ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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2.

Ueber den Traum und über das Divinationsvermögen. a


(Als eine Fortsetzung des vierten Aufsatzes 3ten Stücks 8ten Bands.)

Maimon, Salomon

Es giebt noch eine Art Täuschung, die eine besondere Erörterung erfordert, nehmlich: der Traum.

Die Merkmale, woran wir den Zustand des Träumens, von dem Zustande des Wachens unterscheiden können sind: 1) Die Unregelmäßigkeit in der Folge der Vorstellungen auf einander. 2) Das Ausbleiben der Würkungen aus ihren im Traume vorgestellten Ursachen. 3) Der körperliche Zustand des Schlafens (seine Ausspannung, Ruhe, und Verschließung der sinnlichen Organen).

Das Erste kann, wenn die Unregelmäßigkeit, zur Ungereimtheit wird, im Traum selbst wahrgenommen werden, woraus man im Traume selbst weis, daß man träumt, so daß man nicht selten darüber erwacht. Die beiden andern können nicht im Traume selbst, sondern erst nach dem Aufwachen wahrgenommen werden. Wenn, nach dem Jesaias, der Hungrige träumt, daß er ißt, so weis er während des Traums nicht, daß er träumt. Wenn er aber aufwacht und seinen [71] Magen leer findet, alsdann erkennt er erst, daß er vorher blos geträumt hat. b Er erkennt also, daß er blos im Traume gegessen hat, aus dem Ausbleiben der Würkung dieses Essens nehmlich: der Sättigung und dergleichen. So erkennt man auch, daß man geträumt hat, wenn man bemerkt, daß man die ganze Zeit über im Bette gelegen, und die Augen zugeschlossen hatte; folglich die im Traume vorgestellten sichtbaren Gegenstände nicht habe sehen, und die Handlungen nicht habe verrichten können, und dergleichen.

Die Ursache des Traums, ist eine, durch die Würksamkeit der Sinne ununterbrochne Würksamkeit der Einbildungskraft.

Traum ist derjenige Zustand des Menschen, worin das Associationsvermögen sich nicht selbstthätig nach einer bestimmten Art, sondern leidend, und von der einen Associationsart zur andern leicht überspringend sich äußert. Der Traum ist ein Mittelzustand zwischen Schlafen und Wachen, worin der Körper die durch den Schlaf verlohrne Spannung wieder zu erlangen, und empfindungsfähig zu seyn anfängt. Da er aber noch nicht die völlige zur Empfindung nöthige Spannung erlangt hat, so ist die durch den Traum veranlassete Empfindung an sich sehr schwach (obgleich die Ursache davon später als gewöhnlich gedacht wird), und von dem Associationsgeschäfte (das vom Körper [72]unabhängig im Traume wie im Wachen würkt) gänzlich verdunkelt.

Im wachenden Zustande würkt das Associationsvermögen mehrentheils nach irgend einem Zwecke. Im Traume hingegen durchkreutzen sich alle Associationsarten. Die gemeinen gesellschaftlichen Unterhaltungen, ja sogar die ernsthaftesten Geschäfte mancher Personen sind hierin dem Traume ähnlich. Zum Beispiel eines solchen wachenden Traums, kann folgende Stelle aus Shakespeare dienen!

»Die Wirthin: Zum Henker, dich selbst und dein Geld noch dazu! wenn du ein ehrlicher Mann wärest! Du schwurst mir auf einen vergoldeten Becher, da du in meiner Kammer am runden Tisch, neben dem Kohlfeuer saßest; es war am Mittwoche in der Pfingstwoche, da dir der Prinz ein Loch in den Kopf schlug, weil du ihn mit einem Sänger vom Windsor verglichst, du schwurst mir da, indem ich deine Wunde wusch, daß du mich heirathen, und zur Madam, zu deiner Frau machen wolltest, kannst du das leugnen? Kam nicht Mutter Keech, des Schlächters Frau, herein, und nannte mich Gevatterin Cherkly? Sie kam und borgte Essig, und sagte, daß sie eine gute Schüssel mit kleinen Fischen hätte, und wolltest gern einige davon essen, und ich sagte, daß sie für eine frische Wunde nichts taugten. Und sagtest du mir nicht, da sie die Treppe herunter war, daß ich mich nicht [73]mehr mit solchem armen Volke so gemein machen sollte, und daß sie mich bald Madam würde nennen müssen! und gabst du mir nicht einen Kuß, und batst, ich sollte dir dreißig Schilling borgen? Thu itzt einen Eid auf deine Bibel, leugne das, wenn du kannst.«

