ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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5.

Antwort auf das Schreiben des Herrn Obereit an Herrn S. Maimon.

Maimon, Salomon

Theuerster Freund!

Gegrüßt seyn Sie im Nahmen desjenigen, dessen Ebenbild Sie sind, und dem Sie sich im Hervorbringen alles aus Nichts, gleich zu stellen suchen. Wie angenehm und wichtig mir Ihr Schreiben war, können Sie aus dieser prompten Beantwortung ersehen.

Aus Ihrem Aufsatze und meinen Anmerkungen darüber erhellet, daß wir in der Zeichnung übereinstimmen, indem wir beide nach keiner Kopie, sondern nach der Natur zeichnen. Nur in der Farbengebung sind wir von einander verschieden. Ich verfahre hierin etwas behutsamer; brauche die Farben als eine Nebensache, bloß zur Kenntlichmachung der Zeichnung. Bei Ihnen hingegen scheinen sie, gleich der Zeichnung selbst, zur Hauptsache zu gehören. Die Zeichnung wird bei Ihnen zuweilen von Farbe so überladen, daß sie für ein ungeübtes Auge unkenntlich wird. Meine Anmerkungen sollen also bloß dazu dienen, um zu zeigen, daß ungeachtet Ihrer Uebertreibung in der Farbengebung, die Zeichnung dennoch richtig sei.

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Ihre Freunde sind auch die Meinigen! doch gebe ich hierin dem Ersten den Vorzug; indem, wie ich dafür halte, der Zweite, wenn er sich verständlich machen will, dieses nur durch das System des Ersten bewerkstelligen kann. —

Unsere Geistesverwandschaft ist freilich die Folge einer harmonia præstabilita; aber in einem ganz eignen Sinn. Ich halte nehmlich dafür, daß die Menschen nur in Ansehung der sogenannten untern, nicht aber in Ansehung der obern Seelenkräfte, für sich bestehende Wesen sind. Jemehr also die Ersten den Letzten unterworfen, und durch dieselben bestimmt werden, desto größer muß auch diese Geistesverwandschaft werden. Diese Harmonie zwischen den Individuis ist also durch das ihnen gemeinschaftliche Spezifische schon vorher bestimmt.

Die Kohäsion der Geister beruht auf eben denselben Gesetzen, als die Kohäsion der Körper. Der Grad dieser Kohäsion hängt von der Anzahl der Berührungspunkte, und diese, von der Figur der Körper, ab. Kugeln, deren jede ein eigenes Zentrum hat, wornach alle ihre Theile gerichtet sind, können sich nur in einem Punkte berühren; zwischen ihnen findet also der kleinste Grad der Kohäsion statt. Je größer die Flächen sind, destomehr sind die Berührungspunkte, und desto stärker ist auch die Kohäsion; d.h. jemehr ein Körper ein [102]System (nach einem Prinzip geordnetes Ganze) für sich ausmacht, um desto weniger kann er mit andern ein System ausmachen, und so auch umgekehrt; vorausgesetzt, daß das diesem System zum Grunde liegende Prinzip (hier das Zentrum) ihm eigen ist. Ist hingegen dieses gemeinschaftlich, so ist er eben dadurch, daß er für sich ein System ausmacht, geschickt auch mit andern ein System auszumachen.

So ist es auch mit den Geistern beschaffen. Unkultivirte im Stande der Natur lebende Menschen, leben im Frieden mit einander; Jeder für sich macht noch kein besonderes System aus. Gebildete aufgeklärte Menschen (Weltleute) sind schon systematisch; jeder hat sein eigenes Zentrum (Prinzip seiner Handlung) Eigenliebe nach individuellen Zwecken. Die praktische Vernunft (im Kantischen Sinne) hält den Menschen ein allgemeines Prinzip (die Vernunftform) vor; wodurch nicht nur ein jeder für sich, sondern auch mit allen andern, in ein vollständiges System gebracht werden kann. Die Menschen leben alsdann abermal im Stande der (vernünftigen) Natur.

