ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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1.

Beitrag zur Bestätigung des Satzes, daß die Einbildungskraft und das Gedächtniß mehr dem Körper als der Seele zugehören.

Gruner, Johann Ernst

Der gelehrte Director S. zu C. erholte sich von einem hitzigen Fieber, und eines der ersten Dinge, die er nach wiedererlangtem Gebrauch seiner Vernunft verlangte, war Caffee.

Allein er hatte in dieser Krankheit nicht nur den Buchstaben f vergessen, sondern es hatte sich statt dieses verlohren gegangenen Buchstabens, der Buchstabe z substituirt, so daß er nun nicht Caffee, sondern Kazze verlangte, und so regelmäßig in allen andern Wörtern, die aus f mit zusammengesetzt waren, sich des z bediente.

Sein Arzt und seine Wärter merkten bald aus der genaubeobachteten Versetzung des z statt f die Verwirrung, und machten den Kranken darauf aufmerksam, der alsdann auch nach und nach wieder zur richtigen Aussprache zurückkam.

[13]

Einen viel empfindlichern Verlust erlitte ein junger hofnungsvoller Mensch K. aus A. Dieser wurde auf der Akademie, wo er ein halbes Jahr studirt hatte, von einem hitzigen Fieber befallen; und wie er von dieser Krankheit wieder genesen war, so hatte er nicht nur alles vergessen, was er während seines halbjährigen akademischen Lebens gelernt hatte, sondern es war ihm sogar unbewußt geworden, daß er an diesem Ort ein halbes Jahr gelebt und Umgang mit den Personen, mit denen er täglich in Gesellschaft gewesen war, gehabt hatte.

Es zeigte sich eine anhaltende Verstandsschwäche, die alle Hofnung benahm, ihn zu einem brauchbaren Manne noch zu bilden.

Seine Familie nahm ihn wieder zu sich, und in dieser lebt er noch, immer ärmer werdend am Stoff seiner Ideen, und auf nichts vorzüglich sinnend, als auf die Erhaltung des Körpers.

Er ist also jetzt noch im Besitz von folgenden Vorstellungen: Er weiß, daß er an dem Orte, wo er lebt, als Knabe und Jüngling gelebt hat, daß er da in die Schule gegangen ist, und daß er Bekanntschaft gehabt hat; auch von dem, was er vor der Akademie gelernt hat, weiß er noch vieles, und wußte noch mehr davon kurz nach seiner Krankheit.

Aber alle Begebenheiten seines Lebens auf der Akademie, alle seine daselbst erlernten Sprach- und Sachkenntnisse sind durchaus verwischt. Für dasjenige, was sich nach seiner Genesung und Eintre-[14]tung der Verstandsschwäche mit ihm zugetragen, ist er nicht sehr empfänglich, und äußert sich darüber wenig, sondern sitzt ruhig, in sich gekehrt, ohne heftige Begierden gegen irgend etwas zu äußern, in seinem Zimmer.

Fälle, die den erzählten ähnlich sind, finde ich bei Beattie *); 1 die ich jenen hier beifügen will, da ich noch keine teutsche Uebersetzung von den angeführten vortreflichen Abhandlungen kenne. »Der gesunde Zustand des Gehirns scheint in der That ebensowohl zu dem richtigen Gebrauch des Gedächtnisses, als zu unserm andern Verstandsvermögen nothwendig zu seyn.

Das Gedächtniß wird oft während des Schlafes gehemmt, und auch durch Krankheit, Alter und plötzliche und gewaltsame Zufälle geschwächt.

Thucydides erzählt in seiner Geschichte von der Pest zu Athen, daß etliche Personen, die diese schreckliche Krankheit überlebten, gänzlich ihr Gedächtniß verlohren, und ihre Freunde, sich selbst und alles andere vergaßen. b

Ich habe gelesen, daß eine Person, die von einem Hause heruntergefallen, alle ihre Bekannten und selbst die Gesichter ihrer eigenen Familie vergessen hat; und daß ein Gelehrter durch den Schlag eines von dem Bücherbret ihm auf den [15]Kopf gefallenen Folianten; alle seine Kenntnisse verlohr, und genöthiget wurde, das a, b, c, zum zweitenmale zu lernen.

Von einem andern Gelehrten hat man mir erzählt, daß er durch einen gleichen Schlag nicht aller seiner Kenntnisse, sondern blos des Griechischen beraubt worden. Wenn man auch noch an einigen dieser Ereignisse zweifeln wollte, so ist doch das folgende vollkommen gewiß und wahr.

Ich kenne nehmlich einen Geistlichen, welcher, nachdem er vor ungefähr 16 Jahren*) 2 von einem Anfall des Schlags wieder genesen war, alles dasjenige vergessen hatte, was in den letzten vier Jahren vorgegangen war; was sich aber vor diesen Jahren ereignet hatte, das wußte er alles noch sehr wohl. Die Zeitungen von jenen vier letzten Jahren schaften ihm daher sehr viele Unterhaltung; denn beinahe alles überraschte ihn darin, zumal da in diese Periode einige sehr wichtige Begebenheiten fielen, als besonders die Thronbesteigung des jetzigen Königs und viele Siege des letzten Kriegs.

Nach und nach erlangte er, theils durch eigene Erweckung des Gedächtnisses, theils durch Unterricht das Verlohrengegangene wieder. Er lebt noch, obgleich alt und schwach, doch so verständig, als Personen von seinem Alter gewöhnlich sind.

[16]

Ferner kann ich noch anführen, daß ich verschiedenemale in meinem Leben in Ohnmacht gefallen bin: zweimal, so viel ich mich erinnere, durch Stürzen vom Pferd, und einmal durch plötzliches Hintreten ans Feuer aus der dumpfigen Luft einer Winternacht; und daß ich bei diesen Ohnmachten jedesmal, wenn ich mich wieder erholte, dasjenige gänzlich vergessen hatte, was vor dem Eintritt der Ohnmacht vorgegangen war, und mich nicht wenig darüber verwunderte, wenn die gegenwärtig gewesenen Personen uns alle Umstände erzählten.

Ein gleiches Vermissen des Gedächtnisses hatte ich Gelegenheit, etlichemal im Wachen und bei guter Gesundheit zu bemerken, da ich durch einen plötzlichen Lärmen erschreckt worden war.«

J. E. Gruner.

Fußnoten:

1: *) Dissertationes moral & critical. London 1783. in 4to p. 12. 13. a

2: *) ich denke, es war im Jahr 1761.

Erläuterungen:

a: Beattie 1783, 2. Kapitel, 'Of Memory', S. 12f.

b: In seinem unvollendeten Werk 'Der Peloponnesische Krieg' beschrieb Thucydides die Attische Seuche.