ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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2.

Rau, ein Vatermörder. a

Gruner, Johann Ernst

Ein Wort zu seiner Zeit scheint mir die Geschichte des unglücklichen Rau zu seyn. Man fängt an, so unzufrieden mit den natürlichen Kräften zu werden, und der Hang, an das Uebernatürliche zu glauben, greift so gewaltig zum empfindlichen Schaden aller wahren Untersuchung um sich, daß es nicht anders als heilsam seyn muß, in Beispielen zu zeigen, wohin endlich das Verachten der kalten Vernunft und das Nachhängen des Glaubens an geheime Wunderkräfte und deren Einwürkungen, uns führen müssen.

Das, was ich erzähle, ist theils aus Akten gezogen, theils von engen Bekannten des unglücklichen Mannes mir mitgetheilt worden; auch habe ich ihn selbst gekannt.

Rau war 1748. zu Coburg geboren, und studirte zu Leipzig Theologie. Sein vorzüglichster Lehrer auf dieser Akademie war Crusius.

Die Philosophie dieses Mannes wurde nicht nur die seinige, sondern von ihm nahm er auch den eignen Blick und die eigne Manier, die Bibel zu erklären, an. Unter den biblischen Büchern wurde bald die Offenbarung Johannis seine Lieblings-[18]lektüre. In diesem heiligen Labyrinth wagte er sich Anfangs nicht ohne Fackelträger zu wandeln, und Crusius und Bengel mußten ihn als Eingeweihte vorzüglich leiten.

Wie aber nach und nach die Imagination durch die aufgehängten großen Bilder erhitzt wurde, so wagte er sich nun selbst an das Enträthseln des Verhüllten, und glaubte auch, es glücke ihm in seinen Versuchen.

Die angebrannte Imagination ließ ihm das Willkührliche und Grundlose in seinen Erklärungsarten nicht bemerken, vielmehr arrogirte sie sich selbst den Namen von Scharfsinn und untersuchender Vernunft.

Die Deutungen, die er den Bildern jenes Buchs gegeben hatte, hatten sich bei ihm bald in den Besitz der Unfehlbarkeit gesetzt, und die natürliche Folge war, daß er anders denkende Menschen nicht dulden konnte, wenn sie nicht noch geschmeidig genug waren, seine Meinung anzunehmen.

Er glaubte einen Vorzug vor andern seines Gleichen zu haben, weil diesen die Schätze, welche er in jenem Buche gefunden zu haben glaubte, nicht so einleuchten wollten.

Die natürlichen Kräfte des menschlichen Geistes schienen ihm daher dies bei ihm auch nicht bewürkt zu haben, sondern das mußte durch eine höhere Kraft geschehen seyn.

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Nun ist es aber die Pflicht eines jeden, der vorzugsweise erleuchtet worden ist, daß er mit seinem Licht auch um sich her erleuchtet, so viel nur in seinem Vermögen steht. Bis zu der Zeit, da dieser Gedanke in ihm lebhaft geworden, war er noch umgänglich, informirte Kinder, und that was ihm zukam; ob er gleich freilich immer hartnäckig disputirte, wenn es seine besondern Meinungen betraf.

Als er aber den Bekehrungsberuf lebhafter in sich zu fühlen anfieng, da äußerte er auch in seinen Predigten ungeheuchelter seine Meinungen. Die letzte Predigt, welche er hielt, schloß er mit den merkwürdigen Worten: »Wer keine Hexen glaubt, glaubt keinen Teufel; wer keinen Teufel glaubt, keinen Gott; wer keinen Gott glaubt, der ist verdammt.« Hierauf wurde ihm nicht mehr erlaubt zu predigen, und nun glaubte er sich berechtigt, öffentlich auf den Straßen seine Lehren zu verbreiten, und diejenigen namentlich anzugeben, die nicht von seiner Lehre waren.

Dieses Gassenpredigen unterließ er nach erhaltenem Verweiß; auch wurde er stiller. Die Obrigkeit wollte ihn an einen Sicherheitsort bringen lassen; aber der Vater bat, den Sohn bei ihm zu lassen.

Der Sohn schämte sich jetzt dessen, was er gethan hatte, und weigerte sich des Ausgehens. Endlich besserte es sich so weit mit ihm, daß er wieder [20]einige Spaziergänge hielt, doch behielt er noch immer unruhige Nächte.

Am 3. August 1779. hatte er noch zwei gute Freunde bei sich. Der Vater gab ihm immer bei diesem Besuche eine kleine Beschäftigung, bald mußte er Taback holen, bald Coffee einschenken; und wie der Sohn aus der Stube gieng, sagte der Vater zu den anwesenden Freunden, er müßte seinen Sohn immer in Beschäftigung erhalten, weil er sonst ganz still würde und in starres Nachdenken versänke. Bei diesem Besuche bemerkten die zwei Freunde, nach S. 55. der Akten, nichts unvernünftiges an ihm, wohl aber einige Aengstlichkeit, mit welcher er seinen Rock aufriß; auch that er hier die Aeußerung: er wünschte seine verlohrnen Kräfte wieder zu erlangen, alsdann wollte er wieder von neuem anfangen zu studieren.

Auf seine ehemalige Lieblingsvorwürfe kam das Gespräch nicht; aber als ein Zeichen des Daseyns seiner Vernunft kann noch angeführt werden, daß er mit dem einen Freund auf dem Damenbret gespielt, und sich auf den andern Tag zu einem Gartenbesuch versprochen.

