seufzer ihres Mannes angehört hat.

Darauf wurde dieser befragt, und es fand sich alles mit ihrem Traume übereinstimmend.


48-52.

Ein Mann, der, nachdem er mit seinem Freunde über die Unsterblichkeit der Seele lange genug disputirt, sehr unruhig zu Bette gieng, hatte folgenden Traum: Es kam ihm im Traume vor, als wäre er bettlägerig krank, und fühlte daß er sterben müsse. Endlich sahe er sich wirklich sterben. Er beweinte seinen eigenen Tod, und betrachtete mit wehmüthigem Blick seinen entseelten Leichnam. [77]Auf einmal bekam er einen Strahl der Hoffnung, daß seines Todes unerachtet, seine Seele dennoch unsterblich sei. Nicht lange darauf wurde es in seiner Seele wieder trübe, er fieng an zu zweifeln über die Unsterblichkeit. Darauf sahe er eine lichte Wolke von dem Scheitel seiner Leiche emporsteigen. Er sahe sie in die Luft zerflattern, und gerieth in eine solche Seelenangst, daß er darüber aufwachte.


Psychologische Betrachtungen über die Leidenschaften.
56-66.
Neid — Mißgunst —

Wir beneiden einen andern, wenn wir ihm gewisse Vorzüge, die er besitzt, nicht wünschen, sondern sie gern selbst besitzen möchten. Welches Letztere sonderlich der Charakter des Mißgünstigen ist.

Anmerkung.

Ich glaube dem Sprachgebrauch gemäß, gerade das Gegentheil behaupten zu können. Mißgunst bedeutet blos, daß man dem andern die Vorzüge, in deren Besitz er ist, nicht gönnt, ohne irgend einen anscheinenden Grund des Selbstinteresses (ob zwar der Psycholog diesen Grund allerdings [78]entdecken kann.) Neid hingegen bedeutet einen Wunsch, daß der andere die Vorzüge, die uns mangeln, und in deren glücklichen Besitz er ist, nicht besitzen sollte.

Hier kommt es gar nicht darauf an, wie der Neidische und Mißgünstige selbst, sondern wie andere die Vergleichung anstellen, und die Sache beurtheilen. Können sie das besondere Interesse entdecken, so nennen sie es Neid, wo nicht, so heißt es Mißgunst, welches letztere des Entgegengesetzte vom Wohlwollen ist, das gleichfalls als uninteressirt vorgestellt wird. Für den Psychologen giebt es so wenig das eine als das andere. —

S. M.

An sich ist der Wunsch des Selbstbesitzens nicht allemal mit dem Neide verbunden.

Anmerkung.

Der Wunsch des Selbstbesitzens der Vorzüge, um derentwillen man einen andern beneidet, ist freilich nicht immer im Bewustseyn mit dem Neide verbunden. Aber ohne alles Interesse überhaupt, ist so wenig Neid als Mißgunst möglich. Wie der V. nachher selbst bemerkt.>

S. M.

Der Neid, setzt eine gewisse Gleichheit oder Aehnlichkeit des Standes, der Geburt der Lebensart u.s.w. voraus. — Die übrigen Bemerkungen des V. sind von der Art, daß sie einem jeden, der [79]darüber nachdenkt, leicht in die Augen fallen. Verdienen also keine besondere Erörterung.


75-77.

Der Herzog von .... hatte im Jahre ... in der .... Nacht die Ahndung im Traume: Es würde ihm am folgenden Tage ein fürchterliches Unglück begegnen. Dieser Traum wurde genau ein Jahr nachher durch den plötzlichen Tod seiner Gemahlin erfüllt.


77-82.

Wird das solamen miseris socios habere malorum, als ein merkwürdiges psychologisches Phänomen aufgestellt, und aus der Zerstreuung, die das Gefühl des Mitleidens mit andern in uns verursacht, erklärt.

Ich halte dieses für kein sonderliches psychologisches Phänomen, und glaube, die Erklärung davon liege uns weit näher in der Erhöhung der Vorstellung unsers Unglücks durch den Kontrast in Vergleichung mit dem Glücke anderer. Sind also mehrere mit uns gleich unglücklich, so fällt dieser Kontrast weg, und dadurch wird das Gefühl unsers Unglücks erleichtert.

S. M.


[80]
93-94.

H... hatte einen Knaben, den er sehr liebte. Dieser ward krank. H... legte sich zu Bette. Um Mitternacht geschahen drei Schläge an die verschlossene Thüre seines Schlafzimmers. Ueber eine Weile abermal so viel, und da H... diesem ungeachtet, noch immer ruhig liegen blieb, geschahen wieder drei stärkere Schläge. Er stand auf, öffnete die Thüre, suchte und fand niemand. Darauf legte er sich wieder zu Bette. Zu Morgens wurde ihm der Tod seines Geliebten, der um Mitternacht erfolgt ist, gemeldet.


94-95.

Ein Mann, der in sehr schlechten Umständen lebte, befand sich einst in seinem Garten, und dachte seinem traurigen Schicksale nach. Auf einmal glaubte er eine Stimme zu hören, die sprach: »Sorge nicht, es wird dir und deiner Familie noch recht gut gehen.« Gleich nach der Zeit wurden seine Umstände wirklich verbessert, und er wurde ein recht wohlhabender Mann.


Sechsten Bandes erstes Stück.
27-31.

Wird von einem Manne, der viele Kenntnisse und einen vortreflichen Charakter besaß, er-[81]zählt, der, nachdem sein Bruder, mit dem er in Uneinigkeit lebte, ihn auf freiem Felde begegnet, und auf ihn ein Pistol losgedrückt hatte, welches aber glücklicherweise versagte, sich endlich entschloß von der Welt sich zu entfernen, und in der großen Stadt L. in Einsamkeit zu leben, und in diesem Entschlusse beharrte er auch bis ans Ende seines Lebens. Seine nach den Grundsätzen der Weisheit und Tugend gewählte Einrichtung und Lebensart ist sehr merkwürdig.


72 folg.

Ein Mann gieng mit noch etlichen guten Freunden eine Pulvermühle zu besehen. Als sie auf dem Weg waren, und sich mit mancherlei Gesprächen unterhielten, fieng dieser Mann auf einmal an in seiner Rede zu stocken, und verfiel in die tiefste Schwermuth. Seine innere Herzensangst nahm mit jedem Schritt zu. Man untersuchte, ob nicht einer unter ihnen etwas Feuerfangendes bei sich habe. Aber es fand sich nichts. Als er endlich über die Thürschwelle geschritten war, stieg seine Angst am höchsten, und er schwitzte am ganzen Leibe. Er bat die ganze Gesellschaft um Gotteswillen, sich mit ihm in möglichster Geschwindigkeit zu retiriren. Dieses geschahe.

Sie waren kaum tausend Schritte von der Mühle weg, als — sie in die Luft sprang.

[82]

Eben dieser Mann fuhr einst mit mehrern Passagieren auf der Post. Gegen Abend waren alle eingeschlafen. Die sich selbst überlassenen Pferde kamen aus dem Wege. Der Wagen war schon auf dem Punkt in einen See hinabzustürzen. Dieser Mann schlief ziemlich fest, und es kam ihm im Traume vor, als ob ihn jemand mit Gewalt rüttelte, daß er geschwind aufwachen möchte.

Er erwachte auch wirklich, und sahe die Gefahr, worin sie alle schwebten, hielt die Pferde an, und rettete sich und die ganze Gesellschaft.

Ein Student wollte nach H... reiten. Die Nacht vorher träumte ihm, daß er die Gegend bei der S... Fähre erblickte, und von einem Jäger durch den Kopf geschossen würde.

Als er nachher wirklich an die Fähre kam, erzählte er seinen Begleitern den Traum, die aber darauf nicht achteten.

Sie kamen glücklich hinüber, gelangten in H.. an, wo sie sich einige Tage aufhielten.

Sie kehrten zurück, und mußten wieder über die Fähre. Der Student blieb zu Pferde sitzen, und hinter ihm stieg ein Jäger mit einer Flinte hinein. Dieser sahe eine Elster übers Wasser fliegen, und wollte sie im Fluge schießen. Der Student, dessen Pferd etwas schüchtern war, wollte erst absteigen. Jener aber schoß zu, und sogleich sprang des Studenten Pferd in den Fluß hinein, so daß er kaum mit vieler Mühe gerettet wurde.

[83]

Ein junger Gelehrter war im Begriff nach ... auf der Post zu reisen. Zwei Offiziere, die eben den Weg zu machen gesonnen waren, boten ihm ihren bequemen Wagen an, welches Anerbieten er auch mit Freuden annahm.

Sie wollten eben in den Wagen steigen, als die Offiziere eine sichtbare Veränderung an dem mitreisenden Gelehrten wahrnahmen. Sie fragten ihn, was ihm fehlte? Er erwiederte: ich weiß nicht, wie mir ist, ich empfinde am ganzen Leibe ein Schaudern, ich kann nicht mitreisen. Er trennte sich von ihnen, und kam mit der Post glücklich über die Elbe. Die Offiziere hingegen ertranken.


78-87.

Ein sehr glaubwürdiger Mann erzählt von sich, daß als seine nunmehro selige Mutter in .... an einer Auszehrung darnieder lag, zu welcher Zeit er sieben Meilen von ihr in .... sich aufhielt, er in der Nacht .... nach ein Uhr ein Klopfen, das abwechselnd mit einem Geräusche war, in seinem Schlafzimmer hörte, und dieses Klopfen gieng im ganzen Zimmer herum.

Anfangs glaubte er, es wären Ratten oder Mäuse die dieses Geräusch verursachten, und wunderte sich über ihre vermuthliche große Menge, die er doch niemals vorher bemerkt hatte. Als es [84]aber dicht vor seinem Gesicht, das nach der Wand gekehrt war, zu klopfen anfieng, so kehrte er sich im Bette nach der andern Seite hin, und ward darauf in einer Entfernung von einem Schritte vor seinem Bette eine weiße Dunstfigur, die in einer gebückten Stellung (wie auch damals die Stellung seiner kranken Mutter war) ihm den Rücken zugekehrt hatte, und ihn mit bei Seite gedrehtem Kopfe ansahe. Er erkannte sie sogleich für die Gestalt seiner Mutter, und rief in Bestürzung: Herr Jesus, Mutter! Sie schien dies zu hören, und drehte den Kopf in dem Augenblick weiter mit einem wehmüthigen Blick zu ihm herum, und er erkannte deutlich ein violettes Band, das sie auf der Nachthaube hatte. Er fuhr aus dem Bette heraus, stand auf den Füßen, und sie war noch da. In eben dem Augenblick floh sie einige Schritte von ihm weg, er sahe auf der Stelle, wo sie verschwand, einen Feuerstrahl, der vorn spitz, hinten breit und etwa anderthalb Ellen lang war, entstehen, welcher sich in einem Dunst wie eine Wolke auflöste, immer dünner ward, bis er gänzlich verschwand.

Es war Mondschein, so daß er alles im Zimmer unterscheiden konnte.

Er hielt es für gewiß, daß seine damals kranke Mutter in dem Augenblick der Erscheinung gestorben sey. In der That lag sie, den nachher eingelaufenen Nachrichten zufolge, zu eben der Zeit ohne allen Athemzug; hatte auch damals ein violet Band [85]um ihre Nachthaube gehabt; starb aber dennoch erst sieben Wochen nach dieser Erscheinung. Der V. betheuert die Wahrheit alles dessen was er erzählt hat hoch und heilig.

Eine dieser ähnliche Erscheinung wird 87-91 erzählt.


99-126. Zweites Stück.
72-110.
Auszug aus Kardans Leben.

Seine Geburt. Er findet in der Konstellation der Gestirne, die auf seine Geburt Einfluß hatten, daß er gar leicht als ein Monstrum hatte geboren werden können, welches nur dadurch verhütet wurde, daß glücklicherweise diese Konstellation im menschlichen Zeichen zutraf.

