ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Fortsetzung der Revision des 4ten, 5ten und 6ten Bandes dieses Magazins.

Pockels, Carl Friedrich

Bei Fortsetzung der Revision der drei letztern vorhergehenden Bände dieses Magazins kann ich die Rubriken, worin gewisse Seelenkrankheiten aufgezeichnet sind, füglich übergehen, da man die Ursachen der meisten dieser Krankheiten und ihre Folgen in den vorhergehenden Stücken zu erklären, und nach psychologischen Gesetzen zu zergliedern gesucht hat, und da schon mehrere Psychologen ihre verschiednen Meinungen hierüber in öffentlichen Blättern geäußert haben. Ich wende mich daher diesmal gleich zu den vorzüglichsten Aufsätzen der letzten drei Bände, welche unter der Aufschrift: [2] Seelennaturkunde, vorkommen, und hier und da eine genauere Beleuchtung erfordern, als ihnen die Herren Einsender gegeben haben.

Das erste Stück des vierten Bandes enthielt lauter Erzählungen von Seelenkrankheiten; das zweite hingegen des nehmlichen Bandes hat destomehr Aufsätze, die zur Seelennaturkunde gehören.

Seite 42ff. 4. B. 2. St. befinden sich einige an einem Taubstummen gemachte Beobachtungen, vom Herrn F.A. Wallroth. Ein sehr interessanter und lesenswürdiger Aufsatz, der manche wichtige Aufschlüsse über die sonderbare Ideenentwickelung in der Seele der Taubstummen enthält, und die Eigenheit ihres oft eben so sonderbaren Charakters in einzelnen Stücken sehr gut darstellt. »Der taubstummgeborne arme Mensch, dessen hier gedacht wird, war zwar in seiner Jugend in die Schule geschickt worden; allein seine Lehrer hatten theils nicht Zeit, theils nicht Lust genug gehabt, sich mit ihm besonders abzugeben, weil sie sich selbst keinen glücklichen Erfolg ihrer Arbeiten versprachen. Sein Verstand blieb also unaufgeklärt, und man fing nur alsdann erst an, ihm etwas als sündlich vorzustellen, wenn er es schon begangen hatte, und um so viel mehr, sagt der Herr Verfasser, scheint sein Betragen die Aufmerksamkeit des Psychologen zu verdienen. Die Gelegenheit, wie dieser Mensch zuerst auf die Idee von dem Daseyn einer Gottheit kam, war sehr besonders,[3] und ist vorzüglich bemerkenswerth. Schon öfters hatte man sich zwar bemüht, ihm zu zeigen, daß ein Wesen im Himmel sey, welches alles erschaffen und noch die ganze Welt regierte; allein alle Bemühungen hierin schienen fruchtlos zu seyn. Endlich kam eine Naturbegebenheit seinen Lehrern zu Hülfe, und ein Blitz, der vor seinen Augen in eine seiner Wohnung gegenüber gelegenen Scheune einschlug, überzeugte ihn auf einmal von dem Daseyn eines Gottes, der im Himmel wohne.« (Ungefähr wie die meisten rohen Völker durch dergleichen Naturbegebenheiten wohl zuerst auf den anfangs freilich noch sehr armseligen Begriff von einer Gottheit gekommen seyn mögen.)

»Kaum hatte er sich von seinem Schrecken etwas erholt, als er zu dem Herrn Wallroth eilte, und ihm das, was er gesehen, erzählte, und wie er nun auf einmal glaubte, daß ein großer, dicker Mann im Himmel sey, (denn so bildete er Gott ab, indem er die Backen und den Bauch aufbließ, und die Hand so hoch hielt, als er nur konnte, um dadurch seine Größe zu bezeichnen.) So oft er seit dieser Zeit Gewitterwolken am Himmel erblickte, fürchtete er sich außerordentlich, und bisweilen war ein schwarzes Wölkchen, das im Sommer am Himmel aufstieg, schon vermögend, ihn nach Hause zu treiben; denn so oft er ein Donnerwetter ahndete, floh er nach seiner Wohnung, und selbst Versprechungen waren nicht vermögend, auf [4]seine Seele zu würken und ihn davon abzuhalten.« (Wozu wohl vorzüglich seine unten geschilderte große Furcht vor dem Tode kam.) »So oft er nun seit der Zeit einen Menschen etwas thun sah, was nach seinen Gedanken unrecht und böse war, so warnte er ihn nicht nur, sondern kündigte ihm auch gleich seine Strafe an, daß nehmlich ein Blitz des Allmächtigen seine Scheitel dafür zerschmettern würde, welchen Blitz er durch eine schlangenähnliche Bewegung mit der Hand von oben herab auf den Kopf des Sünders leitete. Eine gleiche Strafe drohete er auch allen seinen Beleidigern, und besonders seiner Muhme, die ihn oft grausam behandelte, und ihm nichts zu essen gab.«

