ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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1.

Beispiel eines Mannes, welcher von seinem dreißigsten bis vier und funfzigsten Jahre ein recht eifriger Mystiker gewesen, nachher aber nach und nach davon losgekommen, und von seinem sechszigsten bis vier und sechszigsten Jahre, ganz von Vorurtheilen frei, noch glücklich gelebt hat. a

K. St.

(Fortsetzung.)

Er (wir wollen ihn in der Folge N.... nennen) reißte wieder nach Haus, aber in einer ganz andern Gemüthsverfassung als auf der Hinreise.

Es wurde ihm während der Rückreise schon auffallend, daß mit dem natürlichen Tode seines geistlichen Führers auch das innere geistliche Leben der geistlichen Zöglinge desselben einen Stoß bekommen zu haben schien.

Es wurde ihm ferner auffallend, daß die Prophezeihungen in den ihm von seinem geistlichen Führer empfohlnen Schriften, welche derselbe auf die [73]Zeit des siebenjährigen Krieges gedeutet hatte, nicht eingetroffen waren; indem sich die Zahl der Mystiker dieser Art, statt daß die Mystik sich überall hätte ausbreiten sollen, vermindert hatte.

Es fiel ihm endlich auf, daß ihn sein geistlicher Führer, bei aller seiner Treue und Aufrichtigkeit, am Ende doch verkannt, und hingegen andere, die es gewiß nichts weniger als treu und aufrichtig gemeint hatten, dafür gehalten, und ihren Verläumdungen gegen ihn, ihren geistlichen Mitzögling, Gehör gegeben hatte.

Dies alles kam N.... sehr wunderbar vor, und er konnte gar nicht begreifen und keinen Grund finden, warum es so wohl sey.

Anfänglich hielt er diese Gedanken für Versuchungen, und suchte ihnen zu widerstehen, er vermochte dies aber immer weniger, und mußte ihnen nach gerade vielmehr gänzlich nachgeben und nachhängen.

In diesem Zustande kam er wieder zu Hause, wo er nun den Druck seiner häuslichen Lage um so viel stärker fühlte, als er ihm, weil er sein Gefühl durch die Abwesenheit während der Reise etwas davon entwöhnt hatte, wieder neu geworden war.

Wie gewöhnlich fieng er auch jetzt wieder an, in den ihm empfohlnen Schriften zu lesen, um daraus Trost und Erquickung in seinem Leiden zu schöpfen; aber er fand den gewohnten Trost nicht mehr darin, denn ernstere Gedanken verscheuchten die [74]Bilder der Einbildungskraft, weil seine Seele sich nicht mehr damit beruhigen konnte.

Er war nun in einer üblen Lage, weil er nichts hatte woran er sich halten, und wenn er fiel, wieder aufrichten konnte; denn was sollte ihn nun vor Fehltritten behüten, und ihn wieder aufrichten und trösten, wenn er gefehlt hatte?

Wollte er andere Schriften lesen, was sollte er dann aus so vielen für welche wählen, da ohnedem die bishergelesenen alle andern Arten ohne Unterschied ausschlossen, und sie ihn aus Gesichtspunkten betrachten gelehrt hatten, woraus sie ihm nicht anders als schlecht und schädlich erscheinen konnten?

Und daß er von allen bisherigen Vorurtheilen sogleich auf einmal hätte frei seyn sollen, war ganz natürlicher Weise nicht möglich, weil zwischen diesen Vorurtheilen doch viel Wahres und Gutes enthalten, und damit nun einmal verwebet und in ein System gebracht war, daß es also erst viel Zeit erforderte, das Gute von dem Schlechten zu sondern und zu ordnen.

Unterdessen war ihm doch nun einmal alle Neigung, in den mystischen Schriften zu lesen, vergangen, und da er nun nicht gleich etwas anders hatte, was er in dessen Stelle hätte setzen können, so hätte er leicht von einem Extreme auf das andere, und in Ansehung seiner Lebensart auf allerlei Excesse verfallen können, wozu er vielfältig Gelegenheit hatte, und wodurch er sich so hätte verschlimmern [75]können, daß es für ihn und seine Familie weit besser gewesen, wenn er ein Mystiker geblieben wäre.

Aber dies geschahe nicht, sondern er hütete sich um so viel mehr vor Fehltritten, da dasjenige, was ihn sonst wieder darüber beruhigen konnte, jetzt von ihm bezweifelt wurde.

Auf solche Art lebte er nun wohl ein paar Jahre fort, da er sich denn endlich entschloß, ein gutes moralisches Buch zu lesen, nachdem er vorher noch einen Brief von einem seiner alten mystischen Freunde erhielt, welcher ihm unter andern schrieb: »Ich lebe so in der Stille hin, und gebe mich in Glaubenssachen fast gar nicht bloß. Wenn ich mich aber an die vorigen Zeiten erinnere, so scheinen mir die damaligen Meinungen mehrentheils mit starken Einbildungen verwebt gewesen zu seyn.«

Derselbe hatte ihm schon einmal wegen eines seiner Söhne geschrieben: »Ihr C.... wird wohl schwerlich in der guten Gesinnung gegen der Madam Guion Schriften (dies waren die erwähnten mystischen Schriften) bleiben, denn man findet jetzt fast gar keine, so etwas davon halten, auch die besten nicht, wenn die Jahre zunehmen, so verändert sich dieses alles.« —

Was nun aber seinen Entschluß, ein gutes moralisches Buch zu lesen, betrift, so besaß ein guter Bekannter von ihm einige Bände von einer gesammelten periodischen Schrift, der Mensch betitelt.