Aus welcher Konstellation er seine Verwahrlosung (auf einige Zeit) in Absicht des männlichen Gliedes, seine lispelnde Sprache, seine schnelle und überraschende Divinationskraft herleitet. Daraus leitet er auch eine ihm eigene Verschlagenheit und Sklaverei des Gemüths, seine Handlungsart nach abgebrochenen und unerlaubten Schlüssen, sein geringes Vermögen, und daß er wenig Freunde und viele Feinde, deren größten Theil er nicht einmal dem Namen nach kennt, sein schwaches Gedächtniß, Mangel an Lebensklugheit u.s.w.

[86]

»Ich hatte, erzählte er von sich selbst, die Gewohnheit, worüber sich die meisten verwundert haben, daß, wenn ich keine Ursachen des Schmerzes hatte, ich dergleichen selbst aufsuchte. Dadurch gieng ich der Krankheit erregenden Ursache entgegen, indem ich glaubte, daß das Vergnügen in dem vorhergestillten Schmerz bestehe, und daß, wenn derselbe willkührlich sey, er auch leicht gestillt werden könne; und da ich an mir wahrnehme, daß ich niemals ohne Schmerz ganz frei seyn kann, so entsteht, wenn dies einmal geschieht, ein so beschwerlicher Gemüthsdrang in mir, der nicht heftiger seyn kann, so daß der Schmerz, oder eine Ursache des Schmerzens, vorausgesetzt, daß sie nicht schändlich und gefahrvoll ist, lange nicht so schlimm ist, als jener Drang, den ich im schmerzlosen Zustande empfinde. Daher habe ich nun Mittel mich selbst zu quälen erfunden u.s.w.«

Er strebte nach einem unsterblichen Ruhm. Er hatte keine festgesetzte Lebensart gewählt, sondern bestimmte sich hierin, der Veränderlichkeit der Dinge in dieser Welt gemäß, nach den Zeitumständen. Festen Plänen zu folgen fehlten ihm alle Hülfsmittel. Er hielt dies auch der Mühe nicht werth, da er sowohl aus astrologischen als andern Gründen nicht lange zu leben glaubte. Er überließ sich daher den Vergnügungen und der Nothwendigkeit, und handelte öfters sehr unweise.

[87]

Er war von der Disputirsucht beherrscht; grausam, starrsinnig, roh und hart, unvorsichtig und hitzig, hatte ein über seine Kräfte steigendes Verlangen zur Rache, und war geneigt ein Gefallen zu äußern, an dem was andere mißbilligen.

Er behauptete den Satz als allgemein wahr, daß unsere Natur zu allem Bösen geneigt sey. Dabei war er doch Freund der Wahrheit und Gerechtigkeit, dankbar, Verächter des Geldes und alles Kleinen oder Mittelmäßigen.

Er hatte eine überwiegende Neigung zum Nachdenken über viele äußerst wichtige und selbst unmögliche Dinge, konnte seine Aufmerksamkeit auf zwei Sachen zugleich wenden.

Er hatte die Seelenstimmung nichts zu hoffen sich zu erlangen bemüht; er kehrte sich daher nicht an das Urtheil der Welt, war launisch und veränderlich in seinem ganzen Betragen, wenig gottesfürchtig, und konnte seine Zunge nicht im Zaume halten. Welches ihn oft sehr gereuet hatte.

»Ich weiß, sagte er, daß dies einer meiner größten und sonderbarsten Fehler ist, daß ich von nichts lieber rede, als was den Zuhörern misfällt. Mit Wissen und Willen fahre ich hierin fort.«

Er liebte die Einsamkeit. Besaß die Schwäche, Sachen, an die er sich einmal gewöhnt hatte, selbst zu seinem Schaden beizubehalten.

Er war in seinem Urtheil zu schnell, faßte übereilte Rathschläge, und konnte in seinen Geschäften [88]keinen Aufschub leiden. Dieses suchten sich seine Feinde zu Nutze zu machen; und hätte er sich nicht angewöhnt, über keine Sache, die er freiwillig unternahm, wenn sie auch schlecht ablief, keine Reue zu empfinden, so wäre er sehr unglücklich gewesen.

Er war standhaft im Glück und Unglück, und suchte die größten Leiden des Gemüths durch selbstgewählte körperliche Leiden zu überwinden. Auch war er in Freundschaft beständig.

Er heirathete ein Mädchen, in welches er sich im Traume verliebt hatte.

Schon in seiner Jugend hatte er die sonderbarsten Erscheinungen im Traume. Allerhand Luftbilder schwebten ihm vor. Sehr oft sahe er auch im Traume einen Hahn, vor dem er sich fürchtete, daß er nicht einmal mit menschlicher Stimme zu reden anfangen möchte, welches auch kurz darauf zu geschehen pflegte. Es waren gemeiniglich Drohworte, deren er sich nicht mehr zu erinnern vermochte. Der Hahn hatte rothe Federn, einen rothen Kamm und Backenbart, den er wohl hundertmal gesehen hatte.

Als er zum Knaben heranwuchs, verloren sich die obigen Erscheinungen, und es traten andere an ihre Stelle, die hernach beständig blieben, obgleich, nachdem er seine Probleme geschrieben und bekannt gemacht hatte, eine jener Erscheinungen bisweilen aussen blieb. Die eine besteht darin, daß er, so oft er die Augen gen Himmel richte, den Mond [89]sehe. Die andere (die er zufälligerweise bemerkt habe) ist, daß wenn sich Leute streiten, und er dazwischen komme, kein Blut vergossen, auch keiner verwundet werde, welches er, nachdem er es an sich bemerkt hatte, als ein probates Mittel solche Uebel zu verhindern, vorsetzlich brauchte. Selbst das Wild, wenn er mit auf der Jagd ist, kann so wenig durch Schießgewehr als durch Hunde verwundet werden.

Dieser, wie Leibniz sich ausdrückt, mit allen seinen Fehlern wirklich große Mann erzählte noch mehrere dergleichen schwärmerische Grillen, die wegen ihrer zu großen Eccentricität, hier übergegangen werden müssen.

Folgende sind in psychologischem Betracht merkwürdig.

Er erzählt von sich, daß er ungefähr seit 46 Jahren von der Seite, wo von ihm gesprochen wird, ein Geräusch in seinem Ohr schallen wahrnimmt. Ist es etwas gutes, so gelangt es, es mag von der rechten oder linken Seite herkommen, in sein rechtes Ohr. Ist es etwas Böses, so ist das Geräusch tumultuarisch, und kommt von der Stelle her, wo die Stimme entsteht. Er behauptet ferner, daß er durch Träume bevorstehende Dinge (33 Jahr lang) habe vorhersehen können.

»Wer, sagt Kardan, mag wohl der Mann gewesen seyn, welcher mir in meinem zwanzigsten Jahre den lateinischen Apulejus verkaufte, und [90]sogleich wieder weggieng? Ich war damals nur ein einziges mal in der (lateinischen) Schule gewesen, hatte noch gar keine Kenntnisse in dieser Sprache erlangt; hatte den Apulejus bloß deswegen gekauft, weil er vergoldet war, — und den andern Tag darauf war ich so weit in der lateinischen Sprache als ich jetzt bin, hatte auch zugleich das Griechische, Spanische und Französische mit gelernt, daß ich Bücher darin lesen konnte.«

Als er über den Tod seines Sohnes (der eines Verbrechens wegen hingerichtet wurde) sich sehr betrübte, kam ihm einmal im Schlafe vor, als hörte er eine Stimme, welche ihm zurief! Was klagst du, worüber beunruhigst du dich? über den Tod deines Sohnes? Nachdem Kardan dieses bejahet hatte, antwortete die Stimme: lege den Stein, welchen du an deinen Hals gehängt, in den Mund, und so lange du ihn darin hältst, wirst du an deinen Sohn nicht denken. Er that es, und vergaß seinen Sohn wirklich ganze anderthalb Jahr, nur wenn er zum essen oder sprechen den Mund aufthun und folglich den wohlthätigen Smaragd nicht gebrauchen konnte, wurde er bis zum Todesschweiß gequält.

Er spricht auch von einem Schutzgeist, den er gleich mehrern großen Männer gehabt haben wollte; und dem er alle die im vorhergehenden erzählten sonderbaren Zufalle zuschrieb.

[91]

Doch leugnet Kardan nicht, daß sich auch der Schutzgeist wirklich so wie die menschliche Vernunft, irren könne. Nicht zwar an sich als ein reiner Geist, sondern in so fern er auf materielle Organe wirken muß. Er führt 73 gelehrte Männer an, die in ihren Schriften seiner mit Ehren erwähnen, und selbst Skaliger sein Erzfeind nennt ihn das tiefsinnigste, glücklichste und unvergleichlichste Genie.

Drittes Stück.
34-35.

Ein 72jähriger blinder Prediger ermordete seine Frau des Nachts durch viele tödtliche Wunden, die er ihr beibrachte.

Beim Untersuchen gestand er diese von ihm prämeditirte That, die durch die Reflexion über seine elenden Umstände veranlaßt worden war, ein. Denn da er durch Alter und Blindheit zur Vorstehung seines Amts untüchtig, und also einen Adjunkt anzunehmen genöthigt war, dieser aber mit der ihm zugestandenen Hälfte des Einkommens unzufrieden, den armen Pfarrer auch in dem zu seinem Unterhalte Uebergebliebenen zu schmählern suchte, worüber dieser von seiner Frau täglich Vorwürfe hören mußte, so beschloß er durch diesen Mord sowohl seine Frau von ihrem Elend zu befreien, als durch die Hände des Gerichts sein eigenes mühvolles Leben zu beschließen.


[92]
42-44.

Eine alte Frau von beinahe siebenzig Jahren, wurde, durch einen Zufall auf einmal vom Schlage gerührt, so daß sie die Tage hindurch fast ganz einer todten Person glich. Vier Tage darauf bekam sie ihre Sprache wieder, und ernannte diejenige Personen, welche ihr das Sterbekleid anziehen, und sie, da sie bereits wirklich todt sei, in den Sarg legen sollten.

Alle Mühe, die man sich gab, sie von ihrem lächerlichen Wahn zu befreien, war vergeblich. Man mußte, um sie zu beruhigen, sie wie eine Leiche ankleiden, und auf ein Paradebette legen. Sie selbst beschäftigte sich hier so geputzt als möglich zu erscheinen. Endlich fiel sie in einen Schlaf, wo man sie alsdann wieder auskleidete, und in ihr Bette legte. Nachdem sie wieder aufgewacht war, bekam sie wieder die vorige Grille. Durch Hülfe des Arztes aber wurde sie endlich dahin gebracht, daß sie im Lande der Lebendigen zu seyn glaubte. Aber nun äußerte sie oft, daß sie in N... bei ihrer Tochter wäre, und machte zuweilen Anstalt zur Rückreise nach K... Man ließ sie die Stadt herumfahren und zurück nach Hause bringen, so daß sie wirklich glaubte von N... zurückgekehrt zu seyn. Nachher bekam sie ihren Paroxysmus alle Vierteljahr, und wunderte sich hernach allemal, wie sie wieder ins Leben zurückgekehrt sey. Während [93]der Zeit, daß sie sich todt glaubte, unterredete sie sich mit längst verstorbenen Personen, und bewirthete sie mit vieler Sorgfalt.


76-89.

Wird angemerkt, daß es zur Erklärung der Entstehungsart des Traums nicht nöthig sey, immer eine äußere dunkel empfundene Sensation vorauszusetzen; da wir aus eigener Erfahrung wissen, daß wir bisweilen im Wachen zu denken aufhören, und daß sehr oft die Seele neue Ideen gleichsam aus nichts, nach jenen Intervallen wieder hervorruft, oder durchs Gedächtniß herbeiführt, indem sie nehmlich ihre Denkkraft wieder in Bewegung setzt, oder besser, indem diese Kraft, als Seele selbst betrachtet, sich wieder zu äußern anfängt, so kann auch dies gerade der Fall im Traume seyn, u.s.w.

Anmerkung.

Daß die Seele im Wachen nach den Intervallen der Unterbrechung ohne irgend eine äußere Sensation, aus sich selbst, ihre Denkkraft aufs neue äußern soll, kann schwerlich bewiesen werden. Das Gedächtniß setzt die Wirkung der Association, und diese Ideen, womit die schon gehabten associirt werden, voraus. Sonst ist die Art, wie die Seele nach einer Unterbrechung aufs neue zu wirken anfängt, unerklärbar. Die der Seelenwirksamkeit [94]korrespondirende körperliche Intension und Remission kann selbst nicht anders als durch äußere Ursachen bestimmt werden.

