ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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4.

Ueber das Band zwischen Geist und Körper.

Graf von Grävenitz

Auszug aus einem Briefe.

Polchow bei Güstrow in Meklenburg,
den 22. Juli 1789. a

Schon oben habe ich bemerkt, daß ich von der harten Leibes- und Nervenkrankheit in meinem 14ten Jahr befallen ward; und ich will über die sonderbaren Eräugnisse derselben mich verbreiten, da sie Folgen der Krankheit waren; sieben starke Bauernkerls waren nicht vermögend, den heftigen convulsivischen Bewegungen, die unwillkührlich bei vollem Bewußtseyn meine Glieder verdreheten, ein Hinderniß zu legen. Sie alle sieben flogen von Arm und Füssen wie Federn, wenn der unwillkührliche Schlag durch meine Glieder zuckte.

Doch schon viel wichtiger auf meine Seele würkten die Zufälle, wenn ich bei heftigem Kopfweh eiskalt ward, und nun in eines weg, gleich einem Narren mit durchdringenden Gelächter meine Wächter erschreckte, ohne dieses Lachen bei allem Bestreben unterlassen zu können. Wenn ich Griechisch und Hebräisch und noch eine Sprache, die niemand kannte, mit aller Geläufigkeit redete, sehr wohl [51]mit derselben einen Sinn verband, den man im Griechischen und Hebräischen verstand, ohne daß ich je mit letzterer Sprache bekannt gewesen, und von ersterer noch nichts weiß.

Oft aber alle Thiere nachmachte, im Geschrei und Gang, selbst in ihren Eigenschaften, vorzüglich das Stampfen und das Wiehern der Pferde, so unwillkührlich, daß ein Strick, den man mir an den Leib gebunden, weder die Bewegung meiner Füsse hemmen, noch mein Geschrei durch Drohung und Zwang verhindert werden konnte; ja so, daß, als ich ein Füllen auf dem Hof sahe, ich in einem solchen Pferdesinn zu ihm hinaus wollte, und mit der Hand ein Fenster einschlug, das eine Sehne mir an der rechten Hand abschnitt.

Ein solcher Zufall endigte sich allemal mit einem epileptischen convulsivischen Zufall, der die Sinnen wieder in Ordnung brachte, und die Imagination berichtigte. War ich kalt während diesem Zufall gewesen, so glüheten nun alle Adern.

War ich warm und in Hitze gewesen bei Eintritt meines Zufalls, so war ich beim Ende eiskalt, zum gewissen Beweis, daß der Zufall bald wieder kommen würde.

Ich schlief und aß, trank und hatte alle natürliche Wirkungen eines Gesunden so vollkommen, wie mein gutes Ansehen, daß bei gesunden Augenblicken, man alles für Verstellung gehalten haben würde. Oft war meine Seele unwillig über die [52]unwillkührliche Bewegung meines Körpers, und oft folgte sie dem Körper mit gänzlicher Ueberlassung seiner selbst.

Es wird gewiß jedem Psychologen schwer werden, schon dieses nur einigermaßen zu erklären. Aber gewiß nachfolgende Umstände weit mehr noch! Nach drei Jahren ward die Heftigkeit der Krankheit so gebrochen, daß bloß alle 6 Wochen convulsivische krämpfigte Zufälle, durch 3, 4, auch 8 Tage eintraten, keine andere Zufälle aber sich äusserten.

Unter diesem Zeitpunkt war der siebenjährige Krieg eingetreten. Mein Bruder bei der hannövrischen Armee engagirt; und ich ein eifriger partheinehmender Verehrer Ihres großen Königs. Ich lebte zu Glückstadt bei meinem Oheim, dem Grafen von D...., Canzler in Glückstadt, der sehr Oestreichisch gesinnt, dessen älteste Tochter aber, weil sie an den Sohn des Generallieutenannt, Graf Kielmansegg, unter dessen Regiment mein Bruder angestellt, versprochen war, mit mir eine Parthei hielt. b

Da ich mit jenen leidigen Zufällen bis in mein zwei und dreißigstes Jahr behaftet war, so war ich auch dort, wie gewöhnlich, von Zeit zu Zeit damit befallen. Nie war meine Seele munterer, zum Studieren mehr aufgelegt, als dann, so schwach der Körper und die Nerven auch dann und in solchem Grade waren, daß ich zuletzt krum und gebückt einherging, wenn ein solcher Zufall eintrat.

