ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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<1.>

Eine Geschichte eines unglücklichen Hangs zum Theater. a

Mauchart, Immanuel David

Ein Pendant zu der 3. B. 1. St. S. 117 ff. und 4. B. 1. St. S. 85 ff. erzählten Geschichte.

Der folgende Brief eines meiner Freunde, der seine eigene wahre Geschichte darin beschreibt, dünkt mir ein nicht ganz unwichtiger Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde, und besonders eine ächte Parallele zu derjenigen Geschichte zu seyn, die im ersten Stück des 3. B. dieses Magazins S. 117 ff. erzählt ist. Ich trage daher kein Bedenken, ihn ganz hier mitzutheilen, weil ich glaube, daß die Geschichte, die er enthält, für den Psychologen und Erzieher gleich interessant seyn wird.

P.... den 17. Febr. 86.

Lieber Freund!

Hier folgt das Stück vom H. Prof. Moritz Magazin zur Erfahrungsseelenkunde wieder zurück, das [107]Du mir neulich geliehen hast. Mit recht vielem Dank schicke ich es Dir wieder, denn ich habe nicht nur viele Unterhaltung davon gehabt, sondern auch vieles daraus gelernt. Ich bitte Dich daher, schicke mir auch die nachfolgenden Stücke, wann Du sie gelesen hast.

Warum ich nun aber Dir diesmal einen so langen Brief schreibe, der sich, wie Du finden wirst, lediglich auf dieses Magazin bezieht, das will ich Dir nur lieber gleich zu Anfang sagen. Ich habe darin einen Aufsatz gefunden, der den unglückseligen Hang eines Jünglings zum Theater enthält, und dabei ist mir meine eigene Geschichte, die Dir der Hauptsache nach noch wohl erinnerlich seyn wird, so lebhaft wieder eingefallen, daß ich beschloß, mich gleich hinzusetzen, und sie Dir schriftlich zu überschicken, weil ich dachte, daß Du sie an Hrn. Prof. Moritz in Berlin schicken könntest, ob sie ihm nicht vielleicht für sein Magazin taugt.

Ich habe sie ganz aufgesetzt, weil ich dachte, Du würdest vielleicht an einige kleine Umstände Dich nicht mehr so recht erinnern. Aber darum muß ich Dich noch bitten, daß Du einige Erläuterungen dazu setzest, besonders was die Veranlassung und Ursachen dieser theatralischen Neigung betrift, weil Du sie doch von unserm langen Auffenthalt und Umgang zu S... b her, noch wohl wissen wirst, und sie besser als ich, der ich nicht auf Universitäten studirt habe, wirst auseinandersetzen können. —

[108]

Aber ich will Dich nicht länger aufhalten, sondern jetzt anfangen.«

»Du wirst Dich noch erinnern, daß ich einst — es sind freilich jetzt schon viele Jahre — als wir noch mit einander auf dem Gymnasio zu S... studirten, eine solche unüberwindliche Neigung zum Theaterwesen bekam, daß sie mich an allen ernsthaften Arbeiten hinderte. Weißt Du noch, daß in selbigem Sommer die Sch.....sche Komödiantenbande c zu S... war? Die, glaube ich, war der Grund meines Unglücks.«

»Ich war einigemal in der Komödie, und diese Schauspiele gefielen mir so wohl, daß ich nachher nichts anderes mehr denken konnte, als das Theater, das ich gesehen hatte, und die Stücke, die ich hatte aufführen sehen, und all das Zeug, das zur Komödie gehört. Ich hatte freilich vorher nicht viel dergleichen gesehen, daher nimmt michs nun nicht Wunder, daß es mir so gar wohl gefiel. Aber, lieber Freund, wenns doch nur so eine vorüberrauschende Betäubung gewesen wäre! allein Du weißt, wie tief es sich in meiner Seele festsetzte, und wie viel ich darüber habe ausstehen müssen.«

»Du weißt nicht, was ich zu Haus oft ganze Tage über gethan habe, damit ich meinen heißen Durst nach diesen Vergnügungen stillen möchte. Nichts denken konnte ich mehr als Komödie, konnte mich auch mit nichts mehr beschäftigen, als damit.« —

[109]