So viel Mühe sich übrigens der Herr Verfasser gegeben hat, dem Taubstummen Religionsbegriffe, besonders von der Erlösung durch Christum, von seinem Tod und Auferstehn, seiner Himmelfahrt u.s.w. beizubringen, so zweifle ich doch sehr, daß er diese Begriffe, wobei alle Anschaulichmachung und Versinnlichung ohne mündlichen Unterricht nicht viel fruchten kann, richtig gefaßt haben sollte. Einmal sind alle diese Vorstellungen an sich schon so dunkel, daß sie mir ohne einen wörtlichen Unterricht für keinen menschlichen Verstand erreichbar genug scheinen; zweitens liegen sie, als Facta betrachtet, so sehr außer dem Bezirk aller sinnlichen Begriffe, daß der menschliche Verstand ohne jenen vorhergegangenen mündlichen Unterricht [5]nicht leicht, oder überhaupt gar nicht ein Bedürfniß, sie aufzusuchen, empfinden kann. Sie lassen sich zwar in Bildern darstellen, aber der Taubstumme wird doch auch nur immer das Bild im Kopfe haben; nicht den religiösen Sinn der Geschichte, oder Glaubenslehre, der dadurch ausgedrückt werden soll. Zeigt er ein gewisses Wohlgefallen daran, so würde man nach meiner Meinung sehr übereilt schließen, daß er eine Neigung zu den vermeintlichen Religionsbegriffen haben müsse; — es ist wieder das Bild, an dem er sich ergötzt, nicht der dogmatische Sinn der Sache, welchen man ihm beigebracht zu haben glaubt. Dieß erhellet schon selbst aus nachfolgendem Beispiel: »der Taubstumme, heißt es, betete die zweite Person in der Gottheit an.« Es ist unmöglich zu glauben, daß der unwissende taubstumme Mensch die dunkle und abstracte Lehre von der Gottheit Christi gefaßt haben sollte. Was er anbetete, war der am Creutz hängende Mann, den er sich als einen Ermordeten, als einen unschuldig Ermordeten, vermöge der ihm hiervon sinnlich beigebrachten Ideen, vorstellte. Es konnte ihm ferner sehr anschaulich gemacht werden, daß diesen Mann die Juden ermordet hätten, und hieraus floß ganz natürlich die erschreckliche Abneigung, die der Taubstumme vor allen Juden hatte. »So oft er einen Menschen sah, den er an dem Barte für einen Juden erkannte, brummte er vor lauter Un- [6] willen, zeigte, daß die Leute den Heiland in die Seite gestochen hätten, und daß der Blitz sie dafür tödten müsse.«

Ueberhaupt habe ich an den Taubstummen, die ich zu beobachten Gelegenheit gehabt, fast ohne Ausnahme einen erstaunlichen heftigen Unwillen gegen ungerechte, menschenfeindliche Handlungen, und einen sehr hohen Grad des Mitleids gegen Unterdrückte bemerkt. Da sie sich nicht durch Worte äußern, und dem Beleidiger durch Vorstellungen sein Unrecht vorhalten können, so drückt sich ihre Wuth, bei der ihnen ohnehin eigenen heftigen Gemüthsart, in den wildesten Geberden aus. Da sie sich ferner selbst unglücklich fühlen mögen, und durch die harten Behandlungen andrer oft viel leiden müssen, so wird dadurch ihr Herz sehr zum Mitleiden gestimmt und weich gemacht. Ich habe einen Taubstummen vor Wuth schäumen gesehen, der einer Mutter nicht das Kind aus den Händen reißen konnte, was sie auf eine unbarmherzige Art schlug; obgleich Mutter und Kind ihm ganz fremde Personen waren, und sein nachheriger Haß gegen dieses Weib blieb unauslöschlich.

