Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn
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In seinem sechsten Jahre fing sein Vater mit ihm an die Bibel zu lesen. Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde. Hier unterbrach B. J. seinen Vater, und fragte: Aber Papa, wer hat Gott erschaffen? V. Gott ist von niemand erschaffen, er war von aller Ewigkeit da. B. J. War er auch vor zehn Jahren da? V. O ja, er war auch [25]vor hundert Jahren da. B. J. Also ist Gott vielleicht schon tausend Jahr alt? V. Behüte! Gott war ewig. B. J. Aber er hat doch einmal gebohren werden müssen? V. Närrchen, nein! er war ewig und ewig und ewig. —
B. J. war zwar mit dieser Antwort nicht befriedigt, aber er dachte doch, Papa müsse es besser wissen als er, er müsse es also dabei bewenden lassen.
Ein andermal las er in der Bibel die Geschichte von Jakob und Esau; sein Vater citirte ihm hiebei eine Stelle aus dem Talmud, wo es hieß: Jakob und Esau theilten alle Güter der Welt untereinander; Esau wählte sich die Güter dieses, Jakob hingegen die Güter des zukünftigen Lebens; und da wir von Jakob herstammen, so müssen wir allen Anspruch auf die zeitlichen Güter aufgeben.
Hierauf sagte B. J. mit Unwillen, Jakob sollte kein Narr gewesen seyn, und lieber die Güter dieser Welt gewählt haben.
Der arme B. J. bekam hierauf zur Antwort: du gottloser Bube! und unmittelbar darauf eine Ohrfeige. Sein Zweifel war freilich damit nicht gehoben, aber es brachte ihn doch zum Stillschweigen.
B. J. hatte von seiner Kindheit an viel Neigung und Genie zum Zeichnen. Er hatte zwar in seinem väterlichen Hause nie ein Werk dieser Kunst zu sehen bekommen, aber er fand am Titelblatt einiger hebräischer Bücher Holzschnitte von Laubwerk,[26]Vögeln, und dergleichen; er fand an diesen Holzschnitten einen großen Gefallen, und bestrebte sich, dieselben mit einem Stückchen Kreide oder einer Kohle nachzuzeichnen. Was aber diesen Trieb bei ihm noch verstärkte, war ein hebräisches Fabelnbuch, worin die agirenden Personagen (die Thiere) durch solche Holzschnitte vorgestellt waren. Er zeichnete alle Figuren mit der größten Genauigkeit ab. Sein Vater bewunderte zwar hierinnen seine Geschicklichkeit, schalt aber zugleich auf ihn, mit diesen Worten: Willst du ein Mahler werden? Du sollst den Talmud studiren und ein Rabiner werden. Wer den Talmud versteht, der versteht alles.
Sein Vater hatte in seiner Studierstube einen Schrank mit Büchern stehn, er verbot zwar dem jungen B. J. alle andern Bücher außer dem Talmud zu lesen. Aber es half nichts. Da der Vater die mehrste Zeit mit häuslichen Angelegenheiten beschäftigt war, so machte sich B. J. diese Zeit zu Nutze.
Aus Neugierde machte er sich über den Schrank her, blätterte alle Bücher durch, und da er schon ziemlich hebräisch verstand, fand er an einigen derselben mehr Behagen als an dem Talmud.
Die vorzüglichsten darunter waren: eine hebräische Chronik; ein Josephus; eine Geschichte der Verfolgung der Juden in Spanien und Portugal; und was ihn am stärksten an sich zog, ein astronomisches Buch.
[27]Hier eröffnete sich ihm eine neue Welt, er machte sich also mit dem größten Fleiße darüber. Man denke sich ein Kind von ohngefähr sieben Jahren, das noch nie von den ersten Elementen der Mathematik etwas gesehn oder gehört hat, dem ein astronomisches Buch in den Wurf kömmt, und seine Aufmerksamkeit auf sich zieht, worüber ihm aber niemand Anweisung geben kann (seinem Vater durfte er seine Begierde darnach nicht wissen lassen, und ohnedem war dieser selbst nicht im Stande ihm hierüber Auskunft zu geben); wie muß dieses seinen nach Wissenschaften schmachtenden Geist nicht entflammt haben! Dieses zeigt auch der Erfolg.
Da er noch ein Kind war, und die Betten in seines Vaters Hause sehr rar waren, so war es ihm erlaubt, mit seiner alten Großmutter (deren Bette in gedachter Studierstube stand) in einem Bette zu schlafen. Und da er den Tag über blos mit dem Studium des Talmuds sich abgeben mußte, und kein anderes Buch in die Hand nehmen durfte, so bestimmte er die Abende zu seinen astronomischen Betrachtungen.
Nachdem also die Großmutter zu Bette gegangen war, steckte sich B. J. frisches Kienholz an, machte sich über den Schrank her und holte sich sein geliebtes astronomisches Buch hervor. Die Großmutter schalt ihn zwar deswegen, weil es der alten Frau zu kalt war, um allein im Bette zu liegen, er aber kehrte sich nicht daran, und setzte sein Stu-[28]dium so lange fort, bis das Kienholz ausgebrannt war.
Nachdem er dieses einige Abende getrieben hatte, kam er endlich zu der Vorstellung von dem Himmelsglobus und seinen zur Erklärung der astronomischen Erscheinungen erdichteten Zirkeln.
Dieses war im Buche durch eine einzige Figur vorgestellt, wobei der Verfasser dem Leser den guten Rath gab, daß er zur bessern Verständlichkeit, indem die mannigfaltigen Zirkel in einer Flächenfigur nicht anders als durch gerade Linien vorgestellt werden könnten, sich entweder einen ordentlichen Globus, oder einen Globus armillaris verfertigen solle.
B. J. faßte also den Vorsatz einen solchen Globus armillaris aus geflochtenen Ruthen zu verfertigen; nachdem er diese Arbeit zu Ende gebracht hatte, war er im Stande das ganze Buch zu fassen. Da er sich aber in Acht nehmen mußte, daß sein Vater von dieser seiner Beschäftigung nichts erfahre, so versteckte er immer seinen Globus armillaris, ehe er zu Bette gieng, in einen Winkel hinter den Schrank.
Seine Großmutter, die verschiedenemal bemerkt hatte, daß er ganz im Lesen vertieft sey, und dann und wann auf aus Ruthen geflochtene, kreuzweise aufeinander gelegte Kreise seinen Blick richtete, gerieth hierüber in den größten Schreck; sie glaubte nicht anders, als daß ihr Enkel närrisch geworden sey.
[29]Sie unterließ also nicht, seinen Vater hiervon zu benachrichtigen, und demselben den Verwahrungsort des magischen Instruments anzuzeigen. Dieser rieth bald, was dieses bedeuten müßte. Er nahm also den Globus in die Hand und ließ B. J. zu sich rufen. Nachdem dieser gekommen war, fragte er ihn mit folgenden Worten:
V. Was hast du dir da für ein Spielwerk gemacht?
B. J. Dieses ist ein Kader.*) 2
V. Was soll dieses bedeuten?
B. J. erklärte ihm hierauf den Gebrauch aller Zirkel zur Begreiflichmachung der himmlischen Erscheinungen.
Der Vater der zwar ein guter Rabiner war, aber kein sonderliches Talent zu Wissenschaften hatte, konnte nicht alles begreifen, was B. J. ihm begreiflich machen wollte; besonders befremdete ihn die Vergleichung seiner Sphaera armillaris mit der Figur im Buche, und wie aus geraden Linien Zirkel entsprungen wären, aber so viel konnte er doch einsehen, daß B. J. seiner Sache gewiß war.
Er schalt daher zwar auf ihn, daß er sein Verbot sich mit etwas anderm außer dem Talmud abzugeben, übertreten habe, freute sich aber doch innerlich, daß sein junger Sohn, ohne einen Anführer[30]und Vorkenntniß zu haben, von sich selbst ein ganzes Werk von einer Wissenschaft habe durcharbeiten können; und damit war dieser Proceß zu Ende.
B. J. bekam also auf diese Art eine Privaterziehung und Unterricht, theils von seinem Vater, theils aber von sich selbst; so daß er, als er ungefähr eilf Jahr alt war, es schon im Studium des Talmuds so weit gebracht hatte, daß er einen vollkommenen Rabiner abgeben konnte. Außerdem hatte er von der Geschichte, Astronomie, und einigen unzusammenhangenden mathematischen Wahrheiten überhaupt einige Kenntniß erlangt.
Er brannte vor Begierde sich noch mehr Kenntnisse zu erwerben; aber wie sollte es bei dem Mangel an Anführung, an wissenschaftlichen Büchern, und an allen Mitteln dazu, angehen? Er mußte sich also begnügen, ohne allen Plan und Ordnung, sich das, was er zufälligerweise davon erhalten konnte, zu Nutze zu machen.