»Doch, ich werde zu weitläuftig, ich will es kürzer machen. Man brachte in das Haus, worin ich logirte, alle Tage einen Komödienzettel, wie begierig war ich, ihn zu sehen, und wenn ich einen eigenen, — wenns öfters auch nur ein alter war — bekommen konnte, wie hob ich ihn als ein Heiligthum auf. Du weißt, daß R..., bei dem ich im Haus und in der Kost war, es nicht gelitten hätte, und mich gewiß übel behandelt hätte, wenn ich ihm meine Neigung entdeckt hätte, deswegen mußte ich oft die Komödienzettel nur verstohlen bekommen, und dann schrieb ich sie nicht ab, nein, zeichnete sie, Buchstabe nach Buchstabe, am Fenster ab, um ja das ganze Modell davon zu haben.«

»Wann ich allein auf meinem Zimmer war, so nahm ich oft ein Schnupftuch oder Waschtuch, rollte es auf, und ließ es dann wieder herunter fallen, weil ich dadurch das Aufziehen und Niederlassen des Theatervorhangs nachmachen wollte, lief in meiner Stube auf und ab, und deklamirte die Rollen, die mir am meisten gefallen hatten, so viel ich davon auswendig behalten hatte, kurz, was ich den ganzen Tag über dachte und redete, war Komödie. — Wie oft habe ich dich bei unsern gesellschaftlichen Zusammenkünften mit solchen Diskursen vielleicht inkommodirt, aber was ist es mir auch für eine Erleichterung gewesen, wenn ich mein volles Herz in den Busen eines Freundes ausschütten durfte.« —

[110]

»Was mir R. für Hindernisse entgegen gestellt hat, als er meinen Hang endlich entdeckte, weißt Du, aber das war nur Oel für die Flamme. Nun durfte ich nie mehr in die Komödie gehen, o wie sah ich da das mir so theure Haus oft mit betrübten Augen an, wann ich daran vorbei spazieren gegangen bin; und doch stahl ich mich oft von Haus weg, um nur der Probe beiwohnen zu können. Freilich mußte R. wohl merken, daß meine Neigung durch sein Verbot nicht abgenommen hatte, daß ich nichts mehr studirte, daß ich mit taubem Hinbrüten ganze Tage zubrachte, daß ich zu allen ernsthaften Geschäften unfähig war; deswegen nahm er mich einmal vor sich, weil er einen Haufen gedruckter und geschriebener Komödien und Komödienzettel in meinem Zimmer angetroffen hatte, machte mir zwei Stunden lang alle nur mögliche Vorstellungen, und wollte mich von der unseligen Neigung abbringen, aber was halfs? ich wurde zwar aufmerksam darauf, daß ich auf Abwegen war, aber die Neigung war so stark bei mir, daß ich keine Kräfte mehr zu haben glaubte, womit ich sie hätte überwinden können.« —

»Nun wuchs die Neigung immer mehr, weil ich ihr keinen Widerstand entgegen setzte, und wuchs bis zur Lust, selber aufs Theater zu gehen. Nur zwei Dinge hielten mich noch ab, sonst, wer weiß, wo ich jetzt wäre? nemlich, die Furcht, mein Vater würde nicht darein willigen, dem ich auch meinen Entschluß nicht entdeckte, und dann das Vorurtheil, [111]das damals zu S... noch herrschte: ein Komödiant dürfe nicht zum heil. Abendmahl gehen, und könne auch nicht selig werden.«

»Endlich entschloß ich mich, einen Ausweg zu treffen, und fiel auf den Gedanken, selber ein kleines Theater zu errichten. Ich hatte noch einige Schulkameraden in meiner Vaterstadt, und weil ich von S... aus oft dahin kam, so wurde ich mit diesen eins, in einem ihrer Häuser ein Theater aufzurichten, wo wir alle Wochen einmal spielen wollten; wir gewannen auch einige Mädchens dazu, und nun glaubte ich alle meine Wünsche erreicht zu haben, als die Aeltern meines Kameraden unser Vorhaben begünstigten, und noch mehr, als wir wirklich darauf zur Probe ein kleines Schauspiel aufführten.« —

»Zu dem Ende habe ich, wie Du weist, die vielen Komödien theils abgeschrieben, theils aus Moliere übersetzt, theils selbst verfertigt, wozu ich nur die Sch...sche Komödienzettel, worauf der Titel und die Personen eines Stücks standen, gebrauchte. Ich habe sie Dir, wenn ichs noch recht weiß, einmal gezeigt, und ich wünsche nur, daß ich sie aufbehalten hätte, weil ich vielleicht noch jetzt mir manches daraus abstrahiren könnte.« —