Heinrich IV. der zweite Theil, 2ter Akt, 1ster Auft. c

Man sieht hieraus, daß die Menschen in ihren sogenannten gesellschaftlichen Unterhaltungen, wo sie sich an keine bestimmte zweckmäßige Associationsart binden, sondern der Einbildungskraft völlig freyen Lauf lassen, nichts anders thun, als daß sie wachend träumen.

Das Nachtwandeln ist ein hoher Grad des Traums, d.h. einer unwillkührlichen, unabsichtlichen, obgleich zuweilen zweckmäßige Association der Ideen, die mit den ihnen korrespondirenden körperlichen Bewegungen und Handlungen verknüpft sind.

Die Art der Association ist beim Nachtwandeln, so wie beim Traume nicht durchgehends bestimmt (wie bei der willkührlichen absichtlichen Association), sondern es durchkreutzen sich nach Beschaffenheit des Temperaments, der Gewohnheit und dergleichen, mehrere Arten der Associationen.

Beim Nachtwandeln, wie beim Traume, geräth man einigermaaßen außer sich. Denn da das Selbstbewußtseyn auf die Selbstmacht im Fortsetzen [74]oder Unterbrechen einer Ideenreihe nach eigner Willkühr beruht, wodurch man seine eigne Thätigkeit fühlet, wovon die Ideen selbst die Objekte sind, so wird, wenn daher diese Association unwillkührlich ist, und man sich dabei blos leidend verhält, diese Selbstmacht nicht gefühlt; man ist also ganz außer sich in den Objekten. Ich betrachte hier blos die beiden Extreme, zwischen denen es aber viele Mittelgrade geben kann. Die plötzliche Unterbrechung der Associationsreihen im wachenden Zustande (durch die Empfindung) bringt den Menschen auf das Gefühl seiner selbst zurück. Die Association ist im Traume und vorzüglich im Nachtwandeln nicht nur stärker, sondern auch vollständiger, als im wachenden Zustande. Ist diese Association zweckmäßig (obgleich nicht aus Zweck), so ist die Ruhe in diesem Betrachte vollständig, d.h. sie enthält alles, was zum Zwecke erforderlich ist. Im wachenden Zustande hingegen macht die beständige Unterbrechung, daß die Reihe, ob sie gleich zweckmäßig ist, und nach jeder Unterbrechung fortgesetzt wird, dennoch diese nur en gros geschehen kann, so daß noch manche Lücken unausgefüllt bleiben.

Daher kömmt es, daß man zuweilen im Traume, und vorzüglich im Nachtwandeln weit leichter und mit mehr Genauigkeit, als im wachenden Zustande, Handlungen ausüben kann. Man geräth auf neue Erfindungen, auf die man im wachenden Zustande nicht hat gerathen können. Der dümste [75]Mensch wird im Traume auf einmal ein witziger Kopf, und der feigste ein Held. Man hält Reden, macht Verse und dergleichen, mit bewunderungswürdiger Geschicklichkeit u.s.w. weil die Einbildungskraft in der gegenwärtigen Associationsreihe so geschwind von der einen Vorstellung zur andern übergeht, und gleichsam die ganze Reihe, ohne sich umzusehn, in einem Athem durchläuft, so daß gar keine Vergleichung zwischen verschiedenen Reihen möglich ist.

Daher kann sich auch ein Nachtwandler von dem, was er während dieser Zeit verrichtet hat, gar nichts erinnern, weil die gegenwärtigen Ideen in die während seines Nachtwandelns herrschende Reihe gar nicht passen wollen, indem die Reihe der Ersten, durch beständige Unterbrechung der Empfindungen viel Lücken enthält, und daher nicht so vollständig seyn kann, als die während des Nachtwandelns.

