ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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2.

<Berichtigung eines psychologischen Problems.>

Pfeffel, Gottlieb Conrad

Mit Vergnügen benutze ich die mir angebotene Gelegenheit, eine im 3ten Bande des Magazins zur Erfahrungsseelenkunde 3tes Stück, Seite 106. eingerückte Geschichte zu berichtigen, die der mir unbekannte Einsender gewiß nicht aus meinem Munde gehört, oder wenigstens nicht recht behalten hat.

Der Vorfall ist im Ganzen wahr, die Umstände aber sind sehr verunstaltet. Er begab sich am hellen Tage in meinem außerhalb der Stadt liegenden Garten, der noch am Ende des vorigen Jahrhunderts ein offner Weinberg war. Ein junger Geistlicher, der mich dahin begleitete und zuvor nie da [24]gewesen war, fühlte auf einem gewissen Platze einen Schauer, den ich am besten mit einer elektrischen Erschütterung vergleichen kann. Wir beide waren allein. Ich mußte mehrmals in ihn dringen, bis er mir sagte, daß ihn dieser Schauer fast immer an Orten anwandle, wo Jemand begraben liegt. Er fügte hinzu, die Dunkelheit der Nacht würde vermuthlich seine Wahrnehmung bestätigen. Abends um 9 Uhr (es war Frühling 1759.) kehrte ich mit ihm in den Garten zurück, und er versicherte mich, auf dem besagten Platze, nicht eine lange hagere Gestalt, sondern eine kaum fünf Fuß hohe Dunstsäule zu erblicken, die ihm einer weiblichen Figur ähnlich schien. Ich trat dicht auf die Stelle, konnte ihn aber nicht dazu bewegen ein gleiches zu thun. Ich fuhr mit dem Stocke und mit der bloßen Hand überall umher, ohne weder einen Widerstand noch einen andern Eindruck zu empfinden. Mein Gefährte versicherte mich, so wie ich die Dunstsäule zertheilte, flöße sie wieder, gleich einer getrennten Flamme, zusammen.

Diese nächtliche Wallfahrt habe ich mit mehrern meiner Freunde im Lauf eines Jahres bei jeder Witterung öfters wiederholt, ohne daß, außer dem ersten Entdecker, jemand das Mindeste gesehen oder verspürt hätte. Einmal schob ich mit Hülfe meines Bruders ihn mit Gewalt auf die gedachte Stelle. Zittern und Grauen ergriffen ihn, und [25]noch des andern Tages bemerkte Jedermann die Todesblässe seines Gesichtes.

Den folgenden Frühling ließ ich, nicht des Nachts (ich wüßte nicht, warum ich, der ich hier keinen Schatz suchte, die Geisterstunde hätte wählen sollen) sondern an einem schönen Tage und in Beiseyn mehrerer noch lebenden Personen, auf dem Platze nachgraben, und wir fanden würklich ungefähr fünf Fuß in der Erde, unter einer isolirten Schichte Kalchs, sehr vollständige Reste eines menschlichen Gerippes, wobei besonders der Schedel und die Kinnbacken mit den Zähnen noch ganz erhalten waren.

Wahr ists, daß mein schätzbarer Freund, den ich nach dieser Operation auf die Stelle führte, nicht die mindeste Abneigung oder Erschütterung mehr spüren ließ, und daß ich nachher noch mehr als einmal Gelegenheit hatte, mich zu überzeugen, daß sein Nervensystem durch die Ausdünstungen auch von alten Gräbern, auf eine mir unerklärliche Art angegriffen wurde. Dabei besitzt er ein äußerst scharfes Gesicht und kann noch jezt sich des Nachts überall ohne Licht finden.

Da Herrn Moritz daran gelegen seyn muß, lauter getreue Thatsachen zu liefern, so willige ich sehr gerne darein, daß ihm gegenwärtige Erläuterungen und Zusätze mitgetheilt werden. Die übrigen Umstände seiner Erzählung sind der Wahrheit [26]gemäß: deswegen hielt ich für unnöthig, sie zu wiederholen.

Vielleicht kann dieses Phänomen, das gewiß nicht das einzige seiner Art ist, den Glauben des Alterthums erklären, daß die Schatten der Verstorbenen über ihren Gräbern schweben. Und da der Irrthum sich so oft in den Nimbus der Wahrheit gehüllt hat, so können unreine Hände wohl auch der Wahrheit das phantastische Gewand des Irrthums umgehängt haben.

Pfeffel.