Die Erzählung von dem heftigen Triebe des hier angeführten Herbst (so hieß der Taubstumme) zum heil. Abendmahl zu gehen, ist sehr interessant, und der Herr Verfasser erklärt ihn ganz richtig aus sehr natürlichen Ursachen; also nicht aus einer Art von Gnadenwirkung, woraus man so viel na-[7]türliche Dinge auf eine schiefe und widersinnige Art selbst in neuern Zeiten zu erklären sucht. »Er sah nehmlich Menschen am Altare etwas in den Mund nehmen, und hernach aus einem schön vergoldeten Kelche trinken, und dieses mochte ihn schon nach dem Genusse desselben lüstern gemacht haben, welches Verlangen durch die Verweigerung, ihn selbst zu zulassen, unstreitig noch mehr vermehrt wurde. Er mochte daher wohl schon lange auf Mittel gedacht haben, zu diesem ihm versagten Genusse auf eine heimliche Art zu gelangen, und um diese seine Absicht zu erreichen, schien er die beste Gelegenheit darin zu finden, daß er den öffentlichen Gottesdienst ganz abwartete, bis alle Leute aus der Kirche gegangen wären, — und als einstmals der Kirchner die Hostien und den Kelch nicht gleich nach geendigtem Gottesdienste weggenommen hatte, schlich er sich am Altar, nahm aus der auf demselben befindlichen Hostienschachtel eine Oblate, und trank den übrig gebliebnen Wein rein aus, worüber er den Seinigen eine lebhafte Freude bezeugte.«

Die ganz außerordentliche Hochachtung, welche Taubstumme gemeiniglich gegen Geistliche empfinden, und gegen den Gottesdienst an den Tag legen, wird auch durch dies Beispiel bestätigt. »Er war in der Kirche ganz Aufmerksamkeit, und ahmte außer der Kirche die Stellung und Bewegung der Prediger so glücklich nach, daß er jedem auf sein Befragen den Prediger durch seine Pantomime zu [8]bezeichnen wußte. Nichts war ihm unerträglicher, als wenn junge Leute in der Kirche plauderten. Er theilte einst sogar Stockschläge unter Knaben während der Predigt aus, die mit einander zu schwatzen anfingen.«

»Den Diebstahl und das Lügen verabscheuete dieser Herbst außerordentlich, wie ich überhaupt dieses, setzt der Herr Verfasser hinzu, bei einigen Stummen schon zu bemerken Gelegenheit gehabt habe.« Dies kann aus mehrern Ursachen herrühren. Die meisten Stummen sind bei ihrer sonst heftigen Gemüthsart doch gemeiniglich furchtsam und schüchtern, und fürchten leicht, daß sie, oder andre wegen einer verübten schlechten Handlung bestraft werden dürften; ferner sind sie erschrecklich mißtrauisch, und glauben, daß man sie immer genau beobachte. Daß der hier angeführte Taubstumme so abgeneigt war, ein Stück Geld zu entwenden, hingegen es doch für kein Unrecht hielt, Speisen hinwegzunehmen, läßt sich wohl aus einem guten Appetit, und der allen rohen Menschen eigenen Gefräßigkeit erklären, wo die Heftigkeit des Instinkts dergleichen Handlungen gleichsam erlaubt macht. Der Herr Verfasser erklärt sichs auch unten aus der Erziehung.

Eine sehr richtige Bemerkung, die Taubstummen betreffend, ist auch die, daß das Lächerliche leicht einen tiefen Eindruck auf sie machen kann, und sie oft bei den ernsthaftesten Beschäftigungen [9]mit lächerlichen Bildern, deren sie sich oft von langen Zeiten her wieder erinnern, unterhält. — Da die Einbildungskraft bei dergleichen Leuten gemeiniglich einen sehr hohen Grad der Lebhaftigkeit bekommen muß; da ihre Vorstellungen von äußern sinnlichen Gegenständen ziemlich eingeschränkt sind, und die Seele sich also mehr auf das, was sie ehemals lebhaft empfunden hat, einschränken und concentriren muß; da sie ferner gemeiniglich eines lebhaften Gemüths sind, und das Contrastirende äußerer Gegenstände ihnen um so viel mehr auffält, weil sie sich es aus Mangel symbolischer Begriffe nicht selbst erklären, oder durch andre deutlich erklären lassen können, so ists ganz natürlich, daß sich die Eindrücke des Lächerlichen sehr schwer aus ihrer Seele verwischen.