Die Vollständigkeit der Reihe ist auch der Grund, warum ein Nachtwandler sein Geschäft weit sichrer, richtiger und geschwinder, als im wachenden Zustande, verrichten kann, weil nehmlich im ersten Falle die zu diesem Zwecke nöthige Reihe weit vollständiger, als im letzten Falle ist.

Ich glaube hier zur Erklärung einiger Phänomene in der Psychologie neue Aussichten eröfnet zu haben. Z.B. zu der Möglichkeit der Ahndungen, Vorhersehungen, und dergleichen; worüber ich mich aber aus gewissen Ursachen nicht näher erklären will.

[76]

Die Unterbrechung einer in der Erfahrung gegründeten Associationsreihe ist ein Merkmahl der Nichtwürklichkeit der Vorstellungen außer uns. Es träumte mir z.B. als: machte ich eine Reise von Berlin nach Paris, ich passire im Traume alle Oerter die zwischen diesen beiden Hauptstädten liegen ihrer Ordnung nach durch, gelange endlich in Paris an; aber siehe! ich erblicke unweit von der Pont neuf die Berliner Garnisonkirche; die Associationsreihe der Kontiguität wird dadurch unterbrochen, und ich werde daher veranlaßt zu glauben, das dieses alles ein Traum sey, und dergl.

Wäre in der Folge unserer Vorstellungen aufeinander gar kein Gesetz anzutreffen, so hätten wir sie, da sie in der That Modificationen unserer selbst sind, nothwendig für ein Spiel der Einbildungskraft gehalten, und niemals auf etwas außer demselben bezogen. Also nicht die Unterbrechung der nach einem Gesetze angefangenen Associationsreihe, sondern vielmehr umgekehrt ihre Folge nach einem Gesetze ein Merkmal der Würklichkeit außer uns ist.

Um aber die Natur dieser Täuschung und den Unterschied zwischen Wachen und Träumen genauer bestimmen zu können, muß ich erstlich die Natur der verschiedenen Associationsarten entwicklen.

Es giebt nehmlich dreierlei Associationsarten; 1) die der Kontiguität (der unmittelbaren Folge aufeinander in Zeit und Raum); 2) der Aehnlichkeit; 3) der Dependenz (von Grund und Folge.)

[77]

Wir wollen also diese verschiedenen Associationsarten untereinander vergleichen.

Die Association der Kontiguität hat einen empirischen sowohl subjektiven als objektiven Grund (von dem transcendentellen Grunde ist hier die Rede nicht). Die beständige Wahrnehmung der Folge von B auf A ist der Grund, warum bei der Vorstellung von A die mit ihr associirte Vorstellung von B reproduziert wird.

Die beständige Wiederholung dieser Folge ist blos subjektiv. Der Grund aber, der bei mir diese Wiederholung selbst veranlaßt hat, ist nicht in mir (weil ich mir statt dieser eine andere Folge vorstellen kann), sondern in den Objekten selbst zu suchen. Ich habe z.B. beständig in der Nähe der Fleischbänke Hunde wahrgenommen, und dieses ist der Grund, warum meine Einbildungskraft bei der Vorstellung der Fleischbänke die Vorstellung der Hunde reproduziert.

Der Grund aber, warum ich die Hunde beständig bei den Fleischbänken wahrgenommen habe, liegt nicht in mir, sondern in dem innern Verhältnisse dieser Objekte zu einander und dergl.

Die beständige Wiederholung der Folge der Vorstellungen aufeinander kann uns aber keineswegs auf die Würklichkeit ihrer Objekte führen, weil, wie gesagt, diese Wiederholung blos subjektiv ist. Nur der objektive Grund dieser Wiederholung, [78]wir mögen ihn einsehn oder nicht, führt uns auf den Begrif der Würklichkeit.

Die Unterbrechung dieser, aus der Erfahrung bekannten Kontiguität ist also ein Merkmal der Nichtwürklichkeit.

Die Association der Aehnlichkeit kann uns auf keine Würklichkeit führen, sie hat einen blos idealischen Grund, wodurch blos das Verhältniß der Objekte zu einander, nicht aber ihr Verhältniß zu unserm Gemüthe, und noch weniger ihr Realverhältniß bestimmt wird.

Die Objekte mögen wirklich oder blos möglich seyn, so bleibt immer ihre Aehnlichkeit eben dieselbe.