S. M.

a) Sagt der V. »unter allem was mir bei Beobachtung des Traums am merkwürdigsten geschienen hat, ist mir vornehmlich dies aufgefallen — daß die Seele, ob ihr gleich auch im Traume ihre Denkkraft beiwohnt, und sich nach Gesetzen derselben so gut, wie im Wachen richten muß, bei Bildern und Vorstellungen während des Traums gleichgültig bleibt, die sie während des Wachens mit größtem Erstaunen empfinden würde u.s.w.«

Anmerkung.

Aber von welcher Art sollte dieses Erstaunen der Seele über ihre Bilder und Vorstellungen im Traume seyn? Sollte es bloß ein solches Erstaunen seyn, das man über die Unbegreiflichkeit eines Faktums äußert, ohne deswegen seine Wirklichkeit zu bezweifeln? wie z.B. der gemeine Mann die neuern Luftsegler mit Erstaunen betrachtet, so behaupte ich, daß ein solches Erstaunen allerdings auch im Traume statt findet. Ich weiß, aus eigener Beobachtung, daß wenn ich zuweilen träume, als flöge ich in die Luft, ich im Traume selber eben so darüber erstaune, als wie ich darüber erstaunen würde, wenn es im Wachen geschehen sollte. In [95]andern Fällen liegt bloß ein Mangel des Gedächtnisses zum Grunde, wenn man über ihre Sonderbarkeit nicht in Erstaunen geräth; wie wenn man träumt, in einem Orte zu seyn, und gleich darauf einen Gegenstand zu sehen, der sich in einem vieler Meilen davon entfernten Orte befindet; wo bei der Vorstellung des Gegenstandes die Vorstellung des vorigen Ortes sich aus dem Gedächtniß verliert, und also keine Vergleichung statt findet.

Versteht aber der V. darunter ein solches Erstaunen, das uns die Wirklichkeit der Vorstellungen zu bezweifeln zwingt, so ist dies eben der Fall, wo wir im Traume wissen, daß wir träumen. Der V. sagt: »Ist dies bisweilen der Fall, daß wir im Traume wissen, daß wir träumen, so geschieht es doch eigentlich nicht, weil wir durch die Ungereimtheit unsrer Hirngespinste darauf gebracht wurden, sondern weil wir uns wahrscheinlich aus dem Wachen erinnern, daß wir eine Idee vom Traume überhaupt haben.«

Ein sonderbarer Grund! weil wir uns erinnern, daß wir eine Idee vom Traume überhaupt haben, erklären wir die gegenwärtige Vorstellung für einen Traum, warum fällt uns die Idee vom Traume überhaupt, vielmehr bei diesem ungereimten als bei irgend einem andern Traum ein? Die Idee vom Traume überhaupt ist blos die conditio sine qua non, von der Möglichkeit des Prädikats in dem Satze: die gegenwärtige Vor-[96]stellung ist ein Traum, sie kann aber nicht den Grund zur Verbindung von Subjekt und Prädikat abgeben.

S. M.

Zweites Stück.
23-26.

Ein junger Geistlicher, der einen Herrn in seinen Garten begleitete, wo er niemals gewesen war, fühlte auf einem gewissen Platz einen Schauer, der am besten mit einer elektrischen Erschütterung verglichen werden kann. Nach vielen Zudringen bekannte Jener, daß ihn dieser Schauer fast immer an Orten anwandle, wo jemand begraben liegt. Bei Untersuchung fand es sich wirklich so.


Siebenter Band erstes Stück.
85-92.

Ein Seiler von dreiundzwanzig Jahren, von einem melancholischen Temperament, hatte seit drittehalb Jahren folgende Beschwerung.

Es überfiel ihn vielmals am hellen Tage ein Schlaf — mitten unter seiner Handthierung, es sey im Sitzen, Stehen oder Gehen. Sobald der Paroxysmus ankam, wurden ihm die Augen geschlossen, und der Gebrauch aller äußerlichen Sinne hörte auf. Dahingegen fieng er schlafend an, das-[97]jenige der Reihe nach zu verrichten, was er den Tag über bis auf den Augenblick des Paroxysmus verrichtet hat.


98-101.

Ein Mädchen von siebzehn Jahren war, nach einer ausgestandenen Kälte, in einen Schlaf gefallen, darin sie mit Händen allerlei Bewegungen gemacht, nachher gelächelt, und endlich laut zu lachen angefangen. Worauf bald weinende Mienen und thränende Augen wahrgenommen worden, bis sie endlich nach einer Viertelstunde wieder zu sich selbst gekommen, und von allen diesen Dingen nichts gewust.

Drei Tage nachher hat sich dieser Paroxysmus wieder eingefunden. Einige Tage darauf hat sie wegen zustoßender Mattigkeit bettlägrig werden müssen, da denn alle Tage, ja des Tages etliche mal sich obige Zufälle eingefunden. Sie machte im Schlafe allerlei Mienen, wodurch man Affekten auszudrücken pflegt; endlich hat sie zu reden angefangen, und alle ihr gethane Fragen ganz vernünftig beantwortet; wovon sie aber beim Erwachen niemals etwas gewust. Sang auch im Schlafe christliche Lieder, und wenn man mit einer Violin oder Klavier darein spielte, so hat sie die Musik und den Takt wohl beobachtet; auch wenn man ihr das Instrument gegeben, selbst gespielt. [98]Sie verrichtete auch im Schlafe feine weibliche Arbeiten, und dergleichen mehr.


117-120.

Wird von einem Nachtwandler erzählt, der Arbeiten, die er im Wachen nicht hätte verrichten können, im Schlafe aufs glücklichste bewerkstelligte. Nachdem, daß er im fünfundvierzigsten Jahre seines Alters im Schlafe zu wandern aufgehört hatte, fieng er von der Zeit an viel zu träumen. Die Träume die er hatte, waren gemeiniglich prophetisch.


123.

Wird von einem Nachtwandler erzählt, der das, was er im Schlafe verrichtet, bloß geträumt zu haben glaubte.

Zweites Stück.
26-57.

Der V. unterscheidet mit Recht Laster von bloßer Schwäche oder Temperamentsfehler. Diese haben ihren Grund in der körperlichen Disposition; jene aber in der Seele selbst. Er spricht auch von incorrigibeln Lastern, die er durch Beispiele erläutert.

[99]
Anmerkung.

In Abstrakto kann freilich Laster von Schwäche auf diese Art unterschieden werden. In Konkreto aber lassen sie sich in den mehresten Fällen sehr schwer von einander unterscheiden. Laster im Allgemeinen kann als eine freiwillige Aufhebung des freien Willens erklärt werden. Je öfter eine lasterhafte Handlung begangen wird, um desto weniger wird auch der Willen frei, sie in der Zukunft zu vermeiden. Die Freiheit des Willens nimmt, in Beziehung auf diese Handlung, mit ihrer Wiederholung beständig ab. Die Handlung wird mit der Wiederholung weniger, die handelnde Person aber mehr, lasterhaft, weil die Handlung mit jeder Wiederholung weniger frei ist, die handelnde Person aber eben wegen der freiwilligen Verminderung der Freiheit desto lasterhafter. —

S. M.


58-62.

Ein junger Geistlicher war ein Nachtwandler, stand des Nachts vom Bette auf, nahm Papier, und arbeitete geistliche Reden aus, die er zugleich aufschrieb. Wenn er eine Seite geendigt hat, las er sie von oben bis unten noch einmal laut her (mit zugeschlossenen Augen.) Wenn ihm eine Stelle in seiner Ausarbeitung nicht gefiel, so strich er sie aus, und schrieb die Verbesserung darüber.

[100]

Nahm man ihm das Papier, worauf er schrieb, weg, und legte ihm ein anderes von verschiedener Größe unter, so merkte er es. Wenn es aber dem seinigen gleich war, so hielt ers für das seinige und schrieb darauf. Er schrieb auch musikalische Noten mit vieler Genauigkeit.

Er bildete sich einsmals des Nachts mitten im Winter ein, daß er am Ufer eines Flusses spazieren gienge, und ein badendes Kind in dem Fluß hinabstürzen sähe. Er eilte dem Kinde zu Hülfe, warf sich über sein Bette in der Lage eines Schwimmenden, machte die Bewegungen des Schwimmens nach, hielt eine zusammengewickelte Decke für das zu rettende Kind, ergriff es mit der einen Hand, und bediente sich der andern zum Schwimmen ans Ufer. Hier setzte er nun das vermeintliche Kind ab, und gieng vor Kälte schaudernd und mit den Zähnen klappernd weiter, als wenn er wirklich aus einem gefrornen Flusse gestiegen wäre. Er sagte zu den Umstehenden, daß er vor Kälte beinahe erstarrt sey, und foderte ein Glas Aquavit. Da nun keines gegenwärtig war, so gab man ihm gemeines Wasser. Aber er merkte den Betrug sogleich, als er es gekostet hatte, und foderte nun mit mehrerer Lebhaftigkeit Lebenswasser, indem er sagte, er würde sonst vor Kälte sterben. Man mußte ihm ein Glas Aquavit geben. Er sagte, indem er daran roch: er befinde sich nun viel besser. Das sonderbarste aber ist, daß wenn man seine Gedanken von gewissen [101]Bildern der Phantasie abziehen wollte, man nur seine Lippen mit einer Feder bestreichen durfte, worauf er denn augenblicklich auf ganz andere Sachen verfiel.


70-77.

Ein anderer Nachtwandler; der (außer andren Merkwürdigkeiten) ein Kohlgerüchte statt des Salats aß, und Wasser in der Meinung, es sey Wein, trank.


80-87.

Eine zwanzigjährige Magd von sehr empfindlicher Natur, pflegte, sobald ihr ein Verdruß gemacht wurde, in kataleptische Zufälle zu gerathen, und fiel in eine fühllose Erstarrung. Sie blieb immer in der Stellung des Leibes, darin sie von ihrem Paroxysmus befallen wurde. Hatte sie im Treppensteigen einen Fuß gehoben nach der folgenden Stufe, so erstarrte sie auch auf einem Fuß stehend. Wenn jemand während der Zeit ihr einen Arm aufhob oder den Kopf drehte u.d.g., so blieb sie in der Stellung, so lange der Körper nicht aus seinem Gleichgewicht kam. Stand sie, und man stieß sie fort, so gieng sie nicht, sondern rückte so fort, als wenn man eine stehende Säule fortschiebt.

Sie gab kein Zeichen von Empfindung von sich. Endlich verließ sie der Zufall wieder ohne gebrauchte Hülfsmittel.

[102]

Nach einiger Zeit gesellte sich noch ein anderer Zufall dazu, der ihr mehr als funfzigmal begegnete.

Im Anfange und Ende desselben hatte sie die vorige Unbeweglichkeit und Unempfindlichkeit, aber die Zwischenzeit, welche zuweilen vom Morgen bis an den Abend währte, konnte, im Gegensatz der vorigen Erstarrung, eine Belebung heißen. Sie erstarrte nehmlich wie sonst, fünf oder sechs Minuten, nachher fieng sie an zu gähnen, richtete sich im Bette auf zum Sitzen, nachher redete sie mit einer Lebhaftigkeit und Munterkeit des Geistes, die sie außer diesem Zufalle nicht hatte, und was sie redete, hing mit dem zusammen, was sie im vorigen Zufalle geredet hatte, oder sie wiederholte von Wort zu Wort eine Catechismuslehre, die sie des Abends vorher gehört hatte, und deutete unter verdeckten Namen mit offenen Augen, die Sittenlehren zuweilen schalkhaft, so wie sie den vorigen Abend gethan hatte.

Doch wachte sie dabei nicht; wie man sich durch viele Versuche davon versichern konnte, und empfand nichts: fieng noch munterer und lebhafter zu reden an, lachte überlaut, bemühte sich aus dem Bette zu kommen, sprang endlich heraus, und machte ein Freudengeschrei, und wich dabei allen Gegenständen, die ihr im Wege standen, glücklich aus. Nachher kehrte sie wieder zu ihrem Bette, deckte sich zu, und erstarrte dann wieder, wie zu Anfange.