Auch unser Herr Verfasser schreibt den Taubstummen einen bis aufs Höchste getriebnen Argwohn zu, und dieser läßt sich, nach seiner sehr richtigen Meinung, theils aus dem unzulänglichen Unterrichte, den sie gewöhnlich bekommen, theils auch ganz besonders wohl daraus am leichtesten erklären, daß es das traurige Loos der Stummen von Jugend an gemeiniglich zu seyn scheint, von muthwilligen Menschen geneckt und auf alle mögliche Art verspottet und gemißhandelt zu werden. Diese traurigen Erfahrungen machen sie gegen jedem, der sich ihnen nähert, argwöhnisch und mißtrauisch, da sie in jedem Unbekannten einen neuen [10] Beleidiger ahnden. Daher es denn sehr schwer hält, das Zutrauen solcher Leute zu gewinnen; so wie man sich aber im Gegentheil vollkommen auf ihre Treue und Freundschaft verlassen kann, wenn sie einmal jenes Zutrauen gefaßt haben.

»Zorn und Liebe, fährt der Herr Verfasser fort, waren die zwei Hauptleidenschaften dieses Menschen; aber so groß auch seine Neigung gegen das schöne Geschlecht war, so floh und verabscheuete er doch den Umgang mit einer verehligten Person. Nichts war ihm daher unerträglicher, als einen Ehemann mit einem Frauenzimmer, sie mochte nun verheirathet, oder ledig seyn, scherzen zu sehen, und ein freundlicher Blick, den eine Frau auf eine andre Mannsperson warf, war schon hinreichend seinen Zorn ganz zu entflammen. Brummend und mit dem Kopfe schüttelnd verließ er ein solches, seinen Augen unerträgliches, Schauspiel, indem er mit schnellen Schritten zu derjenigen Person eilte, die durch die schändlichste Untreue ihres Ehegatten, nach seiner Meinung, aufs empfindlichste beleidigt worden war, und vertrat die Stelle eines förmlichen Anklägers u.s.w. — Wieder ein Beweis von der bei rohen Menschen oft so stark hervorleuchtenden Gerechtigkeitsliebe und Treue. Da aber bei solchen Leuten oft ein gewisser äußerer Umstand eine Sache heilig und wichtig macht, so kann auch die feierliche Ceremonie der Copulation, der Eindruck, daß sie in der Kirche und von einem [11]Geistlichen geschahe, viel dazu beitragen, daß solche Leute einen jeden scheinbaren Beweis von ehlicher Untreue verabscheuen; und daß ihnen natürliche Mißtrauen kann dann leicht verursachen, daß sie die unschuldigste Handlung für ein Verbrechen halten.

Auch einer erschrecklichen Furcht vor dem Tode war unser Taubstumme ausgesetzt. »Wenn man ihn daran erinnerte, so schien ein eiskalter Schauder durch alle seine Glieder zu laufen, und eine Todtenbläße überzog auf einmal sein Gesicht, und ich wage es nicht zu bestimmen, ob Furcht oder Zorn mehr Antheil daran hatte. Derjenige wählte daher gewiß das sicherste Mittel, ihn auf einige Wochen aus seinem Hause zu verscheuchen, der ihn an seinen Tod erinnerte.« Sonderbar war es aber doch immer bei dieser seiner Furcht vor dem Tode, daß er bei jeder Beerdigung, die bei Tage geschah, zugegen war, und dem Todtengräber beim Einscharren getreue Dienste leistete.


Die Taubstummen sind unstreitig ein sehr merkwürdiger Gegenstand für den Psychologen, und genaue mit Scharfsinn über sie angestellte Beobachtungen würden mir viel willkommner, als Geschichten von Geistererscheinungen und Ahndungen seyn, die eigentlich nicht einmal in dieses Magazin gehören. Solche Beobachtungen würden gewiß [12]über mehrere Zweige der Seelenlehre ein größeres Licht verbreiten, und uns zeigen, welcher erstaunlichen Erweiterung unsere Gesichtsbegriffe, die lediglich bei Taubstummen das Gehör ersetzen müssen, fähig sind, ohne daß die menschliche Seele eine Verminderung ihrer Denkkraft zu leiden scheint; nur müßte man die Taubstummen durch einen Unterricht im Schreiben auch zugleich so weit zu bringen suchen, daß sie die Entwickelung ihrer Begriffe selbst angeben könnten, damit man, was oft der Fall ist, in ihre Seele nichts hineindenkt, was doch nie darin existirt hat. Solche Versuche, die uns nach und nach die ganze Reihe ohne symbolische Kenntniß erzeugter Begriffe in der Seele des Taubstummen darstellen müßten, würden nach meiner Meinung zweckmäßiger seyn, als daß man sich so viel ungeheure Mühe giebt, jenen armen Menschen eine Menge dunkler theologischer Begriffe einzuquälen, die sie doch wohl nie ganz fassen können, und ihnen wohl gar ganz entbehrlich sind. Vornehmlich müßte man aber an den Taubstummen folgende Betrachtungen anstellen.

