ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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7.

Sonderbare Zweifel und Trostgründe eines hypochondrischen Metaphysikers.

Moritz, Karl Philipp

Die Ewigkeit, welche wir uns bei Gott denken, ist wesentlich von derjenigen unterschieden, welche wir hoffen. Denn dieses ist immer nur Zeit. Immer nur eine Folge vom Denken, die Gott mit einemmale zusammenfaßt, so daß seine Ewigkeit in einem Augenblick zusammenfließt. Bei ihm ist keine Folge. —

Dies ist einer der erhabensten Gedanken, den die menschliche Seele denken kann. Wie kam sie zu diesem Gedanken? Und enthält er keinen Widerspuch? Ist es wohl möglich, daß man sich das, was aufeinander folgt, als nebeneinander denken könne?

Daß uns die Dinge in der Welt aufeinander zu folgen scheinen, ist das Resultat unsrer Unvollkommenheit. Weil wir uns nicht mehrere Dinge auf einmal vorstellen können, so müssen wir warten, bis das eine erst vorüber ist, ehe wir das andre betrachten können. Die Folge der Dinge wäre also bloß ein Verhältniß gegen uns, und eigentlich nichts Wirkliches. Wenn ich eine Stadt besehen will, und befinde mich unten an dem Ende, so muß ich eine Straße nach der andern durchgehn, und es [65]abwarten, bis ich sie nach und nach kennen lerne. Wenn ich aber auf einem Thurme stehe, so sehe ich dasjenige nebeneinander, was ich vorher nacheinander sehen mußte. Was wir die Folge der Dinge nennen, ist also bloß die Folge unserer Vorstellungen von diesen Dingen. Aber hierin giebt es doch wohl eine wirkliche Folge? Für einen eben so eingeschränkten Verstand, der sie eines nach dem andern betrachten muß wohl, aber nicht für einen vollkommnen der sie nebeneinander siehet.

Alles was künftig ist, wäre also wirklich schon da, nur für uns noch nicht.

So müßte auch unsere Vorstellung davon schon da seyn, das ist sie aber wirklich nicht, und jene Behauptung ist folglich ein Widerspruch. Unsere Vorstellung davon ist auch schon da. Wir müssen nur erst warten, bis sie an uns kömmt.

Aber wie ist es denn mit den Bewegungen? Wie kann der Mann, welcher ietzt noch hier steht, in diesem Augenblicke schon eine Meile weit entfernt seyn?

Wie kann auch der allumfaßendste Verstand mein Hierstehen und Dastehen nebeneinander stellen? Wo ich gestanden habe, stehe ich doch jetzt nicht mehr — das wäre also aufs neue ein Widerspruch.

Wenn ich ein Feuerrad mache, oder einen Funken schnell umher drehe, so scheint er da zu seyn, wo er doch nicht ist, anstatt eines Punktes be-[66]merkt unser Auge einen Cirkel, welcher stille zu stehen scheinet. Weil die Bewegung sehr schnell ist, so können wir uns auf einige Augenblicke, die Dinge welche aufeinander folgen, als nebeneinander vorstellen. Wir erblicken den Funken an allen Orten, wo er hinkömmt, wo er jetzt ist, und wo er war, zugleich, und umfassen gleichsam im Kleinen das Gegenwärtige, das Vergangene und das Zukünftige mit einem Blicke.

Wenn wir uns also die Erde wie einen sich fortbewegenden Punkt gedächten, so müßte sie sich in dem göttlichen Verstande wie ein Cirkel darstellen.

Wenn wir sehen, daß sich etwas bewegt, so verändert sich bloß unsere Vorstellung von der Person oder Sache. Ein Mann steht unter einem Baume. Er geht weg. In meiner Seele bleibt noch das Bild von dem Manne der unterm Baume steht. Der Funke bewegt sich fort, an dem Orte aber, wo er selbst nicht mehr ist, ersetzt sein Bild in meiner Seele seine Stelle.

Wenn ich mir den Mann zugleich unterm Baume und in seinem Hause vorstellen wollte, so müßte der Baum und sein Haus eins seyn.

Das Bild des Untermbaumstehens liegt aber noch immer in der Seele, wenn auch der Mann schon wieder in seinem Hause ist.

Das Untermbaumstehen war eben so wirklich als das Zuhauseseyn ist.

[67]

Aber ich kann mir doch unmöglich beides auf einmal denken?

Gott aber muß sich beides auf einmal denken können. Bei ihm ist keine Veränderung.

Die Bewegungen des Menschen kann man nicht anders als durch Veränderungen seiner Vorstellungen erklären, denn daß sie das sind wissen wir alle gewiß. Nun liegen alle Vorstellungen, die der Mensch haben soll, schon nebeneinander da, und der Mensch muß sie eine nach der andern durchgehen. Und selbst dieses Durchgehen ist bei Gott schon nebeneinander da.

Das Nebeneinandervorstellen Gottes muß aber auch von dem unsrigen sehr verschieden seyn, denn wir haben doch immer die Begriffe von Nähe und Entfernung. Bei ihm muß sich alles auf einen Punkt reducieren.

Wenn wir das Gegenwärtige sehen, so behalten wir noch immer das Bild von dem Vergangnen. Es ist aber bei uns nicht mehr wirklich. Bei Gott hingegen muß es noch eben so wirklich seyn, wie das Gegenwärtige. Dies ist vielleicht bei uns ein Theil des göttlichen Ebenbildes.

In ihm steht das ganze Leben des Menschen, ewig wie ein Gemälde nebeneinander da. Der Mensch muß es erst durchleben.