Ich übergehe hier seine Lebensepoche nach seiner Verheirathung, die wegen der übeln Umstände seines Vaters, und nach dem Gebrauch dieser Nation in diesen Gegenden, überhaupt sehr frühzeitig (in seinem eilften Jahre) vor sich gieng, und bemerke hier blos diejenigen Umstände, die hauptsächlich zur Bildung seines Geistes und Karakters etwas beigetragen haben.
B. J. war in seiner Jugend sehr lebhaft, und hatte viel Annehmlichkeit in seinem Wesen. In [31]seinen Begierden und Leidenschaften war er heftig und ungeduldig. Bis ungefähr in sein eilftes Jahr spürte er, da er einer sehr strengen Erziehung genoß, und von allem Umgange mit Frauenzimmern abgehalten wurde, keine sonderliche Zuneigung zu dem schönen Geschlechte in sich. Eine Begebenheit aber brachte hierin eine große Veränderung bei ihm hervor.
Ein armes, aber sehr hübsches Mädchen von ohngefähr dem Alter des B. J. wurde in dem Hause seiner Aeltern als Dienstmädchen angenommen. Das Mädchen gefiel dem B. J. ungemein. Es wurden bei ihm Begierden rege, die er bis jetzt nicht gekannt hatte. Er mußte aber, nach der strengen rabinischen Moral, sich in Acht nehmen, dieses Mädchen mit Aufmerksamkeit anzusehn, und noch mehr, sie zu sprechen, und konnte nur dann und wann verstohlne Blicke auf sie werfen.
Es ereignete sich einmal, daß die Frauensleute aus dem Hause ins Bad giengen, welches nach dem Gebrauche dieses Landes ein paarmal die Woche über zu geschehen pflegt. B. J. den sein Instinkt, ohne es selbst zu wissen, von ohngefähr nach der Gegend wo das Bad war, hintrieb, erblickte auf einmal dieses hübsche Mädchen, wie es aus dem Schwitzbade heraus in den nahe vorbeifließenden Fluß hineinsprang.
Er gerieth bei diesem Anblicke ganz außer sich; nachdem er sich erholt hatte, wollte er, der strengen [32]talmudistischen Gesetze eingedenk, zurückfliehn, aber konnte nicht. Er blieb also auf seiner Stelle wie angewurzelt stehn.
Da er aber hier überrascht zu werden fürchtete, mußte er sich doch mit einem schweren Gemüthe zurückbegeben. Seit der Zeit war er beständig unruhig, gerieth zuweilen außer sich, und dieser Zustand dauerte bis zu seiner Verheirathung, welche bald darauf erfolgte.
Um seiner Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften ein Genüge zu leisten, war kein anderes Mittel für ihn übrig, als fremde Sprachen zu lernen. Aber wie sollten er es damit anfangen? Die polnische oder lateinische Sprache bei einem Katholiken zu lernen, war ihm unmöglich, indem von der einen Seite die Vorurtheile seiner eignen Nation ihm alle andern Sprachen außer der Hebräischen, und alle andre Kenntnisse und Wissenschaften außer dem Talmud und der ungeheuern Anzahl seiner Kommentaren, verwehrten; von der andern Seite aber auch die Vorurtheile der Katholiken es nicht zuließen, einen Juden hierin zu unterweisen.
Außerdem war er in sehr schlechten zeitlichen Umständen. Er mußte durch Schulmeisterschaft, Korrektur der hebräischen Schrift, und dergl. eine ganze Familie ernähren. Er mußte also eine lange Zeit nach der Befriedigung seines natürlichen Triebes vergebens seufzen.
[´33]Endlich kam ihm hierin ein glücklicher Zufall zu Hülfe. Er bemerkte nehmlich an einigen hebräischen Büchern, die sehr starkleibig waren, daß sie mehrere Alphabete enthielten, und man ihre Bogenanzahl daher nicht blos mit hebräischen Buchstaben hatte bezeichnen können, sondern im zweiten und dritten Alphabet sich zu diesem Behuf auch anderer Schriftzeichen hatte bedienen müssen, welches gemeiniglich lateinische und deutsche Buchstaben waren.
Nun hatte zwar B. J. nicht den mindesten Begriff von einer Druckerei. Er stellte sich gemeiniglich vor, daß Bücher so wie Leinwand gedruckt würden, und daß jede Seite durch eine besondre Form abgedruckt würde.
Er vermuthete aber, daß die nebeneinanderstehenden Schriftzeichen einen und eben denselben Buchstaben bedeuteten. Er supponirte also, daß z.B. a das neben א steht, gleichfalls ein Alpha seyn müsse. Auf diese Art lernte er nach und nach die lateinische und deutsche Schrift kennen.
Durch eine Art des Dechifrirens fing er an, verschiedene deutsche Buchstaben in Wörter zu kombiniren, blieb aber dabei noch immer zweifelhaft, ob nicht seine ganze Mühe vergebens seyn würde, indem die neben den hebräischen Buchstaben befindlichen Schriftzeichen ganz etwas anders als eben dieselben Buchstaben seyn könnten, bis ihm zum Glück einige Blätter aus einem alten deutschen Buche in die Hände fielen.
[34]Er fing an zu lesen. Und wie groß war nicht seine Freude und Verwunderung, da er aus dem Zusammenhange sahe, daß die Worte mit denjenigen, die er schon gelernt hatte, völlig übereinstimmten. Zwar blieben ihm nach seiner jüdischen Sprache eine Menge Worte unverständlich, aber aus dem Zusammenhange konnte er doch auch mit Weglassung dieser Worte das Ganze ziemlich fassen.
B. J. fühlte noch immer eine Leere in sich, die er nicht auszufüllen im Stande war. Er konnte seine Begierde nach Kenntnissen und Wissenschaften nicht befriedigen. Bis jetzt war noch immer das Studium des Talmuds sein Hauptgeschäfte, woran er aber blos in Ansehung der Form, indem sie die höhern Seelenkräfte in Thätigkeit setzt, einen Gefallen hatte; keineswegs aber in Ansehung der Materie.
Man findet darin Gelegenheit zur Uebung in Herleitung der entferntesten Folgen aus ihren Gründen, zur Entdeckung der verborgensten Widersprüche, zur Ausfindigmachung der feinsten Distinktionen u.s.w. Da aber die Prinzipien selbst blos eine eingebildete Realität haben, so kann sich eine wißbegierige Seele keinesweges damit befriedigen.
Er sahe sich also nach etwas um, wodurch er diesen Mangel ersetzen könnte. Nun wußte er zwar, daß es eine sogenannte Wissenschaft giebt, die bei den jüdischen Gelehrten in dieser Gegend ziemlich im Schwange ist; nehmlich die Kabala, [35]wodurch man nicht nur seine Wißbegierde befriedigen, sondern auch sich ungemein vervollkommnen und Gott nähern könne.
Er brannte also, wie natürlich, vor Begierde darnach; aber da diese Wissenschaft wegen ihrer Heiligkeit nicht öffentlich gelehrt, sondern ins Geheim traktirt werden muß, so wußte er nicht, wo er die darin Eingeweiheten, und ihre Schriften aufsuchen sollte.
Er erfuhr darauf, daß der Unterrabiner oder Prediger dieses Orts ein kabalistischer Adept sey, und machte sich also, zur Erreichung seines Endzwecks, mit ihm bekannt, nahm seinen Platz in der Synagoge neben ihm, und da er einst merkte, daß der Prediger immer nach dem Gebete in einem kleinen Buche las, und alsdann dasselbe auf der Stelle verwahrte; so wurde B. J. sehr begierig, zu wissen, was dieses für ein Buch seyn möge?
Nachdem also der Prediger nach Haus gegangen war, ging B. J. und hohlte dieses Buch aus dem Orte, wo jener es versteckt hatte, und nachdem er gefunden hatte, daß es ein kabalistisches Buch sey, so nahm er dasselbe zu sich, und versteckte sich damit in einem Winkel in der Synagoge, bis alle Leute aus derselben gegangen, und die Synagoge zugeschlossen worden war.
Nachher kroch er aus seinem Schlupfwinkel hervor, und las in seinem geliebten Buche so lange bis der Schließer des Abends die Synagoge wieder [36]aufmachte; ohne den ganzen Tag über an Essen oder Trinken zu denken.
In ein Paar Tagen wurde er auf diese Art mit seinem Buche fertig. Dieses aber, anstatt seine Begierde zu befriedigen, reitzte dieselbe noch vielmehr. Er wünschte noch mehrere Bücher dieser Art zu lesen.
Da er aber zu schüchtern war, um dieses dem Prediger zu entdecken, so beschloß er einen Brief an ihn zu schreiben, worin er seine unwiderstehliche Begierde nach dieser heiligen Wissenschaft äußerte, und daher den Prediger inständig bat, daß er ihn mit Büchern unterstützen möchte.