[103]

Als dieser Zufall einige Zeit gedauert hatte, kam sie wieder zu sich, und erkannte, daß sie ihre Zufälle gehabt hatte, wuste aber von dem allen nichts, was indessen mit ihr geschehen war. Eine geraume Zeit nachher verloren sich diese Zufälle, ohne daß man solches den gebrauchten Mitteln zuschreiben konnte. Doch war sie nachher alle Winter wieder solchen Schlafwanderungen unterworfen gewesen, ohne mit den damit verknüpften Erstarrungen befallen zu seyn.

Sie war einmal auf einer Brücke von ihrem Zufall befallen worden, und man hörte sie reden mit ihrem Bilde, das sie im Wasser erblickt hatte, u.d.g.


87-90.

Ein Frauenzimmer wurde von den Blattern a kurirt, und bekam darauf konvulsivische Zufälle. Diese zu heben, brauchte sie kalte Bäder. Sie verlor darauf das Gesicht, dann auch das Gehör und die Sprache.

Bei ihrer Blindheit und Taubheit wurde ihr Gefühl und Geruch so zärtlich, daß sie Farben dadurch unterscheiden konnte, und es empfand, wenn ein Fremder ins Zimmer kam. Man konnte mit ihr nur durch das Gefühl sprechen. Man mußte ihre Finger berühren, wenn man mit ihr sprechen wollte. Sie erkannte die Gegenwart der Fremden, ihrer [104]nachherigen Aussage nach, aus dem Gerüche. Sie hatte während dieser Zeit viele weibliche Arbeiten mit der größten Genauigkeit verfertigt. Auch geschrieben, und, wenn sie einen Buchstaben ausgelassen, ihn über das Wort, wo er hingehört, mit gehöriger Anzeigung gesetzt.

Drittes Stück.
12-14.

Ein gelehrter Mann hatte, nach einem ausgestandenen hitzigen Fieber, die Aussprache des Buchstabens F vergessen, so daß er an dessen Stelle den Buchstaben Z substituirte. Nachdem er aber darauf aufmerksam gemacht wurde, kam er nach und nach wieder zur gehörigen Aussprache zurück.

Ein Student hatte nach einem hitzigen Fieber, nicht nur alles vergessen, was er während seines halbjährigen akademischen Lebens gelernt hatte, sondern es war ihm sogar unbewust geworden, daß er in ... ein halbes Jahr gelebt, und Umgang mit den Personen, mit denen er täglich in Gesellschaft gewesen war, gehabt hatte. Er äußerte auch eine anhaltende Verstandschwäche.

Von seinen Jünglingsjahren wußte er sich noch manches zu erinnern. Nichts aber von seinem akademischen Leben.

Ein Geistlicher hatte, nachdem er von einem Anfall des Schlags kurirt worden, alles dasjenige [105]vergessen, was in den letzten vier Jahren vorgegangen war. Was aber vor dieser Zeit vorgegangen, wuste er recht wohl. Nach und nach erhielt er das Verlorengegangene wieder.


77-78.

Ein ziemlich einfältiger Mensch, dem man einen Dienst angetragen hat, wobei er nichts zu thun hatte, als bloß seinen Namen zu unterschreiben, erzählte einst, indem er zeigen wollte, wie viel Arbeit er habe, daß er seinen Namen in einem Morgen so oft geschrieben, daß er ihn am Ende vergessen hätte.

Anmerkung.

Diese Erzählung ist in doppelter Rücksicht psychologisch merkwürdig. Ist sie wahr, so ist es ein merkwürdiges Phänomen, daß eine Vorstellung, durch viele Wiederholung dem Gedächtniß eingeprägt, durch gar zu viele Wiederholung gänzlich vergessen werden kann! woraus man sieht, daß das Wiederholen als Bedingung des Gedächtnisses nicht ins Unendliche gehen, sondern ein Maximum haben muß. Ist sie aber von diesem Manne, bloß um mit seiner vielen Arbeit zu prahlen, erdichtet, so muß er doch (da er es im ganzen Ernste behauptete, und es bei ihm kein witziger Vademekumeinfall war) zum wenigsten geglaubt haben, daß ein solcher Fall [106]natürlich ist. Wie mag er also darauf gerathen seyn?

S. M.


78 folg.

H... von ... ein sehr ernsthafter jedoch nicht hypochondrischer Mann, gieng des Morgens aus, um einen Besuch abzustatten. Da er nun seinen Namen melden sollte, so hatte er diesen gänzlich vergessen. Er glaubte närrisch geworden zu seyn. Er wandte sich zu einem hinter ihm herkommenden Freund: Sagen sie mir um gotteswillen, wie nenne ich mich?

Die Frau ... gerieth nach einer ausgestandenen Krankheit, in eine babylonische Sprachverwirrung. Nehmlich, wenn sie einen Stuhl begehrte, forderte sie einen Tisch, und wenn sie ein Buch haben wollte, forderte sie einen Spiegel u.d.g., und wenn man ihr das Wort, welches sie gesucht, und an dessen Statt sie ein anderes gesetzt hatte, vorsagte, konnte sie niemals dazu kommen, es zu wiederholen.

Bisweilen merkte sie selbst, daß sie die Sache unrecht nennte, ein andermal ärgerte sie sich, da sie ihren Fächer forderte, und man ihr denselben anstatt der Haube, welche sie genannt zu haben glaubte, brachte. Diese Verwirrung dauerte einige Monate lang. Sie hatte übrigens ein so getreues [107]Gedächtniß, daß sie fortfuhr, ihre Haushaltung zu besorgen, ihre Vergessenheit erstreckte sich nur auf einige Worte der Sprache.


Achter Band erstes Stück.
25-44.

Nach einem feierlichen Eingang sucht der V. die Meinung der mehresten neuern Naturforscher, und besonders des H. Büffon von der Entstehungsart der sogenannten Muttermähler zu widerlegen. H. Büffon behauptete nehmlich, daß der Fötus keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Gebärmutter habe. Diesem zufolge kann also nicht behauptet werden, daß alles, was auf die Mutter, auch auf den Fötus wirke, um daraus die Entstehungsart der Mäler herzuleiten.

H. Büffon hat viele von diesen Mälern untersucht, und jederzeit gefunden, daß es Flecke waren, die von einer Zerrüttung des Gewebes der Haut herkommen. Freilich muß es jedesmal eine gewisse Gestalt haben, die, wenn man will, mit irgend etwas Aehnlichkeit haben kann, welche aber doch nicht sowohl von der Einbildungskraft der Mutter, als von der Einbildung derer, die es sehen, abhängt.

Die Veränderung der Farbe dieser Mäler zu verschiedenen Jahrszeiten, rührt keinesweges von der Veränderung der Farbe solcher Früchte, denen [108]sie ähnlich sind, sondern beide rühren von einer und eben derselben Ursache her.

Unsere Empfindungen haben nichts Aehnliches mit den Gegenständen, durch welche sie hervorgebracht werden. Die Empfindung der Mutter konnte allenfalls eine ähnliche Empfindung, nicht aber das Bild des Gegenstandes dem Fötus eindrücken.

Warum sollte sich dieses bloß beim Menschen und nicht auch bei andern Thieren ereignen. Das Kind ist von der Mutter eben so wenig abhängig, als das Ey von der Henne.

H. Büffon schließt also, daß die heftigen Empfindungen der Mutter allerdings Veränderungen im Fötus verursachen können, daß aber die bemerkte Aehnlichkeit zwischen den Mälern und den die Empfindungen verursachenden Gegenständen bloße Einbildung sey.

Der V. hingegen behauptet, daß der Foetus allerdings mit der Gebärmutter zusammenhange, und sollte man auch diesen Zusammenhang nicht unmittelbar sinnlich entdecken können, so leitet uns doch eine analogische Schlußart darauf. »Der Zeitpunkt der Entwickelung des Keims, sagen unsre Sinne, ist, sobald als er in das Innere der Gebärmutter eingedrungen ist, da doch gewiß, nach aller Wahrscheinlichkeit, seine Entwickelung schon von Ewigkeit her angefangen, und der Keim nur dieses [109]Ortes bedurfte, um einer vollendetern Ausbildung entgegen zu gehen u.s.w.«

Anmerkung.

Der V. scheint hier, ganz unvermerkt, einen Mißgriff gethan zu haben. Die Evolutionstheorie ist seiner Hypothese von den Muttermälern bei weitem nicht so günstig, als die Theorie der Epigenesis. Denn ist der Keim von Ewigkeit her völlig gebildet, so können die Einbildungen der Mutter auf seine Bildung nicht mehr Einfluß haben. Gehet hingegen die Bildung erst nach der Zeugung vor, so ist es allerdings möglich (ob gleich unwahrscheinlich) daß die Einbildung der Mutter darauf Einfluß haben soll. Ueberhaupt halte ich die Gründe des V. für unzulänglich, die Meinung des H. Büffon zu widerlegen. Die vielen Deklamationen über die geheimnißvolle Wirkungsart der Natur können unsere Naturerkenntniß nicht erweitern, und führen bloß zur Schwärmerei. Man kann sich leicht begreiflich machen, wie die Einbildungskraft in den gedachten Mälern einige Aehnlichkeit mit Früchten u.s.w. finden könne. Es ist aber ganz unbegreiflich und wider alle Analogie der Natur, wie die Einbildungskraft nicht bloß Vorstellungen, sondern selbst die ihnen entsprechenden Gegenstände hervorbringen sollte? Die bloße Möglichkeit dieser Erklärungsart berechtigt uns nicht, jene [110]Erklärungsart, die nicht bloß möglich, sondern auch begreiflich ist, zu verwerfen.

S. M.


50-54.

Ein Knabe von vierzehn Jahren war von einer Nervenkrankheit befallen. Die heftigen konvulsivischen Bewegungen, worin er dadurch versetzt wurde, sind unbeschreiblich. Außerdem pflegte er bei heftigen Kopfschmerzen eiskalt zu werden, und mit einem unwillkührlichen in einsweg dauernden durchdringenden Gelächter, die Umstehenden zu erschrecken. Er sprach griechisch, hebräisch und noch eine Sprache, die niemand kannte, mit aller Geläufigkeit, und verband mit derselben einen Sinn, den man in jenen zwei Sprachen wohl verstand, ohne daß er mit der letztern Sprache je bekannt gewesen, und von der erstern etwas wuste.

Er ahmte oft den Thieren im Geschrei, Bewegung und andern Eigenschaften, auf eine unwiderstehliche Weise nach.

Dieser Zufall endigte sich immer mit einem epileptischen konvulsivischen Zufall.

Uebrigens hatte er alle Funktionen eines Gesunden vollkommen.

Nach drei Jahren war die Heftigkeit der Krankheit so gebrochen, daß bloß alle sechs Wochen konvulsivische Zufälle einige Tage hindurch eintrafen.

[111]

Zur Zeit des siebenjährigen Krieges lag er einst des Morgens auf seinem Bette halb schlummernd, und sahe alle die Umstände einer Schlacht mit der größten Genauigkeit, welche sich nachher auch bestätigten. Eben dieses ereignete sich mit ihm mehrere male.

Die wichtigsten Arbeiten pflegte er mit möglichster Gegenwart des Geistes, Gedächtniß und Ordnung während seiner Krankheit zu verrichten. Er verschob daher vorsätzlich die schwersten Sachen bis dahin, weil er wuste, daß sie ihm alsdann am besten von statten gehen würden.


99-103.

Musikalisches Gehör ist ein Vermögen, ein gewisses Verhältniß zwischen den Tönen wahrzunehmen, und zwar so deutlich, daß man es nachher immer richtig wieder ausser sich hervorbringen kann. Es ist in Ansehung des Gehörs dasjenige, was man in Ansehung des Sehens ein richtiges Augenmaß, und in Ansehung des Gefühls, ein feines Gefühl nennt.

Anmerkung.