a) Wie sie durch eine Analogie ihrer Empfindungen und Vorstellungen zu Begriffen gelangen, welche andre Menschen bloß vermittelst des Gehörs bekommen; wie sie diese Begriffe, da ihnen das Vehikel symbolischer Wortverbindungen fehlt, an einander reihen, in [13] sich aufbewahren, und in die Reihe ihrer übrigen Vorstellungen verweben.

b) Wie weit es die menschliche Seele überhaupt in Erlangung solcher analogen Begriffe bringen kann, ohne daß sie durchs Gehör sich Begriffe zu schaffen im Stande ist, — und wie sie sich ihre Abstractionen bezeichnet, um sie als solche und nicht als Empfindungen sinnlicher Objecte zu denken.

c) Ob sich daher die Seele des Taubstummen, um sich nicht durch die unzählige Menge von Gegenständen zu zerstreuen, gleichsam aus einem innern Ordnungsinstinkt eine Art von Sprache bildet, an welche sich alle ihre Gesichtsbegriffe anschließen, und wodurch sie fähig wird, Subjecte und Prädicate nicht mit einander in der Reihe ihrer Begriffe zu verwechseln.

d) Wie es zugeht, daß bei dem Mangel des Gehörs die Beobachtungsgabe der Taubstummen so erstaunlich zunimmt, und wie sie ganze Gespräche bloß durch die Lippenbewegung andrer richtig zu verstehen anfangen.

e) Vorzüglich aber müßte man die Eigentümlichkeit ihres Characters zu studi- [14] ren suchen; woher diese Eigenthümlichkeit rührt, und ob bloß der Mangel an Sprache und Gehör die Ursach davon ist.

Ihr erstaunliches Mißtrauen auf der einen Seite und ihr unerschütterliches Zutrauen gegen ihre Freunde auf der andern, ihr so sehr zur Rachgier und zum Zorn geneigtes Gemüth, und ihr so sehr zum Mitleiden und zur Sanftheit gestimmtes Herz, ihre Religiosität und Andacht, ihre auffallende fast allgemeine Abneigung gegen verheirathete Frauenzimmer bei dem heftigsten Instinkt der Liebe, ihre unbegränzte Furcht vor dem Tode, — alle diese Dinge geben die wichtigsten Veranlassungen zur Beobachtung ihres moralischen Characters.

Daß diese armen Menschen übrigens bei der Erziehung gemeiniglich verschroben werden müssen, ist ganz natürlich, da man sie so oft wegen gewisser Handlungen bestraft, deren Unrecht sie gar nicht einsehen können, und da die wenigsten ihrer Lehrer Geduld und Geschick genug haben, um sich zu ihnen ganz herabzulassen. Im erwachsenen Alter sind daher dergleichen Leute sehr schwer zu lenken, und aus ihrer ersten Erziehung läßt es sich gemeiniglich schon deutlich erklären, warum die meisten zeitlebens ein boshaftes Gemüth behalten.


[15]
Erinnerungen aus den ersten Jahren der Kindheit von Herrn Schlichting in Wien.
Seite 62 ff. 4. B. 2. Stück.