Darauf erhielt er von dem Prediger eine sehr günstige Antwort. Dieser lobte seinen Eifer für diese heilige Wissenschaft, und versicherte ihn, daß dieser Eifer, unter so wenig Begünstigung, ein offenbares Merkmaal sey, daß B. J. Seele von Olam Aziloth (der Welt des unmittelbaren göttlichen Ausflusses) herkomme, anstatt daß die Seelen der bloßen Talmudisten von Olam Inzire (der Welt der Schöpfung) ihren Ursprung nehmen. Er versprach ihm daher, so viel in seinem Vermögen wäre, ihn mit Büchern zu unterstützen.
Da er aber sich selbst hauptsächlich mit dieser Wissenschaft beschäftigte, und dergleichen Bücher beständig bei der Hand haben mußte, so konnte er ihm dieselben nicht leihen, erlaubte ihm aber, [37]sie in seinem eignen Hause nach Belieben zu studiren.
Wer war froher als B. J. ? Er nahm dieses Anerbieten des Predigers mit Dankbarkeit an, kam beinahe nicht aus des Predigers Hause, und saß Tag und Nacht über den kabalistischen Büchern.
Dieses aber inkommodirte den Herrn Prediger ungemein; er hatte seit kurzer Zeit eine sehr hübsche junge Frau geheirathet, sein elendes Häuschen bestand aus einem einzigen Zimmer, welches zugleich Wohn- Studier- und Schlafstube war. Hier wachte also B. J. ganze Nächte durch. Seine Uebersinnlichkeit kam daher mit des Predigers Sinnlichkeiten nicht selten in Kollision.
Dieser dachte folglich auf Mittel den angehenden Kabalisten auf eine gute Art loß zu werden. Er sagte ihm daher einst: hören Sie Herr B. J. Ich merke, daß es Sie zu sehr inkommodiren muß, der Bücher wegen beständig außer Ihrem Hause bei mir zuzubringen. Sie können in Gottes Nahmen dieselben einzeln mit nach Hause nehmen, und also nach ihrer Kommodität studiren.
Dem B. J. war nichts willkommener als dieses. Er nahm daher von dem Prediger ein Buch nach dem andern nach Hause, und studirte darin so lange, bis er die ganze Kabala inne zu haben glaubte. Er begnügte sich nicht blos mit der Erkenntniß ihrer Prinzipien und mannigfaltigen Systeme, sondern suchte auch von diesen den gehörigen [38]Gebrauch zu machen. Es war keine Stelle in der heiligen Schrift, oder im Talmud anzutreffen, deren geheimen Sinn er nicht aus kabalistischen Prinzipien, mit der größten Fertigkeit hätte herauswickeln können.
Selbst der Prediger gerieth darüber in Erstaunen und Verwunderung, als er sahe, daß es B. J. in einer kurzen Zeit viel weiter als er selbst darin gebracht hatte, und in die Tiefen dieser Wissenschaft eingedrungen war.
B. J. wollte sich aber dennoch mit der litterarischen Kenntniß dieser Wissenschaft nicht befriedigen, er suchte in ihren Geist einzudringen; und da er bemerkte, daß diese ganze Wissenschaft, wenn sie diesen Nahmen verdienen sollte, nichts anders als die Geheimnisse der Natur in Fabeln und Allegorien eingehüllet, seyn könne; so bemühte er sich diese Geheimnisse ausfindig zu machen, und dadurch seine bloße litterarische Erkenntniß zu einer Vernunfterkenntniß zu erheben.
Er konnte aber dieses damals nur auf eine sehr unvollständige Art bewerkstelligen, weil er noch sehr wenige Begriffe von Wissenschaften überhaupt hatte. Doch gerieth er von selbst durch eignes Nachdenken auf viele Applikationen dieser Art. Er erklärte sich z.B. gleich die erste Instanz, womit die Kabalisten gemeiniglich ihre Wissenschaft anfangen.
Nehmlich: ehe die Welt erschaffen worden ist, hatte das göttliche Wesen allein den ganzen unend-[39]lichen Raum ausgefüllt. Nun wollte aber Gott eine Welt erschaffen, damit er seine Eigenschaften die sich auf andere Wesen außer ihn beziehen, offenbaren könnte; er schränkte, zu diesem Endzwecke, sich selbst in den Mittelpunkt seiner Vollkommenheit ein. Ließ hernach in den dadurch leergebliebenen Raum zehn konzentrische Lichtkreise fahren, daraus entstanden hernach mannigfaltige Figuren (Parzoffim) und Gradationen bis zur gegenwärtigen sinnlichen Welt u.s.w.
B. J. konnte sich auf keinerlei Art vorstellen, daß dieses alles im gemeinen Sinne dieser Worte wahr seyn solle, so wie beinahe alle Kabalisten es sich vorstellen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß, ehe die Welt erschaffen worden, eine Zeit verflossen sey, indem er aus seinem Mora Newochim wußte, daß die Zeit blos eine Modifikation der Welt sey, und folglich ohne diese nicht gedacht werden könne.
Er konnte sich nicht vorstellen, daß Gott einen, obgleich unendlichen Raum erfülle; ferner, daß er als ein unendlich vollkommenes Wesen, seine eigne Vollkommenheit auf eine zirkelförmige Art in seinem Mittelpunkte einschränken sollte.
Sondern er suchte sich dieses alles auf folgende Art zu erklären: Gott ist nicht der Zeit nach, sondern seinem nothwendigen Wesen nach, als Bedingung der Welt eher als dieselbe. Alle Dinge außer Gott mußten, so wohl ihrem Wesen, als ihrer Existenz nach, von ihm als ihrer Ursache ab-[40]hängen. Die Erschaffung der Welt konnte also nicht als eine Hervorbringung aus nichts, auch nicht eine Bildung von etwas, von ihm Unabhängigen, sondern nur als eine Hervorbringung aus sich selbst gedacht werden. Und da die Wesen von verschiedenen Graden der Vollkommenheit sind, so müssen wir zur Erklärung ihrer Entstehungsart, verschiedene Grade der Einschränkung des göttlichen Wesens annehmen. Und da diese Einschränkung grade vom unendlichen Wesen bis zu der Materie gedacht werden muß, so stellen wir uns den Anfang dieser Einschränkung figürlich als einen Mittelpunkt (den niedrigsten Punkt) des Unendlichen vor.
Unter den zehn Kreisen dachte sich B. J. die zehn Prädikamente des Aristoteles, die er aus gedachtem More Newochim kennen gelernt hatte, die allgemeinsten Prädikate der Dinge, ohne welche nichts gedacht werden kann u.s.w.
B. J. zog sich aber durch diese Erklärungsart manche Ungelegenheit zu. Die Kabalisten behaupten nehmlich, daß die Kabala keine menschliche, sondern eine göttliche Wissenschaft sey, und daß es folglich dieselbe herabwürdigen hieße, wenn man ihre Geheimnisse der Natur und Vernunft gemäß erklären wollte.
Je vernünftiger also B. J. Erklärungen herauskamen, desto mehr wurden sie gegen ihn aufgebracht, indem sie dasjenige blos für göttlich hielten, was keinen vernünftigen Sinn hatte.
[41]B. J. mußte also seine Explikationen für sich behalten. Ein ganzes Werk das er darüber geschrieben hat, brachte er noch mit nach B. welches er noch bis jetzt als ein Denkmaal von dem Streben des menschlichen Geistes nach Vollkommenheit, ohngeachtet aller Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen, verwahrt.
Unterdessen konnte ihn doch dieses nicht befriedigen. Er wünschte, die Wissenschaften nicht in Fabeln eingehüllet, sondern in ihrem natürlichen Lichte zu erblicken. Er hatte zwar schon, obwohl sehr mangelhaft, deutsch lesen gelernt; aber wo sollte er in Litthauen deutsche Bücher hernehmen?
Zum Glück für ihn, erfuhr er, daß der Oberrabbiner von F. der sich in seiner Jugend in H. aufgehalten, und da die deutsche Sprache erlernt, und sich mit den Wissenschaften einigermaßen bekannt gemacht hatte, sich noch bis jetzt, obzwar ins Geheim, mit den Wissenschaften abgebe, und eine ziemliche Bibliothek von deutschen Büchern hätte.
B. J. beschloß daher, zu diesem Oberrabbiner nach F. zu wallfahrten, und diesen um einige wissenschaftliche Bücher anzuflehen. Ohne sich also um Reisegeld und Fuhrwerk im mindesten zu bekümmern (er war solche Reisen ziemlich gewohnt, und er gieng einst nach W. 30 Meilen zu Fuß, um ein hebräisch-peripathetisch-philosophisches Buch aus dem 12ten Jahrhundert zu sehn), und ohne seiner [42]Familie ein Wort davon zu sagen, machte er sich auf die Reise nach F. in der Mitte des Winters.