Diese Erklärung ist zu weit. "Ein feines Gehör ist dasjenige, was man in Ansehung des Sehens, ein richtiges Augenmaaß, und in Ansehung des Gefühls, ein feines Gefühl nennt; und bezieht sich bloß aufs Objekt, indem es die Wahrnehmung [112]eines (nicht leicht wahrzunehmenden) Verhältnisses zwischen den Objekten an sich bedeutet. Ein musikalisches Gehör setzt nicht nur Wahrnehmung eines (feinen) Verhältnisses zwischen den Objekten, (den Tönen) sondern auch Wahrnehmung der Beziehung dieses Verhältnisses aufs Subjekt, als Ursache eines angenehmen oder unangenehmen Gefühls, voraus.

Wer ohne Hülfe eines Winkelmaaßes die Größe eines Winkels immer richtig zu bestimmen im Stande ist, hat ein richtiges Augenmaaß. Die Größe dieses Winkels kann zu irgend einem Zweck gut seyn, ist aber nicht unmittelbar angenehm oder unangenehm. Das musikalische Gehör hingegen, oder vielmehr die damit begabte Person nimmt nicht bloß das richtige Verhältniß zwischen den Tönen an sich, sondern auch das damit verknüpfte angenehme Gefühl wahr, wodurch jenes Verhältniß als richtig bestimmt wird. Das feine Gehör ist bloß Ausleger, das musikalische Gehör aber Gesetzgeber dieses richtigen Verhältnisses.

S. M.

Um sich nun von der Richtigkeit eines Verhältnisses zu überzeugen, hat man für die Größe Maaße, und für die Schwere Gewichte gefunden, und sie dadurch mehr zu Gegenständen des Verstandes gemacht. Dieses findet aber in Ansehung der Farbe, des Gefühls von hart und weich, und der Töne, nicht statt.

[113]
Anmerkung.

Auch dieses ist sehr unbestimmt. Eine extensive Größe kann unmittelbar durch einen angenommenen Maaßstab bestimmt werden. Eine intensive Größe kann zwar nicht unmittelbar, aber dennoch durch Vergleichung mit einer extensiven Größe, deren Ursache oder Wirkung sie ist, bestimmt werden.

Wie z.B. die Grade der Wärme und Kälte, Schwere und Leichtigkeit (der Luft) durch das Steigen und Fallen der Flüssigkeiten im Thermometer und Barometer, d.h. durch ihre Wirkung.

Eben so kann die Höhe und Tiefe der Töne nicht unmittelbar, aber doch vermittelst der Länge und Dicke der Saiten, d.h. durch ihre Ursachen, bestimmt werden. Das feine Gehör braucht sich freilich nicht dieses Maaßes zu bedienen. Aber eben so wenig braucht sich ein geübter Mensch des Maaßes bei extensiven Größen zu bedienen.

Das musikalische Gehör hat mit gar keiner Größe was zu thun, sondern bloß mit der Beziehung einer gegebenen Größe (eines Verhältnisses) aufs Subjekt (als angenehmes oder unangenehmes Gefühl). Die Töne können also in diesem Betracht mit keiner andern extensiven oder intensiven Größe verglichen werden.

S. M.


[114]
Zweites Stück.
1-6.

Ein Mann von vierzig Jahren war einige Zeit an der Zunge, den Händen und Füßen völlig gelähmt. Nachher wurde er so weit wieder hergestellt, daß er die Füße vollkommen brauchen konnte, auch die Hände einigermaßen; aber in Ansehung der Sprache ereignete sich folgende merkwürdige Erscheinung.

Er war schlechterdings nicht im Stande irgend ein Wort deutlich und vernehmlich hervorzubringen, weder von selbst aus eigenem Triebe, noch wenn man ihm die Worte laut und langsam vorsagte, hingegen konnte er sehr fertig lesen; so daß man kaum einen Fehler an seinen Sprachorganen bemerkte.

Der Verfasser erklärt diese merkwürdige psychologische Erscheinung auf folgende Weise. Um unsere Sprachwerkzeuge zur Hervorbringung eines Wortes in Bewegung zu setzen, ist es nothwendig, daß dessen Vorstellung vorher in unsrer Seele gegenwärtig sey. Diese Vorstellung muß einen gewissen Grad von Stärke haben, überschreitet sie denselben, so wirkt sie zu lebhaft, und es entsteht ein geschwindes undeutliches Plaudern, oder auch ein Stottern. Erreicht sie ihn nicht, so ist sie unvermögend die Würkung überhaupt hervorzubringen.

[115]
Anmerkung.

Das Plaudern betrift nicht die Aussprache der Worte an sich, sondern ihre, durch die Vorstellungen bestimmte Verbindung untereinander. Das Stottern ist nicht Würkung einer zu großen Stärke oder Lebhaftigkeit der Vorstellung von den Worten (wovon doch hier die Rede ist), sondern einer Durchkreuzung mehrer Reihen von Vorstellungen der durch die Worte auszudrückenden Sachen, so daß die Seele keine Macht über sich hat, aus allen diesen Reihen eine zweckmäßig zu wählen, und darin standhaft, mit Entfernung alles Fremdartigen, zu beharren.

S. M.

Dieser erforderliche Grad der Vorstellung kann nicht unter allen Umständen derselbe seyn, sondern muß nach der verschiedenen Beschaffenheit der Sprachorgane verschieden seyn. Nachdem diese reizbarer und beweglicher, oder stumpfer und unbeweglicher sind, wird er kleiner oder größer seyn müssen.

Anmerkung.

Aber wie kann der erhöhte Grad der Vorstellung den Mangel an Reizbarkeit der Sprachwerkzeuge ersetzen? Ist das Instrument verdorben, so mag der Musikus noch so eine lebhafte Vorstellung von den dadurch herauszubringenden Tönen haben, er wird doch keinen richtigen Ton herauszubringen [116]im Stande seyn. Die Vorstellung mag beschaffen seyn, wie sie will, so bleiben doch immer die Sprachorgane den Gesetzen der Bewegung unterworfen.

S. M.


Die Wirksamkeit der Vorstellungen hängt von ihrer Lebhaftigkeit und von ihrer Dauer ab. Die erste kommt hier nicht in Betrachtung, da es in Ansehung ihrer keine wesentliche Verschiedenheit unter den verschiedenen sinnlichen Vorstellungen giebt. In Ansehung der letztern aber findet sich ein merklicher Unterschied besonders zwischen den Vorstellungen des Gesichts und des Gehörs, indem jene von weit längerer Dauer als diese sind, woraus sich die Erklärung des gedachten Phänomens von selbst ergiebt.


97-98.

Die Schwärmerei ist eine Krankheit der Seele. Was kann wohl wahrscheinlich die Ursache seyn, warum eine Seele Wohlgefallen daran findet, sich von allem äußerlichen abzuziehen, und dagegen auf innere dunkle Empfindungen zu merken, ihren eigenen Willen zu unterdrücken, sich gänzlich hinzugeben u.s.w., als weil sie nicht genug sich ausbreiten wollende Kraft besitzt, und es ihr also weit bequemer fällt, sich hinzugeben, als anzustrengen.

[117]
Anmerkung.

Dieses kann allenfalls als der Grund einer falschen Religiosität, nicht aber als Grund der Schwärmerei betrachtet werden. Ich bin weit entfernt zu behaupten, daß die Seele des Schwärmers nicht genug, sondern behaupte vielmehr daß sie mehr als genug sich ausbreiten wollende Kraft besitzt.

Schwärmerei hat mit der Philosophie einerlei Ursprung, nämlich den Trieb nach Erweiterung der Erkenntniß, nur in der Art, wie beide diesen Trieb zu befriedigen suchen, sind sie von einander unterschieden. Die Philosophie sucht die ersten Gründe der menschlichen Erkenntniß in der Seele selbst auf, die Data zu dieser Erkenntniß aber sucht sie anderwärts zu erlangen. Die Schwärmerei hingegen sucht selbst diese Data in der Seele auf. Nicht aus Mangel an einer sich ausbreiten wollenden Kraft, sondern weil sie völlig (sowohl der Form als der Materie nach) bestimmte Erkenntniß in der Seele selbst zu finden glaubt. Da aber vor aller Erfahrung in der Seele selbst keine bestimmte Erkenntniß anzutreffen ist, so sucht die Seele des Schwärmers diesen Mangel durch allerhand Fikzionen zu ersetzen; und da sie immer Grund findet, mit diesen Fikzionen nicht völlig zufrieden zu seyn, so sucht sie immer dieselben zu verbessern und anders zu modeln; dieses kann freilich nicht anders (da es ihr an objektiver [118]Erkenntniß fehlt) als nach dunklen Empfindungen geschehen. Daher die Unterdrückung des eigenen Willens und die gänzliche Hingebung; weil die Aufmerksamkeit auf äußere Objekte des Willens die Aufmerksamkeit auf die inneren dunklen Empfindungen schwächt. Man thut dem Schwärmer unrecht, wenn man bei ihm stets Trägheit oder bösen Willen voraussetzt. Wie kann man ihm Trägheit beilegen, da seine Selbstthätigkeit ihn Erkenntniß jenseits der Gränzen der Erfahrung, aus sich selbst hervorzubringen antreibt? Und an bösen Willen ist bei einem Schwärmer als solchem gar nicht zu denken. Er ist zu ernsthaft, um andere hintergehen zu wollen (daß es auch betrogene Betrüger giebt, weiß ich recht gut, dieser sind aber sehr wenig). Er ist bloß ein mißgeleiteter Wahrheitsforscher.

S. M.


Drittes Stück.
1-7.

Eintheilung der Seelenkunde in reine und angewandte Psychologie. Sowohl die empirische als die dogmatische Methode sind jede allein in der Seelenkunde nicht zu gebrauchen, sondern die Verbindung beider durch die Methode der Induktion. In Ansehung der Menschenkenntniß sind uns alle [119]Charaktere gleich. — Unterschied zwischen den höheren und niedern Seelenvermögen. Die Wirkung dieser erfolgt in der Zeit, und ist also theilbar. Die Würkung jener hingegen ist immer eine untheilbare Einheit. Die höhern Seelenvermögen sind an sich keinen Krankheiten unterworfen, sondern bloß die niedern Seelenvermögen. — Erklärung der Seelengesundheit und Seelenkrankheit.


8-16.

Die merkwürdige Erscheinung von einem Manne, der nach einer Lähmung das gelesene nicht aber das gehörte hatte aussprechen können, wird von mir aufs neue untersucht und psychologisch erklärt. Ich zeige gegen den Verfasser dieses Aufsatzes, daß in Ansehung der Dauer einer Vorstellung kein Unterschied zwischen verschiedenen Sinnesvorstellungen, sondern bloß zwischen den verschiedenen Graden des in einer Vorstellung apprehendirten Mannigfaltigen statt finden kann, folglich dieses kein Erklärungsgrund zu dieser Erscheinung abgeben kann.

Ich schicke meiner Erklärung folgende Sätze voraus. 1) Das der ganzen Psychologie zum Grund liegende Gesetz der Assoziation überhaupt. 2) Die verschiedene Grade dieser Assoziation. 3) Der höchste Grad derselben. 4) Der Grad der Assoziation kann in den zu assoziirenden Vorstellungen [120]selbst verschieden seyn, so daß z.B. der Grad, womit a gegen b größer seyn kann, als der Grad, womit b mit a assoziirt wird. 5) Es giebt auch eine Ordnung in der Assoziation. 6) Die Vorstellung der Objekte geht der Sprache, und diese der Schrift voraus. 7) Aus 4 und 6 läßt sich erklären, warum ein Kind mit der Benennung eines Dinges immer die Vorstellung, nicht aber mit der Vorstellung immer die Benennung verknüpft. 8) Was sonst schwer zu bewerkstelligen ist, wird durch die Assoziation erleichtert.

Die Erklärung dieser Erscheinung ist also kürzlich diese: Dieser Mann, dessen Sprachwerkzeuge zum Theil gelähmt, folglich zum leichten Sprechen ungeschickt gemacht worden, mußte durch Hülfe der Assoziation dazu gebracht werden.

