ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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3.

Oral' über Taubstumme. a

Eschke, Ernst Adolf

Bruchstück eines Gesprächs mit Becker.
An Becker.

Sie verlangen von mir schriftlich die Antwort der Frage:

Warum wir*) 1 es bei den Taubstummen nicht mit der Schriftsprache bewenden lassen, sondern ihnen auch die Tonsprache beibringen?

Ach! Warum verlangen Sie das schriftlich? Ich erklärte Ihnen ja mündlich Alles noch deutlicher, als die Juden ihre mündliche Satzungen zu erklären pflegen**) 2 — Und doch wollte ich Ihnen ungern die Erste Bitte abschlagen. Sie kennen [46]mich erst seit gestern und ehegestern, und möchten wohl gar aus meiner Weigerung etwas Unangenehmes schließen. Und es wäre nichts anders daran Schuld, als das Bewußtseyn meiner Schriftstellerunfähigkeit.*) 3 Dies ist keine kindische Ziererei, keine weibliche Affektation.

Ueberdies haben Sie ein gegründetes Recht auf meine Gewährung; Sie sind der Freund meines Ebert und Bürger. — Also sey es gewagt!

Die nämliche Frage that ohnlängst der verdienstvolle Herr Oberkonsistorialrath Gedike an mich. Aber lieber Himmel! ohne Tonsprache getraue ich mir nicht einen einzigen Begriff den Taubstummen dauerhaft beizubringen. Die Tonsprache entwickeln wir dadurch, indem wir dem fehlenden Gehörssinn den Geschmackssinn substituiren, und diesen — Allein das führte mich hier von meinem jetzigen Ziel. Sie dürfen nur Heinik's Schriften **) 4 lesen, um das zu erfahren.

[47]

Ehe der Taubstumme die schriftliche Folge der Buchstaben mechanisch lernt, welche und wie viel Schwürigkeiten muß er vorher zu überwinden haben! Schwürigkeiten, die so unübersehbar groß sind, daß ich mir gar keine Idee davon machen kann! Die Buchstaben kann er nicht nennen! Buchstabiren und Silbiren kann er nicht lernen! Wörter kann er gar nicht lesen! Er muß daher von der Buchstabenfolge in den Wörtern ungefähr so denken: »jetzt kommt eine ovalrunde Maschine und ein Haken am Kopfe, hierauf ein Strich herunter mit einem Hieb durch den Fuß, dann ein rundes, fast ganz ofnes Loch mit einem Punkt, alsdann eine größere Figur mit einer Zunge zum [48]Maule heraus, endlich ein langes hagres Ding mit einer Nase — oder mit einem Bein- und Halseisen, wie die Baugefangenen in Dresden, und die Festungsgefangenen in Spandau,« — oder wie er sich den Firlefanz sonst denkt. — Und das ganze Wort heißt

Stork.

Der Himmel mag wissen, welche Gleichförmigkeit er den Buchstaben und Wörtern nun beilegt, und was bei deren Malerei in ihm vorgeht.

Und wie wollten sie ihm abstrakte Begriffe durch die Schriftsprache inokuliren? Wie wollten Sie Gerüche, Töne, Empfindungen und andre Dinge für das Gesicht kopeilich darstellen?

Auch vergißt der Taubstumme, der die Schriftsprache ohne Tonsprache erlernt hat, jene bald wieder, indem er sich lieber an seine kurzen pantomimischen Zeichen, als an die langen krüplichten vorn und hinten gebuckelten schieffüssigen Figuren hält. Der Taubstumme, der blos Schriftsprache erlernt hat, kann sich nicht stets darin üben, und denken kann er in derselben gar nicht; wie Heinike in seinen Schriften erwiesen hat. Dünkt es Sie nun natürlich, daß die mannichfaltigen, fast unmerklichen Empfindungen, und die Fertigkeiten in der Hand zur Schrift, ohne untergelegte Tonsprache, bei ihm schnell wieder schwinden müssen?

[49]

Denn die Artikulationen, aber nicht die Töne allein, die durch andre Mittel bei Taubstummen ersetzt werden, sind das Fundament der Tonsprache, und die Schriftsprache ist blosse sichtbare Kopie von jener. Doch davon kann man sich nur eine Idee machen, in so fern man menschliche Denkart studirt, und die Würkung nicht für die Ursache nimmt. Denn Erkennen und Denken sind kein Empfinden; dies gehört zur sensiblen, jenes aber zur intelligiblen Natur.

Berlin, am 10. Mai 1789.

Eschke

Fußnoten:

1: *) Hr. Heinike, Churfürstl. Sächs. Direktor des Instituts für Stumme in Leipzig, und Eschke in Berlin.

2: **) Daher — meine ziemlich seltsame Ueberschrift: Oral.
Eschke.

3: *) Hr. Becker schrieb an Eschke: daß er ihm sodann auch erlauben müsse, seine Beantwortung einer periodischen Schrift inseriren zu lassen.

4: **) Beobachtungen über Stumme, und über die menschliche Sprache, in Briefen von Samuel Heinike. Hamburg, in der Heroldschen Buchhandlung, 778. b
Ueber die Denkart der Taubstummen, und die Mißhandlungen, welchen sie durch unsinnige Kuren und Lehrarten ausgesetzt sind. Ein Fragment von S. Heinike. Leipzig, bei Hilscher, 780. c
Wichtige Entdeckungen und Beiträge zur Seelenlehre und zur menschlichen Sprache von S. Heinike. Leipzig, bei Haug, 784. d
Auszug aus einem Briefe des Herrn Direktor Heinike an den Abbé l'Epee. (in Moritz's Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, 2ten B. 2tes St. S. 66-72.)
Besonders
Ueber graue Vorurtheile und ihre Schädlichkeit, von S. Heinike. Leipzig, bei Böhme, 788. e
und
Reflexionen über Thier- und Menschensprache, auch über die sämmtlichen Lehrer der Taubstummen. Fragment eines Briefes an Bürger, von Eschke. (in Müller's und Hofmann's medicinischen Annalen. Frankfurt am Mayn, bei Fleischer, 789.) f

Erläuterungen:

a: Vorlage: Olla potrida 1789, Drittes Stück, S. 132-135.

b: Heinicke 1778.

c: Heinicke 1780.

d: Heinicke 1784.

e: Nur die Ausgabe Heinicke 1787 konnte nachgewiesen werden.

f: Heinicke 1789.