[76]

Diese lieh er sich, und das war denn seine erste sogenannte moralische Lektüre wieder. Zwar eine Lektüre, die nach seinem sonstigen System verdammlich war, worin er aber jetzt in allem Betrachte weit mehr wieder fand, als er an der vorhergehenden verlohren hatte.

Er laß jetzt diese Schriften aber nicht sowohl, um nur Trost und Erquickung in seinem Leiden daraus zu schöpfen, sondern vielmehr um sich daraus zu belehren, was er als ein rechtschaffener Mann dabei zu thun habe. Und dieses Ziels verfehlte er auch nicht.

Hierin wurde ihm der Mensch in seiner wahren Gestalt und Würde gezeigt, hieraus lernte er einsehen, daß der Mensch keinesweges ein solches Wesen sey, das Ursache habe sich selber für nichts zu achten. —

Gleich das erste Stück dieser periodischen Schrift enthielt eine allgemeine Betrachtung über den Menschen, und was derselbe vermöge, und wie die Werke des Alterthums in Künsten und Wissenschaften zeigten, daß der Mensch nicht allein selbst seiner vorzüglichen Betrachtung werth, sondern sogar über sich selbst erhaben, ja unsterblich zu nennen sey. Dies war nun auf eine solche einleuchtende und einnehmende Art geschrieben, daß N.... sehr bald einen großen Unterschied zwischen dieser und der vorhergehenden Lektüre fühlen mußte.

[77]

Er setzte diese neue Lektüre nun fleißig fort, und befand sich sehr wohl dabei, denn er machte sich nach derselben die feste Regel: in seinem leidenden Zustande weder die Geduld zu verlieren, noch seine Kräfte, sich daraus zu reißen, sinken zu lassen.

Aber das Unterscheidungsvermögen, welches ihn einen Unterschied zwischen der vorherigen und nunmehrigen Lektüre hatte bemerken lassen, ließ ihn nach gerade auch einen Unterschied in Ansehung der verschiedenen Materien dieser neuen Lektüre verspüren.

Er glaubte nehmlich eine gewisse Schwäche der Schreibart zu bemerken, wenn von theologischen Dingen die Rede darin war, und hingegen eine gewisse Kraft, wenn andere Dinge die Gegenstände waren.

Er las nun mehrere dieser Art Schriften, und bekam unter andern auch Gellerts Fabeln, und nach diesen desselben geistliche Oden in die Hände. Auch in Ansehung dieser glaubte er die nehmliche Bemerkung zu machen, indem seinem Gefühle nach, in Betracht der letztern, ein gewisser Mangel von einleuchtender Wahrheit herrschte.

Aber nun kam es bei ihm darauf an, was das einzige Wahre denn eigentlich sey; denn er glaubte doch nun einmal etwas haben zu müssen, welches vor allen Dingen werth wäre, daß man alle Gedanken und sein ganzes Bestreben darauf richte.

[78]

Wenn das verlassene System das rechte gewesen wäre, so wäre ja nichts Höheres und zu erringen Wertheres gewesen, als das, worauf es ihn verwieß, und wohin es ihm den Weg zeigte; indem dies nichts weniger als eine geistige Wiedervereinigung mit dem Höchsten aller Wesen selbst war.

»Wenn die Wahrheiten der christlichen Religion gegründet sind, so pflegte er sich bisweilen auszudrücken, daß nehmlich Jesus selbst wahrer Gott ist, Mensch geworden, als ein solcher, und Gott zugleich die Menschen durch sein Thun und Leiden mit Gott versöhnet hat, von seinem Tode wieder erstanden ist, und dereinst die Welt richten wird; was kann denn ein Mensch bessers thun, als sich demselben von ganzem Herzen zu ergeben, und sich zu bestreben nach dessen Willen zu leben, um so mehr, da derselbe solches ausdrücklich verlanget, und diejenigen, welche dieses Verlangen nicht erfüllen, von seinem Reiche dermaleinst auszuschließen gedrohet hat.«

Aber nun war einmal der Fall eingetreten, daß er, wenn er gleich nicht daran zweifelte, daß dieser Gesetzgeber existire, doch daran zweifelte, daß die Lehren und Gebote, die derselbe gegeben, so zu verstehen wären, wie sie ihm in den Lehren der Mystik waren ausgelegt worden.

Daß dieser Zweifel seine Richtigkeit hatte, davon überzeugte ihn die gegenwärtige Lektüre zur Genüge.

[79]

Dagegen wollte er aber nun auch gern in derselben finden, was es denn nun mit Gott, der menschlichen Seele, und dem Zustande derselben nach dem Tode, eigentlich für eine Bewandniß habe, und was von Seiten des Menschen dabei zu thun sey.

Dies fand er nun aber nicht darin; denn in diesen Schriften schien gleichsam schon vorausgesetzt zu seyn, daß der Leser von dem gewissen Daseyn und der Beschaffenheit dieser Dinge schon unterrichtet und überzeugt sey. — Die christliche Religion wurde darin erhoben, und doch nicht ausdrücklich gesagt, welche denn eigentlich bei der vielfachen Verschiedenheit derselben, die rechte sey. Dahingegen wurde vielfältig zur Duldung eines jeden Menschen in Ansehung der Religionsmeinungen darin ermahnt.