»Unauslöschlich, sagt der Herr Verfasser, haben sich die Vorstellungen von Figuren und Größen in mir abgedruckt, die aber mit der natürlichen Richtung meiner Seele nichts ähnliches hatten, flogen vorüber.« Hieraus zieht er nun den Schluß: daß nicht die Lebhaftigkeit der Eindrücke Ursach ihrer Fortdauer in der Seele, sondern Uebereinstimmung mit dem ursprünglichen Character es wäre. »Ich bin aber, fährt er fort, noch nicht überzeugt, daß ursprünglich die Seelenkräfte des Kindes zu einer Art der Dinge mehr gestimmt sind, als zur andern, sondern daß sie dieses erst durch Anlässe werden, und daß sie sich nach Verhältniß der vorkommenden Gegenstände und ihrer Eindrücke aufs Herz mehr oder weniger entwickeln; oder das Kind empfand einmal ein Object sehr tief. Nur sind entweder viele von den folgenden Vorstellungen gleichartig, und gesellen sich zu den vorhergehenden, schmiegen sich an sie an, und so bestimmen sie schon den Character des Kindes auf einen Punkt, daß nicht leicht heterogene Gegenstände sie aus dieser Lage verdrängen können; an diese aufgefaßte adsociirte Ideen erinnern wir uns nachher leicht wieder. Sind aber die folgenden Ideen ungleichartig, so sind sie stärker oder nicht; sind sie dieses, so bringen sie übrigens keine [16]merkliche Sinnesveränderung vor; man kann noch behaupten, es bleibe derselbe Seelenzustand, — dieselbe Seelenrichtung; denn sie gleiten vorüber und lassen kein Gepräg ihrer Existenz zurück; die in dem Menschen da gewesene Modification der Seelenorgane dauert fort im ersten gerührten Tone, bis entweder zu viele, obgleich minder lebhafte, Vorwürfe sie verwirren, dann verdunkeln, dann vernichten; sich selbst als Tyrannen der Seele und ihrer Stimmung eindrängen, oder bis ein andrer gleichartiger kömmt, und denselben Seelenzustand befestigt. Wenn aber die ungleichartigen Eindrücke stärker sind, — so muß nothwendig die Wirkung dieser überlegenen Kraft diese seyn, daß sie die alten Besitzer, (sind sie noch nicht zu alt, und haben sie sich dem ganzen Menschen noch nicht zu nothwendig und wegen verschiedner Gründe zu interessant gemacht) vertreiben, — sich ihrer Stelle versichern, — und nun mit dem nehmlichen Rechte und vielleicht wieder mit der nehmlichen Gefahr die Regierung der Seele führen.«

Der Herr Verfasser urtheilt, wie mich dünkt, sehr richtig, daß die Lebhaftigkeit der Empfindungen nicht, wenigstens nicht immer, der Grund von ihrer längern Dauer sey, sondern daß, wenn Empfindungen lange fortdauren sollen, ein gewisser Zustand der Seele, eine gewisse innere Stimmung und Richtung derselben, die ihr natürlich sey, vorausgesetzt werden müsse. Aus unzähligen Bei-[17]spielen, sonderlich sehr lebhaft, sehr feurig empfindender Menschen wissen wir, daß die lebhaftesten Empfindungen und Vorstellungen gemeiniglich viel zu schnell vorüber gehen, als daß sie sich, um mich so auszudrücken, tiefer in den Grund der Seele hinabsenken sollten. (Ja! in der Lebhaftigkeit der Gefühle liegt sogar der vorzüglichste Grund, daß jene Menschen sollten einen fixirten Character erlangen können.) Die Seele wird dadurch entweder wie betäubt, so daß sie sie nicht mit gehöriger Aufmerksamkeit auffassen, und mit ihren übrigen Vorstellungen in Reih und Glied stellen kann; oder es löscht eine lebhafte Empfindung die andre augenblicklich wieder aus, weil sie gleichsam nicht Platz, nicht Spielräume genug in unserm Gehirn haben; oder die Lebhaftigkeit überschreitet den Grad des Angenehmen oder Unangenehmen der Empfindung, welcher mit der gegenwärtigen Disposition unsrer Natur heterogen ist, so, daß wir der Lebhaftigkeit der Eindrücke augenblicklich entgegen zu wirken anfangen. Nach psychologischen Gesetzen wird durchaus zur Dauer einer jeden Empfindung a) eine Receptivität der Seele erfordert, vermöge welcher sie sich geneigt fühlt, diese oder jene Empfindung vorzüglich aufzunehmen, (ein positives Streben zu jener Empfindung) weil sie entweder mit andern gleichartigen in der Seele schon vorhandenen eine Aehnlichkeit hat; oder weil eben die Seele müßig ist, und mit der ersten besten Sen-[18]sation ein gewisses Leere ausfüllen möchte; oder weil sie die Seele in einem ihr jetzt eben behaglichen Zustande des Vergnügens, des Schmerzens, oder des Denkens überhaupt befestigen. b) Eine in dem Augenblick der einwirkenden Empfindung erweckte Aufmerksamkeit, entweder auf der Totalempfindung oder auch nur auf einzelne Theile derselben, vermöge welcher sie das Ganze augenblicklich wieder in sich zurückrufen kann; — und diese Aufmerksamkeit kann theils durch eine Geneigtheit der Seele zu gewissen neuen Empfindungen erhalten werden; theils auch durch ein negatives Streben die Empfindung nicht zu behalten, oder durch eine Abgeneigtheit sie sich an andre Vorstellungen anschließen zu lassen. c) Ueberhaupt aber muß die im Augenblick der Empfindung erregte Aufmerksamkeit durch den Contrast der Lebhaftigkeit unterhalten werden; oder um mich anders auszudrücken, die Seele muß in sich nicht bloß ein momentanes, sondern anhaltendes Gefühl bekommen, daß die neue Empfindung viel stärker, viel auffallender und frappanter ist, als die andern Empfindungen, die sie zu gleicher Zeit erhielt, oder die sich schon in die Seele gelagert hatten; oder sie muß sich die Verhältnisse wenigstens einigermaßen deutlich vorstellen, in welchen die neue Sensation mit andern gleichartigen schon vorhandenen steht. d) Endlich muß vornehmlich mit allen diesen zur Dauer einer Empfindung erforderlichen Umständen der jedesmalige [19]Zustand der Organe harmoniren, weil es bekannt ist, daß Empfindungen bald länger, bald weniger fortdauren, je nachdem unser Nervensystem so und nicht anders gestimmt ist.