[53]

Nun traf es sich, daß ich einmal krank ward, als ich den Abend vorher über die Operationen der hannövrischen Armee mich weidlich die Charte zur Hand gestritten hatte; und unsere letzten Nachrichten waren von Minden. c

Ich lag des Morgens auf meinem Bette, halb schlummernd, doch nicht schlafend, sahe die ganze alliirte Armee gegen die Franzosen würken, wußte wer am rechten und linken Flügel commandirte. Sahe, wie die Franzosen in die Flucht gingen, und die Leichen, und meinen Bruder betäubt von einer Kugel, die seinen Kammeraden niederschoß, zur Erde fallen, und zugleich, daß der Erbprinz und Graf Kielmansegg an einem andern Ort einen französischen General schlugen.

Erwachte aus meinem Schlummer, und war meiner Sache so gewiß, daß ich es als Gewißheit mit allen Umständen erzählte; und erst acht Tage nachher erhielten wir volle Bestätigung.

Eben denselben Vorfall hatte ich, da Ihr König die große Bataille gegen die Russen verlor. d Ich sahe ihn und sein Heer fliehen, und ihn allein.

Ich sagte es denselben Tag mit allen Umständen, und endlich war mir auch die Uebergabe von Dresden mit 150 Kanonen so bekannt und gewiß am Tage der Uebergabe, daß ich meinen Kopf darauf verpfändet hätte. e

Auf einen bloßen Zufall lassen sich dergleichen bestimmte Wirkungen der Seele nicht rechnen. [54]Zufall und Ungefähr sind mir immer äusserst seltsame Aufklärung über unbegreifliche Wirkungen unserer Seele oder Körpers. Läßt Krankheit des Körpers solche Wirkungen der Seele entstehen? kann sie das, die an sich der Natur der Seele zuwider und entgegen ist.

Und wie läßt sich ein Bewußtsein von Dingen und Begebenheiten, die auf zehn Meilen von uns vorgehen, auch nur einigermaaßen erklären, da unsere Seele sehr oft und viel Dinge, die ausser und neben uns geschehen, nicht weiß, weil die Sinnen sie nicht fassen.

Die Belagerung von Dresden war indessen der letzte Vorgang dieser Art. Meine academische Studien und Aemter mußten natürlich meiner Imagination nicht mehr die Zeit lassen, sich so sehr Dinge einzuprägen, daß die Seele durch ihre Eindrücke sich auf Meilen weit von mir entfernte; ob ich gleich noch vierzehn Jahr hindurch selbst in Wien, von meiner Krankheit oft ergriffen, und bis zum Ausbruch oft die wichtigsten Arbeiten mit möglichster Gegenwart des Geistes, Gedächtniß und Ordnung bearbeitet hatte, und die schwersten Sachen fast immer dahin sparte, weil ich denn besser und leichter zu arbeiten gewohnt war.

Graf von Grävenitz.

Erläuterungen:

a: Für ihre Recherchen zu Polchow und zur Familie von Grävenitz sind wir Frau Brigitta Steinbruch, Landeshauptarchiv Schwerin, sehr zu Dank verpflichtet. Vgl. auch F. 1788 und Kielmansegg 1872.

b: Der siebenjährige Krieg (1756-1763). Preußen und Großbritannien mit Kurhannover kämpften gegen die kaiserliche österreichische Habsburgermonarchie, Frankreich, Russland und das Heilige Römische Reich.

c: Die Schlacht bei Minden fand am 1. August 1787 statt.

d: Die Schlacht bei Groß-Jägersdorf am 30. August 1757.

e: Am 4. September 1759, nach einer 27tägigen Belagerung.