ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Konfessionen der Madame J. M. B. de la Mothe Guion.
aus ihrem Leben, welches von ihr selbst beschrieben ist. a

Guyon, Jeanne Marie de la Mothe

*) 1 Wie mein Leben jederzeit dem Creuze gewidmet gewesen ist, so war ich kaum wieder aus dem Gefängniß loß, und der Geist fieng kaum an sich wieder zu erholen nach so vielen Widerwärtigkeiten, da fand sich der Leib von allerlei Schwachheiten und Unpäßlichkeiten überhäuft, und ich hatte fast immerwährende Krankheiten, wobei ich oft dem Tode sehr nahe kam.

In diesen letzten Zeiten kann ich nur sehr wenig oder nichts von meiner innerlichen Gemüthsbeschaffenheit sprechen, weil mein Stand einfältig und unveränderlich worden ist.

Der Grund dieses Standes ist eine tiefe Vernichtigung, also daß ich nichts in mir finden kann, dem ich einigen Namen geben könnte.

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Das ist alles was ich weiß, daß Gott unendlich heilig, gerecht, gut, selig ist; daß er alles Gute in sich begreift, und ich alles Elend.

Ich sehe nichts geringers als mich, und nichts unwürdigers als mich. Ich erkenne, daß Gott mir solche Gnaden erwiesen hat, wodurch eine ganze Welt könnte selig gemacht werden, und daß ich vielleicht alles mit Undank bezahlt habe. Ich sage vielleicht: denn weder Böses noch Gutes hat einen wesentlichen Bestand in mir (als in mir.) Das Gute ist in Gott: das Nichts allein ist mein Antheil.

Was kann ich sagen von einem solchen Stand, der immer einerlei ist, ohne Absicht und ohne Veränderung? Denn die Trockenheit (da man keine empfindliche Kraft noch Gefühl von nichts hat) wenn sich anders solche bei mir findet, ist mir eben so lieb, als der allervergnügteste Stand von der Welt.

Alles ist verlohren in dem unermeßlichen Wesen, und ich kann weder wollen noch denken. Es ist als wie ein kleines Tröpflein Wasser, das in dem Meer verlohren und versenkt ist: es ist nicht allein mit dem Meer umgeben, sondern ganz darin verschlungen.

In dieser göttlichen Unermeßlichkeit siehet es sich nicht mehr, aber es erkennt die Dinge, die da vorkommen, in Gott, und beurtheilt sie gleichwohl nicht anders,als durch das reine Gefühl und Urtheil des Herzens.

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Alles ist eitel Finsterniß und Dunkelheit seiner Seits; alles ist Licht von Seiten Gottes, der es in keiner Sache unwissend läßt, und dennoch weiß es nicht, was es weiß, noch wie es dasselbige weiß, und ohne daß ihm die geringste Gestalt davon übrig bleibt.

Da ist weder Geschrei noch Schmerz, noch Mühseligkeit, noch Lust, noch Ungewißheit; sondern ein vollkommener Friede, nicht in ihm, sondern in Gott; kein Eigennutz noch Eigengesuch für sich, kein Andenken noch Beschäftigung auf oder mit sich selbst. Siehe, das ist Gott in einer solchen Kreatur, und so weit kann er es mit ihr bringen! Für sich ist sie nichts als Elend, Schwachheit, Armseligkeit, ohne daß sie weder auf ihr Elend noch auf ihre Würde denket.

Wenn man etwas Gutes von mir glaubt, so betrügt man sich, und thut Gott dem Herrn Unrecht. Alles Gute ist in ihm, und um seinet willen. Wenn ich irgend ein Vergnügen haben könnte, o so wäre es darüber, daß Er ist, was Er ist, und daß Er es auch immer seyn wird. Macht er mich selig, so geschieht es aus lauter Gnade und ohne alles Verdienst: denn ich habe weder Verdienst noch Würdigkeit.

Ich muß mich höchlich wundern, daß man einiges Vertrauen in dieses Nichts setzt: ich habe es gesagt: nichts destoweniger antworte ich auf das, [86]was man mich fragt, ohne mich zu bekümmern, ob ich recht oder unrecht antworte.

Rede ich unrecht, so befremdet mich solches nicht: rede ich aber recht, so eigne ich mir beileibe solches nicht zu. Ich gehe ohne Gehen, ohne Absichten, ohne daß ich weiß, wo ich hingehe. Ich will weder gehen noch zurückbleiben.