Letzteres fand er nun sehr gerecht und lobenswerth, aber da er die Lehren der Mystik als eine bloße Schwärmerei hatte einsehen gelernt, und jetzt eigentlich ohne alle Bestimmtheit in Ansehung der Religionsmeinungen war, so machte dies ihm viel zu schaffen; weil er bei der vielfachen Verschiedenheit der Religionsmeinungen in der Christenheit doch nun nicht wußte, welcher er eigentlich zugethan seyn sollte. Wie denn solches mit mehrern aus folgendem Briefe erhellet, welchen er damals an jemand über seine Religionsmeinungen schrieb, [80]und darin selbst einen kurzen Abriß seiner Geschichte, in Betreff seiner Religionsmeinungen, giebt.

»Ohngefähr im 30ten Jahre meines Alters bekam ich eine besondere Neigung in theologischen Schriften zu lesen, so wie mir solche zu Händen kamen, und fand dabei so vieles Vergnügen Predigten zu hören, daß ich auch alle Wochenpredigten besuchte. — Die Festtage hielt ich allemal mit solcher Andacht, daß ich deswegen jedesmal des Tages vorher einen Fasttag hielt. Die Begierde mit den Predigern mich privatim zu unterreden, war so stark, daß ich die Befriedigung derselben mit vielem Gelde würde erkauft haben, wenn es hätte seyn können. — Dieses währte eine lange Zeit, und ich befand mich sehr vergnügt dabei. Hierauf ward ich mit einigen Personen unter dem Namen der Pietisten bekannt, und bekam zu diesen Leuten eine solche unbeschreibliche Zuneigung, daß ich denselben zu Gefallen wohl hundert Meilen weit gereiset seyn würde. — In dieser Zeit starb meine erste Frau, und wenn ich damals das Leben der Altväter in der Wüste zu lesen gehabt hätte, so würde ich denenselben alles nachgemacht haben. Wenn Musik zum Tanzen gefordert wurde, so spielte ich nicht mit, ob mir gleich mit der Verabschiedung gedrohet wurde, und hätte man nicht aus freiem Willen mit mir Nachsicht gehabt, so hätte ich dieselbe mit Freuden angenommen. In dieser Zeit aber fügte es sich, daß [81]ich den Uhrmacher H. zum erstenmale zu sprechen bekam, und derselbe machte mit wenigen Worten, daß ich meinen Beruf wiederum ordentlich verrichtete, und durch ihn ward ich in dem Hause des Hrn. v. F.... bekannt, alda erhielt ich die Schriften von Madam Guion. An diesen Schriften fand ich so vielen Geschmack, daß mir die Neigung andere Schriften zu lesen, und Prediger zu hören, gänzlich vergieng. In dem Hause des Herrn von F.... war ich sehr wohl gelitten, und genoß daselbst alle mögliche Freundschaft; und man bekümmerte sich darin auch darum, daß ich auf meine ältern Tage eine festgesetzte Bedienung haben sollte. Dieses zu erlangen suchte ich alle Mittel und Wege; denn weil ich nach Anleitung der Madam Guion die Gegenwart Gottes nicht in mir finden konnte, so glaubte ich, daß mir die Musik im Wege stünde. Als ich es nun endlich dahin gebracht hatte, daß ich eine andere Bedienung bekommen, so war der Herr von F.... gar nicht damit zufrieden, und wollte haben, ich sollte wieder umkehren. Da ich nun aber dazu gar keine Neigung bekommen konnte, so hörte unsere Freundschaft auf; welches mir aber nichts zu schaffen machte, indem ich in der festen Ueberzeugung war, daß alle Handlungen des Herrn von F.... nur ganz allein von Gott selbst dirigiret würden; und ich hörte daher auch nicht auf, in den Schriften der Madam Guion zu lesen, um endlich das-[82]jenige in der That darin zu finden, was ich suchte. Aber meine äußern Umstände verschlimmerten sich. Ich gerieth in Schulden, der Friede in der Ehe wurde dadurch unterbrochen, und das daher rührende beständige Misvergnügen machte, daß ich der vielfältigen Gelegenheit einen Exzeß im Genuß starker Getränke zu begehen zuweilen unterlag. Dieses alles durcheinander machte, daß ich nur periodenweise in den Schriften der Madam Guion las. Bei dem allen aber hatte ich dennoch immer die Hoffnung, endlich meinen Zweck zu erreichen. Bis diesen Sommer, auf der gedachten Reise, mir in Ansehung der Mystik alles zuwider wurde. Aber nun habe ich auch nichts, woran ich mich halten könnte; denn auf diese Art wäre ich ganz ohne Religion, und ob man so seyn kann, das weiß ich nicht. — Von dem Herrn von F.... weiß ich im Kurzen weiter nichts zu sagen, als daß er alles, was ihm nur möglich war, anwendete, um die Schriften der Madam Guion allgemein bekannt zu machen; und bei dem merkwürdigen Kriege, welchen der König von Preußen führte, war er der ganz festen Meinung, daß durch denselben das Reich Jesu empor kommen würde. Über den L.. aber habe ich mich gewundert, denn ich habe nichts mit ihm reden können, und mir deucht, er weiß wenig von dem Inhalt der Schriften der Madam Guion zu sagen, und vernünftig läßt er sich auch nicht sprechen.«

[83]

Das Klügste wäre nun wohl für ihn gewesen, für sich zu bleiben, und sich an niemand zu kehren.