Nun ist aber die Vorstellung des gehörten Wortes mit gar nichts assoziirt, und sollte auch die dadurch bezeichnete Sache gegenwärtig seyn, so ist doch die Vorstellung der Sache der Vorstellung des Wortes lange vorhergegangen, folglich der Grad der Assoziation der Vorstellung des Wortes mit der Vorstellung der Sache viel geringer, als zur Hervorbringung dieser Wirkung erforderlich ist. Dahingegen die Vorstellung des geschriebenen Wortes mit der Vorstellung des gesprochenen Wortes im höchsten Grade assoziirt ist, weil diese nie ohne jene (ihr lange vorher gegangene) im Gemüthe anzutreffen war. Daher konnte bloß das gelesene, [121]nicht aber das gehörte Wort die Vorstellung von dem ausgesprochenen Worte (welche nichts anders, als die des gehörten Wortes selbst ist) in der Seele reproduziren, und also der Mangelnden Sprache aufhelfen.


17-31.

Verrückung und Traum haben mit einander folgendes gemein. 1) In diesen Zuständen werden Gedankendinge für außer uns vorhandene Dinge gehalten. 2) Haben wir oft in dem Augenblick, in dem dieser Trug geschieht, ein Bewustseyn von dem Truge. Um diese Erscheinungen zu erklären, wirft der Verfasser erstlich die Frage auf: Da alle unsere Vorstellungen Beschaffenheiten unsers denkenden Wesens sind, woher kommt es, daß wir irgend etwas als ein Ding betrachten, welches außer uns wirklich ist u.s.w.?

Anmerkung.

Aber wie sollen wir es denn betrachten? als etwas in uns? Setzt dieses nicht voraus, daß wir schon den Unterschied wissen, zwischen dem was in uns und was außer uns ist, d.h. daß wir gewisse Dinge als außer uns betrachten? Wir betrachten ein Ding als etwas, welches außer uns wirklich ist, heißt nichts anders als: wir betrachten die Vorstellung eines Dinges als etwas von unserm vorstel-[122]lenden Subjekte verschiedenes. Ob diese Vorstellung bloße Modifikation unseres Subjekts, oder auch einen Grund außer demselben hat, bleibt in dieser gemeinen Beobachtung unbestimmt, und ist ein Gegenstand philosophischer Untersuchung, die hierher gar nicht gehört.

S. M.

Das Bewußtseyn von der Folge der Vorstellungen aufeinander, nach den Gesetzen der Assoziation, macht sie zu bloßen Gedankendingen. Die Unterbrechung dieser aber ist ein Kriterium der Wirklichkeit.

Anmerkung.

Daß die Unterbrechung der nach den Gesetzen der Assoziation bestimmten Ideenfolge ein Kriterium der Wirklichkeit abgeben sollte, dem widerspricht die Beobachtung, daß wir eben durch diese Unterbrechung einen Traum für einen Traum erkennen. Die Unterbrechung ist nicht ein Kriterium der Wirklichkeit überhaupt, sondern bloß der gegenwärtigen Wirklichkeit. So lange die Vorstellungen nach den Gesetzen der Assoziation aufeinander folgen, so weiß ich, daß sie nicht gegenwärtig wirklich sind, ich halte sie aber dennoch keinesweges für bloße Gedankendinge, sondern für Vorstellungen irgend wo und irgend wann wirklicher Dinge. Wird hingegen diese Folge unterbrochen, so erkenne ich diejenige Vorstellungen, wodurch sie [123]unterbrochen sind, für Vorstellungen gegenwärtig wirklicher Dinge.

S. M.

Die Stärke der Vorstellung kann nicht immer ein sicheres Merkmal der (gegenwärtigen) Wirklichkeit abgeben. Im Schlafe ohne Traum sind die dunklen Vorstellungen der Seele im Gleichgewichte. Im Traume wird, durch einen vor dem Schlafengehen gefaßten Vorsatz oder sonst ein vorgestelltes Interesse, dieses Gleichgewicht aufgehoben u.s.w.


32-37.

Der V. wirft die Frage auf, wie ein Mensch ein Wohlgefallen daran finden kann, sich selbst zu täuschen? wie doch die tägliche Erfahrung uns häufige Beispiele davon darbietet.

Ein die Kraft übersteigender Wille zwingt den Menschen den Schein statt der Sache selbst anzunehmen. Der Stoicismus wird als dieser Neigung zum Schein entgegengesetzt angeführt.


38-50.

Erklärung von Selbsttäuschung. Täuschung überhaupt heißt die Vorstellung eines Gegenstandes für den dadurch vorgestellten Gegenstand selbst zu [124]halten. Die Verwechselung einer subjektiven Verknüpfung der Vorstellungen nach den Gesetzen der Assoziation mit einer objektiven Verbindung derselben ist die Quelle aller Täuschung.

Die Frage: ob die Sinne uns täuschen können? hat gar keine Bedeutung. Denn soll es heißen, ob die durch die Objekte in uns hervorgebrachten Empfindungen auch als solche ausser uns in den Objekten selbst anzutreffen sind? so hat die Frage gar keine Bedeutung, weil Empfindungen als solche keine Merkmale des Objekts, sondern bloß sein Verhältniß zu dem empfindenden Subjekt sind. Ist aber die Bedeutung dieser Frage diese: ob die sinnliche Merkmale der Vorstellung eines Objekts derselben wesentlich sind oder nicht? so findet hier wieder keine Täuschung der Sinne statt, weil diese uns nie berechtigen, sie für das eine oder für das andere zu halten. — Die Täuschung liegt nicht in den sinnlichen Vorstellungen an sich, sondern in dem Urtheile über ihre objektive Verknüpfung.

Täuschung und Betrug sind einander in so fern ähnlich, in wiefern in beiden die Vorstellung für den Gegenstand selbst gehalten wird. Sie sind aber von einander verschieden, in so fern ein Betrug durch seine Entdeckung vernichtet wird; Täuschung hingegen auch durch Ueberzeugung, daß sie Täuschung ist, nicht vernichtet werden kann, sondern selbst diese Ueberzeugung ist ein Bestandtheil derselben.

[125]

Die Täuschung in der Nachahmung ist durch die Natur begränzt, sie kann sich ihr immer nähern, darf sie aber nie völlig erreichen. In manchen Fällen hat sie sogar ihr Maximum, das sie nicht überschreiten darf, wenn sie gefallen soll. Dahingegen die idealische Täuschung keine Gränzen hat.

Die logische Täuschung beruht auf der Verwechselung der formellen Vorstellung eines Gegenstandes mit den reellen Merkmalen desselben.

Beim Betrug beruht das Falsche auf der unrichtigen Vorstellung sowohl von der Sache an sich, als auch in Ansehung ihrer Wirkung, bei der Täuschung aber auf der richtigen Vorstellung von der Sache an sich, aber unrichtigen Vorstellung derselben in Ansehung ihrer Wirkung.

Man kann sich keinesweges betrügen wollen, wohl aber kann man sich selbst täuschen wollen.


Neunter Band erstes Stück.
1-23.

Arzneikunde überhaupt ist ein Theil der Naturwissenschaft, kann also keine größere Evidenz als diese haben, und muß nach eben derselben Methode behandelt werden.

Kurze Darstellung einer Geschichte der Naturwissenschaft überhaupt, Pythagoreer und Platoniker, Peripatetiker, Empiriker, Mechani- [126] ker, ihre Vorzüge und Mängel. Geschichte der Arzneikunde. Methoden der Seelenarzneikunde. 1) Die Seele als ein Selbstständiges, vom Körper unabhängiges Wesen mit andern Geistern, nach den Gesetzen der Geisterwelt, in Wechselwirkung gedacht. 2) Die Seele, als kein für sich bestehendes Wesen, sondern Modifikation des Körpers gedacht. 3) Das dualistische System. Die Würkung der höhern Seelenkräfte und des freien Willens ist von den Bedingungen der Sinnlichkeit unabhängig. Die Seelengesundheit bestehet in der ungehinderten Würksamkeit der höheren Seelenkräfte und des freien Willens. Die Seelenkrankheit, in der durch unrichtigen Gebrauch der niedern Seelenkräfte, gehinderten Würksamkeit derselben. Die Kurmethode der Seelenkrankheit bestehet in der Wiederherstellung dieses richtigen Gebrauchs. Vergleichung der verschiedenen Theilen der Seelenarzneikunde, mit den verschiedenen Theilen der Körperarzneikunde.

Anmerkung.

Durch diese Erklärung der Seelengesundheit und Seelenkrankheit glaube ich den Umfang der Seelenarzneikunde genau bestimmt zu haben. Dieser Erklärung zufolge müssen alle sogenannte Seelenkrankheiten, die in dem Zustande des Körpers ihren Grund haben, obschon sie mit den eigentlichen Seelenkrankheiten noch so viel Aehnlichkeit haben, [127]von der Seelenarzneikunde ausgeschlossen werden, indem sie in der That Körperkrankheiten sind, und als solche behandelt werden müssen. Eben so können angebohrne Schwächen der Seelenkräfte so wenig, als angebohrne Blindheit oder ein Buckel, Gegenstände der Arzneikunde überhaupt seyn. Also nur diejenigen Unvollkommenheiten der Seelenkräfte, welche so wenig angebohren, als durch den Zustand des Körpers verursacht, sondern in einem zur Gewohnheit gewordenen unrichtigen Gebrauch der niedern Seelenkräfte gegründet sind, können Seelenkrankheiten genannt werden.

Diejenigen Moralisten und Psychologen, die auf diesen Unterschied keine Rücksicht nehmen, und selbst solche Seelenkrankheiten, die in dem veränderten Zustand des Körpers ihren Grund haben durch ihre geistigen Mittel zu kuriren glauben, machen es hierin ungefähr wie die alten Hebräer, bei denen es heißt: »Wer mit Krätze geplagt ist, soll zum Priester gebracht werden.« Ach nein! Er soll lieber zum Arzt gebracht werden.

S. M.


70-88.

Merkmale des Traums. 1) Unregelmäßigkeit in der Folge der Vorstellungen aufeinander, die wenn sie an Ungereimtheit gränzt, selbst im Traume zum Bewußtseyn gelangen kann. 2) Das [128]Ausbleiben der Wirkungen aus ihren im Traume vorgestellten Ursachen. 3) Der körperliche Zustand des Schlafens.

Die psychologische Ursache des Traumes ist eine, durch die Würksamkeit der Sinne nicht unterbrochene Würksamkeit der Einbildungskraft.

Im Traume ist die Assoziationsart nicht nach einer Regel bestimmt; es kreuzen sich darin mehrere Assoziationsarten durch.

Das Nachtwandeln ist ein höherer Grad des Traumes. In beiden geräth der Mensch einigermaßen außer sich; weil das Selbstbewußtseyn auf der Selbstmacht Ideenreihen nach Willkühr fortzusetzen oder abzubrechen, und mit andern zu vertauschen beruhet, welche im Traume gänzlich mangelt. Die Assoziation im Traume und sonderlich im Nachtwandeln ist in Ansehung der herrschenden Ideenreihe weit stärker und vollständiger als im Wachen; woraus verschiedene Erscheinungen dieser Zustände erklärt werden können. Die Unterbrechung einer objektiven, in der Erfahrung gegründeten Assoziationsreihe, ist ein Merkmal der Nichtwirklichkeit der Vorstellung außer uns. Es giebt dreierlei Assoziationsarten: 1) der Kontiguität, 2) der Aehnlichkeit, 3) der Dependenz.

Die Assoziationsart der Kontiguität, wenn sie ihren höchsten Grad erlangt hat (wenn die zu assoziirenden Vorstellungen beständig in dieser Kontiguität sind) giebt ein Merkmal der Wirklichkeit; [129]so wie die Unterbrechung dieser Assoziationsreihe ein Merkmal der Nichtwirklichkeit ab. Die Assoziationsart der Aehnlichkeit hingegen kann uns auf keine Wirklichkeit führen. Sie ist bloß idealisch (obgleich objektiv).

Die Assoziationsart der Dependenz ist entweder bloß logisch (als Grund und Folge) oder real (als Ursache und Würkung). Jene führt uns mehr auf die Existenz unsrer selbst, als auf die der äußern Objekte. Mit dieser aber ist es gerade umgekehrt. So wie das unwillkürliche Unterbrechen einer in der Erfahrung gegründeten Assoziationsreihe ein Merkmal des Traumes ist, so ist die willkürliche (zweckmäßige) Unterbrechung oder Fortsetzung einer Assoziationsreihe ein Merkmal des Wachens. Das Nichtunterbrechen aber an sich läßt dieses unbestimmt. Das Prinzip der Moral (die Freiheit des Willens) ist also zugleich das Kriterium des vollständigen Selbstdaseyns. Die Visionen sind von dreierlei Art: 1) simple, 2) allegorische, 3) symbolische u.s.w.