So bald er da angelangt war, gieng er zu dem Oberrabbiner, sagte ihm sein Anliegen, und bat ihn flehentlich um Hülfe darin. Dieser erstaunte nicht wenig darüber, indem seit 31 Jahren, daß er von Deutschland zurückgekommen war, noch kein Mensch sich gefunden hatte, der eine Bitte dieser Art an ihn gethan hätte, und versprach, ihm einige alte deutsche Bücher zu leihen. Die vorzüglichsten darunter waren eine alte Optik und Sturms Physik.
B. J. wußte diesem braven Oberrabbiner seine Dankbarkeit nicht genug auszudrücken, steckte diese paar Bücher ein, und kehrte damit voller Entzücken nach Hause zurück.
Nachdem er diese durchstudirt hatte, wurden ihm auf einmal seine Augen aufgethan. Er glaubte nun den Schlüssel zu allen Geheimnissen der Natur erlangt zu haben. Er wußte wie ein Gewitter, Thau, Regen, u.s.w. entstehe.
Er sahe über alle andern, die dieses noch nicht wußten, stolz herab, lachte über ihre Vorurtheile und Aberglauben, und erbot sich, ihre Begriffe hierin aufzuklären und ihren Verstand zu erleuchten.
Dieses wollte aber nicht überall anschlagen. Er bemühte sich einmal einem Talmudisten beizubringen, daß die Erde rund sey, und daß wir Gegenfüßler hätten. Dieser aber machte ihm den Ein-[43]wurf, daß diese Gegenfüßler nothwendig fallen müßten?
B. J. hatte genug zu demonstriren, daß das Fallen der Körper nicht nach einer bestimmten Richtung im leeren Raume, sondern nach dem Mittelpunkt der Erde geschehe, und daß die Begriffe von Oben und Unten blos die Entfernung und Näherung von diesem Mittelpunkte wären. Es half alles nichts, der Talmudist blieb dabei, daß dieses Vorgeben ungereimt sey.
So gieng er einmal mit einigen seiner Freunde spatzieren. Nun mußte ihnen gerade eine Ziege im Wege liegen. B. J. gab der Ziege einige Schläge mit seinem Stocke, seine Freunde warfen ihm seine Grausamkeit vor. Er aber erwiderte: was Grausamkeit? glaubt ihr denn, daß die Ziege einen Schmerz fühlt, wenn ich sie schlage? ihr irrt euch hierin sehr. Die Ziege ist (nach dem Sturm, der ein Karthesianer war) eine bloße Maschine.
Diese lachten herzlich darüber, und sagten, aber hörst du nicht, daß die Ziege schreit, wenn du sie schlägst? Worauf jener antwortete: ja freilich schreiet sie; wenn ihr aber auf eine Trommel schlagt, so schreiet sie auch.
Diese erstaunten über diese Antwort, in kurzer Zeit wurde in der ganzen Stadt bekannt, das B. J. närrisch geworden wäre, indem er behaupte: Eine Ziege sey eine Trommel.
[44]B. J. dessen äußere Umstände sehr schlecht waren, weil er sich nicht mehr zu seinen gewöhnlichen Geschäften schicken wollte, und sich daher überall außer seiner Sphäre befand; und von der andern Seite auch seine Lieblingsneigung zum Studium der Wissenschaften, in seinem Wohnorte, nicht genug befriedigen konnte, beschloß endlich, sich nach Deutschland zu begeben, und da Medizin, und bei dieser Gelegenheit auch andere Wissenschaften zu studiren.
Nun war nur die Frage, wie eine solche weite Reise zu machen sey?
Er wußte zwar, daß einige Kaufleute aus seiner Stadt bald nach Königsberg in Preußen reisen würden; aber da er mit diesen wenig Bekanntschaft hatte, so konnte er nicht hoffen, daß sie ihn umsonst mitnehmen würden. Nach vielem Ueberlegen gerieth er endlich auf ein gutes Expediens.
Er hatte einen sehr gelehrten und frommen Mann zum Freunde, der in der Stadt bei der ganzen Judenschaft in großer Achtung stand, diesem entdeckte er sein Vorhaben, und zog ihn hierüber zu Rath.
Er stellte ihm seine schlechten Umstände vor; zeigte ihm, daß, indem er einmal seine Neigungen auf die Erkenntniß Gottes und seiner Werke gerichtet habe, er zu allen gewöhnlichen Geschäften nicht mehr tauglich sey; besonders stellte er ihm vor, daß er sich jetzt bloß von seiner Gelehrsamkeit, als Informator in der Bibel und dem Talmud, er-[45]nähren müsse, welches nach dem Ausspruche einiger Rabbiner nicht ganz erlaubt seyn sollte. Er wolle daher die Medizin als eine profane Kunst studiren, wodurch er nicht nur sich selbst, sondern auch der ganzen Judenschaft in dieser Gegend nutzen würde, weil es da keinen ordentlichen Mediziner gebe, und diejenigen, die sich dafür ausgeben, die unwissendsten Bartscherer wären, die die Menschen mit ihren Kuren von der Welt schafften.
Diese Gründe thaten auf diesen frommen Mann eine außerordentliche Würkung. Er gieng zu einem Kaufmann von seiner Bekanntschaft, stellte ihm die Wichtigkeit von B. J. Unternehmen vor; und beredte ihn, daß er den B. J. auf seiner eignen Fuhre mit nach Königsberg nehmen möchte. Dieser durfte diesem göttlichen Manne nichts abschlagen, und willigte also darein.
Er reiste also mit diesem jüdischen Kaufmanne nach Königsberg in Preußen. So bald er da ankam, gieng er zu dem dasigen jüdischen Doktor medizinä H... eröffnete ihm sein Vorhaben, Medizin zu studiren, und bat ihn um guten Rath und Unterstützung. Dieser, dessen Berufsgeschäfte ihn verhinderten, sich mit B. J. darüber gehörig zu besprechen, und der ohnedem ihn nicht gut verstehn konnte, verwieß ihn an einige Studenten, die in seinem Hause logirten.
Diese jungen Herren brachen, so bald B. J. sich ihnen zeigte, und sein Vorhaben eröffnete, hier-[´46]über in ein lautes Gelächter aus; welches ihnen auch gar nicht zu verdenken war. Man stelle sich einen polnischlitthauischen Mann von ohngefähr 25 Jahren, mit einem ziemlich starken Barte, in zerrissener schmutziger Rabbinischer Kleidung vor, dessen Sprache aus der hebräischen, jüdischdeutschen, polnischen und russischen Sprache mit ihren respective-grammatikalischen Fehlern zusammengesetzt ist, und der die deutsche Sprache zu verstehen, und einige Kenntnisse und Wissenschaft erlangt zu haben vorgiebt. Was sollten diese jungen Herren dazu denken?
Sie fingen also an ihren Spas mit ihm zu treiben, und gaben ihm Mendelssohns Phädon, a der ohngefähr auf dem Tische lag, zu lesen. B. J. las sehr erbärmlich (so wohl wegen seiner eignen Art die deutsche Sprache lesen zu lernen, als wegen seiner schlechten Aussprache) und jene brachen abermals in ein starkes Gelächter aus, sagten aber, er solle ihnen das Gelesene expliciren. Er that es nach seiner Art. Da sie ihn aber nicht verstanden, so verlangten sie, daß er das Gelesene ins Hebräische übersetzen möchte.
Dieses vollzog B. J. auf der Stelle. Die Studenten, die das Hebräische wohl verstanden, geriethen in ein nicht geringes Erstaunen, indem sie sahen, daß B. J. nicht nur den Sinn dieses berühmten Verfassers wohl gefaßt hatte, sondern auch denselben in der hebräischen Sprache glücklich aus-[47]drückte; sie fingen also an, sich für ihn zu interessiren; verschaften ihm einige alte Kleidungsstücke, und Unterhaltung, während seines Aufenthalts in K. und riethen ihm zugleich, daß er, um seinen Zweck zu erlangen, nach B. reisen möchte.
Um aber diese Reise seinen Umständen gemäß einzurichten, riethen sie ihm ferner, er möchte von K. bis Stettin zu Schiffe reisen; von wo er nach Frankfurt an der Oder, und von dort nach B. leicht Gelegenheit finden würde.
B. J. gieng also zu Schiffe, und hatte zur Zehrung nichts mehr als ein geröstetes Brod, einige Heringe, und ein Fläschchen Branntwein. Man sagte ihm in K. daß diese Reise ohngefähr zehn und höchstens vierzehn Tage dauern könne. Diese Prophezeihung aber traf nicht ein. Die Reise dauerte, wegen kontrairer Winde, fünf Wochen.