Und giebt es denn einen solchen vollkommensten Verstand? —

[68]

In ihm freut sich noch der erste Mensch seines Daseyns; genießt noch immer die frohen Augenblicke im Paradiese, und freuet sich seiner reitzenden Gehülfin. In ihm verscherzt er noch sein Glück, und bauet mit Mühe den Acker u.s.w., welch ein erstaunlicher Gedanke, daß alles nebeneinander wie Licht und Schatten zu sehen, welch ein unbegreifliches Gemälde.

Ach also ist von dem Vergangenen nichts vergangen, so ist noch alles so da, wie es war, aufbewahrt in dem allumfassenden Gedanken des Ewigen. Wie tröstlich! Wie es mich manchmal kränkte: wenn ich dachte, mit dem ists nun vorbei, das ist nun auf ewig dahin!

Darum klage nicht, daß dein Freund im Staube modert! er blühet noch in seiner schönsten Jugend. Die Jahre seiner Kindheit sind noch nicht verflossen, ob er gleich jetzt im Staube verweset.

Du bist nur gerade jetzt in solchem Verhältniß gegen ihn, daß du den gegenwärtigen Punkt seiner Veränderungen, Verwesung im Grabe, bemerken kannst. Das Verhältniß des Ewgen gegen ihn ist so, daß er sein Verwesen im Grabe und das Aufblühen seiner Jugend jetzt zugleich bemerkt, und daß auch schon sein verklärter Körper wirklich da steht. Wo dein Verhältniß aufhört, das scheint dir vergangen zu seyn. Du täuschest dich aber. Vielleicht wird uns einmal die Wonne gewährt unser Daseyn so nebeneinander zu sehen, vielleicht [69]hört bei uns einmal im eingeschränktern Maße die Folge auf, so daß auch wir alles was wir sind auf einmal sind, und unsre Ewigkeit zur immerwährenden Gegenwart wird.

Wenn sich ein Rad schnell umdreht, so macht jeder hervorragende rauhe Punkt einen Cirkel, und das Ganze bekommt ein schönes, ebenes und wohlgeordnetes Ansehen.

Bei Gott kann nicht das kleinste Bild von dem Vergangenen zurückbleiben, sonst müßte man sich eine Zeitfolge bei ihm gedenken.

Gott hat einen unendlich vollkommnern Begriff von uns als wir selbst von uns haben. Jemehr wir uns mit ihm vereinigen, desto mehr werden wir uns selbst kennen lernen.

Da wir uns dies vollkommenste Wesen denken können, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß wir dereinst genauer mit ihm vereiniget werden.

Würden wir wohl etwas verlieren, wenn wir in diesem Fall auch unser Selbst aufopfern müßten?

Abends.

Wenn bei Gott das Vergangene nicht gegenwärtig bliebe, so wäre zu wenig Wirklichkeit in der Welt. Denn alles was wir sehen hat eigentlich nur ein anscheinendes Daseyn. Dieser Tag ist [70]nun verflossen, und also nicht mehr wirklich, wann war er aber wirklich? eigentlich gar nicht. Tage und Jahre giebt es nicht, sondern nur unmerkliche Augenblicke. Die Bilder aber, welche von den vorübergehenden Dingen in uns zurück bleiben, machen, daß sie etwas der Wirklichkeit Aehnliches bekommen. Uns ist dasjenige nur wirklich da, was von uns unmittelbar empfunden wird. Die unmittelbare Empfindung dauert aber nur eine unendlich kurze Zeit; so ist schon die Sache selbst nicht mehr, sondern bloß das Bild von ihr in unsrer Seele noch da. So klein ist also der Kreis unsrer wirklichen Dinge.

Bei Gott sind alle diejenigen Dinge wirklich, die er weiß, und also ist bei ihm alles wirklich. Können wir aber wohl, auch nur ohngefähr wissen, wie sich der göttliche Verstand die Dinge vorstellt? — Wenn wir es wissen könnten, so müßten wir sie uns im Kleinen eben so vorstellen können, wie er im Großen. Wir thun dieses vermittelst der Worte. Den vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Theil des Tages fassen wir unter dem Worte Heute zusammen. Was wir uns aber eigentlich als wirklich vorstellen, ist doch immer nur der gegenwärtige Augenblick. Daß ich heute Abend in B....s Garten spatzieren gieng, kann doch nie zu derselben Zeit wieder geschehen. — Bei Gott geschiehet es noch, bei Gott denke ich noch eben den Gedanken, den [71]ich damals dachte, und denke zugleich den gegenwärtigen Gedanken.

Bei ihm steht die Sonne noch eben da, wo sie damals stand, und doch ist sie auch zugleich bei ihm schon untergegangen. Denn wirklich ist alles das bei ihm, was er weiß, nicht was er empfindet. Wir denken uns die Ewigkeit Gottes als einen Augenblick, weil der Zeitpunkt unsrer Wirklichkeit nur ein Augenblick ist. Und das ist der Augenblick des Empfindens. Was ist nun mehr, Denken oder Empfinden? Welches von beiden sollen wir Gott zuschreiben? Vielleicht keins von beiden?


Wer weiß denn, ob Gott denkt, ob selbst unser Denken nicht etwas Unvollkommenes ist, das bei uns den Mangel einer höhern Fähigkeit nur einigermaßen ersetzt. Es kann ja wirklich außer dem Denken noch eine Eigenschaft geben, die eben so verschieden von diesem ist, wie das Sehen vom Hören.