Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn
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Da ich bei diesen Anmerkungen, Wahrheit und Nützlichkeit zur einzigen Absicht habe, und sie nur zu dem Privatgebrauch der Herausgeber bestimme, denen sie allein gewidmet sind, und welchen es frei stehet, jeden beliebigen Gebrauch davon zu machen, sich sogar von meinen Bemerkungen oder Berichtigungen zuzueignen, was sie für wahr halten; so trage ich kein Bedenken, sowohl über den Plan der Herren Herausgeber, als über dessen Ausführung, eine strenge und trockene Kritik niederzuschreiben; und mag keine Zeit auf feine Wendungen und auf Höflichkeitsbezeugungen verwenden, welche die Schonung und die Hochachtung, die man den Talenten und den Werken solcher Männer schuldig ist, nothwendig erfordern würden, wenn diese Anmerkungen zum Druck bestimmt wären.
Da ich viel zu sagen habe, so gelte die Mühe, eine Menge Bemerkungen niederzuschreiben, welche sich mir bei Durchlesung dieses Werks aufgedrungen haben, für den sichersten Beweis von dem ungemeinen Interesse, welches ich für diese Unternehmung habe; für eine Unternehmung, die ich in Wahrheit [52]als eine der nützlichsten dieses Jahrhunderts betrachte, die ich, als Monarch, mit allem Nachdruck unterstützen würde. Ich würde alsdann die Kostenbestreitung auf mich nehmen; ich würde die Herausgeber in den Stand setzen, dieser Arbeit allein alle ihre Seelenkräfte zu widmen; ich würde die Gelehrten und die Weltweisen aller Länder aufmuntern, zu der Vervollkommnung dieses Werks herbei zu eilen.
Ersten Bandes 1tes Stück. S. 2. ff. (Fakta und kein moralisches Geschwätz, keinen Roman und keine Komödie — auch keine andere Bücher ausschreibe.) Der Versicherung, keine Bücher auszuschreiben, ist man in der Folge nicht treu geblieben. Indessen bin ich so weit entfernt, den Verfassern einen Vorwurf darüber zu machen, daß ich vielmehr zwei Magazine, zwei Sammlungen gewünscht hätte, davon das eine nur neue, — und das andere aus Büchern ausgeschriebene Fakta, aus Biographieen, aus dem Gebiete der Arzneigelartheit, der Weltweisheit u.s.w. enthalten hätte. Hätte man dann diese Fakta mit Ueberlegung gewählt, ohne den Geist des Endzwecks dabei aus den Augen zu setzen, so würde man vielleicht am Ende das zweite Magazin für das nützlichere erkannt haben.
S. 7. (Nachrichten von J. M. Klug.) Vor einiger Zeit starb zu London ein Sonderling, von dem alle öffentlichen Blätter sprachen. Er [53]hatte sich gleichfalls eine lange Reihe von Jahren hindurch, in ein Zimmer eingeschlossen, und betrug sich überhaupt vollkommen wie Hr. Klug, wiewohl aus ganz andern Bewegungsgründen.
Es wäre gewiß keine unnütze Arbeit, die authentischen Berichte, welche man von demselben ertheilt hat, nachzusuchen und bekannt zu machen. Sie werden dieselben in den englischen Magazinen und Zeitungen von 1787-88 finden. Ich glaube wenigstens, sie um diese Zeit gelesen zu haben; doch weiß ich nicht genau, wo? vielleicht in dem Universal-Magazin. a
S. 15. Ich werde in der Folge öfters Gelegenheit haben, von Träumen zu reden, und von Journalen über Träume, deren Bekanntmachung ich mit Hr. Carl Bonnet sehr wünsche; wiewohl ich nicht überzeugt bin, daß sie jemals von irgend einem Nutzen seyn dürften. Und ich wünsche diese Bekanntmachung aus keiner andern Ursache, als, weil ich es für ein Grundprincipium halte, daß man in der Psychologie, so wie in der Chymie, nicht nur die Verfahrungsart kennen müsse, durch welche man wirklich ein Produkt hervorgebracht hat, sondern auch die, welche nichts hervorgebracht haben. Es ist noch problematisch, ob Erzählungen von Träumen die Seelenlehre bereichern? und die Auflösung dieses Problems ist von Wichtigkeit.
Bei dieser Gelegenheit will ich nur anmerken, daß sich unter Swedenborg's nachgelassenen Wer-[54]ken, die zu Stockholm aufbewahret werden, drei Bände von seinen Träumen befinden, die er mit großer Sorgfalt aufgezeichnet hat, und deren Mittheilung, meiner Meinung nach, um so interessanter seyn müßte, da sie ohne Zweifel auch die Merkmaale enthalten, wodurch er seine Somnia von dem unterschied, was er visa & audita nannte.*) 1
S. 19. Ich werde an einem andern Orte von Leuten reden, die, aus Ueberdruß am Leben, oder durch einen zufälligen Todtschlag, Mörder geworden, und ein merkwürdiges Beispiel anführen, welchem ich selbst beigewohnt habe. Der Mensch, von welchem hier die Rede ist, hat durch sein Betragen, z.B. gegen die Krankenwärterin, offenbare Beweise von seiner Bosheit gegeben, und scheint mir in so fern weniger merkwürdig, da er zu der Klasse der gemeinen Mörder gehöret.
S. 21. (Das Beständige, u.s.w.) Eine sehr richtige und gegründete Bemerkung. Allein, man sollte von ihr zu der Untersuchung übergehen, in wie fern die Errichtung der Manufakturen und sitzenden Gewerke, die bei uns ohne Vergleich zahlreicher sind, als sie bei den Alten waren, auf den Verfall des Menschengeschlechts Einfluß hat. Wieder ein Gegenstand zu einer Preisaufgabe! [55]und man müßte zu diesem Behuf in denjenigen europäischen Städten Bemerkungen machen, deren Einwohner sich hauptsächlich von Manufakturen ernähren; als: Manchester, Leiden, Lyon etc.
S. 26. VI. Ein wirklich merkwürdiger Fall in seiner Art, und desto merkwürdiger, da er nicht der Einzige ist; und von der Geschichte des Musquetiers Meyer S. 16. völlig abweicht.
S. 35. (Mir ist wenigstens) Eine Erfahrung des Verfassers die mir sehr merkwürdig scheinet, und ihn wohl veranlassen sollte, sich näher zu erklären, oder sich selbst in dieser Rüksicht tiefer zu durchforschen. Ich wenigstens muß gestehen, daß ich die Erscheinung eben so wenig kenne, als ich ihre Ursache zu errathen weiß. Mag die Unordnung in den Ideen, eine viertel Stunde, höchstens eine halbe Stunde nach dem Traume fortdauern; aber den ganzen Tag über! das ist sehr auffallend.
S. 38. Kleinjogg war schon todt, als ich nach der Schweiz kam; aber nach dem Urtheile aller unpartheiischen Beobachter, muß man den Enthusiasmus, mit welchem man von so vielen Seiten über ihn sprechen hört, merklich herabstimmen.
K. war ein redlicher, betriebsamer Bauer, der vor seines Gleichen das Talent sich gut auszudrücken, besaß. Hieraus läßt sich die hier erwähnte Erscheinung sehr einfach erklären.
[56]Der Anblick eines biedern Ackermannes, verbunden mit der Einfachheit seiner Manier, ist sehr geschickt, Seelenruhe einzuflößen, auf einige Zeit den Eindruck der Leidenschaften zu vernichten, u.s.w.
S. 39. I. Ein merkwürdiges Stück, von einer sehr interessanten Materie, die es wohl verdiente, daß man in einem kurzen Auszuge alle Data lieferte, welche wir schon anderweitig darüber haben; daß man z.B. die verschiedenen Methoden des l'Epée und des H. Heinecke mit einander vergliche. Man könnte noch dazu nehmen, was Wallis in seiner englischen Grammatik, b Diderot in seinem Briefe über die Taubstummen, c und, wenn ich nicht irre, auch Harris in seinem Hermes, d davon gesagt haben. Einige nicht unbeträchtliche Beiträge befinden sich auch in den Streitschriften über den Ursprung der Sprache, in den Herderschen und Monbordöschen Werken, in Beauzée allgemeiner Sprachlehre, in dem großen Werke du Monde primitif, u.s.w. e
S. 44. II. Eine gemeine, wiewohl ziemlich bemerkenswerthe Erfahrung. Ich kann wohl sagen, daß es mir wenigstens hundertmal in jedem Jahre meines Lebens so gegangen ist, und noch gehet. Hierbei ist zu merken, daß einem gewöhnlich ein Vers, und am häufigsten eine Strophe aus einem Liede in den Sinn kommt. Schwerlich ist einem [57]Menschen jemals der nehmliche Fall mit einem prosaischen Stücke erschienen.
S. 45. f. Eine noch alltäglichere Erfahrung, die nur alsdann interessant wird, wenn man sie allgemein, und zu einem Kapitel in der Seelenheilkunde macht. Es ist ein bewährtes Mittel gegen den Zorn, sich niederzusetzen. Man verstärkt ihn durch das Aufstehen, wenn man schon gesessen hat; und er steigt noch mehr, wenn man einige Schritte vorwärts thut u.s.w. Ueberhaupt besänftiget das Sitzen jeden starken Affekt, und die Bewegung bringet ihn wiederum in Aufruhr. Die Ruhe des Körpers theilet sich der Seele mit.
S. 46. f. S. 47. Sehr wahr! Ich bin überzeugt, daß die Wahl des Zimmers, worinn man den größten Theil seiner Zeit zubringet — ob es heiter oder finster, hoch oder niedrig, hell oder dunkel, ruhig oder geräuschvoll, so oder anders meublirt ist — einen so großen Einfluß auf die Laune und daher in der Folge auf den Charakter hat, daß es diesen nicht nur modifiziret, sondern sogar als ein sehr gutes Mittel dienen kann, ihm eine ganz andere Richtung zu geben.
Nach diesem Prinzip schließt man die zügellose Jugend ein, und arretiret übermüthige Militairspersonen; denn die Beraubung der Freiheit macht eben nicht den stärksten Eindruck; der Anblick des Gefängnisses thut weit mehr, ohne daß man es vermuthen sollte.
[58]S. 47. III. Die Aerzte müssen entscheiden ob die Sensation, wovon hier die Rede ist, zu der Klasse des Alpdrückens gehöre? oder ob man durch eine gewisse Erschütterung der Nerven, im Traume zu fallen, zu fliegen, oder zu schwimmen glaube? die beiden letztern Erscheinungen gehören wenigstens nicht zu dem Alpdrücken; welches ich durch einige Erfahrungen an mir selbst, sehr genau kenne, und welches der Maler Fueßli in einem Gemälde nach seiner gewöhnlichen, d.h. nach Michael Angelo's Manier vortreflich idealisiret hat. f
S. 50. f. (Es ist nicht anders etc.) Eine sehr feine, und meiner Einsicht nach, sehr richtige Beobachtung. Uebrigens konnte ich nicht die Hand, sondern den rechten Arm zuerst heben, an welchem die Hand, wie zerbrochen, hing.
S. 52. f. (Ich vermuthe u.s.w.) Das glaube ich nicht. Die Empfindung des eigentlichen Alpdrückens ist immer die, welche Fueßli dargestellet hat. Man glaubt eine ungeheure Last zu fühlen, die auf die Füße schwer niedersinkt, und durch die Beine, über Bauch und Brust gegen den Kopf fortrückt. Ehe sie in das Gesicht kommt, verschwindet die Erscheinung jedesmal.