In welchen Umständen B. J. sich hier befunden habe, kann man sich leicht vorstellen. Es waren auf dem Schiffe außer ihm keine andere Passagirer, als eine alte Frau, die beständig geistliche Lieder zu ihrem Troste sang. Er kannte so wenig die pommerisch-deutsche Sprache der Schiffsleute, als diese seine jüdisch-pol- nisch-litthauische Sprache verstanden; bekam die ganze Zeit durch nichts Warmes zu genießen, und mußte im Raum auf hart beladenen Säcken schlafen. Das Schiff gerieth auch einigemahl in Gefahr. Er, wie natürlich, war den größten Theil der Zeit schiffkrank.
[48]Endlich kam er nach Stettin. Man sagte ihm, daß er von da bis nach F. eine Reise zu Fuße ganz spielend machen könnte. Aber wie sollte ein polnischer Jude in den elendesten Umständen, ohne einen Pfennig zum Zehren bei sich zu haben, und sogar ohne die Landessprache zu verstehn, eine Reise, wenn auch nur von wenigen Meilen, machen?
Doch dieses mußte einmal geschehn. Er gieng also von Stettin aus, und indem er seine elende Lage überdachte, setzte er sich unter eine Linde und fing an bitterlich zu weinen.
Endlich wurde ihm etwas leichter ums Herz; er faßte Muth und gieng weiter. Nachdem er ein paar Meilen gemacht hatte, kam er gegen Abend ganz ermüdet in ein Wirthshaus. Es war eben der Tag vor dem jüdischen Fasttage der im August fällt. Er schmachtete schon vor Hunger und Durst, und sollte noch dazu den ganzen morgenden Tag fasten. Was sollte er nun machen, da er keinen Pfennig zu zehren hatte?
Nachdem er dieses überdacht hatte, fiel ihm ein, daß er noch einen eisernen Löffel, den er mit zu Schiffe genommen, in seinem Mantelsack haben müsse; er hohlte ihn, und bat die Wirthin, daß sie ihm dafür ein wenig Brod und Bier geben möchte. Diese weigerte sich anfangs, den Löffel anzunehmen, durch vieles Flehen aber wurde sie doch endlich bewogen, ein Glas sauer Bier dafür zu accordiren. B. J. mußte sich also damit befriedigen, trank sein [49]Glas Bier, und gieng nach dem Stalle aufs Stroh, um zu schlafen.
Am Morgen setzte er seine Reise fort, indem er vorher nach einem Orte fragte, wo Juden wohnten, damit er in die Synagoge gehen, und die Klaglieder über die Zerstörung Jerusalems mit seinen Brüdern singen könnte.
Dieses geschahe. Nach Endigung des Betens und Singens (ungefähr gegen Mittagszeit) gieng er zu dem jüdischen Schulmeister dieses Orts, und unterredete sich mit ihm; und da dieser merkte, daß B. J. ein vollkommener Rabbiner sey, fing er an, sich für ihn zu interessieren, und verschafte ihm bei einem Juden ein Abendessen, und gab ihm auch ein Empfehlungsschreiben an einen andern Schulmeister im nächsten Orte mit, worin er B. J. als einen großen Talmudisten und ehrwürdigen Rabbiner rekommandirte.
B. J. fand hier auch ziemlich gute Aufnahme, wurde von dem angesehensten und reichsten Juden dieses Orts zum Sabathessen eingeladen, und gieng in die Synagoge, wo man ihm die oberste Stelle anwies, und alle einem Rabbiner gewöhnlich zukommende Ehrenbezeigungen erwies.
Nach Endigung des Gottesdienstes nahm ihn der gedachte reiche Jude mit nach Hause, und wies ihm am Tische den obersten Platz an, nehmlich zwischen sich und seiner Tochter. Diese war ein junges [50]Mädchen von ohngefähr zwölf Jahren, und aufs Schönste ausgeputzt.
B. J. fing an, als Rabbiner einen sehr gelehrten und erbaulichen Diskurs zu führen, und je weniger Herr und Madam denselben verstanden, desto göttlicher kam er ihnen vor.
Auf einmal merkte er aber zu seinem Leidwesen, daß Mamsell eine saure Miene zu machen, und das Gesicht zu verziehen anfing. Er wußte sich anfangs dieses nicht zu erklären; wie er aber darauf seinen Blick auf sich selbst und auf seine elende schmutzige Lumpenkleidung wandte, wurde ihm sogleich dieses ganze Geheimniß enträthselt. Die Beunruhigung der Mamsell hatte ihren guten Grund. Und wie konnte es auch anders seyn? Da er, seitdem er von K. abgereist war, ohngefähr seit sieben Wochen, kein frisches Hemde anzuziehn hatte, in den Wirthshäusern auf dem bloßen Strohe, worauf, wer weis, wie viel arme Reisende schon gelegen hatten, liegen mußte, u.s.w.
Nun wurden ihm mit einemmal die Augen aufgethan, er übersahe auf einmal sein ganzes Elend. Aber was sollte er machen? Wie sollte er sich aus dieser mißlichen Lage heraushelfen?
Endlich gelangte er in B. an. Hier glaubte er seinem Elende ein Ende zu machen, und alle seine Wünsche zu erreichen, worin er sich aber sehr betrog. Es gieng damit folgender Weise zu.
[51]Da, wie bekannt, in dieser Residenzstadt kein Betteljude gelitten wird; so hat die hiesige jüdische Gemeinde zur Versorgung ihrer Armen ein Haus am Rt. Thore bauen lassen, worin die Armen aufgenommen, von den jüdischen Aeltesten über ihr Gesuch in B. befragt, und nach Befinden entweder, wenn sie krank sind, oder einen Dienst suchen, in der Stadt aufgenommen, oder weiter verschickt werden.
B. J. wurde also in dieses Haus gebracht, das theils mit Kranken, theils aber mit liederlichem Gesindel angefüllet war. Er sahe sich lange Zeit vergebens nach einem Menschen um, mit dem er sich über seine Angelegenheiten hätte besprechen können.
Endlich bemerkte er einen Menschen, der nach seinem Anzuge zu urtheilen ein Rabbiner seyn mußte; er wandte sich also an diesen, und wie groß war nicht seine Freude, als er von diesem erfuhr, daß er wirklich ein Rabbiner, und in B. ziemlich bekannt sey. Er unterhielt sich mit ihm über allerhand Gegenstände der rabbinischen Gelehrsamkeit, und da B. J. sehr offenherzig ist, so erzählte er jenem seinen Lebenslauf in P. eröffnete ihm sein Vorhaben in B. Medizin zu studieren, zeigte ihm seinen Kommentar über den More Newochim u.s.w. Dieser merkte sich alles, und schien sich für B. J. zu interessiren. Aber auf einmal verschwand er ihm aus dem Gesichte.
[52]Endlich gegen Abend kamen die jüdischen Aeltesten. Es wurde ein jeder vorgerufen und über sein Gesuch gefragt. Die Reihe kam an B. J. Dieser sagte ganz offenherzig, er wünsche in B. zu bleiben, daselbst Medizin zu studieren u.s.w.
Die Aeltesten schlugen sein Gesuch gerade zu ab, gaben ihm seinen Zehrpfennig und giengen fort. Die Ursache dieses Betragens gegen ihn besonders war keine andere als diese.
Der Rabbiner, von dem ich vorher gesprochen habe, war ein eifriger Orthodox. Nachdem er also des B. J. Gesinnungen und Vorhaben ausgeforscht hatte, gieng er in die Stadt, benachrichtigte die Aeltesten der Gemeinde von der ketzerischen Denkungsart des B. J. indem er den More Newochim kommentirt neu herausgeben wolle, und sein Vorhaben nicht sowohl sey Medizin zu studieren und als Profession zu treiben, sondern hauptsächlich, sich in Wissenschaften überhaupt zu vertiefen und seine Erkenntniß zu erweitern.
Dies Letztere sehen die orthodoxen Juden als etwas, der Religion und den guten Sitten Gefährliches an, besonders glauben sie dieses von den polnischen Rabbinern, die durch einen glücklichen Zufall aus der Sklaverei des Aberglaubens befreiet, auf einmal das Licht der Vernunft erblicken, und sich von jenen Fesseln losmachen.
Dieses ist auch zum Theil wahr. Sie sind mit einem Menschen zu vergleichen, der nach lange [53]ausgestandnem Hunger auf einmal an einen wohleingerichteten Tisch versetzt wird; der also mit heftiger Begierde zugreifen, und sich bis zum Ueberladen sättigen wird.