»Allein aus unserm Theater wurde außer der ersten Probe nichts. Denn es kam ein Zufall dazwischen, der — ich danke Gott noch dafür, wenn ich mich seiner erinnere — mich vor dem Unglück, [112]in welches ich ohne Rettung gestürzt wäre, bewahrt hat. R. der meine immer zunehmende Abneigung vom Studiren sehen mußte, und doch nicht helfen konnte, reiste zu meinem Vater, und entdeckte ihm meine Umstände. Mein Vater berief mich alsdann auch zu sich, nahm mich ganz allein auf seine Stube, und stellte mir die Folgen meines unseeligen Hangs so lebhaft vor, daß ich zitterte. Ich antwortete ihm, ich könne mich eben nicht zufrieden geben, wenn ich keine Komödie sehen dürfe; dies erlaubte er mir dann, gab mir Geld dazu, und sagte mir aber, daß ich den Tag darauf, nachdem ich in der Komödie gewesen wäre, wieder zu ihm kommen sollte. Ich gieng darein, war wie im Himmel darin, aber als ich heraus kam, und noch mehr, als ich den Tag darauf zu meinem Vater reiste, war die lodernde Flamme schon etwas gedämpft. Als nun vollends seine so liebreichen Vorstellungen dazu kamen, so würkten diese und seine unvermuthete Erlaubniß, in die Komödie gehen zu dürfen, so viel bei mir, daß ich erwachte, und den Entschluß faßte, mich ganz diesem Taumel zu entreißen. Ich führte den Entschluß auch gleich dadurch aus, daß ich die Komödien, die ich zu dem vorgehabten Theater gesammelt hatte, ins Feuer warf, wo ich sie mit wahrer Herzensfreude hell auflodern sah.« —

»Und von dieser Zeit an bin ich wieder ein vernünftiger Mensch geworden, nachdem ich länger als ein Jahr im unvernünftigen Taumel zugebracht hatte.«

[113]

»Dies ist die Geschichte meiner Verirrung. Ich überlasse Dir es nun: einen Gebrauch davon zu machen, welchen Du willst, denn ich bin von Deiner Freundschaft versichert, daß Du keinen unrechten davon machen wirst. — Aber meinen Namen laß weg, wo möglich. Lebe wohl. Auf die folgenden Stücke des Magazins warte ich gewiß. Ich bin etc.

H. T.«

Ich will nun, nach dem Wunsch meines Freundes, einige wenige, aber allerdings nöthige Erläuterungen beifügen, welche die Geschichte psychologisch erklärbarer machen. —

Zuerst über die Veranlassung und Ursachen dieser sonderbaren Theaterwuth. Wenn mein Freund sagt, daß ihn die Schauspiele zu S... deswegen so hinrissen, weil er noch nicht viel dergleichen Dinge gesehen hatte, so hat er in so fern recht, als ihm seit acht oder mehrern Jahren nichts mehr von der Art unter die Augen gekommen war. Er muß aber dabei doch vergessen haben, was er mir öfters selbst erzählte, daß er schon in seiner frühen Jugend, im sechsten Jahre ungefähr, zum erstenmal mehrere Schauspiele in seiner Vaterstadt gesehen hatte, von welchen er immer noch mit schwärmerischem Vergnügen redete, und welche vermuthlich schon den ersten Grund zu dem nachmalichen starken Hang zum Theater in ihm gelegt hatten, um so mehr, da natürlich Schauspiele auf [114]eine Kinderseele starken Eindruck machen müssen, und bei ihm besonders, da sie ihm nicht alltäglich und zur Gewohnheit wurden, die den allzustarken Eindruck hätte vermindern können, sondern er erst nach Verlauf von ungefähr acht Jahren, also zu einer Zeit, wo die jugendliche Einbildungskraft am stärksten und feurigsten ist, die besonders er noch jetzt in einem hohen Grade besitzt, wieder zu dem Genuß eines Vergnügens gelangte, das ihn schon in der Kindheit so hingerissen hatte. —

