ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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5.

Die Wirkungen der äußern Sinne in psychologischer Rücksicht.

K. St.

Ueber das musikalische Gehör.

Die Verhältnisse, die in Ansehung der Größen dem Auge angenehm sind, lassen sich in dem Grade, worin sie es sind, leicht mit dem Verstande begreifen, man kann sie sich leicht in Gedanken vorstellen.

Die Verhältnisse, die in Ansehung der Töne dem Ohre angenehm sind, lassen sich in dem Grade, worin sie es sind, auch leicht mit dem Verstande begreifen, man kann sie sich auch leicht in Gedanken vorstellen.

Die Vorstellungsart beider in der Seele, muß doch aber wohl verschieden seyn, indem man sich bei der Vorstellung der erstem einbildet, man sähe etwas; hingegen bei der Vorstellung der letztern, man höre etwas, und man sich doch eigentlich von einem Tone kein Bild machen kann, als welches etwas Sichtbares aber nichts Hörbares darstellet.

Da es also scheint als ob einbilden das rechte Wort, für die Vorstellung eines Tones in der Seele, nicht sey, so scheint auch für diese Vorstel-[46]lungsart der Seele noch kein Wort vorhanden zu seyn. Ja man kann wohl eigentlich nicht einmal sagen, daß die Seele sich einen Ton vorstelle, weil auch dies schon auf etwas Sichtbares Bezug zu haben scheint.

Es würde daher, um doch für beides ein, und wo nicht bedeutendes, doch wenigstens nicht unrichtiges Wort zu haben, weiter nichts übrig zu bleiben, als: die Seele denkt sich eine Größe, sie denkt sich einen Ton.

Wie denkt sich nun aber die Seele eine Größe, und wie denkt sie sich einen Ton?

Ueberhaupt könnte man wohl sagen: die Seele denkt sich eine Größe als etwas Sichtbares, sie denkt sich einen Ton als etwas Hörbares. Man könnte wohl sagen, da das Denken doch bloß in ihr vorgeht: Sie sieht in sich eine Größe, sie hört in sich einen Ton.

Wie geht es aber zu, daß sie in sich eine Größe sieht und einen Ton hört?

Man könnte sagen: sie stellt sich eine Größe vor, oder sie stellt eine Größe vor sich und sieht sie; sie bringt einen Ton hervor und hört ihn.

Wie kann man aber zu gleicher Zeit sagen, sie stellt sich eine Größe vor, und sie stellt sie in sich; denn wenn man sagt, sie stellt sich eine Größe in sich vor, so will das doch wohl so viel sagen, als, sie stellt dieselbe vor sich, und stellt sie auch zu gleicher Zeit in sich.

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Scheint es doch gleichsam, als ob man sich die Seele unter dem Mittelpunkte eines Kreises denken könne, welcher mit dem Kreise eins ausmacht, und nun in diesem Kreise, also in sich selbst, sich etwas vorstellt und sieht, welches denn freilich der äußere Sinn nicht sehen kann, weil solcher, wenn man sich die Seele unter diesem Bilde denken wollte, seinen Sitz alsdann etwa an der Peripherie dieses Kreises nach außen zu haben würde, und daher nur die äußern Gegenstände und Eindrücke wahrnehmen und empfinden könnte.

Auf die Art könnte dann auch der äußere Sinn nicht hören, was die Seele in sich hört, nicht fühlen, was die Seele in sich fühlt; da hingegen die Seele alles, was der äußere Sinn sieht, hört und fühlt, auch sehen, hören und fühlen könnte.

Was nun aber der äußere Sinn in verschiedenen Punkten sieht, hört und fühlt, das würde dann in der Seele in einem Punkte zusammentreffen. In ihr würde also der Unterschied von sehen, hören und fühlen wegfallen, sie würde sich alles Verschiedene des äußern Sinnes auf eine Art denken können. Und daher wäre es ja auch wohl nicht unrecht, wenn man von ihr sagte: sie stellt sich einen Ton vor, sie stellt sich ein Gefühl vor, so wie man sagt: sie stellt sich eine Größe vor.

So wie nun aber die Radien des Gesichts und Gehörs vom Mittelpunkte aus von einander abweichen, so würde die Seele auch anfangen dieselben zu [48]unterscheiden. Und es scheinet auch fast, als ob sie sich bei einer recht lebhaften Vorstellung von etwas Sichtbarem oder Hörbarem jedesmal den eingebildeten Gegenstand dem äußern Sinne, welcher denselben von außen wahrzunehmen oder zu empfinden fähig ist, von innen so nahe wie möglich denkt, weil doch da der Unterschied am größten seyn müßte.

