ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Ueber den Plan des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde.

Maimon, Salomon

Auszug aus einem Briefe an den Herausgeber, von Herrn Salomon Maimon.

Die Seelenkunde ist die Wissenschaft von der menschlichen Seele, als Erkenntnis und Willensvermögen; sie kann in die reine und angewandte Psychologie eingetheilt werden.

Die reine Psychologie ist die Lehre von den mannigfaltigen Hauptkräften der Seele, d.h. solchen Wirkungsarten derselben die sich nicht aus einander, aus denen aber alle Erscheinungen der Seele sich erklären lassen.

Die angewandte Psychologie ist die Lehre von der Art diese Prinzipien zur Erklärung besonderer Seelenerscheinungen zu gebrauchen.

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Ich bemerke aber, daß man sowohl in Ansehung der Seelenkunde, als der Naturkunde überhaupt, eher auf Extremitäten geräth, als daß man den rechten Weg einschlagen sollte. Einige wählen blos die empirische, andere hingegen blos die dogmatische Methode.

Jene glauben genug gethan zu haben, wenn sie so viel Erscheinungen als möglich ist gesammlet haben, ohne dieselben aus bekannten Prinzipien herzuleiten, und untereinander zu verbinden.

Diese hingegen suchen alle Erscheinungen aus Prinzipien herzuleiten, sie bekümmern sich aber nicht genug um die Evidenz der Prinzipien selbst, sondern in Ermanglung der aus der Erfahrung bekannten Prinzipien, erdichten sie welche, unter dem Titel von Hypothesen.

Die einzige rechte Methode aber ist diese: alle Erscheinungen so viel als möglich ist, durchs Reduziren auf gemeinschaftliche Prinzipien, untereinander zu verknüpfen; keine unbekannte Prinzipien zu erdichten; und die zur Erklärung der Erscheinungen, die sich aus den bekannten Prinzipien nicht erklären lassen, angenommenen Hypothesen nur so lange gelten zu lassen, bis entweder dieses möglich wird, da man dann diese ganz ohne Grund angenommenen Hy-[3]pothesen verwerfen kann, oder bis diese Hypothesen selbst durch etwas anders bestätigt werden.

Woraus erhellet, daß wahre Menschenkenntniß kein Erbtheil der Weltleute seyn kann. Diese beweinen entweder die menschlichen Thorheiten mit dem Heraklit, oder belachen dieselben mit dem Demokrit, indem sie darinn so viel Unerklärbares und Ungereimtes zu finden glauben.

Derjenige hingegen der sich die wahre Menschenkenntnis zu erlangen bemüht, wird die menschlichen Thorheiten, so wenig beweinen als belachen, sondern sie vielmehr aus ihren Prinzipien zu erklären suchen.

Für ihn hat der Thor und schlechte Mensch eben dasselbe Interesse, als der Weise und Gute, weil, indem sein Zweck blos Menschenkenntniß, nicht aber irgend ein anderes Interesse ist, welches etwa der Zweck des Mediziners, Politikers und Moralisten seyn möchte, ihm zu diesem Behuf der Eine so gut als der Andere dienlich seyn kann.

Ja der Thor und schlechte Mensch hat hierin vor dem Weisen und Guten sogar einen Vorzug, indem die Hebung der Widersprüche in dem Karakter des ersten, eine tiefere Untersuchung über den Menschen voraussetzt.

Der Umfang der Seelenarzneikunde ist nicht so groß als man ihn sich gemeiniglich vorstellt. Ich will mich hierüber näher erklären.

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Die aus der Psychologie bekannten Seelenkräfte sind: 1) die sogenannten höhern Kräfte, nehmlich Verstand und Vernunft. 2) Die niedrigern Kräfte: Empfindung, Einbildungskraft, Erinnerung, Witz u.d.gl.

Man nennt nehmlich höhere Seelenkräfte diejenigen Wirkungsarten, die a) (in Beziehung auf bestimmte Objekte) Nothwendigkeit und Allgemeingültigkeit enthalten; und deren b) Wirkungen wahre Einheiten der Natur sind, und daher nicht in Zeit und Raum gedacht und folglich an sich auch nicht verändert werden können. Diejenigen aber die diese Kriterien nicht haben, werden die niedern Kräfte genannt.

