ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Beispiel eines Mannes, welcher von seinem dreißigsten bis vier und funfzigsten Jahre ein recht eifriger Mystiker gewesen, nachher aber nach und nach davon losgekommen, und von seinem sechszigsten bis vier und sechszigsten Jahre ganz von Vorurtheilen frei, noch glücklich gelebt hat. a

K. St.

Dieser Mann war ein so eifriger Mystiker, daß er sein Leben dafür würde gelassen haben.

Er hielt es für Pflicht, sich jede Verachtung und Demüthigung lieb seyn zu lassen; durch nichts die äußern Sinne und die Einbildungskraft zu vergnügen und zu zerstreuen; und daher in kein Schauspiel zu gehen; keinen Roman zu lesen; auch nicht auf die entfernteste Weise, selbst nicht durch Tugend, nach Ehr und Ruhm zu streben; keine Musik zu machen; ja sogar kein Puder in die Haare zu streuen.

Sein geistlicher Führer bezeugte ihm hierüber seinen Beifall, und gab ihm zu erkennen, daß er [115]es noch sehr weit im Innern bringen werde; wobei er ihn denn auch in Ansehung seines Aeußerlichen auf allerhand Art zu unterstützen suchte; indem er verschiedenen wohlbemittelten frommen Leuten seine Fürbitte rekommandirte.

Da dieser Mann nun aber um in den Wegen des Innern nicht aufgehalten und zerstreuet zu werden, natürlicher Weise seine Gedanken auch von der Betreibung seines Berufs und seiner Haushaltung wandte, auch sich nicht um die Erhaltung des Friedens in der Ehe bekümmerte, und seine Frau in seinen Innern nicht fand, was sie wünschte; indem hier auch die eheliche Liebe keinen Platz behalten durfte; daß sie daher mißvergnügt mit seinen Innern werden mußte; da er über dieses, ob es gleich ihm sein geistlicher Führer widerrieth, seinen etwas unruhigen Beruf mit einem dem Anschein nach geruhigern, aber dafür mit einem weit unbeträchtlichern Einkommen verknüpften, vertauschte; so mußte auch natürlicher Weise sein Aeusseres einer immer größern Unterstützung bedürfen, und auch der Friede in der Ehe gar sehr leiden, wodurch denn der Haushalt noch zerrütteter wurde.

Da er sich in solchen Umständen nun öfters demüthigen mußte, und aus Menschengefälligkeit auch wohl zuweilen einen kleinen Fehler begieng, so glaubte er nicht anders, als daß dieß alles geistliche Prüfungen wären, wodurch sein geistlicher [116]Hochmuth darniedergeschlagen werden sollte; und suchte sich also immer fester in seinem Innern zu setzen.

In Ansehung seines Führers im Innern aber änderte sich etwas.

Dieser hatte nehmlich, wie er ihm die Veränderung seines Berufs widerrieth, gar deutlich eingesehen, daß hierdurch das Aeußere so sehr leiden würde, daß es ihm als seinen Führer zur Last fallen könnte.

Daher glaubte er nun die Eingebung zu haben, daß er sich um seinen geistlichen Zögling nun ferner nicht mehr bekümmern, ihm auf seine Briefe nicht mehr antworten, und ihn allein Gott überlassen müsse.

Das Ausbleiben der Antworten auf seine Briefe an seinen geistlichen Führer kam nun unserm Manne sonderbar vor, er hielt denn aber auch dieß für Prüfungen des Innern, suchte sich selbst immer aus den gar zu verlegnen Umständen zu helfen, und lebte übrigens so in seinem Elende fort, bis er bereits vier und funfzig Jahr darüber alt geworden war.

Nun aber that er eine Reise, auf welcher er alle Personen mit denen er wegen der Mystik durch seinen geistlichen Führer bekannt war, außer seinen geistlichen Führer selbst, welcher schon gestorben war, besuchte; um zu erfahren, ob und wie weit [117]er im Innern Fortschritte gemacht oder zurückgekommen sey.

Auf dieser Reise fand er alles anders, als er es sich vorgestellt hatte.

Gleich beim ersten, den er besuchte, fand er, daß derselbe nicht mehr in den von ihrem gemeinschaftlichen geistlichen Führer empfohlnen Schriften las, sondern anstatt dessen selbst schrieb, welches unserm Reisenden nicht im mindesten anstand, weil diese Schriften ganz von den empfohlnen Schriften abgiengen.

Bei einem andern fand er gar kein Zutrauen und konnte also mit ihm nicht reden.

Ein dritter machte zwar viele Worte, aber gab dadurch weiter nichts zu verstehen, als daß er den eigentlichen Inhalt dieser Schriften gar nicht wußte.

Er hörte diesen mit einem Gegner disputiren. Der Gegner bewieß die Unmöglichkeit, daß alle Welt so seyn könnte, und der Mystiker verstummte.

Er selbst wollte sich dadurch nicht irre machen lassen, empfand aber doch etwas in sich, welches einem sich stark aufdringenden Zweifel nicht unähnlich war.

(Die Fortsetzung folgt.)

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 771f.