S. 53. IV. Zerstreute Personen (die man fleißig beobachten sollte) können leicht stehend träumen, und ihre Träume für Wirklichkeit außer ihnen, halten. Die bekannteste zerstreute Person war M. de Brancas, von der alle Memoires des [59]Jahrhunderts Ludwigs des vierzehnten sprechen. Nach ihr folgt die zweite Hofdame der Königinn, von welcher diese in ihren eben erschienenen Briefen erzählt.
Der Herzog von Selly war ebenfalls dergleichen Abwesenheiten unterworfen, die so weit gingen, daß er öfters ohne Beinkleider zur Messe ging. Der verstorbene General Burmanix, Adjutant des verstorbenen Prinzen von Oranien, stieg zu Pferde, völlig gekleidet, aber ohne Beinkleider.
Newton war nicht weniger zerstreut. Er hatte eines Tages jemanden zum Mittagbrodt eingeladen, und blieb in seinem Zimmer beim Kalkuliren. Der Bediente entschuldiget seinen Herrn bei dem Fremden, sagt, daß er es nicht wage, ihn zu rufen; er wolle aber indessen die Suppe auftragen.
Der Eingeladene wartet noch ein wenig, ißt alsdann die Suppe, und schiebt die leere Schüssel in die Mitte des Tisches. Hierauf erscheint Newton, bittet seinen Freund um Verzeihung, und, mit den Worten: »Kommen Sie, kommen Sie, wir wollen geschwinde essen« faltet er die Hände zum Beten*) 2, öffnet dann die Schüssel, und ruft voll Unwillen aus: »Welche Zerstreuung! hatte ich doch gar vergessen, daß ich schon die Suppe zu mir genommen!«
[60]S. 65. (Wenn die Ideen) Eine ähnliche Empfindung, deren Gegenstand aber ungleich merkwürdiger, ist die, welche eine Dame von vielem Geist oft zu haben versichert, und ich selbst einige mal sehr deutlich gefühlt habe. Es ist als ob ein Vorhang hinter mir rauschte, und mich, in die Vergangenheit zurück, in ein Zeitalter weit vor dem meinigen, versetzte.
Wenn ich die Seelenwanderung glaubte, so würde ich überzeugt seyn, an dem Hofe Ludwigs des vierzehnten gelebt zu haben, vielleicht, Ludwig der vierzehnte selbst gewesen zu seyn. Sollte es daher kommen, weil ich so viele Memoires von diesem Hofe gelesen habe? allein, warum kann ich niemals dergleichen Memoires lesen, ohne daß es mir ist, als wäre ich allen diesen Handlungen zugegen gewesen?
Ich stelle mir sogleich alle Personen, die Lage des Orts, das Costume u.s.w. auf das Lebhafteste vor. Die la Valcère macht einen ganz anderen Eindruck auf mich, wie Dido. Ich denke mir diese mit Mitleiden, an jene, mit einer Art von Unruhe.
S. 67. Die Erinnerung an Farbe vorzugsweise vor andern externis ist nicht allgemein. Mir sind Farben in meiner Kindheit niemals aufgefallen. Ich kann vierzehn Tage lang die nehmliche Person in der nehmlichen Kleidung sehen, ohne [61]darauf Acht zu haben, oder mich in der Folge an diese Farbe zu erinnern.
Ich billige also die Stuffenleiter S. 69. nicht. Die erste Regel S. 68. ist nicht zu bezweifeln, und in den Verhältnißbegriffen des Kindes gegründet.
S. 82. f. Lavaters Träume, die er in seinem Buch Pontius Pilatus V. III. p. 252 sqq. erzählt, verdienen hier einen Platz. g An einem andern Orte will ich von Visionen reden, die mit dem hier erwähnten Traume Aehnlichkeit haben, z.B. die Swedenborgsche Vision von der Feuersbrunst seines Hauses.
S. 82. f. (Sprechen wir nicht sogar) Der Zufall thut hier viel; aber man muß dennoch untersuchen, ob nichts weiter dahinter ist? Das Sprüchwort: »Wenn man vom Teufel spricht, so ist er nicht weit,« d.h. »oft trift das ein, wovon man spricht,« ist allen Sprachen gemein.
Die Neger, und überhaupt die Wilden riechen das Wildpret auf der Jagd, zuweilen in einer Entfernung von einigen Meilen, indem sie sich zu Boden werfen, und den Kopf dicht an die Erde legen. Wir haben ohne Zweifel viele Instinkte und Fähigkeiten, die in uns schlafen, und nicht zur Reife kommen, weil wir sie ersticken.
Indessen ist eine einzige flüchtige Erscheinung in dem ganzen Laufe unsers Lebens hinreichend uns ihr Daseyn zu versichern. Ich weiß nicht ob ich zu dieser Klasse eine Fähigkeit rechnen kann, die ich mit [62]vielen Leuten, vorzüglich mit Militair-Personen gemein habe, welche, vermöge ihres Standes, genöthiget werden, oft Gebrauch davon zu machen.
Ich kann nehmlich selbst aus einem sehr tiefen Schlafe, schnell, zu der bestimmten Stunde, die ich mir des Abends fest in die Einbildungskraft geprägt habe, und sehr pünktlich, erwachen.
Bei einem entschiedenen und interessanten Zwecke, als: eine Reise, ein Spazierritt, eine Jagdpartie etc. war ich oft in diesem Falle.
S. 85. VIII. Die hier angeführte Erfahrung scheint mir auf keine Weise ausserordentlich. Es ist eine Würkung der Einbildungskraft, die von einer Idee, welche sie niemals gehabt, stark afficirt wird.
Ich habe einen Capitän von bewährtem Muthe gekannt, der bis zur Tollkühnheit gieng, und sich bei jedem Anlaß zeigte; und dennoch, so oft er von den Pocken sprechen hörte, wurde er bleich, bekam Ueblichkeiten, und starb auch wirklich, ohne diese Krankheit gehabt zu haben.
Ein anderer Mensch aus meiner Bekanntschaft, der ohngefähr 30 Jahr alt war, las, wie er glaubte, in seinem Leben zum erstenmal in einer englischen Bibel, in der ersten Epistel St. Johannis, die Worte: God is love (Gott ist die Liebe.) Diese Stelle wirkte so sehr auf ihn, daß er vom Stuhle aufsprang, die ganze Nacht in seiner Stube umhergieng, und unter einem Strom von Thränen, be-[63]ständig mit leiser Stimme wiederholte: God is love.
Es vergiengen mehr als zwei Jahre, ehe er diese drei Worte mit lauter Stimme, zumal in Gegenwart eines dritten, aussprechen konnte, ohne dermaßen zu weinen, daß er nicht weiter sprechen konnte.
Ich habe ihn sagen hören: daß die Empfindung, die ihn überkäme, so oft er an diese Worte denke, die entzückendste sey, die er jemals gehabt.
S. 107. f. Der hier vorgezeichnete Plan ist bewundernswürdig, und verdient von allen Pädagogen nachgeahmet zu werden, die Talent genug dazu besitzen.
S. 110. Diese Idee ist so nützlich als sinnreich. Hier ist ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: der Graf von S... bewarb sich um ein Regiment in H...schen Diensten, das vacant wurde.
Damals kannte ich ihn nicht von Person; aber die Grundsätze, zu welchen er sich aus Interesse bekannte, machten mich für ihn partheiisch. Die Kabale setzte sich ihm entgegen; bis endlich der P... ihm das Regiment antrug; und er sollte nun den Eid leisten, um es zu übernehmen.
Denselben Abend erfuhr ich, daß eine Kabale im Werke sey, um die Sache zu hintertreiben, ohngeachtet er von dem P... bereits ernannt war. Mein innigster Freund, der Herr Generaladjutant [64]von B.. kam mit dem Herrn von S.. dann und wann zusammen.
Ich setzte in großer Eil ein Billet auf, um dem letztern anzuzeigen, daß er sogleich den Eid leiste, und auf diese Art die gegen ihn gerichtete Kabale scheitern mache. Er thut es, und ist im Besitze des Regiments.
Ich erzähle alles dieses vorläufig, um zu zeigen, wie weit ich damals von jeder Partheilichkeit gegen den Herrn von S.. entfernt war. Er war mir völlig unbekannt, und ich hatte ihm dennoch einen wichtigen Dienst geleistet.
Einige Zeit hernach gieng ich eines Abends ins Schauspielhaus. Beim Hereintreten erschrecke ich über die Physiognomie eines neben mir stehenden Officiers. Sie war mir so verhaßt, so unausstehlich, daß ich mich gerne entfernt hätte; ich konnte mich kaum enthalten, ihm auf den Fuß zu treten, oder ins Gesicht zu speien. Kurz, ich habe niemals eine größere Abneigung gefühlt; ich konnte nicht länger ausdauern, und mußte mitten im Schauspiel herausgehen.
Wenige Tage darauf gehe ich zu meinem Freunde, welchem ich damals das Billet, den Herrn von S.. betreffend, geschrieben hatte. Ich finde ihn eben beim Nachtische mit seiner Frau und diesem abscheulichen Originalmenschen, der mich im Schauspiele so sehr empört hatte.
[65]Ich stand wie versteinert. »Madame, sagte ich,« indem ich die Frau vom Hause bei Seite nahm, »um Gotteswillen! wer ist das Fratzengesicht das Sie hier bei sich haben?« wie? sie kennen ihn nicht? das ist ja der Herr v. S. Ich war wie aus den Wolken gefallen. Er überhäufte mich mit Höflichkeiten; aber er blieb mir immer so verhaßt, wie zuvor.
Bald darauf entwickelte sich sein Charakter immer mehr, bis er endlich während der Revolution die bekannte Rolle spielte.
Man begnadigte ihn, begnügte sich, ihn für infam zu erklären, zu verbannen u.s.w. Herr v. S. ist ziemlich hübsch, ein fader Blondin, sehr fein, und drückt sich gut aus. Die Frage ist nun: was hat mich so sehr im ersten Blicke gegen diesen Mann eingenommen? Ich kann es nicht begreifen; indessen hat der Erfolg mein physiognomisches Vorgefühl völlig bestätiget. Jetzt ist es bekannt, daß er ein äußerst niedriger Bösewicht ist. Man sagt, er habe schon im zehnten Jahre seiner Mutter den Dolch auf die Brust gesetzt, um Geld von ihr zu erpressen u.s.w.
Band I. Theil II. S. 1. f. Ich liebe diesen Herrn Nenke. Er scheint einen tiefdenkenden Geist zu haben; jedoch ist er ein wenig zu schnell, und es fehlt ihm an Präcision. Gleich in der zweiten Phrasis hätten ihn die Herausgeber, meiner Meinung nach, berichtigen sollen. Er sagt; daß [66]uns gewisse Tugenden — es sollte heissen: daß uns die Anlage zu gewissen Tugenden gleich wie zu gewissen Lastern etc. denn, im Grunde läßt es sich entweder gar nicht behaupten, oder doch nur von der Anlage.
