ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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6.

Einige Beispiele von Geistes- oder Gedächtnißabwesenheit. a

Goens, Rijklof Michael van

Ein Beitrag zur Erfahrungsseelenkunde vom Herrn van Goens.
1.

In meiner Jugend übertrug man einem ziemlich einfältigen Menschen einen Dienst, bei welchem alle Verrichtungen darin bestanden, seinen Namen zu unterzeichnen.

Um uns eine Idee davon zu machen, wie viel Arbeit er habe, erzählte er, daß er seinen Namen in einem Morgen so oft geschrieben, daß er ihn am Ende vergessen hätte.

Man lachte ihm ins Gesicht, und jemehr er die Sache im Ernst behauptete, destomehr wurde er belacht.

Ich glaube, daß man Unrecht hatte, und daß die Sache, obgleich außerordentlich, doch nicht unmöglich und sonderbarer war, als es diesem Manne selbst vorgekommen.

[78]
2.

Hr. v. Br***, ehemals Abgesandter zu Madrid, nachher zu Petersburg, ein sehr ernsthafter, jedoch gar nicht hypochondrischer Mann, geht des Morgens aus, um einige Besuche zu machen.

Sein Besuch traf unter andern ein Haus, wo er Ursach hatte zu glauben, daß die Domestiken ihn nicht kennen würden.

Also mußte er seinen Namen sagen, aber diesen Namen, seinen eigenen Namen, hatte er vergessen.

Er glaubte närrisch geworden zu seyn, unterdessen bemerkte er doch keine andere Verwirrung; allein seinen Namen konnte er auf keine Weise wieder finden.

Er wendet sich zu einem hinter ihm herkommenden Freund: Sagen Sie mir um Gotteswillen, wie nenne ich mich?

Man belacht ihn, er aber besteht darauf, und versichert sehr ernsthaft, daß er wirklich seinen Namen vergessen habe. Man sagt ihm den Namen, und er macht seinen Besuch.

Ich habe diese Anekdote von dem Freunde selbst, welcher ihn aus dem Handel gezogen.

3.

Die Frau des Hrn. Hennert, sehr berühmten Professors der Mathematik zu Utrecht, welche selbst [79]Mathematiker und Astronom wie ihr Mann war, bekam auf einmal, nach einer Krankheit, ein Vergessen oder vielmehr ein Unvermögen, eine Verwirrung der Sprache, welche der biblischen Beschreibung von der Verwirrung zu Babel, vollkommen gleich war.

Nemlich, wenn sie einen Stuhl begehrte, forderte sie einen Tisch, wenn sie ein Buch haben wollte, forderte sie einen Spiegel. Und wenn man ihr das Wort, welches sie gesucht, und an dessen Statt sie ein anderes gesetzt hatte, vorsagte, konnte sie niemals dazu kommen, es zu wiederholen.

Bisweilen merkte sie selbst, daß sie die Sache unrecht nannte, ein ander mal ärgerte sie sich, wenn man, da sie ihren Fächer forderte, ihr denselben brachte, anstatt der Haube, welche sie glaubte genannt zu haben.

Dieses außerordentliche Derangement hat verschiedene Monathe bei ihr angehalten.

Ueberhaupt war ihre Sprache verwirrt und ein wenig schwer, aber ihre Vergessenheit erstreckte sich nur auf einige Worte der Sprache. Sie hatte übrigens ein so getreues Gedächtniß, daß sie fortfuhr, ihren Haushalt zu besorgen; sie zeigte sogar ihrem Manne den Stand des Himmels auf einer Karte so richtig als bei vollkommener Gesundheit.

Nach und nach ist die Frau H. wieder genesen, und hat noch verschiedene Jahre, bei dem vollkommenen Gebrauch ihrer Seelenkräfte, gelebt.

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Ich habe die Frau selbst in diesem Zustande nicht gesehen. Hr. H. aber hat die Geschichte dieser sonderbaren Krankheit herausgeben wollen. Ich weiß nicht, ob sie es etwa nicht gewollt hat. Aber ich vermuthe, daß er noch wohl Bemerkungen wird auf bewahrt haben, welche der Mühe werth wären, sie für das Magazin von ihm zu erbitten.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. auch Goldmann 2015, S. 93-97.