Endlich die Association der Dependenz ist entweder blos logisch (als Grund und Folge) oder reel (als Ursach und Würkung), jene führt uns mehr auf die Existenz unserer selbst, als auf die der äußern Objekte. Mit dieser aber ist es gerade umgekehrt.

Wenn ich eine Kette von Schlüssen, die als Grund und Folge von einander abhängen, durchdenke, so fühle ich dadurch meine Selbstthätigkeit, und folglich meine Existenz am meisten. Die Existenz der Objekte aber, die durch diese Vernunftoperation verknüpft werden, fühle ich am wenigsten, weil sie zu diesem Behufe nicht gänzlich bestimmt, sondern allgemein bleiben müssen. Wenn ich aber bei schwülem Wetter den Himmel überwolkt, und darauf einen Regenguß wahrnehme, so [79]leitet dieses nicht sowohl auf die Würklichkeit dieser Erscheinungen, als meiner selbst, weil diese Erscheinung nach der Association der größten möglichen Kontiguität (der Dependenz von Ursache und Würkung) erfolgt ist.

Meine Selbstthätigkeit hingegen ist hier sehr geringe, ich werde gleichsam zu dieser Association gezwungen. Bei einem mindern Grad der Kontiguität aber, die blos durch öftere, nicht aber beständige Wiederholung entstanden ist, ist das Gefühl der Selbstexistenz ohngefähr dem der Existenz der äußern Objekte gleich.

Das Resultat dieser Untersuchung ist also dieses: das zufällige Unterbrechen einer Ideenreihe, ist weit entfernt ein Merkmahl des Wachens, d.h. der Würklichkeit der Vorstellungen außer uns zu seyn, sondern es ist, wie schon gezeigt worden, vielmehr ein Merkmal des Träumens.

Das Nichtunterbrechen aber ist deswegen noch kein Merkmal des Wachens, es läßt die Erscheinung in Ansehung dieser beiden Zustände unbestimmt. Hingegen ist das willkürliche Fortsetzen oder Unterbrechen einer Ideenreihe ein positives Merkmahl des Wachens. Man kann allerdings auch im Schlafe eine Schlußkette verfolgen, aber man kann sie nicht willkürlich verfolgen oder unterbrechen. Die Würkungen der Vernunft und des Verstandes äußern sich im Schlafe selten, und wenn sie sich äußern, so geschehen sie (gleich wie [80]die Würkungen der niedern Seelenkräfte) mehr mechanisch als willkürlich. Die Seele ist sich nicht dabei des Grunds von jedem Schritt, den sie thut, bewußt, sie würkt zweckmäßig, ohne Vorstellung des Zwecks, so wie die Würkung des Genies überhaupt ist. Sie wird zufälligerweise (in Ansehung unsrer) auf eine Associationsart geleitet, darin unterhalten oder unterbrochen, ohne zu wissen wie? Nur durch die Selbstmacht der Seele über ihre Ideen also können wir uns von dem Zustand des Wachens versichern.

Das Prinzip der Moral ist also zugleich das Kriterium des vollständigen Daseyns des Menschen, d.h. der Mensch kann nur insofern aufs vollständige Daseyn Anspruch machen, in wie fern er sich der höchsten Moralität nähert. Darauf zielten auch unsre Talmudisten, indem sie sagen: die Untugendhaften sind schon bei ihrem Leben todt.