S. 3. Diese Ideen sind bewundernswürdig aber nur in ihrem Grundsatze, nicht im Detail.
Doch ist die Hauptidee recht gut, nur eine Kleinigkeit liegt ihr im Wege, nehmlich die Gerichtshöfe mit Philosophen zu bevölkern, und diese, wenn sich ja einige finden sollten, zu vermögen, daß sie sich darauf befleißigten, den Verbrecher während des Verhörs vor der Bestrafung über die unmittelbaren und mittelbaren Ursachen auszufragen, welche das Verbrechen veranlaßt haben.*) 3 Nichts ist schöner in der Theorie und schwieriger in der Ausübung, weil, ich wiederhole es, die Glieder welche den grösten Theil dieser Gerichtshöfe ausmachen, in den meisten Ländern selten philosophischen Geist haben.
Man eilt die Sachen zu expediren, es mögen Kriminalfälle seyn oder nicht, denn es ist bald Mit-[67]tag. Dieß ist der Lauf der Welt, und die Idee die sich der Gelehrte in seinem Studierzimmer von diesen Dingen macht, ist himmelweit von dem unterschieden was man siehet, wenn man nahe dabei ist. Das schlimmste bei der Sache ist noch, daß die wenigen guten Köpfe, die vielleicht im Stande wären, solche idealisirte Vorschläge auszuführen, von ihren übrigen Mitarbeitern verlacht und muthlos gemacht werden.
S. 4. Ich kenne die Toskanischen Zuchthäuser nur aus der Beschreibung meines Freundes Howard, und dieser hat sich mehr um die Gefängnisse als um die Zuchthäuser bekümmert, allein künftiges Jahr bin ich gesonnen sie selbst zu besuchen. Indessen habe ich in einem andern Lande 10 Jahre lang verschiedene Zuchthäuser unter meiner Aufsicht gehabt, und weiß nur ein einziges Beispiel von einem jungen Menschen, der würklich darinn gebessert worden wäre, alle übrigen sind vielleicht noch böser darin geworden.
Ich gestehe daß die Einrichtung dieser Zuchthäuser äusserst elend war, aber ich war nicht im Stande sie auf bessern Fuß zu setzen. Ich hätte sie ganz und gar umschaffen müssen, und da stehen einem Zeit und Umstände immer im Wege. Der Mann im Amte hängt mehr von äussern Dingen ab, und alles Neuerungenmachen wird ihm schwieriger, als man es sich in seiner Studierstube wohl vorstellt.
[68]Indessen könnten die Stubengelehrten etwas sehr Nützliches verrichten, woran noch niemand gedacht hat. Es giebt so viele Lesebücher für alle Stände, und für jedes Alter, aber noch gar keins für Züchtlinge, besonders in solchen Zuchthäusern, wo sie nicht arbeiten müssen. Die meisten fühlen in dieser Lage eine Begierde zu lesen, die so heftig werden kann, als der Hunger oder der Durst. Sie lesen oft Zeitungsblätter die 10 Jahr alt sind, so oft durch, daß sie sie endlich auswendig wissen. Noch hat man kein Buch, daß man diesen Menschen in die Hände geben könnte, um ihnen die Zeit zu kürzen, und sie zu gleicher Zeit zu bessern, und doch wäre nichts leichter als ein solches Buch zu schreiben, denn die Züchtlinge sind nichts weniger als delikat im Lesen; und um es recht zweckmäßig ausarbeiten zu können, müßte der Verfasser nur selbst einige Jahre in einem Zuchthause zugebracht haben. Die Gefängnisse haben ihre eigene Moral, ihre eigene Logik und ihre eigene Art zu empfinden, so wie die Klöster und die Seeschiffe.
S. 8. Z. 9. b. z. Ende. Diese Schildrung ist vortreflich, und die Bemerkungen sind sehr fein. Man siehet daraus, wie wenig ein Gelehrter, der aus seiner Studierstube tritt, zu Geschäften fähig ist, wie oft er sich irren, und aus diesem Grunde schlecht betragen kann. Ein Theil dieser Bemerkungen wirft zugleich ein grosses Licht auf den Streit, den Rousseau mit David Hume gehabt [69]hat, indem sie zeigen wie die Empfindlichkeit eines Gelehrten im Umgange mit einem Menschen aus der gewöhnlichen Welt, oft aufs entsetzlichste beleidigt wird; denn bei den gewöhnlichsten und unbedeutendsten Handlungen, wo der alltägliche Mensch gar nichts argwöhnt, wird der Gelehrte so lange grübeln und sich den Kopf darüber zerbrechen, bis er irgend eine besondre Absicht hineingelegt hat; In demselben Falle war der arme Werther!
No. 2. S. 10-18. Dieses Stück ist gewiß äusserst interessant. Das Herz blutet hier beim Lesen, zumal wenn man bedenkt, daß dieses bei weitem nicht das einzige Beispiel dieser Art ist. Soll ich meine Meinung darüber sagen, und mich der Verachtung und dem Hohngelächter eines sogenannten philosophischen Jahrhunderts aussetzen? Ich stände keinen Augenblick an, wenn diese Verachtung mich allein beträfe; aber sie fällt auf alles zurück, was ich nur sagen werde, es sey so vernünftig und gegründet als es nur wolle. Denn der Mensch ist nun einmal so: wer ihm in seiner Lieblingsmeinung widerspricht, findet auch in allen übrigen Stücken keinen Glauben. Ich schweige daher, und halte meine Gedanken über diesen Punkt zurück. Ich bitte nur auf folgende beide Umstände Acht zu haben. Der eine S. 15. »in dem Augenblick da der Mörder die so lange vorher durchdachte That begangen hat, fühlt er Reue;« und S. 17. »Niemals« — — — »Alsdann rieb er sich [70]die Stirne etc.« Wenn man aufmerksam und mit unpartheiischem Auge diese plötzlichen Uebergänge einer sonst so abgehärteten und festen Seele betrachtet, so wird man mir von diesen Uebergängen (nicht Veränderungen) keinen hinlänglichen Grund angeben können, ohne — den Einfluß einer äussern wirkenden Macht anzunehmen. Aber es ist Mode den Einfluß dieser Macht zu läugnen; und auch ich nehme ihn nur da an, wo ich sehr triftige Bewegungsgründe dazu habe. Sonst würde die Moral zu sehr darunter leiden, und ich will lieber Gefahr laufen zu wenig als zu viel anzunehmen; jedoch suche ich auch das Gegentheil, gar nichts anzunehmen, zu vermeiden. Aber sollte der Weltweise ein Sklave der Mode seyn! o fast schäme ich mich meines Jahrhunderts! Noch war keines der wahren Philosophie mehr zuwider. Man will sich frei machen von dem, was man Vorurtheil nennt, und geräth nun eben den wahren Vorurtheilen in die Hände.
Dum vitant stulti vitia
in contraria currunt. i
Aber wir kommen nur dann erst auf den wahren Mittelweg, wenn wir lange genug in den Extremen herumgeschwärmt haben. Der Wagebalken geräth nur nach manchen Schwingungen auf beiden Seiten, in Ruhe. Unsre späten [71]Nachkommen im Jahre 2440 werden uns wacker auslachen. — Doch nein! sie werden zu weise seyn, um über die Verirrungen des menschlichen Geistes, oder wohl gar des menschlichen Herzens zu lachen — sie werden vielmehr die Ausschweifungen eines Jahrhunderts beweinen, das spottet, belacht und bezweifelt, statt gründlich durchzudenken, so wie wir die Barbarei, die Leichtgläubigkeit, und die Dummheit des mittlern Zeitalters beweinen oder belachen, je nachdem wir mehr Demokrite oder Heraklite sind.
S. 18. No. 3. Alles woran mein unsterblicher Freund M. Mendelssohn auch nur den entferntesten Antheil hat, muß interessant seyn. Gewiß dieses Stück ist es. Der Held gehört zu der zahlreichen Klasse der Wahnwitzigen aus Ehrgeiz; und ich fühle mich gezwungen zu gestehn (sollte es auch gegen einen Prinzen seyn, für den ich die tiefste Hochachtung hege, der aber in diesem Falle, wie es mir scheint, entweder gar nichts oder mehr hätte thun sollen), es war grausam, diesen Menschen mit einer Hoffnung zu körnen, die man doch gar nicht zu erfüllen dachte, und von deren Erfüllung, wie es sich von selbst verstehet, die Wiederherstellung seiner Vernunft abhing. So wie er war, hätte er der Gesellschaft nützlich seyn können. Die Worte S. 27. »Nennen Sie es Eitelkeit,« die er zu Mendelssohn sagte, tragen den Stempel einer nicht gemeinen Seele. Welch ein Trost für [72]einen Weisen, daß er, wenn er ein solches Beispiel des menschlichen Elends siehet sagen kann: dieser Elende welcher mein Bruder war, gieng für seine Mitbrüder verlohren, indem sie ihn ausstießen; Jetzt aber stehet er vor einem vollkommnen gerechten Richter, dessen Aussprüche nicht sind wie die unsern! Vielleicht war es bei einem ähnlichen Falle, als ein großer Mann aus dem Alterthum*) 4 ausrief: Ich sterbe vor Verlangen, Lust und Begierde, nach deinem Urtheil, o Gott! fünf tausend Jahre hindurch fühlt man nun schon die [73]Wahrheit: daß wenn auch alle Menschen zusammenträten, sie dennoch in fünftausend Fällen unrichtig urtheilen würden, und freut sich daher der letzten Urquelle die uns immer noch übrig bleibt. Doch es ist wahr! auch dieses alles hätte ich unterdrücken sollen; es ist nicht die Philosophie unsers Zeitalters.
S. 28. Ein sehr interessantes Stück. Die unvermuthete Entwicklung hat mich überrascht. Es wäre der Mühe werth, diesem jungen Menschen nachzuspüren, der auf dem besten Wege war, ein Heuchler und ein durchtriebner Betrüger zu werden. Wäre er es geworden, so würde die üble Erziehung seiner Eltern einzig und allein Schuld daran gewesen seyn.
S. 38. III. Was wäre nicht ein psychologisches Magazin werth, das aus lauter Beiträgen eines Spaldings, eines Sulzers, oder eines Mendelssohns bestände. Das einzige Mittel solche Männer zu bewegen, daß sie gern und oft ihre Beiträge liefern, ist wohl dieß, das Magazin selbst so vollkommen als möglich zu machen, indem man nichts als wirklich wichtige Fakta aufnimmt, alle unnütze Umständlichkeit vermeidet, jedes zweideutige Faktum daraus verbannt, und was noch mehr ist, sich eines unreifen und schielenden Raisonnements enthält.
Der Fall des Herrn Spalding war vorübergehend, und dauerte nur wenige Augenblicke, und ich finde ihn deshalb keinesweges so ausserordentlich. Wenn man in einem Zimmer schreibt, wo mehrere [74]Menschen zu gleicher Zeit sprechen, trägt es sich da nicht oft zu, daß man etwas hinschreibt, welches jene gesagt haben, das übrigens gar keinen Sinn hat, und gar nicht mit dem zusammenhängt, was man hat niederschreiben wollen? Man pflegt alsdann wohl zu sagen, ich bin verwirrt, oder zu den Sprechenden, stille! sie machen mich irre. Sollte die nehmliche Wirkung, die nehmliche Zerstreuung die hier von den äussern, mehr oder weniger verwirrten Eindrücken des Gehörs hervorgebracht wird, nicht auch von innern Ursachen, durch einen Zusammenfluß von mehr oder weniger verwirrten Ideen hervorgebracht werden können?