Seines zarten Gewissens wegen war ihm dies aber nicht möglich, denn das eine däuchte ihm sowohl gefährlich als das andre.

Sein Gewissen überzeugte ihn jedoch, daß er es niemals übel gemeint habe, und auch noch nicht übel meine, und wenn er daher gefehlt hätte, solches aus Irrthum geschehen wäre, und wenn er auch jetzt wieder fehlen sollte, solches gleichfalls bloß aus Irrthum geschehen würde, und also sehr verzeihlich seyn müsse. Daher wählte er lieber den Weg, noch ferner zu prüfen und zu forschen, als etwas anzunehmen, wovon er noch nicht gewiß war, ob es das einzige Wahre sey, das er suchte. —

Während diesem Prüfen und Forschen verstrichen nun wiederum einige Jahre, während welcher Zeit es ihm noch nicht möglich war, in Ansehung seiner häuslichen Umstände eine Verbesserung zu bewirken, hauptsächlich aus der Ursache, weil seine Frau fast beständig krank war.

Nun aber starb dieselbe, und da er nach den Lehren der Mystik sich vorher immer über dergleichen Vorfälle gänzlich hinwegzusetzen gesucht hatte, und es ihm auch wirklich möglich gewesen war, so, daß man ihn für einen unempfindlichen hartherzigen Menschen hielt; so war es jetzt um desto auffallender, daß er bei dem Tode, und auch dem Begräbnisse derselben, herzlich weinte, und überhaupt be-[84]trübt über ihren Tod war, ob sie gleich im Leben so oft uneinig mit einander gewesen waren. Daß die vorher bei der Mystik gezeigte Härte ihm nicht wesentlich, sondern von ihm gegen sein Gefühl aus religiösem Eifer affektirt gewesen war, und er im Grunde ein gefühlvolles gutes Herz hatte, zeigte sich in der Folge noch zu mehrernmalen, indem er, wenn er jemanden leiden sah, nicht allein ein aufrichtiges Mitleiden äußerte, und wenn er jemand worin helfen konnte, sich eine wahre Freude daraus machte, sondern auch durch das Elend eines fremden Menschen, oder eine gute und großmüthige Handlung bis zu Thränen gerührt werden konnte, ja daß eine rührende Stelle in einem Buche ihm Thränen auszupressen vermochte.

Er beklagte also den Tod seiner Ehegenossin, aber indem er dieses that, dachte er auch mit Ernst an seinen Tod. Denn sein Hauptwunsch war nunmehr, dermaleinst so sterben zu können, daß er niemandem etwas schuldig bliebe und niemand hinterließe, der durch seinen Tod in eine traurige Lage versetzt würde, damit er auf seinem Todbette darüber keine quälende und beunruhigende Gedanken haben möchte. — Sein erstes Augenmerk war nun die Bezahlung seiner Schulden.

Hiezu war kein anderes Mittel für ihn, als vorzüglich Sparsamkeit und Einschränkung, und dann hatte er noch seine beiden jüngsten Söhne bei sich, welche er Musik gelehrt hatte. Da er nun [85]wegen einer schon lange beobachteten sehr diäten Lebensart, seines Alters ungeachtet, einer ziemlich festen Gesundheit genoß, so scheuete er nicht die Mühe, davon zu einigem Nebenerwerb Gebrauch zu machen.

Mittelst diesem und einer außerordentlichen Sparsamkeit und Einschränkung gelang es ihm endlich, binnen einigen Jahren aus seinen Schulden zu kommen.

Seine Lektüre setzte er unter dieser Zeit ununterbrochen fort, und bekam unter andern auch die neuesten pädagogischen Schriften zu lesen. Hievon wurde er so vorzüglich eingenommen, daß er dieselben nicht allein verschiedenemale gleich hintereinander durchlas, sondern sich so zu sagen in Ansehung seiner ganzen Denkungsart darnach bildete; indem er dadurch wirklich auf das wahre Verhältniß vieler Dinge in der Welt aufmerksam wurde, und nun gewissermaßen glaubte, er habe jetzt das Wahre und Vollkommne gefunden, was er so lange vergebens gesucht hatte. Es schien gleichsam ein neues Licht in seiner Seele aufzugehen, indem ihm die Menschen und ihre Handlungen ganz anders als vorhin vorkamen. Denn er sah jetzt sowohl auf die Folgen als die Bewegungsgründe der menschlichen Handlungen, und ließ sich nicht mehr wie sonst durch den Schein betrügen.

Er war nun zwar zum Theil von Vorurtheilen befreiet, und lebte in so weit glücklich, daß er, [86]weil er sich nicht wie sonst durch Vorurtheile hatte abhalten lassen, von der Musik Gebrauch zu machen, nun außer drückenden Schulden war, einer festen Gesundheit genoß, und sich nicht so wie vorher mit schwermüthigen Gedanken plagte.

So wie aber nichts vollkommen ist, so war er auch noch nicht vollkommen von Vorurtheilen frei, in sofern nehmlich eine jede Vorliebe für etwas auch eine gewisse Art von Vorurtheil voraus zu setzen scheint.