Ich gehe nun zu einer Materie über, die weit seltner als Träume und Nachtwandeln ist; die aber dennoch zu eben der Klasse gehört, nehmlich zu den Visionen, oder Erscheinungen im wachenden Zustande. Der Grund warum man diese Materie aus der Psychologie gänzlich weggelassen hatte, läßt sich leicht angeben; nehmlich da alle geoffenbarte Religion sich auf dergleichen Visionen stützt, so wollten die Orthodoxen einer jeden Religion nicht zugeben, daß man dergleichen Visionen [81]auf eine natürliche Art, nach den bekannten Gesetzen der Psychologie erklären sollte, indem sie die aus der heiligen Schrift bekannten Fakta dieser Art für übernatürliche Würkungen hielten. Die Heterodoxen hingegen leugnen diese Fakta selbst, indem sie sie blos für erdichtete Fabeln halten, und auf diese Art aller Erklärung überhoben zu seyn glauben. Beider Verfahren ist aber unrechtmäßig. Die auffallende Aehnlichkeit dergleichen Visionen mit den Träumen, und ihre Möglichkeit an sich, die durch neuere Erfahrungen bestätigt wird, zeigen, daß man von der einen Seite keinen Grund hat, dergleichen Fakta zu leugnen, so wie man auch von der andern Seite sie als übernatürliche Erscheinungen anzunehmen keinen Grund hat, sondern sie als Fakta nach den Regeln des historischen Glaubens untersucht, und als Naturerscheinungen nach den Gesetzen der Psychologie erklärt werden müssen, wodurch man sowohl dem Vorwurfe der Schwärmerei als des leichtsinnigen Unglaubens ausweichen kann.

Die Visionen sind dreierlei Art. Sie sind entweder 1) simple, oder 2) allegorische, oder 3) symbolische Visionen. In der erstern werden die sowohl der Zeit als dem Raume nach nicht gegenwärtigen Naturbegebenheiten als gegenwärtig, ohne die mindeste Veränderung, vorgestellt. Visionen dieser Art sind in der heiligen Schrift häufig anzutreffen, wo die Propheten den zukünftigen Tod [82]einer Person, die Zerstörung einer Stadt und dergleichen vorhersahen. In der zweiten werden diese Begebenheiten nicht so, wie sie vorfallen, vorgestellt, sondern durch allegorische Bilder. Diese Art der Visionen findet man bei dem Propheten Esekiel und andern Propheten sehr häufig. Man findet auch, daß dergleichen allegorische Erscheinungen zuweilen dem Propheten in der Erscheinung selbst erklärt werden; so wie ein Mensch z.B. träumt, und im Traume selbst, wieder erwacht zu seyn glaubt, seinen Traum einem andern erzählt, der ihm denselben auslegt, und dieses alles blos im Traume geschieht, so finden wir auch, daß Sacharias, nachdem er seinen allegorischen Traum erzählt hat, sagt: Der Engel, der mit mir redete, kam wieder, und erweckte mich, wie man jemanden aus dem Schlafe erweckt, und sagte mir: Was siehst du Sacharias? Darauf erklärt ihm der Engel seine Erscheinung. d

So heißt es auch beim Daniel: Ich hatte einen Traum und eine nächtliche Erscheinung. Darauf erzählt er von der Aeußerung seines Verlangens, die Bedeutung dieses Traumes zu wissen. Er befragt darüber einen Engel, und dieser legt ihm den gehabten Traum im Traume selbst aus, und dergleichen. e

Hr. van Goens, ein tiefer Denker und Beobachter des menschlichen Geistes, der durch einige Aeußerungen genugsam gezeigt hat, wie wichtig [83]ihm Untersuchungen von dieser Art sind, führt (4ten Bandes zweites Stück. Nr. 6.) von sich selbst ein ähnliches Beispiel an. Es träumte ihm nehmlich (in seinen Schuljahren), als befände er sich in der lateinischen Klasse, wo der Lehrer seinen Schülern die Auslegung einer lateinischen Phrase aufgab. Hr. Goens konnte den Sinn dieser Phrase nicht finden, der Lehrer wandte sich zu den auf jenen in der Reihe folgenden Schüler, dieser setzte sogleich den Sinn der Phrase deutlich auseinander, welche Auseinandersetzung dem Hrn. Goens so einfach vorkam, daß er sich darüber ungemein wunderte, wie er darauf nicht habe gerathen können. Er wirft also die Frage auf: wie es möglich sey, daß die Seele, welche mit der größten Anstrengung vergebens etwas sucht, in einer Minute, oder Secunde, die Seele werden kann, die eben dieselbe Sache sehr gut weiß, indem sie sich zugleich einbildet, es selbst nicht zu wissen, sondern es einen andern sagen zu hören?