Ein Kaufmann versicherte mir in vollem Ernste, daß er einst ganz unvorsetzlich einen Wechsel folgenden Inhalts geschrieben habe: Gegen diesen meinen prima Wechselbrief zahlen Sie an die Ordre des Herrn N... die Summa von zwei hundert und zwanzig Flintenschüsse in Banco u.s.w.
Was die Identität der Seele betrift, die verwirrt, und sich zugleich dieser Verwirrung bewust ist, und sie richtig unterscheidet (S. 43.), so setze ich hinzu, daß die Seele in demselben Falle ist wenn sie träumt und das Bewußtseyn hat daß sie träumt oder doch sich bestrebet zu unterscheiden, ob sie träume oder nicht. Jenes ist mir selbst oft wiederfahren, und dieses dem Lavater, [75]so wie er in seinem Pilatus in der oben angeführten Stelle erzählt. m
Die Anwendung die Hr. S. von dieser seiner eigenen Erfahrung auf das macht, was er an einem wahnwitzigen Kandidaten bemerkt hat, und wovon sich mehrere Beispiele finden, ist so sinnreich als wichtig. Es ist möglich, daß sie auch richtig ist. Die Auseinandersetzung der Erfahrung selbst ist mit der möglichsten Precision und Genauigkeit aufgesetzt; jedoch möchte ich Hr. S. fragen: ob das was er S. 41. die fremden mir so überlästigen Vorstellungen nennet, Bilder, Wörter, oder Ideen waren?
Ich wünschte übrigens, daß Hr. S. sich die Mühe genommen hätte, Ihnen die ähnlichen Erfahrungen zu liefern, die ihm sein Freund Sulzer mitgetheilet hat, und ich wundre mich, daß Sie nicht darum angehalten haben.
S. 44-73. Ich kann über diesen weitläuftigen Aufsatz des Hr. Herz nichts sagen, als daß er gut geschrieben ist, und sich mit Vergnügen lesen läßt. Indessen kann nach dem erstern Theile zu urtheilen, weder der Arzt noch der Psycholog viel daraus schöpfen. Es scheint daß dieß die einzige schwere Krankheit ist, die Hr. Herz überstanden hat, denn seine Sensationen, so schön er sie auch schildert, sind doch sehr alltäglich, z.B. das Vorgefühl der Krankheit S. 48. und 49. Die vielen Lichter die [76]in seinem Kopfe brannten, wenn das Delirium herankam, S. 54. 63. das Delirium selbst S. 54.
Dieser Zustand ist immer dem Traume gleich, nur mit dem Unterschiede, daß man hier wachend träumt, und die Phantasieen größtentheils ihren Grund in physischen Begebenheiten haben, so wie Hr. Herz mehrere sehr gut, und einige mit großem Scharfsinn erklärt hat, S. 56-58. Dann die Erhöhung oder Verstärkung der Sinne, besonders des Geruchs, S. 57. Die Neigung zum Komischen S. 59. 63. 64.
Dies sind alles Symptome, die mehr oder weniger sich in jeder schweren Krankheit besonders in bösartigen Fiebern zeigen. Ich kenne sie alle aus meinen eigenen Erfahrungen, nachdem ich ein Faulfieber mit einem beständigen Delirio, die bösartigsten Pocken mit einem dreitägigen methodischen Delirio, die Gelbsucht, und über alles eine andre äusserst zusammengesetzte Krankheit überstanden habe. Diese entstand aus einem Gifte, daß ich zu mir genommen hatte, und 5 Jahre hindurch spottete sie aller Kunst der Aerzte. Zulezt lag ich völlige neun Monathe im Bette, und litte Schmerzen, die jede Tortur übertreffen, bis ich endlich so völlig entkräftet, und ausgesaugt war, daß meine Genesung ein wahres Wunder, und in der Medizin fast einzig ist.
[77]Der einzige wirklich merkwürdige, obgleich gar nicht ausserordentliche Punkt, und im Grunde dem Mediziner wichtiger als dem Psychologen, ist die unerwartete Krisis der Krankheit aus der S. 69. 70. angegebenen anscheinenden Ursache. Es fehlt jedoch ein höchst wichtiger Umstand, den Hr. Herz als Arzt doch hätte erwägen sollen, indem in ihm wahrscheinlicherweise die physische Ursache zur Krisis gelegen hat. Die Frage ist nehmlich: um wie viel war die Luft der Stube, in welcher Hr. Herz die ganze Zeit wider seinen Willen liegen mußte unreiner, als die der andern Stube, in welche ihn seine Schwiegermutter, zwar wider die Meinung der Aerzte, aber zu ihrer eigenen Zufriedenheit, und mit dem glücklichsten Erfolg für die Krankheit, legen ließ? Es ist aus vielen Ursachen, die ich der Kürze halber hier nicht anführen kann, sehr wahrscheinlich, daß die Luft in seinem Zimmer äusserst unrein und verderbt war, das heißt, daß man nach der alten Methode die Vorsicht welche man (besonders in faulen Krankheiten) als hauptsächlich betrachten sollte, nicht beobachtet hat, nehmlich den Kranken oft zu lüften, ihn eher zu kalt, als zu warm, und hauptsächlich äusserst reinlich zu halten. Diese Methode haben die Engländer zuerst aufgebracht, und die Erfahrung zeigt täglich, daß sie äusserst nützlich, oder vielmehr nothwendig ist.
Eine andre eben so gewöhnliche aber nicht minder wichtige Erfahrung, sowohl für den Psychologen [78]als für den Mediziner, ist diese: eine heftige und anhaltende Begierde, die der Kranke zeigt, wenn ihre Befriedigung auch gegen alle Regeln der Kunst wäre (wie es doch hier der Fall gar nicht war), ist sehr oft das wahre Mittel, welches die Natur uns anzeigt, die Krisis der Krankheit hervorzubringen. Man hat hievon die ausserordentlichsten Beispiele. Ich selbst habe ein solches an einem meiner Bedienten gesehen; ein Bursche der sonst sehr mäßig war, und sich von einem äusserst bösartigen Fieber in einer einzigen Nacht kurirte, indem er in dem Delirio eine Brandweinflasche fand, und sie in einem Zuge ausleerte. Was übrigens den Fall des Herrn Herz betrift, so glaube ich behaupten zu dürfen, daß man den Willen des Kranken allemal befolgen muß, wenn er in ein andres Zimmer, in einem andern Bette liegen oder mehr freie Luft haben will, und in manchen Fällen muß man ihn sogar dazu zwingen.
S. 74. Obgleich Lord Monboddo trotz seiner großen Gelehrsamkeit, in einem ganz originellen und fast einzigen Grade leichtgläubig ist, und ich ihn daher am wenigsten zur Bestätigung eines ausserordentlichen Faktums anführen würde; so hat dieser Fall hier doch nichts, weshalb man ihn gänzlich leugnen könnte. Es scheint eine Zusammensetzung aus dem S. Veits Tanz, n und dem Somnambulismo o zu seyn. Louping ist gar kein engli-[79]sches Wort, a Loping fever oder a Leaping fever ist die richtige Benennung. p
Die Magnetisirer q könnten diesen Fall zu ihrem Systeme benutzen.
S. 78. Es giebt in dieser Art weit stärkere Beispiele als das hier angeführte, welches zu den Fällen gehört, wo die Einbildungskraft von einer einzigen Idee zu stark gerührt wird. Die allgemeinen Bemerkungen S. 81. 82. verdienen nähere Erwägung.
S. 85. 86. Hier ist jemand, auf den die Farben in seiner Kindheit so wenig Eindruck gemacht haben, wie auf mich. Das Vorhergehende beweist vollkommen meine Idee, wenn ich in meinen obigen Bemerkungen behaupte, daß die Band 1. St. 1. S. 68. festgesetzte Regel in den Verhältnißbegriffen der Kinder ihren Grund hat.
Die folgenden Beobachtungen sind merkwürdig und sinnreich; aber ich glaube, der Verfasser hat sie S. 93. recht wohl beurtheilt.
S. 96. ff. Ich billige den Gedanken sehr, die Schriften der Wahnsinnigen zu sammeln und herauszugeben. Ich besitze selbst einige; und würde sie mittheilen, wenn sie französisch oder deutsch geschrieben wären. Uebersetzen lassen sich dergleichen Sachen nicht. Ich bemerke also nur 1) die frappante Aehnlichkeit in dem Character des Wahnsinns, der in diesen Schriften herrscht, mit der Erfahrung des Herrn Spalding S. 41. 42. und ich wundre [80]mich, daß diese Bemerkung den Herrn Herausgebern entgangen ist.
2) Wenn man den Versuch macht Wahnsinnige lesen zu lassen, so gehet es ihnen wie beim Schreiben. Sie lesen einige Worte, und den folgenden Zeilen schieben sie andere unter, die an der unrechten Stelle stehen, und keinen Sinn geben. Ganz so wie die Quittung des Herrn Spalding, wie der Wechsel meines Banquier's, und endlich wie die Reden der M. Hennert und der Arbeiter zu Babel.
3) Eine Menge Erfahrungen, welche ich selbst hierüber zu machen das Glück gehabt habe, berechtigen mich zu der Meinung, daß es uns immer so gehet, wenn wir im Traume lesen, oder lesen hören. Ich sage: das Glück; denn nur selten und durch einen glücklichen Zufall erwacht man aus dergleichen Träumen so sanft, daß man sich der Worte, welche man im Traume gelesen, erinnern kann. Ist der Zufall nicht günstig, so wird man sich sein ganzes Leben hindurch in Absicht dieser Träume trügen. Denn während dem Traume ist man mit der Lektüre sehr wohl zufrieden; man ist von dem Zusammenhange vollkommen überzeugt; man findet sogar Schönheiten, z.B. wenn es Verse sind.
Fünf und dreißig Jahre lang habe ich viel solche Träume für wirklich gehalten, vorzüglich wenn ich im Traume Briefe empfing, die ich durch und durch mit dem größten Interesse las. Endlich wieder-[81]fuhr es mir zweimal nacheinander, vor etwa zwei Jahren, daß ich sehr sanft aus einem Traume dieser Art, und sogar mitten in der Lektüre erwachte. Ich erinnerte mich noch deutlich der letzten Phrasen, die ich gelesen hatte. Es waren jedesmal anstatt Gedanken, nur Töne oder Wörter, kein Sinn, wieder eben so wie die Quittung des Herrn Spalding, u.s.w. Ich ziehe folgenden Schluß daraus: da Wörter nur willkürliche Zeichen (an und für sich ohne Bedeutung), und nur Mittel sind, durch welche wir Ideen von den äussern Gegenständen bekommen, es sey nun durch das Gehör oder durch das Gesicht; und da die Seele sowohl im Delirio als im Traume, und selbst im Wahnsinn, die Ideen, welche sie durch die äussern Gegenstände entstanden glaubt, doch nur von sich selbst empfängt; so müssen ihr die Zeichen gleichgültig seyn, durch welche sie diese Ideen zu erhalten glaubt, weil sie im Grunde alle Zeichen entbehren kann.