Daß meine Schriften supertranszendental sind, mag wohl wahr seyn. Denn da die gemeine Transzendentalphilosophie sich bloß damit begnügt, die Realität der Grundbegriffe und Sätze a priori hypothetisch als Bedingungen der Erfahrung [103]zu zeigen, so fordert die meinige den Beweiß von der Realität der Erfahrung (als Faktum) selbst. Zweitens, so begnügt sich meine Philosophie nicht mit den synthetischen Sätzen überhaupt; sie fordert, zu ihrer objektiven Realität einen analytischen Beweiß. So lange dieses nicht bewerkstelligt werden kann, hält sie sich an den humischen Skeptizismus.

Ihre Erklärungsart, wie Sie alles Spekulative, auch das Mathematische, nach praktischen Prinzipien beurtheilen, begreife ich aus Ihrem jetzigen Schreiben eben so wenig, als aus Ihrem Aufsatze. Die mathematischen Wahrheiten beruhen auf der konstitutiven Möglichkeit einer Darstellung (Konstrukzion) a priori. Die Praktischen (Moralischen) hingegen, beruhen auf einer regulativen Nothwendigkeit, die freiwilligen Handlungen, der Vernunftform gemäß einzurichten. Diese beiden sind also von ganz verschiedener Natur, und lassen sich nicht durch einander bestimmen. Die mathematischen Wahrheiten müssen allerdings mit den Wahrheiten der Natur- und Sittenlehre in Konvenienz seyn. Ein runder Körper, er mag übrigens beschaffen seyn, wie er will, muß die mathematischen Eigenschaften einer Kugel haben. Diese aber sind schon an sich unabhängig vom Daseyn des Körpers nothwendig; und so wie Bako sagt: die Mathematik bestimmt die Naturlehre, [104] bringt sie aber nicht hervor, so kann man auch sagen: die Natur der wirklichen Körper macht die Mathematik anwendbar; ist aber keine Bedingung ihrer Möglichkeit an sich; und so ist es auch in Ansehung der Moral.

Ueberhaupt muß man nicht vergessen (wie es doch zu geschehen pflegt), daß die transzendentalen Prinzipien bloß die conditio sine qua non zur angewandten Philosophie sind; enthalten aber nicht alles, wornach diese beurtheilt werden muß.

Daß Sie übrigens, theuerster Freund! unsre Nation zur Behauptung ihrer Originalität und Aeußerung ihrer Selbstthätigkeit auffordern, ist ein Beweiß ihrer edlen Gesinnungen. Wenn Sie aber glauben, daß dieses durch das Wühlen in ihren einheimischen orientalischen Geistesschätzen bewerkstelligt werden muß, kann ich hierin mit Ihnen nicht übereinstimmen; wo dieses nicht bloß als ein an sich närrisches Mittel zur Erlangung eines vernünftigen Zweckes mit vieler Behutsamkeit gebraucht werden soll. Von der so hochgepriesenen orientalischen Weißheit habe ich keinen Begriff. Aus der Kabbala, wie wir sie jetzt haben, kann man so wenig etwas vernünftig Theoretisches, als etwas nützlich Praktisches lernen. Sie besteht in einem bloßen Spiele mit Zahlen und Buchstaben, worin die Kabbalisten große Geheimnisse suchen, [105]und wodurch (gleich Gott, der sich, ihrem Vorgeben nach, bei Erschaffung der Welt eben dieses Mittels bedient haben soll) sie alles nach Belieben hervorzubringen im Stande sind. Ich glaube aber schwerlich, daß Gott selbst in der Qualität als bloßer Mathematiker oder Kabbalist das kleinste Strohhälmchen hätte hervorbringen können. Es wäre also eher zum Wohl unsrer Nation zu wünschen, daß sie sich in der simplen okzidentalischen Weißheit iniitiren lassen sollte, ohne deswegen von ihrer Originalität etwas vergeben zu dürfen.

Gott das allervollkommenste Wesen, in dem wir uns durch verschiedene Formeln einer Approximation in Infinitum vereinigen, empfehle ich Sie mit Ihren edlen Freunden (dem Vertheidiger des Spinoza und dem Verehrer der Kabbala) Ihr Freund aus allen vier Weltgegenden.

Mein Herr und Freund vom Orient,

Ihr

ergebenster

Salomon Maimon.

Berlin, den 11ten Oct.

1791