Dazu kommt noch, daß er noch in sehr jungen Jahren auf das Gymnasium zu S... kam, und da man hier die Privatstudien größtentheils eines jedem eigenem Fleiße überläßt, mein Freund hingegen noch von Schulen her daran gewöhnt war, alle Zeit, wo ihm nicht ausdrücklich etwas zu lernen oder zu thun aufgegeben war, zu seinem Vergnügen anzuwenden, so wußte er sich hier außer den Lektionsstunden nicht gehörig selbst zu beschäftigen, und, da die Seele natürlich doch Beschäftigung haben wollte, so war es daher leicht möglich, daß er bei den so zusammen treffenden Umständen, da gerade um diese Zeit eine Schauspielergesellschaft nach S... kam, auf die erzählten Abwege gerieth, und sich in diesen Vergnügungen gleichsam ersäufte. —

Allein glücklich für ihn, wenn er sich nur früher darin ersäuft und durch Uebermaaß im Genuß zuletzt Eckel daran gefaßt hätte. Ich habe schon oft den Kunstgriff der Zuckerbäcker bewundert, die ihre Lehr-[115]jungen von allen Süßigkeiten so viel genießen lassen, als sie wollen, bis endlich durch Uebermaaß im Genuß Eckel davor entsteht, und sie dann nichts mehr kosten mögen. Und so ists wahrhaftig mit den halb sinnlichen und halb geistigen Vergnügungen, dergleichen die Schauspiele sind, auch, und dieses Mittel hier um so sicherer anzuwenden, weil Schauspiele an und vor sich noch kein schädliches Vergnügen sind. — Da nun aber meinem Freunde gleich Anfangs solche Hindernisse in den Weg gelegt wurden, so ist es für den Psychologen ganz leicht begreiflich, wie nach und nach diese herrschende Neigung in solche lichte Flamme ausbrechen konnte, deren Würkungen in der That erstaunlich waren, und den guten Jüngling zuletzt bis an die Grenzen des Wahnsinns hätten führen können. —

Aus dem nemlichen Grunde läßt es sich auch begreifen, warum bei der vernünftigen Behandlung seines Vaters mein Freund wirklich mehr gebessert wurde, als durch die ihm vorgelegten Hindernisse, seine Neigung zu befriedigen. — Denn auch die immer noch widernatürliche Heftigkeit, womit er den Entschluß der Besserung auszuführen anfieng, indem er seine gesammelten Schauspiele verbrannte, würkte wahrscheinlich zur nachmaligen gänzlichen Besserung nicht so viel, als die fortgesetzte Erlaubniß, die Schauspiele zuweilen besuchen zu dürfen. —

Schade ists aber immer, daß er die geschriebenen Schauspiele nicht aufbewahrt hat, denn sie würden, [116]da sie meistens von ihm selbst verfertigt waren, für den Psychologen immer brauchbar gewesen seyn, und den damaligen Gang seiner Phantasie verrathen haben, dem Verfasser selber aber wahrscheinlich nun manches Lächeln abnöthigen. —

Er ist übrigens, wie er selbst versichert, von dieser tobenden Neigung jetzt ganz abgekommen, nur ist eine große Freude an Schauspielen immer noch in ihm übrig, und er versäumt daher gewiß keines, wenn er eben des Jahres ein- oder zweimal nach S... kommt, wo indessen ein Nationaltheater errichtet worden ist. Auch hat er mich einst versichert, daß, wenn er etwa in seinem jetzigen Stand durch irgend einen Zufall unglücklich werden sollte, und er sich nicht mehr zu helfen wüßte, sein erstes Bemühen seyn würde, sich bei einem stehenden Theater zu engagiren. — Allein diese übriggebliebene Neigung ist ihm sogar nicht mehr schädlich, daß er vielmehr jetzt an seinen Berufsgeschäften viel Vergnügen findet, und sich keinen Stand denken kann, in welchem er glücklicher seyn würde, als in dem, worin er sich jetzt befindet.

Die mancherlei Winke, die für einen Erzieher in dieser Geschichte liegen, will ich hier nicht aus einander setzen, jeder Vernünftige wird sie sich selbst abstrahiren können.

M. I. D. Mauchart.

Erläuterungen:

a: Vgl. die von Mauchart getrennt publizierte Version in Mauchart 2017, S. 11-16, 86-88.

b: Stuttgart.

c: Emanuel Schikaneders Wandertruppe hielt sich von Ende Mai bis September 1778 in Stuttgart auf (vgl. Sindlinger 2010, S. 208.)