Der Wille und die Triebe sind verschwunden: Armuth und Blöße ist mein Theil. Ich habe weder Vertrauen noch Mißtrauen, mit einem Wort: Nichts, Nichts, Nichts.

So wenig ich auch auf ein Nachdenken in mir selbst gebracht werde, so glaube ich, ich betrüge alle Menschen, und ich weiß doch nicht, wie ich sie betrüge, noch was ich thue sie zu betrügen. Es giebt Zeiten, da ich gerne wollte, daß Gott möchte erkannt und geliebet werden, sollte es mich auch tausend Leben kosten.

Ich liebe die Kirche: alles was sie beleidiget, das beleidigt auch mich. Ich fürchte mich vor allem, was ihr entgegen ist; aber ich kann dieser Furcht keinen Namen geben. Es ist damit eben als wie mit einem Kinde, das an seiner Mutter Brust liegt, welches sich von einem fürchterlichen Ungeheuer gleich abwendet, und es nicht lang anschaut, es zu erkennen, was es sey. Ich suche nichts; aber es werden mir auf der Stelle und zur Stunde die allerkräftigsten Ausdrückungen und Worte gegeben: wenn ich sie aber selbst suchen oder [87]behalten wollte, würden sie mir entgehen; und wenn ich sie auch nochmals fangen wollte, würde es mir eben so gehen. Wenn ich etwas zu reden habe, und man fällt mir in die Rede, so verliert sich alles: da bin ich denn als ein Kind, dem man einen Apfel genommen hat, ohne daß es solchen inne wird: es sucht ihn, und findet ihn nicht mehr: ich werde einen Augenblick unwillig darüber, daß man mir ihn genommen hat, aber ich vergesse es alsobald.

Gott hält mich in einer ungemeinen Einfältigkeit, Herzensredlichkeit und uneingeschränktem Wesen, dergestalt, daß ich diese Dinge nicht merke als nur bei Gelegenheiten; denn ohne eine Gelegenheit, die solches erreget, sehe ich überall nichts.

Wenn man etwas zu meinem Ruhm sagen sollte, so würde es mich befremden, indem ich nichts in mir finde. Redet man mir aber Uebels nach, so weiß ich nichts anders, als daß ich lauter Elend bin; aber ich sehe doch das nicht an mir, was man mir Uebels nachredet: ich glaube es, ob ich es gleich nicht sehe, und sodann verschwindet alles.

Macht man, daß ich auf mich zurück denke, so erkenne ich nichts Gutes an mir. Ich sehe alles Gute in Gott; ich weiß, daß er der Grund und Ursprung alles Dinges ist, und daß ich ohne ihn nur ein dummes Thier bin.

Er giebt mir ein freies ungezwungenes Wesen, und macht, daß ich mit den Leuten umgehen kann, nicht nach meinem Zustand, sondern nach dem Zu-[88]stand, worinnen sie stehen, also daß er mir auch wohl natürlichen Verstand giebt bei denen, die dergleichen haben, und das mit einem so freien ungezwungenen Wesen, daß sie ganz vergnügt von mir gehen.

Es giebt eine Art frommer Leute, deren Sprache für mich ein lahmes Geschwätz ist: ich fürchte mich nicht vor den Fallstricken, die sie mir legen. Ich verwahre mich in keiner Sache zum Voraus, so gehet alles gut. Man sagt bisweilen zu mir: nehmt euch in Acht, was ihr mit den und denen Leuten redet: aber ich vergesse es alsobald, und kann nicht darauf Achtung geben.

Zuweilen sagt man zu mir: ihr habt das und das gesagt; diese Leute können es übel auslegen; ihr seyd gar zu einfältig: ich glaube es; aber ich kann nicht anders thun, als einfältig seyn.

O fleischliche Klugheit, wie befinde ich dich so sehr der Einfältigkeit Jesu Christi zuwider zu seyn! Ich lasse dich deinen Anhängern. Was mich anlangt, so ist der einfältige und niedrige Jesus meine Klugheit und meine Weisheit.

Und wenn ich sollte eine Königin werden, und es anders machen in meinem Leben und Wandel, ich könnte es nicht. Wenn meine Einfältigkeit mir alle Noth von der Welt verursachen sollte, so könnte ich sie doch nicht fahren lassen.

Nichts ist größer denn Gott; nichts ist kleiner und geringer denn ich. Er ist reich; ich bin sehr [89]arm, und mangelt mir doch nichts. Ich fühle nicht, daß ich das geringste bedarf. Der Tod, das Leben, alles ist mir gleich: die Ewigkeit, die Zeit; alles ist Ewigkeit, alles ist Gott.