N.... kam aber bei dem allen, daß er die Unvollkommenheit fast aller Dinge einsahe, doch nicht darauf, daß auch ein Schriftsteller, der so was Wahres und Schönes lehre, auch wohl nach andern Grundsätzen handeln könne, als man aus seinen Schriften schließen müsse, sondern bei diesem, glaubte er, würde es sich gewiß ganz anders verhalten; denn da er seine bessern Einsichten doch nun einmal nicht von sich selbst hatte, so war derjenige, von welchem er sie erlanget hatte, gewissermaßen über ihn erhaben; und da er keine Gelegenheit hatte, mit irgend einem solchen Manne bekannt zu seyn, so konnte er sich nicht einbilden, daß ein solcher Mann so etwas schreiben könne, ohne wirklich so zu denken wie er schriebe.

Sein höchstes Glück auf Erden schien nun die Bekanntschaft eines solchen Mannes zu seyn; denn mit einem solchen Manne einen schriftlichen oder persönlichen Umgang pflegen zu können, schien ihm [87]ein Vergnügen, welches man sich wohl unter dem Umgange der Seeligen und mit Gott selbst, im Himmel, zu gedenken pflegt. Und dies war es, was er, da er nun durch Mühe, Arbeit, und ausserordentliche Einschränkung und Entbehrung aus seinen Schulden gekommen war, noch vor seinem Tode zu erlangen wünschte.

Hiezu hatte er aber fürs erste noch keine Aussicht, und das frohe Wohlbehagen nun außer Schulden zu seyn, welches ihm um desto angenehmer seyn mußte, je fataler es ihm gewesen war in Schulden zu stecken, und je mehr er daher gewünscht hatte, daraus befreit zu werden, wurde ihm durch diesen Wunsch wirklich in etwas verleidet.

Seine Lektüre machte ihm unterdessen das größte Vergnügen, vermehrte aber auch zugleich seinen Wunsch, mit einem vorzüglichen Schriftsteller bekannt zu werden.

Unter den vielerlei pädagogischen Schriften die er las, bekam er auch die Schriften eines gewissen Gelehrten zu lesen, welcher damals durch seine Schriften, in Ansehung der Menschen, eine ganz neue Welt formen zu wollen schien.

Diese Schriften stimmten völlig mit seiner gegenwärtigen Denkungsart überein. — Er hatte auch schon eher eine der Schriften dieses Verfassers gelesen, und durch deren Übereinstimmung mit seinem Plane, vorzüglich sich entschlossen, und die Kraft und den Muth bekommen, durch Mühe, Ar-[88]beit und Entbehrung manches, welches von seinen Freunden und Bekannten für ihn als ganz unentbehrlich gehalten wurde, sich selbst aus seinen Schulden zu helfen.

Aber noch nie hatte etwas mehr Eindruck auf ihn gemacht, als die frohen Aussichten in die Zukunft, welche ihm jetzt diese Schriften gaben. Denn noch nie hatte er glücklichern Tagen für die Menschheit entgegen gesehen als jetzt.

War sonst seine Vorstellung als Mystiker von der bevorstehenden Ausbreitung des Reichs Jesu Christi, auch noch so herrlich für ihn gewesen, so war es jetzt die Vorstellung von dem künftigen Glücke der Menschheit doch noch weit mehr.

Der Schriftsteller, welcher ihm nun vor allen andern hiezu die besten und hofnungsvollsten Aussichten gab, war sein Gedanke und der Inhalt seiner Gespräche, des Morgens zuerst und des Abends zuletzt. Noch nie hat wohl eine Schrift einen eifrigern Verehrer, und so viel an ihm war, Befolger gefunden, als diese Schriften an ihm fanden. Der Verfasser derselben wurde nun auch der eigentliche Gegenstand seines Wunsches, dessen Bekanntschaft er noch vor seinem Tode erlangen wollte.

Seine Freunde suchten ihm zwar einiges Mißtrauen gegen denselben einzuflößen, aber er getrauete seinem Gefühle mehr als ihren Gründen, ließ eine sich darbietende Gelegenheit, sich ihm bekannt zu machen, nicht unbenutzt, und brachte es [89]dahin, daß dieser Schriftsteller ihm erlaubte, zu ihm zu kommen.

Dies wurde denn mit Freuden von ihm angenommen, und seine Reise mit den größten Erwartungen und Vorstellungen von ihm angetreten.

Das eigentliche Gewerbe, welches er sich dahin machte, war wegen eines seiner beiden Söhne, die er noch bei sich hatte. Dieser Sohn hatte nehmlich, ob er gleich schon 23 Jahre alt war, doch noch große Neigung zu studiren, und N....s jetziger Denkungsart nach durfte diese Neigung nicht unterdrückt werden. Jedoch entschloß er sich, dieserwegen erst den weisen und guten Rath seines fast angebeteten Schriftstellers zu hören.

Er langte also bei demselben an, wurde freundlich von ihm aufgenommen, und brachte nun das Gewerbe wegen seines Sohnes vor. —

Von diesem hatte er ein Schreiben bei sich, worin derselbe eine kurze Beschreibung von sich und seinen bereits erlangten geringen Geschicklichkeiten machte, und seinen Wunsch zu studiren äußerte.