Die Verweigerung der Erlaubniß in B. zu bleiben, war für B. J. ein Donnerschlag. Das letzte Ziel aller seiner Hoffnungen, seiner Wünsche, wurde ihm auf einmal, da er demselben so nahe war, verrückt. Er befand sich in der Lage des Tantalus, und wußte sich nicht zu helfen.
Besonders schmerzte ihn das Betragen des Aufsehers dieses Armenhauses, der auf Befehl seiner Obern, auf seine schleunige Abreise drang, und nicht eher nachließ, bis er ihn vor dem Thore sahe.
B. J. warf sich vor dem Thore auf die Erde nieder, und fing an bitterlich zu weinen.
Es war ein Sonntag, viele Menschen giengen wie gewöhnlich vor dem Thore spatzieren. Die mehrsten kehrten sich an den winselnden Wurm nicht; einigen mitleidigen Seelen aber fiel dieser Anblick sehr auf; sie fragten ihn nach der Ursache seines Wehklagens; er antwortete ihnen; aber sie konnten ihn, nicht nur wegen Mangel seiner natürlichen Sprache, sondern auch wegen häufiger Unterbrechung durch Weinen und Schluchzen nicht verstehn.
Er war so alterirt, daß er in ein hitziges Fieber gerieth. Die Soldaten, die am Thore die Wache hielten, meldeten dieses in dem Armenhause.
[54]Der Aufseher kam, und hohlte ihn herein. Er blieb den Tag über da, und freute sich in der Hoffnung recht krank zu werden, und auf diese Art einen längern Aufenthalt zu erzwingen; während welcher Zeit er mehrere Bekanntschaft zu machen glaubte, wodurch er Schutz und Erlaubniß in B. zu bleiben zu erhalten hoffte.
Aber er wurde in seiner Hoffnung getäuscht. Den folgenden Tag stand er wieder munter auf, ohne etwas Fieberhaftes zu spüren. Er mußte also fort. Aber wohin? das wußte er selbst nicht.
Er nahm also den ersten den besten Weg, und gieng, ohne zu wissen, wohin.
Am Abend kam er in ein Wirthshaus, wo er einen armen Fußgänger, der ein Betteljude ex professo war, antraf. Es freuete ihn ungemein, einen seiner Mitbrüder anzutreffen, mit dem er sprechen konnte, und dem diese Gegenden ziemlich bekannt waren.
Er entschloß sich daher, mit diesem Gesellschafter im Lande herumzustreichen, um auf diese Art sein Leben zu erhalten, obwohl keine solche heterogene Personen in der Welt anzutreffen sind. B. J. war ein gelehrter Rabbiner, jener hingegen ein Idiot; B. J. hatte sich bis jetzt auf eine ehrenvolle Art ernährt, jener aber war ein Bettler von Profession. B. J. hatte Begriffe von Moralität, Schicklichkeit und Anständigkeit, jener wußte nichts von diesem allen. Letzlich war B. J. zwar von gesunder, aber [55]doch schwächlicher Leibeskonstitution, jener hingegen war ein starker wohlbeleibter Kerl, der den besten Soldaten hätte abgeben können.
Aller dieser Verschiedenheiten ungeachtet, schloß sich B. J. , der sich, um sein Leben zu fristen, in einem fremden Lande herumzuirren, gezwungen sahe, an jenen fest an. Auf ihrer Wanderschaft bemühte sich B. J. , seinem Reisegefährten Begriffe der Religion und der wahren Moralität beizubringen. Dieser unterrichtete wieder jenen in der Kunst zu Betteln; lehrte ihn die darin üblichen Formeln, und empfahl ihm besonders das Fluchen, wenn er abgewiesen werden sollte.
Aber bei aller Mühe, die dieser sich hierin gab, wollten doch seine Lehren bei B. J. nicht anschlagen. Die Bettelformeln hielt er für abgeschmackt. Er dachte, daß, wenn man einmal gezwungen sey, andre um Hülfe anzuflehn, man seine Empfindungen ganz simpel ausdrücken müsse; und was das Fluchen anbetrifft, so konnte er nicht begreifen, warum ein Mensch, der einem andern eine Bitte abschlägt, den Fluch über sich ziehn sollte? und dann glaubte er auch, daß man dadurch jenen desto mehr erbittern, und seinen Zweck desto weniger erreichen werde.
Wenn er also mit seinem Kameraden betteln gieng, so stellte er sich immer, als bettelte und fluchte er mit jenem zugleich; in der That aber sprach er alsdann nicht ein einziges verständliches Wort. [56]Gieng er aber allein, so wußte er gar nichts zu sagen; aber an seiner Miene und Stellung konnte man doch sehen, was ihm fehlte.
Jener schalt ihn zuweilen, wegen seiner Ungelehrigkeit hierin. Dieser ertrug dieses aber mit der größten Geduld.
Auf diese Art irrten sie in einem Bezirke von einigen wenigen Meilen beinahe ein halbes Jahr herum. Endlich entschlossen sie sich nach Polen ihre Route zu nehmen.
Sie gelangten in Posen an, wo sie in dem jüdischen Armenhause, dessen Inhaber ein armer Kleiderflicker war, einkehrten. Hier faßte B. J. den Entschluß, seiner Wanderung, möge es auch kosten, was es wolle, ein Ende zu machen.
Es war Herbstzeit, und fing schon an ziemlich kalt zu werden; er war beinahe nackend und baarfuß; seine Gesundheit war durch diese Art Wanderung, wo er nie etwas Ordentliches zu essen bekam, und mehrentheils mit verschimmelten Brodbrocken und Wasser vorlieb nehmen, und des Nachts auf altem Strohe, zuweilen gar auf bloßer Erde liegen mußte, sehr ruinirt. Dazu kam noch, daß die jüdischen Heiligen- oder Bußtage heranrückten, wo er, der damals ziemlich religiös war, den Gedanken nicht ertragen konnte, daß er diese Zeit, die andere zu ihrem Seelenheil anwendeten, ganz im Müssiggange zubringen sollte.
[57]Er beschloß daher, von da, zum wenigsten für jetzt, nicht weiter zu gehn, und allenfalls, wenn es hoch kommen sollte, sich vor die Synagoge zu legen, und entweder da zu sterben, oder das Mitleiden seiner Mitbrüder zu erregen, und dadurch seinem Leiden ein Ende zu machen.
Sobald daher sein Kamerad am Morgen aufwachte, sich zum Bettelngehn anschickte, und den B. J. gleichfalls dazu aufforderte, antwortete ihm dieser, daß er jetzt nicht mitgehen wolle, und da dieser ihn fragte, wie er doch auf eine andere Art sein Leben zu erhalten dächte, konnte er nichts mehr antworten, als: Gott wird schon helfen.
Darauf gieng er nach der Judenschule. Hier fand er einige junge Schüler, die theils lasen, theils aber auch sich die Abwesenheit ihres Lehrers zu Nutze machten, und die Zeit mit Spielen zubrachten.
B. J. nahm auch ein Buch zum Lesen. Jene, denen sein seltsamer Anzug auffiel, näherten sich ihm, fragten ihn, woher er komme? und was sein Vorhaben sey? B. J. beantwortete ihnen diese Fragen in seiner litthauischen Sprache, worüber jene zu lachen, und sich über ihn lustig zu machen anfiengen.
B. J. kehrte sich wenig daran; und da er sich erinnerte, daß vor einigen Jahren ein Oberrabbiner aus seiner Gegend zum Oberrabbiner in Posen aufgenommen sey, und dieser einen Bekann-[58]ten und guten Freund von ihm als Schreiber mitgenommen hatte, so fragte er die Knaben nach diesem Freunde. Diese aber berichteten ihm, daß dieser Freund nicht mehr in Posen anzutreffen wäre, indem er mit dem Oberrabbiner, der nachher befördert, und zum Oberrabbiner in Hamburg aufgenommen worden, nach diesem Orte mitgereist sey; daß er aber seinen Sohn, einen Knaben von ohngefähr zwölf Jahren in Posen bei dem jetzigen Oberrabbiner, der ein Schwiegersohn des vorigen sey, zurückgelassen habe.
Diese Nachricht betrübte den B. J. nicht wenig; doch machte ihm der letzte Umstand noch einige Hoffnung.
Er fragte daher nach der Wohnung des neuen Oberrabbiners, gieng hin, scheute sich aber, da er fast nackend war, hereinzutreten, und wartete daher bis er jemanden in dieß Haus hereintreten sahe. Diesen bat er, er möchte doch so gut seyn, ihm seines Freundes Sohn herauszurufen.
So bald dieser herauskam, erkannte er gleich den B. J. und bezeugte sein Erstaunen, ihn in einem solchen elenden Zustande hier zu sehn. B. J. erwiederte hierauf, daß es jetzt nicht die Zeit sey, alle Unglücksfälle zu erzählen, die ihn in diesen Zustand versetzt hätten, und daß er nur für jetzt darauf bedacht seyn solle, wie er dieses Elend um etwas erleichtern könne.