Gott ist Liebe, und die Liebe ist Gott, und alles in Gott und um Gottes willen. Man sollte eher das Licht aus der Finsterniß ziehen können, als etwas aus diesem Nichts: es ist ein Chaos, jedoch ohne Verwirrung und Unordnung. Alle Gestalten sind außer dem Nichts, und das Nichts nimmt keine Gestalt an.

Die Gedanken gehen uns vorbei, nichts hält sie auf. Ich kann nichts mit vielem Vorbedacht vorbringen. Was ich gesagt oder geschrieben habe, das ist vorbei, ich kann mich es nicht mehr erinnern: es ist mir eben, als ob es für jemand anders wäre.

Ich kann weder Rechtfertigung noch Hochachtung wollen. Wenn aber Gott das eine oder das andere haben will, so wird er thun, was er will, es liegt mir nichts daran. Er mag sich verherrlichen durch meinen Untergang, oder durch Herstellung meiner Ehre und guten Namens, eines ist wie das andere in gleichem Gewicht.

Meine lieben Kinder, ich will euch nicht betrügen, und will auch nicht, daß ihr von mir nicht sollet betrogen werden: Gott muß es thun und euch erleuchten, und euch entweder eine Abkehr oder Neigung zu diesem Nichts geben, welches nicht von seiner Stelle weichet.

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Es ist eine ledige Leuchte: man kann eine Fackel dabei anzünden. Vielleicht ist es nur ein falscher Glanz oder Schimmer, der in den Abgrund stürzen kann. Ich weiß es nicht, Gott weiß es; es ist meine Sache nicht, ihr müsset ein gesundes Unterscheidungsurtheil darüber fällen.

Man muß nur den falschen Glanz auslöschen, die Fackel wird sich nimmermehr von selbst anstecken, wenn sie Gott nicht ansteckt. Ich bitte Gott, er wolle euch immerdar erleuchten, daß ihr nur seinen Willen thun möget; was mich anlangt, wenn ihr mich unter die Füße treten solltet, so würdet ihr mir nicht unrecht thun, und ich würde nichts dagegen sagen können.

Das ist es, was ich sagen kann von meinem Nichts, daß ich wollte, wenn ich etwas wollen könnte, daß man seiner ewiglich vergessen möchte. Wenn mein Lebenslauf nicht geschrieben wäre, würde er wohl schwerlich geschrieben werden; und nichts destoweniger wollte ich ihn dennoch auf das geringste gegebene Zeichen, auf das neue wieder schreiben, ohne zu wissen warum, oder was ich sagen will.

Heiliger Vater, ich habe dir diejenigen wieder in deine Hände gegeben, die du mir gegeben hast; erhalte sie in deiner Wahrheit, damit die Lügen nicht möge zu ihnen nahen!

Das heißt in der Lügen stehen, wenn man sich das allergeringste zueignet; es heißt in der Lügen stehen, wenn man glaubt, man könne etwas, wenn [91]man etwas von sich oder für sich und um sein selbst willen hoffet, wenn man glaubt, man besitze etwas.

Gieb ihnen zu erkennen, o mein Gott, daß dies die Wahrheit sey, worüber du eiferst! Alle andere Sprache, die da abgehet von diesem Grundsatz, ist Lügen und Falschheit, wer demselben nahe kommt, der kommt der Wahrheit nahe; wer aber nichts anders spricht, als das Alles Gottes und das Nichts der Kreatur, der stehet in der Wahrheit, und die Wahrheit wohnet in ihm: denn weil die widersprechliche Anmaßung und alles eigene von ihm ausgebauet ist, so muß nothwendiger Weise die Wahrheit in ihm wohnen.

Meine lieben Kinder, nehmet diese Unterweisung an von eurer Mutter, so wird sie euch das Leben bringen.

Nehmet sie an durch sie, und nicht als von ihr, oder als ob sie ihr zugehörte; sondern als von Gott, und als die Gott allein zugehöret.

Fußnoten:

1: *) Dies ist das letzte Kapitel aus ihrer Lebensbeschreibung, und schildert einen Zustand der Seele, welcher, in so fern er Täuschung war, auch als Täuschung gewiß näher betrachtet zu werden verdient. <M. > b

Erläuterungen:

a: Vgl. KMA 1, S. 766-771, und Wingertszahn 2002, S. 99f.

b: Quelle: Guyon 1727, Theil III, S. 315-323. Leicht verkürzte Fassung. Die französische Originalausgabe erschien 1720 (Guyon 1720).