Beim Abschiede, der des Nachts gegen 10 Uhr genommen wurde, bat er (nach S. 57. b. der Akten) den einen seiner Freunde, er möchte diese Nacht bei ihm bleiben; dieser schlug es aber aus.

Am 4. August früh zwischen 4 und 5 Uhr, sahen und hörten die Nachbarn, daß der Candidat [21]Rau seinen Vater mißhandelte; und da sie an die Hausthüre anschlugen, so zog der Sohn, der mit seinem Vater allein im Hause wohnte, die Thüre auf, und ließ Nachbarn und die herbeigeholte Wache ein. Der Vater lag auf der Erde in seinem Blute, ermordet von dem Sohne mit 15 Messerstichen und Aufschneidung der Gurgel.

Der Sohn gieng am Fenster auf und ab; in ihm wechselten jetzt Wehmuth, Anerkennung seiner Schuld, und Ausbrüche der Wuth; bald verklagte er sich selbst vor Gott, daß er eine so schreckliche, ihm nicht zu vergebende That gethan, bald behauptete er, er habe nicht seinen Vater, sondern einen Juden und einen alten Türken umgebracht.

Beim gerichtlichen Verhör sagte Rau nach S. 17. der Akten folgendes aus: »er habe den von ihm Ermordeten nicht vor seinen Vater gehalten, und er wisse sich von der Sache weiter nichts zu erinnern, als daß sein Vater ihn früh morgens in die Stube eingelassen, wo er ihn um Brod gebeten, aber zur Antwort erhalten habe, das könne er, der Vater, nicht schaffen.

Hierauf habe er den Schlüssel zum Geld seiner Mutter verlangt, um sich davon etwas zu nehmen; und als sein Vater sich dagegen gesetzt, wäre er sogleich seiner Sinne und seines Verstandes beraubt worden, und habe, da sein Vater ein Messer gehabt und auf ihn zugegangen, auch ein Messer ergriffen, was er aber nun damit an sei-[22]nem Vater verübet, würde er gar nicht wissen, wenn er es nicht nachher von andern Personen gehört hätte; denn er sey ganz außer sich von allen Sinnen, von Vernunft und Gedanken gewesen, und wisse nicht, was er gethan.«

Auf die Frage, wie er heiße? antwortete er: »er glaube gar nicht, daß er getauft sey, auch habe er seinen Vater nicht für seinen wahren Vater gehalten, denn er sähe ihm nicht gleich, und habe an sich nichts ähnliches von ihm.«

Ehe er die Gerichtsstube verließ, erklärte er sich noch, ohne darum befragt worden zu seyn, dahin: »er habe bisher stark die Commentarios über die Offenbarung Johannis gelesen, jetzo aber damit nichts mehr zu thun.«

In seinem Gefängniß äußerte er niemals Reue der That; auch seiner ehemaligen Meinungen gedachte er nicht.

Sein Betragen war wild und verrieth Stolz und Verachtung gegen alles.

Bei einem Gewitter brach er nach S. 21. der Akten, in die Worte aus: »der wilde Fürst komme, er habe den Kerl schon oft gehört.«

Und bei eben der Gelegenheit sagte er zum Gefängnißwärter: »er habe noch rechte Kerl von Büchern auf einem großen Kreuz, und unter andern auch ein Stück von dem Theophrastus Paracelsus liegen.« Er behauptete auch S. 22. »er [23]sey ein Staatsgefangener, der nicht hart gehalten werden dürfe.«

Es ist zu beklagen, daß keiner von den Bekannten dieses Unglücklichen, die genauern Umgang mit ihm hatten, seinen Gemüthszustand nach dem Vorfall mit dem Gassenpredigen mit philosophischem Geiste beobachtet hat. Mir ist es mehr als wahrscheinlich, daß nach den Predigten, die er zur Bekehrung seiner Stadt auf öffentlichen Straßen hielt, die Imagination erschlaffte; einige Lichtblicke der Vernunft ließen ihm sehen, daß er Gespinsten von seinem eigenen Machwerk gefolgt; die Schaam gesellte sich dazu; das Gehirn war durch die wilden Ausschweifungen der Einbildungskraft gestört und unfähig zur richtigen Betrachtung gemacht worden.

Das einzige, das er als unfehlbar angesehen, fiel vor ihm als ein Unding; er war zu schwach am Geiste geworden, um das Bessere zu suchen; er wußte nicht, woran er sich halten, was er glauben sollte; und so blieb ihm nichts übrig, als Verzweiflung an allem Wahren und Guten, diese brütete Anfangs im Stillen, und äußerte sich endlich auf jene schreckliche Weise.

Und einem solchen schrecklichen Zustande ist jeder ausgesetzt, der mehr schwärmt als kalt denkt und ruhig untersucht; der Gott nur in geheimen Offenbarungen finden will, und dagegen versäumt, Gott zu erkennen und anzubeten in seiner herrlichen [24]Schöpfung, und durch ein edles, rechtschaffenes und thätiges Leben seinem Nebenmenschen zu dienen und sich selbst dadurch die einzige, wahre Zufriedenheit zu verschaffen.

Freilich ist es der menschlichen Faulheit bequemer, sich den Himmel durch einen Zungenglauben zu erwerben, als durch Handlungen, die Mühe und Arbeit kosten, zu beweisen, daß man an Gott und eine Zukunft glaubt.

J. E. Gruner.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Goldmann 2015, S. 135-142.