Derselbe hatte diesem Schreiben, um zu zeigen, wie weit er bereits im Französischen gekommen sey, eine Uebersetzung einer Stelle aus einer von des erwähnten Verfassers Schriften ins Französische, beigefügt. Diese Stelle hieß: »Glücklich seyn und glücklich machen, ist der Zweck unsers Daseyns [90]auf Erden. Das, das ist er, so wahr unser Leben von einem weisen und guten Gotte kömmt, und so wahr das Glück eines jeden einzelnen Menschen mit dem Glücke seiner Brüder in unzertrennlicher Verbindung steht.«

Diese Worte waren es vorzüglich, welche sowohl N.... als seinem Sohne das meiste Zutrauen zu diesem Schriftsteller eingeflößt hatten, und wovon sie glaubten, daß sie durch deren bloße Erinnerung ihr zuversichtliches und zutrauliches Anwenden an denselben auf alle Fälle entschuldigen würden.

Dieser nahm diese Papiere freundlich an und sah sie durch, da er aber wegen eines obwaltenden Umstandes nichts Bestimmtes dazu sagen konnte, so versprach er jedoch, sobald dieser Umstand aus dem Wege geräumt seyn würde, sich mehr um diese Sache zu bekümmern.

N....s Wunsch, den Gegenstand seiner Verehrung kennen zu lernen, war nun erfüllt, und er langte glücklich wieder zu Hause an, wo seine Söhne und Freunde seiner Erzählung mit Begierde entgegen horchten.

Diese war gar nicht unter der vorgefaßten Erwartung, und N.... sammt seinen Kindern freueten sich schon auf die Zeit, da, wie sie glauben durften, der hindernde Umstand aus dem Wege geräumt seyn würde. Denn das Zutrauen zu dem Herrn [91]....., so wie auch die Verehrung gegen denselben, wurde noch vermehrt, da N.... nun seinen Kindern erzählte, daß er das Benehmen in dem Hause des Herrn ....., in Ansehung desselben selbst sowohl, als auch seiner Hausgenossen eben so treuherzig, aufrichtig und wohlwollend, als bei seinem gewesenen geistlichen Führer gefunden habe: und da dies nun auf keine leere Einbildungen gegründet war, so war es das Höchste, was sich in dieser Art nur denken ließ.

Während nun N.... seine Lektüre wieder fleißig fortsetzte, rückte dann auch der Zeitpunkt heran, da N.... und dessen Söhne glaubten, daß der hindernde Umstand aus dem Wege geräumt seyn würde.

N.... machte sich daher mit aller Zuversicht wieder auf den Weg nach ....., und nahm seinen Sohn, welcher noch gern studiren wollte, mit.

Derselbe hatte noch die stärkste Neigung zu studiren. Er glaubte nicht anders glücklich seyn zu können, als wenn ihm dieser Wunsch gewährt würde, und um den Zweck des Daseyns auf Erden, nach den vorangeführten Worten des Herrn ..... zu erreichen, mußte die Erreichung des obigen Wunsches jetzt sein Hauptaugenmerk seyn. — N.... und sein Sohn hatten auch die größte Ursache zu glauben, daß Herr ..... demselben, ohne die ge-[92]ringste Last davon zu haben, hierin fast einzig und allein behülflich seyn könnte, an seinem Willen aber wurde gar nicht gezweifelt.

Auf der Reise wurde N.... und seinem Sohne noch der Zutritt bei einem angesehenen Manne verstattet, auf welches Wohlwollen und Einsichten sie sich sehr wohl verlassen konnten; auch von diesem wurde ihnen gerathen, nachdem sie demselben die Ursache ihrer Reise vorgestellt hatten, ihren Weg nur getrost fortzusetzen, weil Herr ..... doch auf alle Fälle ein guter Mann sey, welcher einem jungen Menschen, der einen solchen Vorsatz hätte, gewiß nicht darin abgeneigt, sondern vielmehr zu Ausführung desselben, nach allem Vermögen behülflich seyn würde.

Sie langten also in der besten Erwartung bei Herr ..... an, indem sie sich, wie auf dem ganzen Wege, recht lebhaft dachten, wie sich derselbe nun recht ins Detail mit ihnen einlassen würde.

Aber wie mußten sie, und besonders der Vater, erstaunen, als Herr ....., wie sie sich hatten bei ihm melden lassen, durch seinen Bedienten heraussagen ließ: wenn es in ein paar Minuten abgethan seyn könnte, so möchten sie zu ihm herein kommen; wo nicht, so könne er sie nicht sprechen. —

[93]

Vor Erstaunen wußten sie erstlich nicht, was sie thun sollten; sie wählten jedoch das erstere, und kamen zu Herrn ..... ins Zimmer.

Sein Blick schien ihnen schon Kälte und Unwillen zu verkündigen. An der Ursache davon, welche sie nun bald erfuhren, waren sie auch nicht das Mindeste Schuld; und selbige war, wie es sich nachher zeigte, auch nur ein bloßer Irrthum.

N.... hatte sich aber schon vorher gar zu sehr in die Scene bei Herrn ..... hineingedacht, und konnte sich, seiner Bestürzung ohngeachtet, doch nicht enthalten, ihm seines Sohnes Lage und Wunsch vorzustellen, und ihn darüber um seinen Rath zu bitten.