Nur die irrige Meinung, daß diese Ideen von aussen kommen, und die Gewohnheit, im gesunden und im wachenden Zustande nur durch artikulirte Töne, oder durch Schriftzeichen Ideen zu erwerben, überreden sie, daß diese Zeichen nothwendig sind. Sie erdichtet welche — so schlecht sie auch seyn mögen — in ihrem jetzigen Zustande, und begnügt sich damit, so wie man falsche Münze eben so gerne [82]wie die ächte nehmen würde, wenn man für jene, wie für diese, Waaren erhielte.
Eben so gehet es mit der Sprache, bei Leuten die noch auf der ersten Stufe der Verrücktheit stehen, d.h. bei welchen der Wahnsinn von aussen her, nicht von innen, kommt. Spalding glaubte seinen Candidaten in diesem Falle, so wie auch er selbst, und M. Hennert darin waren. In diesem Zustande kann die Seele nicht mehr die Zeichen, aber wohl noch die Begriffe beurtheilen. Ihre eigenen Gedanken betrachtet sie aus dem richtigen Gesichtspunkte; entscheidet, ob sie zusammenhängend sind u.s.w., aber diese Beurtheilungskraft mangelt ihr in Absicht der Zeichen, deren sie sich zur Ausdrückung ihrer Gedanken bedienet, sowohl im Sprechen als im Schreiben.
Hierin sind wiederum Unterabtheilungen. Die Einen glauben gut zu reden und zu schreiben, indeß sie nur Galimathias vorbringen; die Andern — wahnwitzig in geringerem Grade — vermuthen oder fühlen zuweilen, daß sie Galimathias schreiben oder sprechen; aber sie haben zu wenig Gedächtniß, sie besinnen sich nicht schnell genug auf passende Wörter, auf die richtigen willkürlichen Zeichen.
Im Kurzen: das Delirium, und der Wahnsinn, der nur ein verlängertes, zur Gewohnheit gewordenes und bestimmtes Delirium ist, sind nichts als der Zustand eines verlängerten, zur Gewohnheit gewordenen und bestimmten Traums; d.h. der [83] Wahnsinn ist im Vergleich mit dem Delirium, (versteht sich, mit dem vorübergehenden, in Fiebern und Krankheiten) was das Delirium gegen den bloßen Traum ist, und umgekehrt.
Wollte man verrückte Personen heilen, so müßte man sich Mühe geben, sie zu erwecken. Aber ehe man dazu gelanget, müßte man die Natur des Schlafs, und den physischen Zusammenhang, den der Zustand des Schlafs, mit dem Zustande des Träumens hat, genauer kennen. Wir wissen weiter nichts, als daß der Körper schläft, und der Geist, die Seele träumet, und es scheint eben so erweislich, daß eines ohne das andere bestehen kann; der Körper kann schlafen, ohne daß die Seele träumet. Ich glaube daher, daß vice versa die Seele träumen könne, ohne daß der Körper schläft; wie im Delirium und im Wahnsinn.
Ich zeichne hier nur die Aussenlinien (outlines) eines an Folgerungen sehr fruchtbaren Systems, für welches man aber noch viele Data sammlen, noch viele Untersuchungen anstellen muß, ehe man es zur Vollkommenheit bringen kann. Man müßte vorzüglich über den Schlaf, den Traum, die Somnambulen, über Personen im Delirium, über Verrückte, und — warum sollte ich es nicht sagen? — auch über Krampfhafte und Magnetisirte, Beobachtungen machen.
[84]S. 100.f. Ich will einmal eine ganz ausserordentliche Frage, im Betreff der ersten hier erzählten Erfahrung machen: giebt es wohl einen einzigen Menschen — wenn er auch nur in sehr geringem Grade dem Schwindel unterworfen ist — dem nicht diese Idee mehr oder weniger in den Sinn käme, wenn er sehr aufmerksam darauf ist, und sich in der gegebenen Lage befindet? Die Seele hat eine äusserst seltsame Neigung sich alle möglichen Dinge vorzustellen und sie zu versuchen; und je entfernter die Möglichkeit ist, je vernünftiger die Gründe sind, welche sich der Ausführung entgegenstellen, (wie in dem gegenwärtigen Beispiele, die Gefahr den Hals zu brechen), je mehr der Körper widerstrebt, desto stärker fühlt sich die Seele angezogen.
Ohne vollwichtige und siegende Bewegungsgründe, zu welchen man die durch Gewohnheit entstandene Ueberzeugung von der absoluten Unmöglichkeit der Sache, rechnen muß, würden wir, vermöge dieser allgemeinen Neigung, alles mögliche versuchen. Ein Kind streckt die Arme aus, um den Mond zu ergreifen, und eben diese Neigung hat die Erfindung der Schiffahrt, das Schwimmen, das Seiltanzen u.s.w. veranlaßt. Würde es sonst noch Menschen geben, welche gerne ein Universalmittel, die Quadratur des Zirkels u.s.w. erfinden wollen?
S. 110. ff. Ein vortrefliches Stück in Plan und Ausführung. Man kann diesen geschickten und [85]einsichtsvollen Pädagogen nicht genug zur Fortsetzung aufmuntern. Man muß in dieser Art viel thun, wenn man etwas gethan haben will. Eine Menge solcher Fälle muß in verschiedenen Rücksichten sehr nützlich seyn.
Band 1. St. 3. S. 1. I. Ein merkwürdiges und schön geschriebenes Stück, das aber eher in ein Magazin zur Erziehung als zur Erfahrungsseelenkunde gehört. Einige Stellen aus den Originalbriefen des H. R. G. die man S. 8. 12. 14. hervorgesucht hat, wären hier am besten angebracht gewesen, denn sie hätten besser als Facta, einen Blick in die Seele des R. G. werfen lassen.
S. 28. III. Ich erwartete von der Selbstmörderin, daß sie Schriften nachgelassen haben würde, woraus die Bewegungsgründe erhelleten, die man in ihr vermuthet. Durch die Art, wie der Fall hier erzählt wird, und durch die blos auf Wahrscheinlichkeit und Vermuthungen gegründeten Motive, verliert die ganze Geschichte an Interesse. Man hat eine Anekdote von einem Engländer, der sich zu Rom das Leben nahm, und ein Schreiben hinterließ, worin er als Ursache dieser Handlung, nach seinen eigenen Ausdrücken angab: daß er unmöglich der Ungeduld habe widerstehen können, zu erfahren, was das zukünftige Leben sey, und was darin vorginge.
[86]Das Büchelchen, welches S. 30. erwähnt wird, heißt im Herrenhuterstyl das Loosbüchlein. Man verändert es alle Jahre.
Dieser Umstand erinnert mich an eine Geschichte, welche hier zu Basel vor 5 bis 6 Jahren vorgefallen. Eine junge, redliche, sehr religiöse Hausmutter war so unglücklich verheirathet worden, daß sie nach vielen Kränkungen, welche sie von ihrem Manne, einem groben, ungesitteten Menschen, hatte erleiden müssen, an einem Nachmittage auf ein Lusthaus, das sie ausserhalb der Stadt besaßen, ganz einsam ging, etwas Wein und Brodt mitnahm, davon sie ohngefähr ein Drittheil verzehrte, dann wahrscheinlicherweise ein zu ihrer Gemüthsstimmung passendes Lied, aus einem Buche sang, welches sie offen auf dem Tische liegen ließ, mit einem Zeichen an der folgenden Stelle, und nach allen diesen Verrichtungen sich ersäufte.
Hier ist die Strophe, welche sie bezeichnet hatte:
Die Noth, o Herr, hat kein Gesetz,
Die mich jetzt hart umringet;
Drum das für keine Frechheit schätz,
Wozu die Angst mich zwinget.
Wer blind, wer krank ist, sehnet sich
Nach Licht und Heilung ängstiglich;
Ich Todter such das Leben!
u.s.w. r
[87]S. 32. IV. Wieder ein Stück von einer Art, die man in einem Magazine wie dieses nicht genug wünschen kann. Ausser den Faktis — und vielleicht auch diese nicht einmal ausgenommen — giebt es keine merkwürdigere, keine wahrhaft nützlichere Stücke, als Schriften der Verrückten, der Wahnsinnigen, der tief melancholischen u.s.w., lauter Personen, die für die Psychologie äusserst wichtig sind: auch von sehr boshaften Leuten sollte man zu diesem Behufe Schriften sammeln. Ich bemerke noch im Vorbeigehen, daß die Stärke des Arguments gegen den Selbstmord, welches der Verfasser des Briefs über Werther in Engels Philosoph für die Welt so schön ausführt, s auf der Widerlegung des Sophismi beruhet, welcher den armen Clooß S. 37. verführt hat. Daß wir nehmlich, wenn wir uns einen Arm abnehmen lassen, die daraus entstehenden Folgen wohl kennen; aber nicht also der Selbstmörder u.s.w.
Das Argument S. 39. ist noch weit wichtiger, und muß unter den gegebenen Umständen, von allen Triebfedern am meisten zum Selbstmord verleiten. Es beweiset, wie unendlich wichtig die einzige Idee ist, welche man ihm entgegenstellen kann; daß man nehmlich ein unbegränztes Vertrauen in eine unendlich weise und gütige Vorsicht setzen müsse.
Ich kann mich nicht enthalten, eine allgemeine Bemerkung hieher zu setzen, welche die Seelenheilkunde betrift, den Theil ihres Plans, den Sie [88]mit Recht für den wichtigsten halten. Ich meine die folgende:
Der Selbstmord gehört zu den Materien, worüber man sich sehr frühzeitig, durchdachte Grundsätze festsetzen, das Für und Wider wohl erwägen, und alsdann mit sich selbst die feierliche und heilige Verbindlichkeit eingehen müßte (und sollte es auch des größeren Eindrucks wegen schriftlich seyn,) »niemals von dem Resultate seiner Betrachtungen abzuweichen, sich durch keine Umstände, vorzüglich durch sich selbst nicht dazu bewegen zu lassen, daß man von diesen Betrachtungen einen Augenblick abweiche, ohne sich zugleich an alle die Grundsätze mit Vorsatz zu erinnern, an alle die Beweisgründe, durch welche man zu dem Resultate gelanget ist.«
Ich erinnere mich noch an die Anwendung, welche Ihr vortreflicher Mitbürger und Gönner, der verewigte Mendelssohn, von dem nehmlichen Grundsatze, auf die Religion gemacht hat. »Man muß die Subtilitäten alle, wenigstens einmal in seinem Leben, klauben und ins Reine bringen, wenn man den Schlingen der Sophistik entgehen will; auch die Religionsstreitigkeiten gehören hieher.«*) 5 Ich behaupte: daß noch weit mehr [89]der Selbstmord hieher gehöret; weil der Augenblick, in welchem man sich in eine Untersuchung über den Selbstmord einlassen will, gewöhnlich zu gar keiner Untersuchung geschickt ist. Man billiget in diesem Augenblicke die Handlung, fühlt sich dazu geneigt, und ist ohnehin ausser Stande zu denken, weil die Versuchung zum Selbstmorde schon einen gewissen Grad der Verwirrung, wenigstens eine heftige Erschütterung des Geistes voraussetzt, einen Zustand, der mit der Kaltblütigkeit völlig im Widerspruche stehet, und keiner unpartheiischen Ueberlegung des Für und Wider einer Handlung, Raum gestattet.