Ich glaube aber, dieses ließe sich folgendermaßen erklären. Der gemeine oder auch prophetische Traum wird vom Wachen, wie ich schon gezeigt habe, hauptsächlich dadurch unterschieden, daß in jenem eine mindere Selbstthätigkeit in Verknüpfung der Vorstellungen als in diesem anzutreffen ist. Im Wachen ist diese Verknüpfung größtentheils zweckmäßig und eine Würkung des freien Willens. Im Traume hingegen ist sie größtentheils mecha- [84] nisch. Dort herrscht die Art der Association nach Grund und Folge, oder objektiver Coexistenz und Succession. Hier herrscht die nach Aehnlichkeit und subjektiver Coexistenz und Succession.

Hr. Goens konnte gewiß durch Anstrengung seines Nachdenkens nach der Verknüpfung von Grund und Folge den Sinn der ihm im Traume aufgegebnen Phrase herausbringen. Da es ihm aber im Traume an dem Grade der dazu erforderlichen Selbstthätigkeit mangelte, so kamen andere Associationsarten, die nicht diesen Grad der Selbstthätigkeit erforderten an ihre Stelle. Er gerieth also von der Vorstellung der Phrase auf die Vorstellung des Lehrers, der ihm dergleichen aufzugeben pflegte, und seiner Mitschüler, d.h. auf eine aus Gewohnheit entstandene subjektive Associationsart.

Nachdem aber diese vollendet worden war, und der zweckmäßigen Associationsart nach Grund und Folge keine Hindernisse von einer andern Associationsart mehr im Wege waren, fing sie an zu würken. Die Einbildungskraft war aber nicht im Stande dieses alles deutlich zu denken; sie stellte sich also dieses bildlich vor, als hätte Hr. Goens die Bedeutung der aufgegebenen Phrase von selbst nicht finden können, so daß sie ein anderer ihm hätte sagen müssen.

Es giebt auch viele allegorische Erscheinungen, die nicht während der Erscheinung selbst, sondern erst nach dem Aufwachen, sich gleichsam von selbst erklären.

[85]

Die merkwürdigsten Visionen aber sind die symbolischen, wo die Vorstellungen keine natürliche Zeichen, sondern blos willkürliche Zeichen der Begebenheiten sind. Jeremias z.B. sah einen Mandelstock, dessen Bedeutung die Beschleunigung der göttlichen Rache war, indem das Wort דקש (Schakad) in der hebräischen Sprache sowohl Beschleunigung, als einen Mandelbaum bedeutet. f Und was noch sonderbarer ist, so haben zuweilen die Vorstellung und die vorgestellte Sache nicht einmal einen gemeinschaftlichen Namen, sondern blos die Buchstaben sind beiden Namen gemeinschaftlich. Sacharias z.B. nahm im prophetischen Traume zwei Stäbe, und nannte den einen Noam, den andern Chowlim; dadurch wurde ihm angedeutet, daß die Nation anfänglich Gott gefällig gewesen, hernach aber in Verderb gerathen, und dadurch Gott widrig geworden sey. g Nun aber kann das Wort Chowlim nicht widrig bedeuten, wenn man nicht die Buchstaben versetzt und Bochlim daraus macht, so wie dieses aus dem Verfolge dieser Prophezeihung selbst zu ersehen ist.*) 1

Da ich hier von der Würkung der Ideenassociation spreche, so will ich bei dieser Gelegenheit [86]etwas nachholen, das meinen Aufsatz im 3ten Stück des achten Bandes Nr. 1. anbetrifft. h

Ich weiß, daß es manchem, der die Folgen aus ihren entferntesten Gründen herzuleiten nicht gewohnt ist, sehr paradox vorkommen wird, daß ich das Unvermögen zum Sprechen bei einem Manne, der, nach einer Jahreszeit völliger Lähmung an den Sprachwerkzeugen, wiederhergestellt wurde, aus einer Verlernung der Artikulation herleite. Wer den Präsident dû Brosses und den Monbode gelesen, und daraus die große Kunst der Artikulation sich bekannt gemacht hat, wird hier gar keine Schwierigkeit finden. Der letzte Verfasser besonders, fährt, nachdem er gezeigt hat, wie viel Zeit und Uebung zur Erlangung der Fertigkeit in der Artikulation nöthig ist, folgendermaßen fort.