Ja sie scheint sich denselben gleichsam durch den äußern Sinn wahrnehmend zu denken. Man kann sich ja etwas dem äußern Sinne von innen so nahe vorstellen, daß einen fast unwillkürlich der Ausdruck entfährt: es ist mir als sähe ich u.s.w., als hörte ich u.s.w., als fühlte ich u.s.w., ja die Vorstellung kann so lebhaft werden, daß einer wirklich durch den äußern Sinn wahrzunehmen glaubt, was er sich doch bloß nur einbildet.

Es würde also nun heißen können: die Seele denkt sich eine Größe, als etwas durch den äußern Sinn des Sehens wahrnehmend, sie denkt sich einen Ton, als etwas durch den äußern Sinn des Hörens wahrnehmend. Es scheint gleichsam, als ob sie die äußern Organe zwingen könne, ihr diejenigen Bilder vorzustellen, die sie ihr darstellen würden, wenn sie dieselben von außen empfangen hätten.

Wenn die Seele sich aber die Bilder, welche sie verlangt, in sich selber vorstellt, ohne die äußern Sinne dazu zu gebrauchen, woraus formt sie denn dieselben anders als aus sich selbst? — Sie kann [49]dann doch etwas aus sich formen und in sich darstellen, wie das große Ganze der Natur aus sich formt und in sich darstellt.

Sie scheint daher gleichsam ein Spiegel zu seyn, worin das Ganze der Natur sich abbildet und siehet, welchen dasselbe aber gleichwohl aus sich geformt und in sich dargestellt hat, und zwar nicht um seine Umrisse, sondern sein Wesen selbst darin zu sehen.

So wie nun also das große Ganze der Natur aus sich formt und in sich darstellt, so würde auch die Seele aus sich formen und in sich darstellen. Sollte sie nicht auch wiederum einen Spiegel aus sich formen und in sich darstellen können, wie die Natur, um sich auch darin abbilden und sehen zu können?

Für einen solchen scheint man fast dasjenige zu halten, welches man den Verstand nennt. Wenn man von jemand sagt: er hat einen guten Verstand, so denkt man sich darunter etwas in dem Menschen. Man sagt aber auch: er hat einen hellen, einen klaren, einen richtigen Verstand, welches alles Benennungen sind, die man auch den Eigenschaften eines guten Spiegels giebt. Man sagt auch wohl von jemand: er hat einen scharfen Verstand, aber hat man auch schon untersucht, ob man diese Eigenschaft nicht auch einem guten Spiegel beilegen könne?

[50]

In diesem Spiegel wird dann die Seele alles wahrnehmen, was sie aus sich formt und in sich darstellt, alle Bilder des Sehbaren, Hörbaren, Fühlbaren u.s.w.

Wie schaft sich nun aber die Seele ihre Vorstellungen und Bilder? — Wird es damit nicht eben so zugehen, als wenn das große Ganze der Natur etwas hervorbringt? — Dieses setzet nun zusammen, es formt, die Materie, der Grundstoff ist schon in ihm, es ist ja der Grundstoff selbst. Sollte es nicht auch also mit der Seele seyn? — Die Natur bringt aber auch nichts unmittelbar und auf einmal hervor, sondern läßt immer eins aus und nach dem andern entstehen, selbst ihr Wille scheint nicht unmittelbar da zu seyn. Sollte das nicht auch bei der Seele zutreffen? —

Dies auf die Vorstellung des Verhältnisses zweier Dinge, z.E. zweier Größen, in dem Verstande angewandt, ist es ganz natürlich, daß sie sich, verfahre sie auch noch so schnell, doch erst die beiden Dinge, die sie mit einander vergleichen will, neben einander wird vorstellen müssen, ehe sie das Verhältniß derselben gegeneinander wahrnehmen kann.

Wie kann sie sich aber z.B. die Hälfte gegen das Ganze anders vorstellen, als wenn sie sich erst ein Ganzes vorstellt, und dann selbiges in zwei gleiche Theile theilet?

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Wollte sie sich das Verhältniß eines Drittheils zum Ganzen vorstellen, so müßte sie schon eine Theilung einer vorgestellten Einheit in drei gleiche Theile vornehmen, welches doch schon weitläuftiger als die Theilung in zwei seyn, und welche Weitläuftigkeit bei zunehmender Kleinheit des Verhältnisses zunehmen, und ihr folglich mehr Mühe machen würde.

In wie fern und warum nun aber diejenigen Verhältnisse, welche die Seele sich leicht vorstellen kann, ihr in dem Grade, worin sie sich dieselben leicht vorstellen kann, angenehm sind, bedarf wohl einer besondern Erörterung.

K. St.