Wenig Personen haben mehr Recht, über den Selbstmord zu sprechen, als ich; weil ich überzeugt bin, daß wenig Personen einen so hartnäckigen, ausdauernden Hang gehabt haben, sich das Leben zu rauben, als ich. Ich entsinne mich noch sehr deutlich meines ersten Vorsatzes in dieser Art, da ich erst sechs Jahre alt war. Meine Eltern hatten mich, meiner Meinung nach, ungerecht gestraft; und doch hatte man mich blos in [90]ein Zimmer eingeschlossen, das mir noch jetzt vollkommen gegenwärtig ist; vorzüglich denke ich sehr lebhaft an ein Klavier, woran ich mich lehnte, mit dem Kopfe in den Händen, und in der Trunkenheit meines Schmerzes, oder vielmehr meiner kindischen Empfindlichkeit. Selbst den Gang meiner damaligen Ideen weiß ich noch sehr wohl. Mein erster Gedanke war ein lebhafter Wunsch, daß meine Eltern jetzt sterben möchten. Inzwischen war ich so weit von jedem Gedanken an Vatermord entfernt, daß vielmehr eben der äusserst geringe Grad von Wahrscheinlichkeit, (meine Eltern waren damals noch jung und gesund) sogleich diesen Wunsch entfernte, um einem andern Platz zu machen: ich wünschte meinen eigenen Tod. Ich kannte die Zärtlichkeit meiner Eltern für mich. Ich war überzeugt, daß mein Tod die heftigste Strafe für die Ungerechtigkeit seyn müßte, welche sie an mir verübt hatten; und der Gedanke, mir selbst das Leben zu rauben, hatte eine ganz andre Würkung auf mich, als jener erste Wunsch nach dem Tode meiner Eltern gehabt hatte. So unzugänglich ich jeder Idee gewesen war, den Tod meiner Eltern selbst zu verüben, so heftig fühlte ich mich zum Selbstmorde aus innerem Wohlgefallen angezogen. Nur die Mittel machten mich verlegen; und ich stand in Gedanken vertieft, um welche zu ersinnen, als man, nach Verlauf einer halben Stunde kommt, um mich aus meinem Gefängnisse zu entlassen.
[91]Seit dieser Zeit habe ich mehr als dreißig Jahre hindurch Neigung zum Selbstmord in der nehmlichen Ideenfolge gehabt. Nur der erste, schnell aufsteigende Wunsch nach dem Tode der Personen, welche die Ursache meines Verdrusses gewesen waren, hat sich schon in meinem zwölften oder dreizehnten Jahre so vollkommen verlohren, daß es mir in den Zeiten, wo mir die Menschen Ungerechtigkeiten erwiesen, die gewiß von größerer Wichtigkeit waren, als die, von welchen J. J. Rousseau, Linguet und andere, die ganze Welt ertönen ließen, dennoch nicht widerfahren ist, einen Augenblick das geringste Unglück (eine rechtmäßige und gerichtliche Strafe ausgenommen, worinn ich aber keinen Einfluß gehabt hätte) den Leuten zu wünschen, über welche ich am meisten zu klagen hatte; nicht einmal dem Bedienten, der mich vergiftet, noch den Leuten, welche mir Steine in die Straße geworfen, oder denen, die einen jungen Menschen, der mir den Bart putzte, durch Geld dazu verleiten wollten, mir die Kehle abzuschneiden u.s.w. Nur die Neigung zum Selbstmorde ist mir geblieben, bis auf die Zeiten meiner außerordentlichen Kränkungen, wo, durch die Gnade Gottes (denn von Vernunft war keine Spur in meinen damaligen Handlungen) jeder Gedanke zum Selbstmorde aus meiner Seele vertilgt war, in der er seit mehr als dreißig Jahren geherrscht hatte; oder, wie die Engländer sagen: where she had been uppermost all that [92] time (wo er, diese ganze Zeit über herrschend gewesen war).
So lange ich gesonnen war mir das Leben zu rauben, war es niemals aus Vernunft. Im Gegentheil; Vernunftgründe waren jedesmal dagegen. Ich hatte eine Neigung zum Selbstmorde, wie zu einer Sünde; ich betrachtete ihn, wie das letzte Hülfsmittel; und da ich zum Glücke der Handlung selbst nicht unterlag, so war mir der Gedanke in der Folge sehr nützlich. Er flößte mir Muth ein; ich ertrug jedes Uebel mit mehr Gelassenheit, wenn ich bedachte daß ich doch dieses Mittel mich zu befreien, immer in Händen habe.
Nichts desto weniger war ich mehr als einmal der Vollstreckung nahe. Ja, ich warf eines Tages ein Paar sehr schöne Pistolen in das Wasser, mit welchen ich des Abends aus der Stadt gegangen war, mit dem festen Vorsatze die That endlich einmal zu begehen. Für diesesmal hat mir nur das Präservatif, welches ich eben erwähnt, Einhalt thun können. Doch war die Stimme der Ueberlegung sehr schwach; und nur einer plötzlichen Anstrengung der Vernunft, und dem großen Mißtrauen gegen mich selbst, habe ich es zu verdanken, daß ich dem lebhaften Antriebe nachgab, und die Werkzeuge der Zerstörung, die ich schon in Händen hatte, in den Fluß warf.
Ein andermal, (und zwar zum letztenmale) nahm ich ein Paar Pistolen mit auf das Land, wo [93]ich einige Wochen zubringen wollte, zu dem nehmlichen Endzwecke, wiewohl mit dem lebhaften Wunsche, mich des Mordes enthalten zu können. Das Mittel, welches mich damals rettete, wird Ihnen gewiß durch seine Sonderbarkeit merkwürdig werden, und Ihnen beweisen, daß ich mich auch der Seelenheilkunde beflissen habe. Es war eine Karte, die ich in meine Tasche gesteckt hatte; und ich hatte mir es zum Gesetze gemacht, diese Karte zu lesen, so oft ich allein seyn würde, aber vorzüglich, regelmäßig in dem Augenblicke des Erwachens, und des Schlafengehens. Auf dieser Karte standen aus einem Buche, welches ich immer nur in meiner Muttersprache gelesen habe, die Worte geschrieben: the cup, which my father has given me, shall not I drink it! (den Becher, welchen mir mein Vater gab, soll ich ihn nicht ausleeren!) Seit dieser Epoche bin ich überzeugt, daß ich die angeführten Worte niemals werde mit lauter Stimme aussprechen können, ohne bis in das Innere meines Herzens davon durchdrungen zu werden, ohne daß sie Stundenlang in meinen Ohren, oder vielmehr, im Grunde meiner Seele, wiederhallten.
Ich beschließe diese psychologischen Bekenntnisse mit folgender Anmerkung: ich bin nehmlich in meiner Neigung zum Selbstmorde niemals durch die Furcht vor dem Tode aufgehalten oder gestöret worden. Selbst in meinen stärksten Krankheiten [94]ist mir diese Furcht nicht eingekommen. Im Gegentheil: je näher ich dem Tode war, je mehr verlohr er von seiner Schrecklichkeit für mich.
Zwar kenne ich die Empfindung, welche man Furcht vor dem Tode nennet, aus Erfahrung; aber ich habe diese Erfahrung immer nur im Zustande der vollkommenen Gesundheit gemacht. Ich mache sie noch jetzt, so oft ich an Schlagfluß, v Wassersucht, w u.s.w. denke; und ich kann nach dem Beispiel des großen Turenne in Wahrheit sagen: daß ich zwar nicht den Tod, aber wohl den Schmerz als ein wahres Uebel fürchte, da ich Schmerzen ausgestanden habe, die auf der Folterbank nicht quälender seyn können. Ich gestehe, daß ich mit einer schrecklichen Furcht an den Krebs, an Raserei, denke. Ja, ich könnte diese Furcht bis zur Ohnmacht treiben, wenn ich ihr nicht mit Gewalt Einhalt thäte.
Die Bemerkungen des Hr. Glave, sind zwar ein wenig gesucht, aber vorzüglich die S. 40. über die Verschiedenheit zwischen dem armen Clooß und Werther, sind mir aus der Seele geschrieben, (ich bediene mich gerne dieser deutschen Redensart, weil sie vortreflich ist, und in jeder andern Sprache fehlt.) Seine letzte Phrasis S. 45. ist eine der schönsten, erhabensten Stellen die ich kenne. Wie werden einst alle Weise dieser Erde sich im Staube [95]bücken, wenn sie ein vollkommnes Wesen, einen Menschen wie diesen Clooß richten hören!
Heilige, mit frommem, kaltem Herzen,
Gehn vorüber, und verdammen dich!
Ich allein, ich fühle deine Schmerzen,
Theures Opfer, und beweine dich!
Werde weinen noch am letzten Tage,
Wenn der Richter unsre Thaten wiegt!
u.s.w. x
Ein großes Genie hat diese ungemein schöne Stelle der armen Lotte angedichtet, wie sie einer Person gegen über sitzt, die im Grunde nur aus Enthusiasmus, d.h. aus Schwärmerei und einer großen Schwäche, zusammengesetzt war. Hr. Glave hat es bereits gesagt: Clooß war ein ganz anderer Mensch, hatte weit edlere Bewegungsgründe als Werther.
S. 46-76. Mein verewigter Freund Mendelssohn war ein gelassener Denker, und handelte mit Wärme. Sobald die Reihe wieder an das Denken kam, nahm er auch seine alte Gelassenheit wieder an. Ich kann ihn nicht würdiger, und nicht mit mehr Wahrheit loben; und ich würde ihn entehren, wenn ich diesem Muster so unähnlich seyn, wenn ich ihn mit Enthusiasmus loben wollte. Glücklich, wem der günstige Zufall ward, daß er ihm mit Eifer, mit Wärme dienen konnte. Wer ihn loben will, darf nur richtig urtheilen; und man urtheilet gewiß desto richtiger, je gelassener [96]man denkt. Ich sage darum von diesem Stücke nichts mehr, als daß ich gerne für dieses Einzige den Preis des ganzen Magazins bezahlt hätte.
Beinahe keine Abhandlung von Moses Mendelssohn trägt mehr den Stempel seines Geistes und seines vortreflichen Kopfs, als diese. Es ist ein wahres Kleinod! Ich hatte sie noch nicht gelesen, als ich die vorhergehenden Anmerkungen schrieb. Ich vernichte sie dennoch nicht; denn ich bin nur Geschichtschreiber, nur ein armseeliger Handlanger, aber mein Freund Mendelssohn ist Architekt; er setzt die Materialien zusammen, welche man ihm darreicht, und erschaft ein prächtiges Gebäude. Ich wünschte, daß er auch die meinigen besessen hätte; sie wären ihm nicht unnütz gewesen, wiewohl sie noch ziemlich unvollkommen sind.
Ach, meine Herren! wie vortreflich wäre ein Magazin für die Erfahrungsseelenkunde, zu welchem ein Beobachter wie Spalding die Beiträge lieferte, und ein Mendelssohn sie kommentirte! Finden Sie ein solches aus, und ich verspreche Ihnen, daß ich sie mit meinen Packeten nicht mehr belästigen will. Ich bin überzeugt, sie halten es für keinen Vorwurf, wenn ich behaupte, daß sie es nicht finden werden.
Ich hatte mir vorgenommen zu der erwähnten Abhandlung flüchtige Anmerkungen hinzuwerfen; aber, nun ich die angezeichneten Stellen überlese, werde ich gewahr, daß meine Bemerkungen eben [97]so viel Lobsprüche für jede einzelne Stelle gewesen wären; und ich glaube fest, daß ein Werk, wie das Ihrige, für keinen Leser geschrieben ist, dem man bei jedem Stücke einen Fingerzeig geben müßte, damit er die Schönheit fühle.
