ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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10.

Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit. a

K. St.

1.

Daß gewisse Momente in der Kindheit gleichsam ein Erwachen aus einem Schlummer sind, scheint aus Folgendem zu erhellen.

Als ich zwei Jahr alt war, wohnten meine Eltern den Sommer über in Pyrmont. In demselben Hause wohnte auch ein Schuster, welcher fast alle Abend nach der Arbeit mich auf den Arm nahm, und mit mir spatzieren gieng.

Dies weiß ich nur aus der Erzählung meiner Eltern, und besinne mich nichts davon.

Als aber eines Abends die Allee bei dem Gesundbrunnen erleuchtet war, so ging dieser Schuster mit mir auf die gewöhnliche Art nach einer Anhöhe, wo man dieses Schauspiel ganz übersehen konnte.

Dieses einzigen Umstandes erinnere ich mich mit Ausschliessung alles Uebrigen, mit der größten Lebhaftigkeit und Deutlichkeit.

Es war das erstemal in meinem Leben, das ich so etwas sah, ich wurde damit überrascht, und die Erinnerung ist mir noch so, als wenn ich zwischen einem Schlummer einmal erwacht, und dann plötzlich wieder eingeschlafen wäre. In diesem [84]Momente aber war mir alles neu, und ich wußte doch alles zu unterscheiden.

Es war angenehmes Wetter — das ganz umher verbreitete Dunkel machte mit den Lichtern in den grünen Bäumen einen schönen Kontrast, so wie auch die von den Lichtern in der Stille der Nacht herschallende Musik. —

Es war, als ob mich einer durch die Luft dahin ziehen wollte, aber der Schuster ging wieder mit mir zurück.

Der Schuster mit seiner Gestalt, seiner Kleidung, seinem schlotternden Schurzfell, ist mir noch wie gegenwärtig. Auf den Rückweg aber kann ich mich nicht bis dahin besinnen, daß wir wieder zu Haus gekommen, auch sonst nicht weiter auf den Schuster und den Ort; obgleich meine Eltern nachher noch da gewesen sind, und der Schuster mich alle Abend auf seinem Arm herumgetragen hat.

Es scheint mir indessen merkwürdig, daß ich aus diesem Zeitpunkt meiner ersten Lebensjahre gerade dies im Gedächtniß behalten habe, und zwar nicht die Hauptsache allein, sondern mit ihr alle Nebensachen.

Meine Eltern haben mir nachher auch nicht etwa davon vorgeredet, daß ich es daher ins Gedächtniß bekommen hätte. Sie haben sich aber, seitdem ich es erzählen können, zum Höchsten darüber gewundert, indem sie es in allen Punkten wahr befunden.

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Es hat diese Sache aber einen solchen Eindruck auf mich gemacht, daß ich nicht nur nachher zum öftern davon geträumt, sondern mir auch, nachdem man mir vom Himmel und Paradiese vorgesagt, diese Oerter nicht anders als unter einer solchen Erleuchtung habe denken können.

2.

Folgende Erinnerung von meinem vierten bis sechsten Jahre ist mir noch recht lebhaft und scheint mir wegen der Ideenverbindung in der Kindheit merkwürdig.

Meine Eltern wohnten zu H.... in einem Brauhause, ganz oben unmittelbar unter dem Kornboden, auf welchem fast alle Tage das Korn umgestochen und Säcke mit Korn niedergeworfen wurden.

Dieses erschütterte öfters unsre ganze Wohnung, und einmal so, daß ein großes Stück Mauer in unsrer Kammer einstürzte.

Wir liefen gleich hinzu, und ich sahe diese Zerstörung, und meine Mutter mit aufgehobenen Händen dabei stehen, welche ganz erschrocken war, und mit einer mir furchtbaren Mine und Stimme sagte: Mein Gott! wer hier gestanden hätte, den hätte dies Stück Mauer auf der Stelle todt geschlagen!

[86]

Diese Worte, die Mine und Stimme, mit welcher sie sie aussprach, und das dabei liegende große Stück Mauer machten einen solchen Eindruck auf mich, daß ich nachher der Festigkeit des ganzen Hauses nicht mehr trauete, und bei jedesmaligem Lärm auf dem Boden und Erschütterung unsrer Wohnung, wegen der Unsicherheit und Gefahr meines Lebens oft stundenlang weinte.

Da ich nun aber einmal die Möglichkeit gesehen hatte, daß von dem Hause etwas loßgehen konnte, so setzte sich neben der Idee, daß es nicht aus einem Stücke bestehe, sondern von mehrern zusammengesetzt sey, auch die Idee bei mir fest, daß es mit dem Hause wie mit einem Thiere oder einer Pflanze, und ein Theil dem andern nothwendig wäre, so daß die Verletzung des einen Theiles den Untergang des Ganzen nothwendig nach sich ziehen müsse.