Der Verstand denkt Begriffe von Objekten und urtheilt von den Verhältnissen dieser Objekte a priori. Diese beiden Wirkungen müssen in Beziehung auf dieselben Objekte, in Ansehung eines jeden Subjekts, nothwendig und allgemeingültig seyn, oder man muß diese Wirkungen selbst in Zweifel ziehn, und allen Anspruch auf Erkenntnis der Wahrheit aufgeben.

Ferner ist der Begrif der Möglichkeit eines Objekts oder des Verhältnisses verschiedener Objekte eine untheilbare Einheit. Der Begriff eines Dreieckes ist blos darum möglich, weil die drei Linien (als die Bestimmungen), ohne Raum (als das dadurch Bestimmte) nicht gedacht werden können. Dieses Objekt entsteht also nicht in der Zeit, so [5]daß man z.B. erst den Raum und hernach die drei Linien an sich dächte, sondern auf einmal; und so ist es auch z.B. mit dem Urtheil: Ein rechtwinklichtes Dreieck ist ein Dreieck, beschaffen, indem es blos darum seine Realität hat, weil man ein rechtwinklichtes Dreieck nicht ohne Dreieck überhaupt denken kann. Mit der Vernunft, als dem Vermögen mittelbar zu urtheilen, hat es eben dieselbe Bewandtnis.

Hieraus folgt daß alle Menschen, ja so gar alle denkende Wesen überhaupt einerlei Verstand und Vernunft haben; sie können in diesem Betrachte, nur in Ansehung der Objekte und der Grade dieser Wirkungen verschieden sein. Und selbst dieser Unterschied liegt nicht in den besondern Bestimmungen dieser Kräfte an sich, sondern in der Verschiedenheit des Stofs den die Sinne, und der Verbindungsart des Mannigfaltigen darin, die die Einbildungskraft dazu darbietet.

Gebt einem Duns dieselben sinnlichen Vorstellungen und Reihen der Association, die Neuton gehabt hat, und er wird mit diesen das Weltsystem erfinden. Sobald als die Sinne und die Einbildungskraft die Mittelsätze zur Erfindung einer Wahrheit darbieten, so ist die Wahrheit erfunden.

Diese höheren Seelenkräfte können also von einer Seelenarzeneikunde gänzlich wegbleiben, weil sie an sich keiner Veränderung unterworfen sind. Die Empfindung ist zwar (als Seelenvermögen) [6]an sich der Veränderung unterworfen, da aber ihre Veränderung von der besondern Organisation abhängt, so ist hier wiederum für den bloßen Seelenarzt nichts zu thun.

Es bleibt also für die Seelenarzeneikunde nichts mehr übrig als die Einbildungskraft mit ihren Abtheilungen, die nicht blos von außen als ein leidendes Vermögen, sondern auch eigenmächtig als ein thätiges Vermögen viele Veränderungen annehmen kann.

Erstlich kann die Reproduktion nach dem Gesetze der Association bei Wahrnehmung eben desselben Objekts in verschiedenen Reihen der Association, in verschiedenen Graden von Stärke und Geschwindigkeit, in verschiedenen Verhältnissen der Freiheit und Nothwendigkeit u.d.gl. gedacht werden.

Diejenige Proportion in der Wirksamkeit der Einbildungskraft wodurch nicht nur diese Wirksamkeit an sich, sondern auch die Wirksamkeit aller übrigen davon abhangenden Seelenkräfte, das Maximum, oder das in einem gegebenen Subjekte Größtmögliche erreicht wird, ist der Zustand der Gesundheit. Was aber davon abweicht, ist Krankheit.

Die Seelenkrankheiten können also, nicht bloß a posteriori, sondern auch nach einem Prinzip a priori bestimmt, und in ein System gebracht werden.

Man braucht nur die verschiedenen Wirkungsarten der Einbildungskraft aufzuzählen, und sie in ver-[7]schiedenen Verhältnissen zu verknüpfen, um alle möglichen Seelenkrankheiten zu bestimmen, welches die Pathologie ausmachen wird.

Was die Ordnung aber anbetrift, so glaube ich daß man am besten thun wird, wenn man erstlich die allgemeinsten, und folglich auch bekanntesten Krankheiten abhandelt, und hernach zu den weniger bekannten übergeht.

Jene sind gleichsam uns angeerbte Krankheiten (so wie die Blattern), a deren Schädlichkeit aber durch eine gute Diät verhütet werden kann; von dieser Art sind die transcendenten Erdichtungen. Dieses erfordert eine nähere Erklärung.

(Die Fortsetzung folgt.)

Erläuterungen:

a: Die Pocken (DWb Bd. 2, Sp. 77).