1. 3. S. 76. ff. II. Ohne Zweifel hat der Taubstumme die meisten Ideen, von welchen hier gesprochen wird, durch die Erziehung, und von aussen her erworben. Auch ist das Merkwürdige in der Erscheinung gar nicht, daß er die Ideen empfangen hat; nur der starke Eindruck, welchen diese Ideen in ihm gemacht haben, die Begierde, mit welcher er sie erlernet, und die tiefen Wurzeln, die sie in seinem Herzen mehr als in seinem Kopfe gefaßt haben, verdienen Aufmerksamkeit. Welche Aehnlichkeit, zwischen diesem Taubstummen mit dem Blindgebornen, von dem in der h. S. gesagt wird: daß er mehr Glauben hatte, als einer in ganz Israel! und welcher Contrast mit den metaphysischen Sophismen eines Diderot, über die religiösen Begriffe der Unglücklichen dieser Art! y Ohne Zweifel hat ein Blindgeborner und ein Taubstummer, der niemals von einem ewigen Wesen reden hörte, ganz andere Begriffe von dem Ursprung und von der Natur der Dinge, als wir.
Er hat eben darum eine ganz andere Religion, so wie jeder Mensch nach seiner individuellen Weise, seine eigene hat. Aber man bringe nur dieser Art Leuten Begriffe von Gott, von einem Heilande, von [98]dem zukünftige Leben, bei; und man wird sehen, daß sie dergleichen Ideen weit begieriger auffassen, viel inniger davon durchdrungen werden, ungleich stärker sich damit beschäftigen. Ach! sie bedürfen ja des Trostes so sehr; und sie haben viel weniger Zerstreuung, weniger Interesse sich zu täuschen, als wir.
S. 82. III. Ein neuer Beweis zu meiner eben angestellten Bemerkung. Dieses ganze Stück macht der Menschenliebe und der aufgeklärten Frömmigkeit des würdigen Pastors P. und seines redlichen Schulmeisters, ungemein viel Ehre.
Mit Vergnügen würde ich die Bekanntmachung der beiden S. 84 und 87 citirten Stücke sehen. Man kann nicht genug Lehrmethoden für Blindgeborne und Taubstumme, bekannt machen. Auch könnten Sie die beiden Brochuren des Diderot über diese Materie in einer Uebersetzung, oder doch wenigstens im Auszug liefern. Sie enthalten, unter vielen Sophismen, auch einige feine und psychologische Beobachtungen.
Der einzige Vorwurf, den ich gegenwärtigem Stücke machen könnte, ist, daß es gerade in dem Augenblicke schließt, wo es am interessantesten zu werden anfängt.
S. 102. f. Richtig und gut! In den Zeiten, wo ich der Schwermuth am meisten nachhing, hatte ich immer einen Band von Tristram Shandy z auf meinem Schreibepult, und J. Miller war mir [99]mehr werth als Petrarka. Noch jetzt sehe ich meine Freunde, den Dottor Bolonese, den Signor Fastidio di Fastidii, und den Kapitain Spavento und den lieben Policinello u.s.w. lieber auf dem Theater als alle Mahomete und Mithridate, im tragischen Cothurn. Die letztern interessiren und zerstreuen mich nur in den Stücken des Shakespear, wenn ich mich einschließe, um in der Einsamkeit darüber nachzudenken, oder wenn Garrik oder die Mistr. Siddons sie durch ihr einziges Spiel beleben.
Indessen thun in dem letzteren Falle Young's Nachtgedanken aa die nehmlichen Dienste. Auch diese haben weder mich noch manchen andern jemals in Betrübniß versetzt. Ich bin alsdann in der nehmlichen Stimmung, als wenn ich mich von den erdichteten Unglücksfällen des König Lear, des Othello, oder des Hamlet erschüttern lasse. (Ich sage dies mit der unbegränzten Bewunderung, welche dem grösten Genie aller Zeiten gebühret.)
Es ist noch die Frage, ob J. Miller, und Till Eulenspiegel — es verstehet sich, daß ich von dem alten rede; — das non plus ultra der Heilungsmittel in dem non plus ultra der Melancholie, sind, wie Ihr Anonymus anzunehmen scheint. Ich kenne Grade der Melancholie oder der Hypochondrie, die bei weitem noch nicht die äußersten sind, wo ich noch [100]ganz andere Heilmittel gebrauchen mußte. Und diese Heilmittel waren — Noten schreiben — eine mathematische oder algebraische Aufgabe auflösen — mit Samuel Johnson kalkuliren, von welcher Breite und Dicke ein silberner Gürtel um die Erdkugel und mit dem Meridian parallel, seyn müßte, wenn sein Werth den Betrag der englischen Nationalschulden nach geendigtem Kriege Anno 1785, ausmachen sollte. — Oder endlich: ein Mittel, das mir allein eigen, und das würksamste von allen war, das ich aber ohne Nutzen nennen würde, weil wenig Personen in einer solchen Lage sind, daß sie den Nutzen davon ziehen könnten, welcher mir daraus erwuchs, und mich daher wenige verstehen könnten.
Was ich hinwiederum in dem Aufsatze Ihres Anonymus nicht verstehe, ist die Stelle S. 104, »die Teutschheit« u.s.w. Ich kenne nicht nur Winkel in Deutschland, die unter dem Joche des Despotismus seufzen, sondern Deutsche, sehr republikanische, sehr freie, oft als glüklich citirte Staaten, wo das Verhältniß der Selbstmörder, gegen die Londoner, wie 5:3, ist.
S. 105. II. Ein Theil dieses Stücks ist weit gründlicher in den Büchern des Tissot und Anderer, über die Gesundheit der Gelehrten, ab behandelt, und vorzüglich in dem letzten Bande des vortreflichen, medizinischen, und klassischen Werks des Kämpe. ac Ein anderer [101]Theil scheint meinen eben erwähnten Erfahrungen geradezu zu widersprechen, — Erfahrungen, die nichts desto weniger, mit Genauigkeit und Wahrheit über den Gebrauch der abstrakten Meditationen als Heilmittel gegen die Melancholie, angestellet sind.
Ich glaube, daß man hier wohl unterscheiden müsse. Wenn die Melancholie nur reine Hypochondrie ist, und in bloß physischen Ursachen ihren Ursprung hat, so taugen die letzteren Mittel gewiß nicht; aber, sind es drückende Sorgen, unerhörte Kränkungen, die jeder Bemühung sie zu vergessen, trotzen, dann giebt es auch gewiß kein besseres Mittel sich zu zerstreuen, als starke, willkürlich gewählte, abstrakte Materien.
Ich begnüge mich, Ihnen diese Bemerkungen über den ersten Theil Ihres Magazins vorläufig mitzutheilen, und die Fortsetzung soll gänzlich von Ihrem Befehl abhängen.
Eine einzige Note will ich noch hinzusetzen, über einen Brief, den ich Ihnen vor ungefähr vier Jahren schrieb, und den Sie gütigst im 4. Heft des zweiten Theils dieses Magazins aufnahmen. In diesem Briefe hat sich ein sehr erheblicher Druckfehler eingeschlichen, und ohne Zweifel war meine unleserliche Hand Schuld daran. In dem eben angeführten Hefte S. 87 steht Arzt in Mietau, und soll heissen Arzt in Mayland.
[102]Die Journale, und mich dünkt, nahmentlich das Journal etranger, ad sprachen damals sehr viel von diesem Arzte und seinen Erfahrungen. Die Versuche die er mit seinen Gemüthskranken machte, bestanden, wie ich mich erinnere, hauptsächlich darin, daß er die Verstopfungen im Gehirne zu heben suchte, indem er den Zufluß des Bluts und der Säfte, von dem Kopfe mehr nach den untern Theilen leitete.
Er bewerkstelligte dies entweder nach der alten Methode durch Fußbäder, Aderlässe u.s.w., oder nach einer andern sehr würksamen Methode dadurch, daß er diejenigen Theile des Körpers, die man ohne Gefahr reizen kann, als die Hinterbacken u.a., brennen oder bis aufs Blut peitschen ließ.
Wenn ich diesen Sommer, so wie ich hoffe, nach Mayland reise, so nehme ich mir vor, diesen Arzt und seine Versuche genauer kennen zu lernen. Ich habe immer geglaubt, daß wir aus allzugroßer Verzärtelung und Verfeinerung, aufgehört haben nach der Methode der Alten und der noch heutigen Wilden, eine große Menge von Krankheiten durch Schmerzen und durchs Brennen zu heilen. Indessen fängt es bei der Gicht schon an Grundsatz zu werden, daß man sie feindseelig behandeln müsse. So verfahren die Bauern, und man findet die Gicht unter ihnen weit seltener, als unter den Städtern.
[103]Nirgend ist diese Behandlungsart aber anwendbarer als bei Wahnwitzigen; denn nichts heftet den Verstand so sehr auf einen Punkt als die körperlichen Schmerzen, und Peitschen ist die einzige Art, anhaltende Schmerzen hervorzubringen, ohne physische Gefahr befürchten zu dürfen. Indessen muß man nicht auf den Rücken peitschen, weil man Gefahr läuft der Brust zu schaden, sondern auf gut russisch, die Hinterbacken, der Kranke sey übrigens männlichen oder weiblichen Geschlechts.
Wir müßten also nur noch untersuchen, welche Veränderungen der Zusammenfluß des Bluts, der Säfte u.s.w., den wir durch diese Behandlungsart in einem vom Kopfe ganz entfernten, und blos körperlichen Theile hervorbringen, auf den Kopf selbst würken wird. Dies war es, was unser Arzt zu Mayland versuchen wollte, und ich gebe seiner Theorie völligen Beifall.*) 6 Ich hätte wohl gewünscht, diese Versuche selbst anstellen zu können, ich durfte es aber nicht wagen. Man würde mich gesteinigt haben, wenn ich einen Wahnwitzigen hätte peitschen lassen. Es giebt eine Art Menschen, die nicht über ihre Nase wegsehen können, und diese können eine solche Idee nicht ertragen. [104]Man ist immer gewohnt, das Peitschen als eine Züchtigung moralischer Uebel zu betrachten, und nun fällt es schwer, es als ein medizinisches Mittel, oder als einen physischen Versuch anzusehen. Aus allzugroßer Empfindlichkeit sind wir weichlich und verzärtelt worden.
In mehreren Staaten werden die Hausdiebe, die man anderwärts am Leben straft, so vorsichtig gepeitscht, daß es keinen größern Eindruck machen kann, als wenn man ihnen mit einem sanften Zeuge über die Haut führe. Ich habe irgendwo ein Monument des Rousseau gesehen, welches ihn selbst vorstellt wie er ein Schild zerbricht, worauf nach der alten Methode, ein Schulmeister seinen Schüler brav durchpeitscht. Hat der Knabe blos seine Vokabeln vergessen, so billige ich freilich dieses Verfahren auch nicht; hat er aber seinen Mitschüler betrogen oder verrathen, warum sollte er nicht geprügelt werden? Pfui über eine solche Bestrafung, die den Zögling herabwürdigt, schrei't mit Jean Jaques das ganze Chor unsrer neumodischen Philosophen mit dem butterweichen Herzen, und dem steinharten Kopfe!