89-96.

Die menschliche Vollkommenheit, und folglich auch Glückseligkeit, bestehet in einer gleichmäßigen Ausübung aller Seelenkräfte zugleich. Der (praktische) Verstand ist das, den Willen bestimmende Resultat, welches aus Zusammenneh-[130]mung und Vergleichung aller möglichen Gefühle entspringt. Eine Untugend oder Sünde bestehet in der Weglassung irgend eines Gefühls aus dieser Vergleichung. Der wesentliche Unterschied zwischen Menschen und Thieren beruht auf die Selbstthätige (produktive) Einbildungskraft.


97-103.

Die willkürlich sowohl als unwillkürlich auf einen Gegenstand geheftete Aufmerksamkeit unterdrückt oft das Gefühl des heftigsten Schmerzens; hält Krankheiten zurück; hindert die Würkung der stärksten Purgirmittel u.s.w. Noch mehr aber geschieht dieses durch heftige Gemüthsbewegungen hin und her gerissene Aufmerksamkeit. Selbst der Tod kann dadurch auf eine Zeitlang zurückgehalten werden. Dieses wird durch viele Beispiele bestätigt. Der zwischen Furcht und Hofnung schwankende Zustand der Seele ist von der widrigsten Würkung auf den Körper, die zuweilen bloß dadurch gehoben wird, daß man dem Kranken alle Hofnung benimmt. Beispiel davon.


111-126.

Es giebt zwei Hauptgattungen von Narren. Einige sind Universalnarren (die alles verkehrt sehen), andere aber Partikularnarren (die bloß in Rücksicht auf gewisse Vorstellungen Narren sind). Jene sind bloß körperkrank, diese aber eigentlich see- [131] lenkrank. Auf den Witz können ungezwungen alle Seelenkräfte zurückgeführt werden u.s.w.

In der Anmerkung zu diesem Aufsatz wird 1) geleugnet, daß es Narren geben sollte, die unmittelbar alle Dinge verkehrt sehen, wohl aber kann es welche geben, die bloß eine einzige falsche Vorstellung haben, und vermittelst dieser alle Dinge verkehrt sehen. Auch wird nicht zugegeben, daß der Grund der ersten Art im Körper, der zweiten aber bloß in der Seele zu suchen sey. Ferner wird nicht zugegeben, daß der Witz das einzige Seelenvermögen sey, worauf alle Uebrige sich reduziren lassen, sondern bloß, daß Assoziation (die nicht immer, wie der Wiz, Aehnlichkeit zum Gegenstand hat) zu allen Seelenoperationen nothwendig sey. Daß der Einsicht der Verschiedenheit die Einsicht der Aehnlichkeit immer vorausgesetzt werden müsse, ist auch nicht allgemein wahr; und findet nur da statt, wo die Verschiedenheit Theilentgegensetzung ist (wie die Verschiedenheit zwischen der Art und ihrem Geschlechte, weil der Artbegrif den gemeinschaftlichen Geschlechtsbegrif schon voraussetzt) nicht aber wo die Verschiedenheit an sich erkannt wird (wie die Verschiedenheit der Arten unter einander).


Zweites Stück.
1-9.

Wird von einem Selbstmord aus Rechtschaffenheit und Lebensüberdruß erzählt.

[132]
Anmerkung.

Die Rechtschaffenheit spielt hier bloß eine Nebenrolle, die Hauptrolle spielt der, allen Selbstmördern, die nicht durch eine heftige Leidenschaft dazu angetrieben werden, gemeinschaftliche Lebensüberdruß. Auch kann dieses nicht heißen Lebenßüberdruß, wenn jemand sich allen Aussichten zu seinem und der Seinigen Fortkommen beraubt sieht, sondern vielmehr Verzweiflung.

S. M.


10-25.

Wenn die Einbildungskraft herrschend ist, so ist sie täuschend; weil die Spur der vorhergegangenen Ideen, mithin die Kennzeichen von der innern Erzeugung einer Vorstellung oft verlohren geht.

Anmerkung.

Die Täuschung im Traume beruht keineswegs auf den Mangel der Einsicht in der Verbindung der Vorstellungen, sondern auf die Lebhaftigkeit der Vorstellungen an sich. Wir urtheilen von der Wirklichkeit einer Vorstellung hauptsächlich durch ihre Wirkung. Da nun im Traume die Vorstellung so lebhaft wird, daß sie eben dieselbe Würkung hervorbringen kann, die der wirkliche Gegenstand hervorzubringen pflegt, so können wir sie nicht anders als für den wirklichen Gegenstand selbst halten.

Eben so täuscht uns ein theatralisches Stück bloß dadurch, daß es in uns alle die Empfindungen [133]hervorbringt, die die vor unsern Augen vorgefallne Begebenheit selbst in uns hervorbringen würde; man mag zwischen den Szenen (oder auch während derselben) noch so sehr die ganze Vorstellung für ein bloßes Spiel der dichterischen Einbildungskraft, d.h. für eine bloße Vorstellung halten, so kann man doch nicht umhin, sie während der Vorstellung für etwas Wirkliches zu halten. Wenn jemanden träumt, er schlafe bei einer hübschen Frau, so hat er wahrlich guten Grund dieses für wirklich zu halten, nicht weil er über diese Wirklichkeit urtheilt, sondern weil er sie, durch ihre Wirkung, empfindet. Und ich bin überzeugt, selbst der Philosoph, der die Erzeugung der Vorstellungen auseinander, nach den Gesetzen der Assoziation, recht gut kennt, würde, wenn eine solche Vorstellung mit der erforderlichen Lebhaftigkeit sich an seine Reihe anschließen sollte, dieselbe nicht anders als für wirklich halten können. —

S. M.

Die Fortschritte des Verstandes und der Vernunft werden durch die Bilder oder Anschauungen, die das Denken begleiten, zum Theil befördert, zum Theil aber auch gehindert. Befördert, weil die Anschauungen die Beweise von der Möglichkeit und Anwendbarkeit der Begriffe mit sich führen. Gehindert, weil die Bilder und Anschauungen unsere Aufmerksamkeit zu sehr auf sich ziehen, und wir so lange bei ihnen verweilen, bis uns die Verbindung der vorhergegangenen Ideen, der Zweck weswegen [134]wir jede Idee herbeigerufen haben, und die Absicht der ganzen Untersuchung nicht mehr deutlich beiwohnt. Die Geometrie hat hierin vor andern Wissenschaften den Vorzug, daß nämlich ihre Begriffe selbst Anschauungen sind; folglich sich einander nicht stören, sondern vielmehr befördern. Es läßt sich hieraus eine Wahrnehmung erklären, welche in den Briefen die neuste Litteratur betreffend vorkommt; daß man nicht denjenigen, der die Metaphysik oder auch irgend eine praktische Wissenschaft nicht verstehet, sondern denjenigen für dumm hält, der die Anfangsgründe der Geometrie nicht zu fassen vermag.

Anmerkung.

Mit aller innigsten Hochachtung für die Mathematik und für die Briefe die neuste Litteratur betreffend sey es gesagt, daß diese Wahrnehmung nicht wahr ist, und wenn sie wahr wäre, so würde dieses Urtheil sehr ungerecht seyn. Ich kenne vortrefliche Köpfe aller Art, die nicht aus Dummheit, sondern vielmehr aus zu großer Lebhaftigkeit, die ersten Anfangsgründe der Geometrie nicht fassen können. Zur Erlernung der Anfangsgründe der Geometrie gehört außerordentlich viel Geduld, und eine Aengstlichkeit, die der Lebhaftigkeit zuwider ist. Diese Männer können bloß die Anfangsgründe der Geometrie nicht fassen. Könnten sie nur so lange sich gedulden, bis sie darüber weg seyn wür-[135]den, so würden sie gewiß, nachdem sie mehrere Ideen und Verbindungen würden erhalten haben, und ihrer Lebhaftigkeit in dem schnellen Uebergang von einer Idee zur andern keine Hindernisse mehr im Wege seyn würden, sowohl Neigung als Talent zu dieser Wissenschaft zeigen. Es ist eben so peinlich für einen geschwinden Geist langsam, als für einen langsamen Geist schnell zu wirken.

S. M.


106-143.

Ein, in psychologischer Rücksicht sehr wichtiger Aufsatz. Nicht des Inhalts, sondern der Form wegen. Es ist die Bekehrungsgeschichte des V. von dem Unglauben zu dem Glauben an die Kantische Philosophie. Der V. erzählt darin, daß er vorher in seinen Schriften, worauf die sorglose Welt keine Rücksicht genommen habe, sich als ein Gegner dieser Philosophie gezeigt hatte, nachher aber sey ihm der Geist des Herrn Kants erschienen, der gleichsam zu ihm sprach: Saul, Saul, was verfolgst du mich? Und damit die böse Welt nicht die vorwitzige Frage aufwerfen sollte: Ist auch Saul unter den Propheten? so erzählt der V., wie er sich allerdings des Studiums der Philosophie beflißen, und darin eine große Revolution erfahren hätte. Besonders wurde diese heilsame Revolution durch Herrn Reinholds Schriften bewirkt. Das [136]praktische Vernunftgesetz ist ihm nun die Grundlage aller Philosophie. Uebrigens läßt sich von einem Aufsatz dieser Art kein Auszug liefern. —


Drittes Stück.
1-28.

Die empirische Psychologie des H. Pr. Schmids wird, wie sie es wirklich verdient, gerühmt, und eine Anzeige von ihren ersten Gründen geliefert.

Die Erklärung von Seele und Gemüth. Seele ist das Subjekt aller Vorstellungen, das wir aber zugleich auch als Subjekt anderer Akzidenzen denken, die keine Vorstellungen sind, und mit keinen Vorstellungen in einem erkennbarem Verhältnisse stehen. Gemüth aber ist die Seele, bloß als Subjekt der Vorstellungen, oder dessen, was mit den Vorstellungen in einem erkennbaren Verhältniß stehet, gedacht.

Ich bemerke hier, daß ich keinen Grund einsehen kann, warum wir das Gebiet der Seele über die Gränzen des Gemüths ausdehnen sollen? Die Akzidenzen des Bewustseyns sind Prädikate der Seele; alle andere Akzidenzen aber sind Prädikate des Körpers. Die Substanzialität der Seele ist nur während des Bewustseyns ein realer Begrif, außerdem aber eine bloße Fiktion.

Der V. unterscheidet Grundkraft von Generalkraft. Grundkraft ist das innere Prinzip der [137]Möglichkeit oder Wirklichkeit gewisser Erscheinungen, die in der That identisch sind, und nur durch zufällige Bestimmungen sich als verschieden zeigen, und verschiedenen Kräften zugeschrieben werden. Generalkraft hingegen ist der generische Begrif aller unter demselben Geschlecht stehenden Arten, das nur das, allen diesen Gemeinschaftliche, begreift.

Anmerkung.

Da diese Unterscheidung etwas dunkel scheinen möchte, so werde ich sie hier, nachdem ich sie gefaßt habe, zu erläutern suchen.

Die Anziehungskraft oder Wirkungsart, wornach die Körper nach gerader Verhältniß ihrer Massen, und umgekehrter Verhältniß ihrer Entfernungen sich einander anziehen, ist eine Grundkraft, indem sie dem Weltsystem sowohl als dem Aufsteigen der Flüssigkeiten in den Haarröhrchen auf gleiche Art, zum Grunde liegt. Dahingegen, das Leben z.B. ist zwar dem Menschen und dem unvernünftigen Thiere gemein, da aber die Vernunft eine zu demselben hinzukommende, aber in demselben nicht enthaltene Bestimmung des Menschen ist, so ist das Leben keine Grundkraft, woraus sich die Entstehung des Menschen als eines vernünftigen Wesens erklären lassen sollte, sondern eine Generalkraft, indem es in dem Menschen so wie in dem Thiere anzutreffen ist.