Aber anstatt, wie sie sich nach dessen Schriften gedacht hatten, sich nach allen Umständen des jungen Menschen zu erkundigen, und dann erst sein Gutachten darüber zu erkennen zu geben, oder wenn er das nicht konnte, nichts dazu zu sagen, gab er, ohne zu bedenken oder Rücksicht zu nehmen, ob und in wie fern solches möglich oder für den jungen Menschen nützlich oder schädlich sey, ganz kurz und kalt zur Antwort: sein Rath sey, noch ein Handwerk, oder höchstens eine mechanische Kunst zu lernen.

Unterdessen schienen einige Minuten verflossen zu seyn, und N.... nebst seinem Sohne wagten es nicht, Herrn ..... noch länger mit ihrer Gegenwart lästig zu seyn.

[94]

So bald sie nun aber aus des Herrn ..... Zimmer und Hause waren, kam ihnen das Vorgefallne wie ein Traum vor. Denn sie konnten sich nicht erklären, wie es möglich seyn könne, sich in seiner Meinung so getäuscht zu haben.

Sie mußten unterdessen die Sache nun einmal nehmen wie sie war, und es ereignete sich ein andrer glücklicher Zufall, daß dem Wunsche des Sohnes gewissermaßen doch ein Gnüge geschehen konnte.

Der Sohn mußte hier bleiben, und der Vater wieder zu Hause reisen. Die Trennung war für beide höchst schmerzhaft, und es zeigte sich hiebei wieder sehr auffallend, daß das harte unempfindliche Wesen, welches N.... während der mystischen Schwärmereien bezeigt hatte, ihm nicht natürlich sondern erzwungen gewesen war. Denn er weinte jetzt daß er schluchzte, da er doch bei der Trennung von seinen ältern Söhnen auch nicht die geringste Empfindung geäußert hatte.

Da er nun allein ohne seinen Sohn wieder zu Hause kam, dachte jedermann Herr ..... würde sich desselben angenommen haben, und die Frage war nur, auf welche Art? —

Hierauf konnte er nun nichts anders antworten, als daß er sich jetzt in Ansehung des Enthusiasmus für Herrn ..... eben so sehr geirrt habe, als in Ansehung der Mystik, und daß er nun wohl [95]sähe, daß ein Mensch ein Mensch bleibe, er mögte noch so gut moralisiren können, wie er wolle. Zum Beweise hievon diene, daß Herr ..... ihn kaum ein paar Minuten habe sprechen wollen, und ohne sich näher um die Umstände zu bekümmern, und wie es schiene aus Besorgniß, selbst einige Beschwerde davon zu haben, seinem Sohne geradezu noch zu Erlernung eines Handwerks gerathen habe.

Diese Erfahrung aber machte die Wirkung bei N...., daß er nun auch keinen Gefallen mehr an der so zu nennenden eigentlichen moralischen Lektüre fand, sondern einige kleine Schriften von Voltaire und Bolingbroke, welche er in einer Lesegesellschaft mit zu lesen bekam, mehreremale durchlas, und sich nun erst nicht genug wundern konnte, wie er an allen seinen vorherigen Lektüren so lange habe Gefallen finden, und etwas dadurch suchen können, wornach er strebte, und welches doch nicht zu finden war: Vollkommenheit.

Er lernte nun alles nehmen wie es war, und fand darin erst seine wahre Beruhigung.

Aus dieser Beruhigung sollte er aber auch nicht wieder gerissen werden, denn noch beim Lesen dieses Buches wurde er krank, und seine Krankheit war von der Beschaffenheit, daß er bald sahe, sie werde in wenigen Tagen seinem Leben ein Ende machen.

[96]

In dieser Krankheit aber betrug er sich so, daß man nicht zu viel sagen würde, wenn man sein Betragen weise nennte. Er blieb bis an seinen Tod bei vollkommnem Verstande, so daß er alle Veränderungen, welche diese Krankheit bei ihm machte, genau bemerkte und beschrieb.

Nachdem diese Krankheit nehmlich einige Tage gedauert hatte, bekam er auf einmal konvulsivische Zuckungen, wovon er sagte, daß dieser Zustand gar nicht so schlimm wäre wie er zu seyn schiene, und wie er sich denselben selbst sonst gedacht hätte. Er hätte noch nie in seinem Leben einen solchen Zufall gehabt, aber er könnte nun mit Wahrheit sagen, daß er jetzt auch nicht die mindeste Empfindung noch Bewußtseyn dabei gehabt habe. Dieser Zufall war ihm unterdessen ein sicheres Merkmal seines herannahenden Todes, und ohne die geringste Furcht vor denselben zu bezeigen, ordnete er nun bis auf die kleinsten Umstände sein Begräbniß an.

Etwas nach diesen Zuckungen sagte er: es wäre ihm, als ob er beständig läuten, und dabei wie in einer Kirche, singen höre; einen Tag später, da es doch ein recht heller Tag war, daß es ihm vorkäme, als ob es recht trübe und dunkel Wetter wäre; einige Stunden vor seinem Tode aber, daß ihm alle Gegenstände in die Ferne zurückzugehen schienen.

Während seiner Krankheit aber las er, so lange es ihm möglich war, noch immer in den gedachten [97]Schriften, und wußte dabei nicht genug zu rühmen, wie er sich jetzt in einer solchen ruhigen Gemüthsfassung befinde, worin er noch fast in seinem ganzen Leben nicht gewesen. Denn sein Wunsch war nun erfüllt; er hinterließ keine Schulden, und auch niemanden der durch seinen Tod in eine traurige Lage versetzt worden wäre.