Trotz dem hat aber England so viele große Männer, so viele starke Geister und edle Herzen beiderlei Geschlechts hervorgebracht, die alle in ihren Schulen mehr als hundertmal mögen durchgeprügelt worden seyn! Eitelkeit der Eitelkeiten! Un-[105]sre neumodische Philosophie, und besonders die empfindelnde ist gewiß die Krone aller Eitelkeiten.
Man will sich der Natur nähern, und entfernt sich immer mehr von ihr; man will uns mehr Kraft geben, und macht uns nur gedrückter und weichlicher. In der That, ich kenne nichts Verächtlicheres! Man spricht von nichts als von Vorurtheilen, wann werden wir aber einmal diese Modevorurtheile ablegen, die uns von den alten Vorurtheilen befreien sollen, und nichts leisten als Neue an die Stelle der Alten zu setzen, die am Ende nicht schlimmer, und vielleicht nicht einmal so schlimm seyn werden!
Ich will nur im Vorbeigehen noch eine Stelle meines Briefes IV. 2. S. 93 berühren, die wie mich dünkt einer der dortigen Journalisten herausgehoben hat. Die Rede ist von einem Frauenzimmer, welche von einer sehr heftigen Gemüthskrankheit geheilt wurde, und die ich über die Sensationen und Empfindungen während ihrer Krankheit befragte. Ich sage in Ihrer Uebersetzung: »Ich hörte verschiedene Dinge von ihr, welche von der Art sind, daß ich sie nie offenbaren werde.« Ueber diese Erklärung ereifert sich der Herr, und macht mir den Proceß. Er kann sich mit seiner ärmlichen Einbildungskraft nicht denken, daß es Dinge geben kann, die eine Person nach überstandener Gemüthskrankheit für Sensationen oder gemachte Erfahrungen ausgiebt, und die der Vernünftige, dem sie [106]sich anvertrauet hat, nicht rathsam findet, öffentlich bekannt zu machen.
Ich werde dem Herrn mit seiner Erlaubniß folgendes Dilemma vorlegen. Die moralischen oder physischen Erscheinungen, die ich durch die Erzählungen dieser Person erfahren habe, mußten auf Resultate führen, die entweder ausschweifend, und würklich wahnsinnig waren, oder aber auf solche die zwar anscheinend wahr, aber doch zweideutig, zweifelhaft, und wohl gar gefährlich waren. In dem einen Falle, würde es der Mühe nicht gelohnt haben sie zu erzählen, und im andern Falle, erinnere sich der Herr jenes Philosophen der einst sagte: wenn ich alle Wahrheiten in meiner zugemachten Hand hätte, so würde ich mich wohl hüten, sie zu öffnen. Nun so mache einen Finger nach dem andern auf, erwiderte ihm zwar jener; aber wenn einen Finger aufmachen so viel heißt als die Büchse der Pandora öffnen, von der man im voraus weiß, daß sie nun durch den Misbrauch dem alle Dinge bei dem Menschen unterworfen sind, eine unendliche Menge Uebel, so wie in unsrem Falle, eine unendliche Menge Irrthümer, und falscher Systeme verbreiten wird; ist es dann nicht besser, die Hand fest zu zu halten, und auch nicht einen Finger aufzumachen?
Ich wenigstens denke so, und wenn Ihr Journalist andrer Meinung ist; so scheint es wohl, er habe in seinem Leben wenig außerordentliche, würk-[107]lich außer dem gemeinen Weltlauf liegende Sachen gesehen.
Ich denke über diesen Punkt völlig wie eine gewisse äußerst schätzbare und geistreiche Person, die ich zwar nicht gradezu anbete, aber doch innigst verehre; ein Weib nach meinem Herzen: kurz, die heilige Jungfrau. Diese hatte in ihrem Leben viel außerordentliche Dinge an sich erfahren, und viele sich an andern zutragen sehen. Aber es ist bekannt, daß sie alles bemerkte, und alles in ihr Herz verschloß.
Die Erfahrung hat gezeigt, wie wohl sie daran gethan hat. Laßt uns dieses Beispiel nachahmen, laßt uns schwatzen, streiten, psychologische Magazine herausgeben, so viel wir nur wollen, aber uns hüten, alles zu sagen, was wir zu wissen, oder erfahren zu haben glauben.
Der erste, der erschrocken zu seinem Nachbar sagte, ich habe einen Geist gesehen, hatte vielleicht würklich Einen gesehen, aber er hätte schweigen sollen. Nun hat er allen Kindern und alten Weibern einen Floh ins Ohr gesetzt, sie glauben jetzt alle zu sehen, wo es nichts zu sehen giebt.
1:
*) Ich weiß keinen schicklicheren Ort Ihnen
anzuzeigen, daß ich
Schwedenborg
persönlich
gekannt habe.
2:
*) Newton war noch
bürgerlich genug, um vor Tische zu beten.
3:
*)
Meißner
hat in seinen
Skizzen h eine Sammlung von Originalfaktis verschiedener Verbrecher
angefangen. Unglücklicherweise weiß ich
nicht, ob er sie fortgesetzt hat, ich habe die letzten Bände nicht
gesehen. Der Entwurf war sehr interessant, und verdiente
Aufmunterung, sowohl zum Vortheil der Seelenlehre, als der
Kriminalgesetze.
4:
*) Es ist nicht
mehr Mode diesen großen Mann zu citiren, und zwar
einer Schwachheit halber, die er doch selbst bereut hat. j Wohl aber citirt man
Heinrich IV.
der jenem unter allen Menschen vielleicht am meisten, sowohl in den
guten als bösen Eigenschaften gleich war, jedoch mit dem
Unterschiede, daß Heinrich die nehmlichen Schwachheiten hatte, sie
aber nicht bereute, k daß er bei weitem so
aufgeklärt nicht war als jener, daß er kein so grosses Genie, kein
so vortreflicher Dichter war, und überdem nur einen Augenblick
regierte. Aber man verschluckt
begierig, das was Baile gegen den erstern gesammelt hat, statt
daß Niemand das liest, was ein unpartheiischer Zuschauer über den
letztern gesammelt hat, (ich meine Sir George Carew, Gesandten der
Königin Elisabeth an Heinrichs Hof,) der gewiß mehr im
Stande war
Heinrich den IV.
richtig zu
beurtheilen, als Baile
den David.
l
5:
*) In dem Original wird hier
eine Stelle aus
Mendelssohns
Brief an Lavater, über dessen
Zueignungsschrift zu dem Buche des
C. Bonnet
citirt. t Weil ich dieses
nicht besitze, so habe ich eine homogene Stelle aus den
Morgenstunden 1te. Ausg. Berl. 86. S. 23. dafür gewählt, wo
jedoch die letzten Worte, »auch die Relig.« u.s.w. gänzlich fehlen. u
Uebersetzer.
6:
*) In der vortreflichen
Abhandlung des Herrn
Mendelssohn
über die Erfahrung
des Herrn
Spalding,
finden sich Bemerkungen, die
auf eben diesen Weg führen.
a: Vgl. die Erläuterung zum Beitrag 'Der Einsiedler im Stadtgetümmel', MzE VI,1,27-31.
e:
Herder 1772;
Monboddo 1773-1792;
Beauzée 1767;
Court de Gébelin 1775-1784, Bd. 3, Monde primitif [...] considéré dans l'histoire naturelle de la parole, ou origine du langage et de l'écriture. Diese sprachwissenschaftlichen Studien waren so erfolgreich, dass Court de Gébelin sie als eigenständige Publikation veröffentlichte (Court de Gébelin 1776).
f: Vermutlich ist 'Der Nachtmahr' (1781) gemeint.
g: Lavater 1784, S. 252-256.
i:
Wenn dumme Menschen einen Fehler vermeiden wollen, dann begehen sie den entgegengesetzten (Horaz,
Satiren, lib. I sat. II)
j: König Davids Ehebruch mit Bathsheba (2. Sam. 11).
k:
König Heinrich IV. hatte viele Mätressen.
l:
Der Beitrag über den biblischen König David in Bayles
Dictionnaire
(Bayle 1697) wurde von dem Konsistorium (Kirchenrat) in Rotterdam als unannehmbar bezeichnet, und man verlangte bestimmte Änderungen in diesem und in vier anderen Beiträgen für die zweite Ausgabe. Während Bayle David anfangs als Heiligen lobpreist und sein Text der biblischen Geschichte treu bleibt, vermittelt der Artikel deutlich die Immoralität des Königs. Vgl. zu dieser Streitigkeit Rex 1965.
m: Lavater 1784, ebenda.
n: "S. Veits-Tanz, eine ehedem bekannte Krankheit, wobey die damit behafteten anfingen zu tanzen." (Adelung 1811, Sp. 979.)
o: Das Schlafwandeln oder ein Trancezustand.
p: 'Louping' und 'loping' sind schottische Wörter für engl. 'leaping' und 'jumping' DSL 2004, Eintrag 'Lowping vbl. n.'.
q:
Franz Anton Mesmer entwickelte die Theorie des tierischen Magnetismus, einer elektromagnetischen Kraft im Menschen, und die darauf basierte Heilmethode der magnetischen Kur, 'Mesmerismus' genannt.
r:
Es gab verschiedene Versionen dieses Liedes in den vielen Gesangbüchern der Zeit. Diese Version z.B. in dem in Basel erschienenen Gesang-Buch 1778, S. 129.
u:
Mendelssohn 1785. Vgl. Mendelssohn 1770, S. 12: "Man muß gewisse Untersuchungen irgend einmal in seinem Leben geendiget haben, um weiter zu gehen. Ich darf sagen, daß dieses in Absicht auf die Religion schon seit etlichen Jahren von mir geschehen ist." Lavater schickte seine Übersetzung von Charles Bonnets
Palingénésie philosophique
(Bonnet 1769) unter dem Titel Beweise für das Christentum
(Lavater 1769) an Mendelssohn mit einer Aufforderung, die Beweise des Christentums entweder zu widerlegen oder zum Christentum zu konvertieren. Der Streit wurde öffentlich ausgetragen (vgl. Essig 2000, S. 125-129).
v: plötzliche theilweise oder vollständige lähmung DWb Bd. 15, Sp. 417.
w: die krankhafte, meist auch äuszerlich bemerkbare ansammlung von wässeriger flüssigkeit [...] beim menschen DWb Bd. 27, Sp. 2525.
x: Reitzenstein 1775, S. 194.
z:
Roman von Laurence Sterne (1759-1765).
aa:
The Complaint: or, Night-Thoughts on Life, Death, and Immortality, erschien in neun Teilen zwischen 1742 und 1746 und wurde mehrfach neu aufgelegt.
ab:
Tissots Werk (Tissot 1767) wurde mehrfach unter diesem Titel ins Deutsche übersetzt (z.B. Tissot 1768). Das französische Werk war seinerseits eine Übersetzung aus dem Lateinischen (Tissot 1766).
ac:
Camper 1760/1762.
Camper versuchte die Veränderungen im Gesichtsausdruck und im Körper bei Angstgefühlen anatomisch zu erklären, um Krankheiten wie Hypochondrie, Melancholie und Hysterie zu diagnostizieren (vgl. Luyendijk-Elshout 1990, S. 193-195.
ad:
Die Zeitschrift Journal étranger erschien 1754-1764 in Paris.