[59]Dieser versprach es, gieng zum Oberrabbiner, und meldete ihm den B. J. als einen großen Gelehrten und frommen Mann, der durch besondre Zufälle in einen sehr elenden Zustand gerathen sey.
Der Oberrabbiner, der ein vortreflicher Mann, ein scharfsinniger Talmudist, und von einem sehr sanften Karakter war, wurde von dem Elende des B. J. gerührt, ließ ihn zu sich kommen, unterhielt sich mit ihm eine geraume Zeit, disputirte mit ihm über die wichtigsten Gegenstände aus dem Talmud, und fand ihn in allen Fächern der jüdischen Gelehrsamkeit sehr bewandert.
Darauf fragte er ihn nach seinem Vorhaben. B. J. erwiderte, er wünschte als Hofmeister in irgend einem Hause anzukommen, für jetzt aber wünschte er nichts mehr, als die heiligen Tage hier feiern zu können, und zum wenigsten diese kurze Zeit über seine Reisen zu unterbrechen.
Darauf erwiderte der Rabbiner, daß er, was dieses anbeträfe, unbesorgt seyn solle, indem sein Verlangen eine Kleinigkeit, und nicht mehr als billig sey. Er gab ihm darauf so viel Geld, als er bei sich hatte, invitirte ihn, daß er so lange, als er sich hier aufhalten würde, alle Sabbath bei ihm essen solle, und befahl seinem Knaben, daß er für B. J. ein anständiges Logis schaffen solle.
Dieser kam bald wieder, und führte den B. J. in seine Wohnung.
[60]Nun glaubte B. J. daß diese Wohnung keine andere, als ein Kämmerchen bei irgend einem armen Manne seyn würde. Er erstaunte daher nicht wenig, als er sich im Hause eines der ältesten Juden dieser Stadt sahe, wo man für ihn ein sehr properes Stübchen zurecht gemacht hatte, welches die Studierstube dieses Mannes war, der sowohl selbst, wie auch sein Sohn, ein großer Gelehrter war.
So bald sich B. J. ein wenig umgesehn hatte, gieng er zu der Hausfrau, steckte ihr einige Pfennige in die Hände, und bat sie, daß sie ihm dafür eine Grützsuppe zum Abendessen zubereiten möchte. Diese fing an über seine Simplizität zu lächeln, und sagte: »nein mein Herr, wir haben so nicht accordirt, der Oberrabbiner hat Sie uns nicht so empfohlen, daß Sie sich für Ihr Geld eine Grützsuppe bei uns machen lassen sollen,« und erklärte ihm, daß er nicht blos in ihrem Hause logiren, sondern auch, so lange er sich in dieser Stadt aufhalten wolle, essen und trinken solle.
B. J. erstaunte über dieses unerwartete Glück, aber wie groß war sein Entzücken, als man ihm nach dem Abendessen ein reinliches Bette anwies; er trauete seinen Augen nicht, und fragte zu verschiedenenmalen: »ist dieses wirklich für mich?«
Er versicherte mich oft, daß er nie, sowohl vor dieser Begebenheit als nachher, einen solchen Grad von Glückseeligkeit gefühlt habe, als damals, [61]als er sich zu Bette legte, und seine, seit einem halben Jahr strapazierten, ja beinahe zerbrochnen Glieder, in einem weichen Bette ihre vorige Stärke wieder erlangen fühlte.
Er schlief bis spät auf den Tag. So bald er aufgestanden war, schickte der Oberrabbiner nach ihm, und ließ ihn zu sich bitten. So bald er erschien, fragte ihn jener, wie er mit seinem Logis zufrieden sey. Dieser konnte keine Worte finden, seine Empfindung hierüber auszudrücken, und rief in einer Extase: »Ich habe in einem Bette geschlafen!« Der Oberrabbiner freute sich ungemein darüber, schickte darauf nach dem Schulkantor; so bald dieser kam, sagte er zu ihm »H... gehn Sie zu dem Kaufmann .... und nehmen Sie für H. B. J. für meine Rechnung Zeug zu einem Kleide.«
Darauf wandte er sich zu B. J. und fragte ihn: was beliebt Ihnen für ein Zeug? Dieser, durchdrungen von der Empfindung der Dankbarkeit und Hochachtung für diesen vortreflichen Mann, konnte hierauf gar nichts antworten. Ein Thränenstrom der ihm die Wangen herabfloß, diente statt aller Antwort.
Der Oberrabbiner ließ ihm auch neue Wäsche machen. In zweien Tagen war alles fertig. B. J. zog reine Wäsche und sein neues Kleid an, und gieng so ausstaffirt zum Oberrabbiner; er wollte ihm seine Dankbarkeit bezeugen, konnte aber kaum [62]einige abgebrochne Worte herausbringen. Für den Oberrabbiner war dieses ein entzückender Anblick. Er sagte zu dem B. J. daß er ihm dieses nicht so hoch anschreiben solle, indem das, was er für ihn gethan habe, eine Kleinigkeit und der Rede nicht werth sey.
Nun möchte der Leser vielleicht glauben, daß dieser Oberrabbiner ein reicher Mann gewesen sey, bei dem die Kosten, die er auf den B. J. wandte, wirklich eine Kleinigkeit gewesen wären; aber B. J. versicherte mich, daß es sich damit ganz anders verhalten habe, der Oberrabbiner habe nur ein mäßiges Gehalt gehabt, und da er sich bloß mit dem Studium abgegeben, so habe seine Frau die Verwaltung seiner Geschäfte, und seine Haushaltung zu besorgen gehabt. Er habe also dergleichen Handlungen ohne Wissen seiner Frau ausüben, und vorgeben müssen, daß ihm andere Leute Geld dazu gegeben hätten. Uebrigens habe er für sich ein sehr mäßiges Leben geführt, tagtäglich, außer am Sabbath, gefastet, und die ganze Woche über kein Fleisch gegessen.
Demohngeachtet aber habe er doch, um seine Neigung zum Wohlwollen zu befriedigen, Schulden machen müssen. Diese strenge Lebensart, das viele Studieren und Nachtwachen haben seine Kräfte so sehr geschwächt, daß er, nachdem er zum Oberrabbiner in Förde aufgenommen worden, wohin ihm eine große Anzahl Schüler gefolgt, ohnge-[63]fähr in dem sechs und dreißigsten Jahre seines Alters gestorben sey. Nie konnte B. J. ohne die tiefste Rührung von diesem göttlichen Manne sprechen.
Ich komme zu B. J. Geschichte zurück. Er hatte noch in seinem vorigen Logis (bei dem armen Kleiderflicker) einige Kleinigkeiten zurückgelassen. Er gieng also hin, um diese abzuhohlen. Der arme Kleiderflicker, seine Frau und der Kamerad des B. J. die schon von der glücklichen Veränderung, die mit dem B. J. vorgegangen war, gehört hatten, erwarteten ihn mit Ungeduld. Dieser kam.
Eine rührende Szene! Der Mann, der vor drei Tagen in dieser armen Hütte ganz entkräftet, halb nackend und baarfuß, anlangte, den die armen Bewohner dieses Hauses als einen Auswurf der Natur betrachteten, und dessen Kamerad in dem leinwandnen Kittel mit Spott und Verachtung auf denselben herabsahe, dieser Mann kommt nun (sein Ruf gieng vor ihm) mit einem heitern Gesichte, als ein Oberrabbiner gekleidet, in einer ehrwürdigen Gestalt in eben diese Hütte.
Sie bezeugten alle ihre Freude und Verwunderung über diese Transformation. Die arme Frau nahm ihren Säugling auf die Arme, und bat für ihn, mit thränenden Augen, um den Seegen. Sein Kamerad bat ihn sehr rührend um Verzeihung wegen seiner rohen Behandlung; er sagte, [64]er schätze sich glücklich, einen solchen Reisegefährten gehabt zu haben, würde aber sich sehr unglücklich schätzen, wenn B. J. ihm seine aus Unwissenheit begangenen Fehler nicht verzeihen wollte.
Dieser redete alle sehr liebreich an, gab dem Kleinen seinen Seegen, und seinem Reisekameraden alles Baare das er in seiner Tasche hatte, und gieng sehr gerührt zurück.
Unterdessen hatte das Bezeigen des Oberrabbiners gegen den B. J. wie auch das seines neuen Wirthes, der selbst ein großer Gelehrter war, und durch häufige Unterredungen und Disputiren mit dem B. J. eine hohe Meinung von seinen Talenten und Gelehrsamkeit gefaßt hatte, seinen Ruf in der Stadt so ausgebreitet, daß alle Gelehrte dieser Stadt ihn, als einen berühmten reisenden Rabbiner, zu sehn, und mit ihm zu disputiren kamen; je näher sie ihn aber kennen lernten, in desto größrer Achtung wurde er von ihnen gehalten.