S. M.

[138]

Vorstellung ist diejenige Veränderung des Gemüths, wovon ein Bewustseyn möglich ist, d.h. die ich auf ein (vorstellendes) Subjekt, und auf ein (vorgestelltes) Objekt beziehen kann.

Das wirkliche Beziehen einer Vorstellung auf ihr Objekt und Subjekt macht das Bewustseyn aus. Das was bezogen wird, ist Vorstellung. Es giebt also keine Vorstellung ohne Bewustseyn.

Ich bemerkte hierüber, daß die Erklärung des Bewustseyns zu enge ist. Das wirkliche Beziehen einer Vorstellung auf ihr Objekt und Subjekt macht nicht ein einziges, sondern fünferlei Bewustseyn aus. Das Bewustseyn überhaupt ist die allgemeinste Form oder Bedingung alles besondern Bewustseyns, das zwar nicht durch innere Merkmale gedacht, aber dennoch in einem jeden bestimmten Bewustseyn vorausgesetzt werden muß.

Die Erklärung von Vorstellung weicht gleichfalls vom Sprachgebrauche ab. Diesem Zufolge ist Vorstellung dasjenige, das sich als Theil eines Ganzen, oder als Merkmal auf dasselbe bezieht. Es kann also nicht alles, was im Bewustseyn anzutreffen ist, Vorstellung heißen. Psychologische Erklärung der Erscheinung, daß wir alles, was im Bewustseyn anzutreffen ist (auch ohne daß es je als Merkmal eines reellen Objekts gedacht worden) aufs Objekt beziehen. Eine jede Vorstellung besteht auf einem Stof und einer Form. Jener macht die Beziehung der Vorstellung aufs Objekt; diese die [139]Beziehung derselben aufs Subjekt möglich. Meine Anmerkung hierüber.

Wider die Verbindung psychologischer (oder sonst anderer) und physiologischer Gründe in der Erklärung gewisser Erscheinungen.

1) Eine Erscheinung erklären, heißt nicht bloß die Bedingungen unter welchen, sondern die Art, wie sie möglich ist, nach allgemeinen Naturgesetzen, angeben. Nach dem allgemeinen Gesetze von der Verbindung zwischen Seele und Körper aber, können wir allenfalls die körperlichen Bedingungen (die besondere Organisation, und den jedesmaligen Zustand des Körpers) einer psychologischen Erscheinung, nicht aber die Art, wie sie unter diesen Bedingungen nach allgemeinen Naturgesetzen möglich ist, bestimmen. Physiologische Beschaffenheiten können also keinen Erklärungsgrund von psychologischen Erscheinungen abgeben.

2) Selbst diese Bedingungen sind uns in besondern Fällen unbekannt, wir können sie allenfalls im Allgemeinen voraussetzen, nicht aber bestimmt angeben.

Für diese Verbindung.

1) Die Seele ist nur eine Substanz in der Erscheinung, d.h. zum Behuf des Erfahrungsgebrauchs, müssen wir sie als Substanz denken, wir können sie aber nicht durch innere Merkmale an sich, als solche erkennen. So lange also die [140]Seele wirkt, d.h. Vorstellungen hervorbringt, müssen wir diese Vorstellungen in einer Kausalverbindung denken. Sobald sie aber zu wirken aufhört (wie im tiefen Schlafe, Ohnmacht u.s.w.) hört auch diese Verbindung an sich auf (die Erscheinungen, die sich alsdann ereignen, sind nicht mehr Seelenerscheinungen, sondern Körpererscheinungen, und müssen nach physiologischen Gründen erklärt werden), und wenn wir sie doch in dieser Verbindung denken, so geschieht dieses bloß nach der Methode der Interpolation, d.h. diese gedachte Verbindung ist eine bloße Fiktion.

2) Es giebt wiederum Seelenerscheinungen, die nicht als Akzidenzen eben derselben Substanz, sich aus ihr allein, sondern aus ihrer Verbindung mit andern Seelen oder Geistern in einem einzigen Geistersystem nach den Gesetzen der Kausalverbindung erklären lassen. Man kann also überhaupt nicht alle Seelenerscheinungen auf eine genugthuende Art aus ihr selbst herleiten.


86-99.

Ein Brief, der nicht seines Inhalts (denn, die Wahrheit zu sagen, läßt sich schwer ein Inhalt dieses Briefs angeben), sondern seiner Form nach, ein Gegenstand der Erfahrungsseelenkunde ist. Der V. beschreibt nicht, sondern ist selbst ein psychologisches Phänomen. Der ganze Brief ist eine seltsame Mischung der kritischen Philosophie, mit [141]den Lehren der Kabbala, aus welcher Vermischung keine Riesen, sondern Ungeheuer entsprießen müssen.


106-107.

Eine Bestätigung, der von mir (8. Band. 3. Stück. S. 13.) festgesetzten Ordnung in der Assoziation, und selbst der dort problematisch gelassene Fall, wird durch die Beobachtung des V. an sich selbst entschieden.


108-114.

Es träumte einst dem V. es wäre in seiner Stube Feuer ausgekommen, welches zwar ihm große Gefahr drohte, das er aber sogleich mit wenig Wasser gelöscht hatte. Als er nun des Morgens darauf aufstand, war ihm dieser ganze Traum entfallen. Nun kam seine Aufwärterin, brachte (welches sie nie, seit sie ihm aufwartete, zu thun pflegte) einen Topf mit Kohlen, um zu räuchern, und setzte diesen Topf auf den Tisch. Der V. war vertieft im Lesen, und saß mit dem Rücken der Thüre zugewandt, so daß er dieses nicht bemerkte. Eine halbe Stunde nachher aber wurde die Stube voll Rauch. Er stand daher auf, und siehe! das Feuer hatte schon den Tisch ergriffen, und wäre nicht schleunige Hülfe geschaft worden, so würde derselbe vom Feuer völlig verzehrt worden seyn.

[142]

Einem andern träumte einst, er habe in sein gewöhnliches Koffehaus gehen wollen, als er aber dahin kam, fand er die Thüre desselben verschlossen. Er pochte stark daran, sie wurde ihm aufgemacht, er gieng hinein, fand einige beim Spiele sitzen, mit welchen er sich ins Gespräch einließ; woraus endlich ein Wortwechsel entstand. Einer der Spielenden gerieth darüber in Wuth, ergrif einen Stuhl, und schlug seinen Gegner damit auf den Kopf, so daß er leblos zu Boden fiel, worauf er in Verhaft genommen, und darauf als Mörder zum Tode verurtheilt worden ist. So weit der Traum! Eine geraume Zeit nachher gieng dieser Mann wirklich in ein Koffehaus, fand die Thüre zugeschlossen, pochte, wurde hereingelassen, gerieth in Wortwechsel, wurde zum Zorn gereizt, grif nach einem Stuhle, um seinen Gegner damit zum Stillschweigen zu bringen. Auf einmal aber fiel ihm sein gehabter Traum ein, er faßte sich sogleich, setzte den Stuhl ganz gelassen nieder und gieng nach Hause.


115-125.

Wird von einem Melancholikus erzählt, der in eine solche Art des Blödsinns gerathen ist, daß man ihm, wie einem Kinde, die Ideen nach und nach entwickeln, und seine Seelenkräfte in Ausübung setzen muste, wodurch er auch wieder hergestellt worden ist.


[143]
Zehnter Band zweites Stück. Zur höheren Erfahrungsseelenkunde.
43-84.

Eintheilung einer jeden Wissenschaft in einen gemeinen und höhern Theil. Das fundamentum divisionis beruht entweder auf der Verschiedenheit der Art, den Gegenstand der Wissenschaft zu betrachten, oder auf der Verschiedenheit der Gegenstände selbst (die aber doch in einem Gattungsbegrif übereinstimmen, wodurch sie bei ihrer Verschiedenheit dennoch zu einer einzigen Wissenschaft gehören). Eben so kann die Erfahrungsseelenkunde in die gemeine und höhere Erfahrungsseelenkunde eingetheilt werden. Der Gegenstand jener sind die niedern; der Gegenstand dieser aber die höheren Seelenkräfte; die an sich keinen Krankheiten unterworfen seyn können, wohl aber vermittelst der Krankheiten der niedern Seelenkräfte.

So äußern sich auch die Krankheiten der niedern Seelenkräfte in derjenigen Würkungsart unseres Erkenntnißvermögens, die sich auf bestimmte Objekte bezieht. Die Krankheiten der höheren Seelenkräfte aber äußern sich hauptsächlich in dem Trieb unseres Erkenntnißvermögens, das sei-[144]ner Natur nach unbestimmbare zu bestimmen. Von dieser Art ist die Schwärmerei. Diese ist ein Trieb der produktiven Einbildungskraft, Gegenstände, die der Verstand nach Erfahrungsgesetzen für unbestimmbar erklärt, zu bestimmen.

Die Vernunftideen sind nicht von konstitutivem, sondern bloß von regulativem Gebrauch, und obschon die dogmatische Metaphysik diese Gränze überschreitet, so kann ihr doch der Name Schwärmerei nicht beigelegt werden, weil sie die Objekte bloß durch diese Vernunftideen (z.B. die Seele als letzte Substanz, absolute Einheit u.s.w.), und nicht zugleich durch ihnen widersprechende Erfahrungsmerkmale zu bestimmen sucht.

In einer Anmerkung wird gegen die kritische Philosophie behauptet, daß die Ideen nicht in der Natur der Vernunft, sondern in der transzendenten Einbildungskraft gegründet sind. Die Vernunft ist bloß das Vermögen mittelbar zu urtheilen, d.h. zu schließen. Sie dringt keinesweges auf die Totalität der zu verbindenden Glieder, sondern verbindet immer so viele Glieder als ihr gegeben werden. Nur die produktive Einbildungskraft kennt keine Grenzen, und dringt auf die gedachte Totalität.

Uebrigens wird dadurch so wenig die Lehre von Gott, Unsterblichkeit u.s.w. als die Moral einen Abbruch leiden. Nur daß diese nicht, wie nach der [145]kritischen Philosophie, in der Vernunftform, sondern in dem Trieb nach der höchsten Vollkommenheit gegründet seyn werden.

Aus dem Aufsatze von Jordan Bruno, und meinen Erläuterungen darüber, läßt sich kein Auszug liefern.


Zum Beschlusse dieses Werks will ich hier eine Beobachtung hersetzen, die ich vielfältig an mir selbst zu machen Gelegenheit gehabt, und deren Entdeckung andern eben dieselben Dienste leisten kann, die sie mir geleistet hat.

Da ich mich nämlich sehr frühzeitig zum Nachdenken gewöhnt hatte, so bemerkte ich, wenn ich mich im Nachdenken recht vertieft hatte, an meinen Augen ein heftiges Spannen und Ziehen nach einwärts zu, welches mir unerträglich war. Ich war daher auf Mittel bedacht, diesem Uebel abzuhelfen. Ich wollte mich vom Nachdenken losreißen, aber dieses wollte nicht immer gehen (wenn nicht zufällige Zerstreuungen diesem zu Hülfe kamen).

Ich bemerkte aber, daß wenn mir während meines Nachdenkens etwas aus meinem Gedächtniß einfiel, und ich mich bemühte, mich dessen recht zu erinnern, das vorerwähnte Spannen und Zie-[146]hen nach und nach abnahm, so daß, wenn diese Bemühung die gehörige Zeit anhielt, ich endlich meines auf einen Gegenstand fixirten Nachdenkens, und mit demselben dieses peinlichen Spannens und Ziehens los ward. Ich freute mich über diese Entdeckung, und brauchte sie nachher immer mit gutem Erfolg. Ich suchte nämlich mich bei dieser Gelegenheit auf etwas, das längst vorgefallen ist, recht zu besinnen, wodurch ich von meiner Quaal befreit wurde.

Ich glaube irgendwo gefunden zu haben, daß die Alten den Sitz des Gedächtnisses ins Vorderhaupt (oder ins cerebrum), den Sitz des Denkvermögens aber ins Hinterhaupt (oder ins cerrebellum) verwiesen haben. Dieses kann durch die gemachte Beobachtung bestätigt werden. —

S. Maimon.

Erläuterungen:

a: Die Pocken (DWb Bd. 2, Sp. 77).