Als meine Mutter nun einsmals mit mir ausgewesen war, und wir wieder ins Haus kamen, so war unter der Zeit die unterste Stufe von der Treppe, welche wir ersteigen mußten, weggenommen, um ausgebessert zu werden.

Dies sahe ich nun erstlich mit der größten Verwunderung und Bestürzung an; denn ich konnte nicht begreifen, wie es möglich sey, daß die übrigen Stufen der Treppe, die Theile des Hauses, welche mit dieser in Verbindung standen, und überhaupt das ganze Haus nun ferner noch einen Augen-[87]blick stehen konnten, da die unterste Stufe der Treppe fehlte.

Mir wurde nun bange, ich fing an zu weinen, und wollte wieder zum Hause hinaus; denn der Einsturz des ganzen Hauses schien mir doch nun einmal unvermeidlich. Aber meine Mutter nahm mich mit Gewalt auf den Arm und stieg mit mir auf die folgende Stufe der Treppe, und so weiter bis zu unsrer Wohnung hinauf, indes ich bei jedem Tritt den Einsturz der Treppe und des ganzen Hauses mit Todesangst befürchtete.

Wie wir nun doch einmal oben waren, so kam es mir zwar wunderbar vor, daß der Einsturz des Hauses noch immer nicht erfolgte, aber ich wurde doch nicht eher ruhig bis ich sahe, daß die unterste Stufe wieder da war.

In diesem Hause brachte ich nun, seitdem das Stück Mauer in unsrer Kammer eingestürzt war, keinen Tag ohne Furcht zu.

Dieß dauerte wohl zwei Jahr, da denn meine Eltern sechs Meilen von dieser Stadt wegzogen.

Bei dieser Gelegenheit aber hatte ich noch erst wegen meiner Furchtsamkeit einen äußerst harten Stand. Denn wir fuhren diese sechs Meilen auf einem Frachtwagen, welcher hoch bepackt war, und auf welchem Gepäcke wir oben aufsaßen.

[88]

Hier saß ich nun zwar so, daß ich mich wegen des Herunterfallens sicher glaubte, aber nun trat ein andrer gefährlicher Umstand ein.

Wenn nehmlich der Wagen ein wenig schief gieng, so befürchtete ich dessen Umsturz und fieng daher laut an zu schreien, rief dem Fuhrmann zu und bat ihn flehentlich, stille zu halten.

So oft ich nun aber schrie, machte mich meine Mutter mit dem Scheuwerden der Pferde bange, und machte mir eine so erschreckliche Beschreibung davon, daß ich dieserwegen nicht weniger als wegen des Umwerfens, und also auf diesem ganzen Wege in einer doppelten Furcht schwebte, weil ich, wenn der Wagen schief gieng, mich selbst zu schreien fürchten mußte, um die Pferde nicht scheu zu machen.

Wie wir nun an Ort und Stelle waren, so fielen zwar die furchterregenden Dinge weg. Es war auf dem Lande, wir wohnten in einem Bauerhause an der Erde, über unsrer Wohnung war kein lärmiger Boden, die Idee von dem Einstürzen des Hauses kam mir aus dem Sinn; ich kam unter mehrere Kinder, sah diese gefährliche Dinge vornehmen, und wurde ziemlich furchtloß.

Die Bilder aber von dem eingestürzten Stück Mauer, und dem Frachtwagen, haben sich nachher meiner Vorstellung beständig wieder aufgedrängt, so oft ich durch etwas in Furcht oder Schrecken gesetzt worden bin. —

[89]
3.

Besonders auffallend ist es mir, daß ich in meiner Kindheit immer eine Aehnlichkeit unter den Sachen und ihren Namen suchte.

Daher kam es, z.B. daß ich roth immer blau nannte. Denn weil roth die Farbe des Bluts ist, und dies im Plattdeutschen Blaut genannt wird, so hielt ich es wahrscheinlicher Weise für natürlich, der Farbe des Bluts auch die Benennung zu geben, die dem Namen des Bluts am ähnlichsten war; dahingegen ich, da ich doch einen Unterschied in Ansehung der Farben machte, blau roth nannte, mich aber übrigens durch nichts von meiner Benennung abbringen ließ.

Eben so hartnäckig nannte ich die Flöte Hobo und die Hobo Flöte; welches ganz wahrscheinlich daher rührt, weil zwischen dem Laut des Worts Hobo und dem vollen sanften Laut der Flöte in den untern Tönen, welche mir besonders gefielen, und zwischen dem Worte Flöte wegen des zugespitzten ö, und dem schneidenden Tone der Hobo wirklich einige Aehnlichkeit statt zu finden scheint.

K. St.

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 771-774.