Diese Zeit war nach des B. J. eigner Versicherung, die glücklichste und ehrenvollste Periode in seinem Leben.
Die jungen Gelehrten dieser Stadt beschlossen in ihrer Versammlung, ihm ein Gehalt auszumachen, wofür er ihnen Vorlesungen über das berühmte tiefsinnige Werk des Maimonides, More Newochim halten sollte. Dieser Vorschlag blieb aber aus der Ursache unausgeführt, weil die Aeltern dieser jungen Leute besorgten, daß ihre Kinder da-[65]durch verführt, und durch Selbstdenken über Religion in ihrem Glauben wankend gemacht werden möchten.
Sie gestanden zwar, daß B. J. bei seiner Neigung zum Nachdenken über Religion dennoch ein frommer Mann und orthodoxer Rabbiner sey; traueten aber ihren Kindern so viel Beurtheilung nicht zu, daß sie diesen Weg einschlagen könnten, ohne von dem einen Extrem zum andern, vom Aberglauben zum Unglauben überzugehn, worin sie auch vielleicht Recht hatten.
Nachdem B. J. ungefähr vier Wochen auf diese Art zugebracht hatte, kam der Mann bei dem er logirte zu ihm, und redete ihn auf folgende Weise an: Herr B. J. ! erlauben Sie mir, daß ich Ihnen einen Vorschlag thue! Sind Sie blos zum Selbststudium geneigt, so können Sie hier bleiben, so lange Sie immer wollen. Wollen Sie sich aber nicht blos in sich konzentriren, und sind Sie geneigt, mit Ihren Talenten der Welt zu nutzen, so ist hier ein reicher Mann, einer der vornehmsten dieser Stadt, der einen einzigen Sohn hat, und der nichts so sehr wünscht, als Sie zum Hofmeister zu haben. Dieser Mann ist mein Schwager; wenn Sie es also nicht seinetwegen thun wollen, so thun Sie es meinetwegen, und dem Oberrabbiner zu Gefallen, dem die Erziehung meines Schwagers Sohns, der in seiner Familie vermählt ist, am Herzen liegt.
[66]B. J. nahm dieses Anerbieten mit Freuden an. Er kam also in diesem Hause unter vortheilhaften Bedingungen als Hofmeister an, und blieb zwei Jahre in größter Ehre darin. Man that nichts in diesem Hause ohne sein Wissen. Man begegnete ihm mit der größten Ehrerbietung. Man hielt ihn beinahe für ein mehr als menschliches Wesen.
So flossen die paar Jahre unvermerkt und glücklich für ihn hin. Unter der Zeit giengen aber doch einige kleine Begebenheiten mit ihm vor, die wegen ihrer Merkwürdigkeit in dieser Geschichte nicht übergangen werden dürfen.
Erstlich gieng die Hochachtung für seine Person in diesem Hause so weit, daß man ihn malgré lui zum Propheten machen wollte. Es gieng damit folgendermaßen zu.
Der Schüler des B. J. war mit der Tochter eines Oberrabbiners, der ein Schwager des Oberrabbiners in Posen war, versprochen worden. Die Braut, ein Mädchen von ohngefähr zwölf Jahren, wurde, wie gewöhnlich, auf den Pflngstfeiertag von ihren Schwiegereltern nach Posen abgehohlt. B. J. bemerkte, daß dieses Mädchen von sehr phlegmatischem Temperament, und ziemlich kachetisch sey. Er entdeckte dieses dem Bruder seines Hausherrn, der also seines Schülers Onkel war, und fügte noch mit einer bedeutenden Miene hinzu, daß er für das Mädchen sehr besorgt sey, indem er nicht glaube, daß ihre Gesundheit von langer [67]Dauer seyn würde. Nach dem Feiertage wurde das Mädchen zu ihren Aeltern zurückgeschickt. Vierzehn Tage nachher bekam man hier einen Brief, worin der Tod dieses Mädchens gemeldet wurde.
Nun wurde B. J. nicht nur in diesem Hause, sondern in der ganzen Stadt für einen Propheten gehalten, der den Tod dieses Mädchens vorausgesagt hätte.
B. J. , der zu nichts weniger als zum Betruge geneigt ist, suchte diese abergläubischen Menschen auf andre Gedanken zu bringen, und sagte, daß ein jeder, der einige Beobachtungen in der Welt gemacht hätte, ebendasselbe hätte voraussagen können; aber es half nichts; er war einmal Prophet und mußte es bleiben.
Zweitens wurden in einem jüdischen Hause des Freitags Fische auf den Sabbath zurecht gemacht. Es kam demjenigen, der einen Karpfen aufschnitt, vor, als gäbe dieser einen Laut von sich. Dieses setzte alle in ein panisches Schrecken. Man ließ den Rabbiner fragen, was man mit diesem stummen Fische, der zu reden gewagt hätte, machen solle? Dieser befahl, in der abergläubischen Meinung, als wäre der Karpfen von einem Geiste besessen, man solle den Karpfen in einem Leichentuche aufs herrlichste begraben.
Nun wurde in dem Hause, wo B. J. war, von dieser schauervollen Begebenheit gesprochen. B. J. der durchs fleißige studieren des More Ne-[68]wochim*) 3 sich schon ziemlich von dergleichen abergläubischen Meinungen losgemacht hatte, lachte herzlich darüber, und sagte: wenn man den Karpfen anstatt zu begraben, lieber ihm zugeschickt hätte, so würde er den Versuch gemacht haben, wie ein solcher begeisterter Karpfen doch schmecken müsse.
Dieses Bon mot wurde bekannt. Die Gelehrten ereiferten sich darüber, schrien ihn für einen Ketzer aus, und suchten ihn auf alle Art zu verfolgen.
Die Achtung, die man aber in dem Hause, worin er Hofmeister war, für ihn hatte, machte alle ihre Bemühungen fruchtlos.
B. J. der sich auf diese Art sicher sahe, und durch den Geist des Fanatismus vielmehr zum fernern Nachdenken angespornt, als abgeschreckt wurde, fing an, die Sachen ein wenig weiter zu treiben: verschlief mehrentheils die Gebetszeit, kam selten in die Synagoge, und dergleichen. Endlich wurde das Maaß seiner Sünden so voll, daß ihn nichts mehr vor der Verfolgung sichern konnte.
In dem Eingange des Gemeindehauses befindet sich, wer weiß, seit welcher Zeit, ein Hirschhorn in die Wand eingeschlagen. Von diesem behaupten alle Juden in Posen einstimmig, daß derjenige, der [69]dieses Hirschhorn berühre, auf der Stelle sterben müsse, und erzählen eine Menge Beispiele diese Art.
B. J. dem dieses nicht in den Kopf wollte, lachte darüber; und, indem er einst mit andern Juden aus dieser Stadt vor diesem Hirschhorn vorbeigieng, sagte er zu ihnen: Ihr poser Narren, die ihr glaubt, daß derjenige, der dieses Horn berühre, auf der Stelle sterben müsse; seht, ich wage es, dasselbe zu berühren.
Diese erwarteten voller Entsetzen auf der Stelle B. J. Tod; da aber dieser nicht erfolgte, so verwandelte sich ihre Bangigkeit für ihn in Haß. Sie betrachten ihn als einen der das Heiligthum entweihet habe.
B. J. bei dem dieser Fanatismus das Verlangen rege gemacht hatte, nach B. zu reisen, und den Rest des Aberglaubens durch Aufklärung in sich zu vernichten, forderte von seinem Herrn den Abschied. Dieser hingegen äußerte den Wunsch, daß B. J. noch länger in seinem Hause bleiben möchte, und versicherte ihn seines Schutzes wider alle Verfolgung.
B. J. aber der einmal seinen Entschluß gefaßt hatte, wollte denselben nicht ändern; nahm also von seinem Herrn und seiner ganzen Familie Abschied, setzte sich auf die Frankfurter Post, und reisete nach B. — —
1:
*) Der Herausgeber dieser Fragmente darf wohl nicht erst versichern, daß sie eine buchstäblich getreue Darstellung wirklich erlebter Schicksale enthalte; die ganze Erzählung an sich selber trägt zu sehr das ächte Gepräge der Wahrheit, als daß irgend ein theilnehmendes Herz sie darin verkennen sollte. Auch hofft der Herausgeber bald mehr von dieser Geschichte, welche von Herzen zu Herzen redet, dem Publikum mittheilen zu können.
2:
*) Die Benennung eines Globus im Hebräischen.
3:
*) More Newochim heißt Lehrer der Verirrten, und ist ein freimüthiges Werk über die jüdischen Religionsgebräuche von dem berühmten Rabbi Maimonides.