ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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12.

Die Würkungen der äußern Sinne in psychologischer Rücksicht.

K. St.

Ueber das musikalische Gehör.

Unter musikalischem Gehör denkt man sich gemeiniglich das Vermögen ein gewisses Verhältniß unter den Tönen wahrzunehmen, und zwar so deutlich, daß man es nachher immer richtig wieder außer sich hervorbringen kann.

Es ist in Ansehung des Gehörs dasjenige, was man in Ansehung des Sehens ein richtiges Augenmaaß und in Ansehung des Gefühls ein feines Gefühl nennt.

So wie das Auge ein gewisses Verhältniß unter den sichtbaren Dingen in Ansehung der Größe und Farbe, und das Gefühl ein solches in Ansehung der Schwere und des Harten und Weichen findet, so findet es das Ohr unter den Tönen in Ansehung ihrer Dauer, Höhe und Tiefe.

Um sich nun von der Richtigkeit eines Verhältnisses zu überzeugen, hat man für die Größe Maaßen und für die Schwere Gewichte erfunden, [100]und sie dadurch mehr zu Gegenständen des Verstandes gemacht.

Dies findet aber in Ansehung der Farbe, des Gefühls von Hart und Weich, und der Töne nicht statt.

In Ansehung der letztern scheint es bloß auf die richtige Bemerkung des Eindrucks anzukommen, welchen ein Ton, der gehört wird, gegen einen der schon gehört worden, auf uns macht.

Hierbei müssen wir bemerken, daß zuweilen selbst Kinder dieses Verhältniß richtig wahrnehmen, da hingegen manchmal erwachsene Personen ihres guten Verstandes ohngeachtet es nicht im Stande sind.

Daß es nun bei letztern daran liegen müsse, daß sie nicht eines so starken Eindrucks fähig sind, welcher vermögend wäre, durch die Empfindung in den Verstand zu dringen, und sich da dem Gedächtniß einzuprägen, scheint außer Zweifel zu seyn.

Da man diesen Menschen aber doch keinesweges Empfindung absprechen kann, da sie öfters wohl empfindsamer sind, als andere, so scheint der Unterschied darin zu liegen, daß sie mittelbar durch den Verstand empfinden, weil die Dinge, die sie erkennen und einsehn, erst einigen Eindruck auf sie machen; und daß so, wie bei jenen der Eindruck durch die Empfindung auf den Verstand, bei diesen durch den Verstand auf die Empfindung würkt.

[101]

Auffallend ist die körperliche Bewegung bei der Musik, welche man schon oft bei kleinen Kindern wahrnimmt, die sich auf eine freudige Art heben, wenn sie eine ihnen angenehme Musik hören.

Der Schall scheint gleichsam in dem Gehöre einen Punkt zu finden, wo er zurückprallt, eine andere Richtung nimmt, wodurch er sich im Körper verbreitet, und daselbst eine ihm gleichförmige Bewegung verursacht, welche sich außerhalb des Körpers dem Auge darstellt.

Der Takt scheint auf den ersten Anblick eine Sache zu seyn, die bloß den Verstand angeht, wenn man ihn aber näher betrachtet, so scheint er dem Verstande nur mehr anzugehen, als die Bemerkung des Verhältnisses der Töne in Ansehung ihrer Höhe und Tiefe.

Wenn bloß ein guter Verstand dazu gehörte, einen richtigen Takt zu halten, so müßte ein jeder, der jenen hätte, auch dieses können.

Nun findet man aber Leute, die jenen besitzen, und dieses doch nicht lernen können; und man kann es bald merken, wenn sie es zu können scheinen, daß es doch nicht andem ist, indem man an ihrem Ausdruck hört, daß sie die Nothwendigkeit davon nicht wirklich in sich fühlen, sondern dieses Gefühl nur affektiren.

Ein wahrer Musikus aber braucht seinen Verstand nicht anzustrengen, um ein richtiges Zeitmaaß zu beobachten, sondern sein Gefühl hält ihn [102]schon dazu an, er kann nicht anders, es ist ihm nothwendig; er findet sich gleichsam wie ein Uhrwerk aufgezogen, wenn von einem Stücke in der Musik nur der erste Takt angegeben worden, daß es ihm fast nicht möglich ist, geschwinder oder langsamer zu singen oder zu spielen, als es einmal angefangen.

Der Verstand aber bemerkt die Ordnung, die dadurch in der Musik liegt, und abstrahirt sie von dieser.

Da er nun hierin dasselbe Verhältniß der Theile zum Ganzen findet, welches er in dem Größenmaaß und Gewichte antrift, so setzt er es mit diesem in eine Klasse, ohne den Unterschied zu machen, daß das Maaß der Größe und Schwere in sichtbaren bleibenden Dingen besteht, und der Takt hingegen weder sichtbar noch bleibend ist, sondern sein Wesen in etwas andern haben muß, welches denn wohl nichts anders als die Empfindung seyn kann.

Das Verhältniß der Töne in Ansehung ihrer Höhe und Tiefe aber selbst kann er nicht von der Musik abstrahiren, und macht nun einen Unterschied in diesem Verhältniß und dem in Ansehung ihrer Dauer, und eignet die Bemerkung des ersten der Empfindung und des letzten dem Verstande zu, da doch das letztere nicht weniger die Empfindung angeht als das erstere, sondern sich nur abstrahiren und daher mit dem Verstande begreifen läßt.

[103]

Dieser Takt ist ja auch in dem großen Ganzen der Natur gegründet, von dem Lauf der Weltkörper bis auf den Lauf des Bluts in unsern Adern. Nichts kann dagegen angehen, wie die Ursache so die Wirkung.

In der Bewegung aber die wirklich aus der Natur des Menschen ihren Ursprung hat, worin er gleichsam sein Wesen abdruckt, da muß auch dieser Takt sich zeigen. —

Wenn der Musikus mit dem Gehöre ein gewisses Verhältniß der Töne bemerkt, so bemerkt er dieß eigentlich nicht außer, sondern in sich. Er ist eigentlich das Instrument, welches gespielt wird. Ohne Gehör ist kein Ton zu denken.

Das Verhältniß der Töne aber untereinander ist keinesweges willkührlich, sondern in der Natur gegründet, welches der Monochord auch dem Auge zeigt.

Und die Verhältnisse, welche in Ansehung der Größe in verschiedenen Graden dem Auge angenehm oder unangenehm sind, sind es auch in Ansehung der Töne dem Ohr. — Dies scheint zu weitern Untersuchungen Anlaß zu geben.

K. St.