»Und hier können wir bemerken, daß es ein sehr falscher Schluß ist, wenn man aus der Leichtigkeit eine Sache zu thun, folgert, daß sie eine natürliche Würkung sey. Denn was thun wir wohl leichter und fertiger, als reden? und doch, sehn wir, ist es eine Kunst, die nicht ohne die größte Arbeit und Schwierigkeit, beides auf Seiten des Lehrers und Schülers zu lehren; noch durch Nachahmung, ohne beständige Uebung von unsrer Kindheit an, zu lernen ist. Denn sie ist nicht gleich andern Künsten als Tanzen und Singen, dadurch zu lernen, daß man sie eine oder zwei Stunden des Tages, wenige Jahre, oder vielleicht nur einige Monate lang treibt; [87]sondern beständige und ununterbrochene Uebung wird, auf viele Jahre, und jede Stunde, ich mag sagen jede Minute des Tages, dazu erfodert.«

»Und sie kann, selbst nachdem sie mit so viel Mühe und Arbeit erlernt ist, gleich andern erlangten Fertigkeiten, durch Nichtübung verlohren werden, wovon ich zuvor ein merkwürdiges Beispiel an einem Knaben erwähnte, der sein Gehör nicht eher verlohr, bis er über acht Jahr alt war, und der nicht nur vollkommen reden, sondern auch lesen gelernt hatte; und doch, als er des Unterrichts wegen, zu Herrn Braidwood kam, welches in dem Alter von 25 Jahren geschahe, den Gebrauch der Sprache gänzlich verlohren hatte, und sie sowohl, als jeder andere Schüler lernen mußte; so daß wir daran nicht zweifeln dürfen, was Alexander Selkirk sagt, der nur drei Jahre in der wüsten Insel Juan Fernandez war: daß er während der kurzen Zeit den Gebrauch der Sprache so sehr verlohren gehabt habe, daß er denen, die ihn daselbst gefunden, kaum verständlich gewesen sey, u.s.w.« i

Mein würdiger Freund, der Hr. Geheimerath von L. erzählte mir von sich selbst eine ähnliche Begebenheit; nehmlich, nachdem er die Pronunciation der französischen Sprache aufs vollständigste erlernt gehabt habe, habe er sie hernach, aus Mangel an Uebung wieder so verlernt, daß, obschon er noch immer im Stande gewesen, wenn er andere habe [88]sprechen hören, die Richtigkeit der Pronunciation zu beurtheilen, er dennoch sie selbst zu bewerkstelligen nicht vermögend gewesen sey.

Aus dem allen erhellet, daß es sehr möglich sey, die Bedeutung der Worte im Gedächtniß zu behalten, und dennoch aus Mangel an Uebung das Sprechen zu verlernen.

Salomon Maimon.

Fußnoten:

1: *) Diese Bemerkungen über Visionen habe ich meinem großen Lehrer, dem Maimonides zu verdanken; von dessen Schriften ich bei einer andern Gelegenheit sprechen werde.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Goldmann 2015, S. 195-209. Zu den Vorlagen Maimon 1791a und Maimon 1791b vgl. ebenda., S. 206.

b: Jesaja 29,8: "Denn gleichwie einem Hungrigen träumt, daß er esse, wenn er aber aufwacht, so ist seine Seele noch leer; und wie einem Durstigen träumt, daß er trinke, wenn er aber aufwacht, ist er matt und durstig: also soll sein die Menge aller Heiden, die wider den Berg Zion streiten." Luther 1912.

c: Vorlage: Home 1763, S. 28f. Vgl. auch Goldmann 2015, S. 206, Erl. 12.

d: Sacharja 4,1-14. Luther 1912.

e: Daniel 7,1-28. Luther 1912.

f: Jeremia 1,11-12. Luther 1912.

g: Die Hirtenvision des Propheten. Sacharja 11,10: "Und ich nahm meinen Stab Huld und zerbrach ihn, daß ich aufhöre meinen Bund, den ich mit allen Völkern gemacht hatte." Sacharja 11,14: "Und ich zerbrach meinen andern Stab, Eintracht, daß ich aufhöbe die Bruderschaft zwischen Juda und Israel." (Luther 1912.)

h: Vgl. MzE VIII,3,8-16.

i: Monboddo 1784, S. 172f.