In dieser ruhigen Gemüthsfassung blieb er denn, wie man noch immer aus seinem Gesichte lesen konnte, bis auf den Punkt, da er aus derselben in die ewige Ruhe übergieng.


Wenn man dieses Beispiel als einen Beitrag zur Seelenheilkunde betrachten will, so muß man die Schwärmerei der Mystik für eine Krankheit der Seele annehmen.

Und das scheint sie auch in sofern zu seyn, als man auch eine merkliche Schwäche eine Krankheit nennen kann.

Was kann wohl wahrscheinlicher die Ursache seyn, warum eine Seele Geschmack und Wohlgefallen darin findet, sich von allem Aeußerlichen abzuziehen, und dagegen auf innere dunkle Empfindungen zu merken, ihren eigenen Willen zu unterdrücken, sich gänzlich hinzugeben, u.s.w., als weil sie nicht genug sich ausbreitenwollende Kraft besitzt, und es ihr also weit bequemer fällt, sich dahinzugeben, als anzustrengen.

[98]

In diesem Betrachte könnte man eine solche Seele wohl eine kranke Seele nennen.

Und ihre Krankheit muß in dem Maße zunehmen, in welchem sie so zu sagen verzärtelt wird.

Sie beschränkt sich dann immermehr bloß auf den gegenwärtigen Moment, sie betrachtet das Leben nicht im Ganzen und Zusammenhange, sie trennt den gegenwärtigen Augenblick von dem vorhergehenden und folgenden.

So bald sie aber nur von außen durch etwas gereitzt oder gedrückt, und dadurch veranlaßt wird, über den gegenwärtigen Augenblick hinauszudenken, so muß sie, um so viel sie dadurch aus ihrer gewohnten Ruhe und Trägheit gerissen wird, abgehärtet und gestärket, und wenn noch irgend ein Grad von Kraft in ihr liegt, solcher endlich dadurch gereitzt werden, sich auszubreiten, und den Triebrädern der Seelenfähigkeiten einen neuen Schwung zu geben.

Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, scheint sich das vorbeschriebene Beispiel zu erklären. —

So lange N.... einen geistlichen Führer hatte, der ihn auch im Falle der Noth von äußerm Drucke befreite, sahe er bloß auf den gegenwärtigen Augenblick.

Sobald sich dieser aber von ihm abzog, und ihn dadurch den Druck von außen mehr fühlen machte, so wurde er genöthigt über den gegenwärtigen Augenblick hinauszudenken.

[99]

Je mehr dies aber nun geschah, je weniger konnte er sein Inneres wahrnehmen, und es war ganz natürlich, daß er endlich nicht mehr wußte, wie er im Innern stand, und daher mit seinen gewesenen geistlichen Mitzöglingen zu sprechen wünschte, um zu erfahren, ob er im Innern Fortschritte gemacht oder zurückgekommen sey.

Dies war denn wirklich schon ziemlich weit über den gegenwärtigen Augenblick hinausgedacht, und scheint auch gerade der Punkt zu seyn, von welchem angerechnet, die darauf folgenden Umstände die Wirkung auf ihn machen konnten, welche sie wirklich auf ihn machten. Seine in ihm nur eine Weile geschlummerte Kraft der Seele war nun einmal wieder erweckt.

Es kam hauptsächlich darauf an, was für eine Idee er sich von den Leuten, die er jetzt besuchen wollte, im Voraus machte, um daß diese Besuche diesen oder jenen Eindruck bei ihm machten.

Gemeiniglich sind dergleichen Personen, wie N.... war, sogleich mit Leidenschaft für denjenigen eingenommen, von dem sie wissen, daß er mit ihnen nach einem Ziele strebe, und da sie nun überdem für Pflicht halten, sich einfältig und stille zu verhalten, und nichts im Zusammenhange mit andern Dingen betrachten, weil sie über nichts, was sie sich nicht gleich erklären können, nachdenken, sondern solches als ein göttliches Wunder annehmen zu müssen glauben; so sind sie sehr geneigt, man-[100]ches Sonderbare, welches ihnen an demjenigen, der mit ihnen nach einem Ziele strebt, auffällt, für einen höhern Grad von Vollkommenheit zu halten, und sich solches zu eigen zu machen.

Wäre dies bei N.... auch der Fall gewesen, so würde er bei seinen Freunden nicht leicht etwas Anstößiges gefunden haben; und da er an ihnen einen Anstoß bekam, so war dies ein Zeichen, daß seine Denkkraft ihrer Bande entledigt sich nicht mehr einschränken ließ.

Und daher war es denn auch ganz natürlich, daß er weder eigensinniger Weise bei dem Alten blieb, noch jedes sich zuerst darbietende Neue unüberlegter Weise gleich wieder an dessen Stelle setzte.

Der neuen Freiheit ungewohnt, wagten es seine Gedanken nun freilich nicht, sich derselben gleich recht zu bedienen; und es war daher auch ganz natürlich, daß er manches ihm Auffallende anfänglich für Versuchung hielt, weil er es nicht wagen mogte, sich recht bekannt damit zu machen, und er daher nur die wenigen Jahre vor seinem Ende so weit von Vorurtheilen frei lebte, als es zu dem gewöhnlichen Glücke des Menschenlebens nöthig war.

K. St.

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 771f.