Daß die Vorstellungen von Figuren und Größen in unsrer Kindheit, wie der Herr Verfasser von sich erzählt, gemeiniglich die lebhaftesten sind, und am längsten fortdauren, ergiebt sich nicht nur daraus, daß wir uns anfangs vermöge der Natur unsers Denkens gar nichts ohne Raum und Ausdehnung vorstellen können, und an diese, obgleich dunkeln, Begriffe gleichsam jede Operation der Seele, wie an einem Stammbaum anhängen; theils auch daraus, weil an sich schon die Gesichtsvorstellungen einen höhern Grad der Lebhaftigkeit vor andern haben, indem uns die übrigen Sinne noch nicht so sehr zerstreuen. Vielleicht liegt auch selbst in der Natur des Lichts ein Grund, warum uns sichtbare Gegenstände tiefer eingedrückt werden; so wie in der originellen Beschaffenheit der Gesichtsfiebern.

Zu den Eindrücken, die am längsten aus unsrer Kindheit in der Seele fortexistiren, gehören unstreitig auch die der Farben, worüber man einen merkwürdigen Aufsatz im 2ten Stück dieses Magazins 1. Band. S. 82 nachlesen kann, was unstreitig daher rührt, weil die Eindrücke von Farben in der Seele eine sehr [20] einfache Totalvorstellung von einer gewissen Ausdehnung veranlassen, und die Gegenstände gleichsam in den hellern Vordergrund unsers Beobachtungskreises stellen.

Uebrigens reichen die Erinnerungen aus den ersten Jahren unseres Lebens, diese nie versiegenden Quellen unsrer nachfolgenden süßesten Freuden, selten über das vierte Jahr hinaus. Die Seelenorgane müssen erst eine gewisse Stärke erhalten, ehe sie Eindrücke dem Gedächtnisse auf lange Zeit überliefern können; obgleich die Denkfähigkeit noch keine Fortschritte gemacht zu haben braucht, da das Gedächtniß, um mich so auszudrücken, mehr animalischer Natur ist. Um die ersten Eindrücke unsrer Kindheit aufzubewahren, und uns nicht ganz unwissend in der ersten Geschichte unsres Daseyns zu machen, heftete die Natur jene Zurückerinnerungen an gewisse Gemüthsbewegungen an, ohne welche wir vielleicht in den ersten Jahren unsrer Kindheit unser Gedächtniß gar nicht üben würden, — nehmlich Furcht und Freude. Wir werden dieß fast bei allen Zurückerinnerungen aus unserer Kindheit bemerken, indem wir uns nicht leicht an etwas erinnern, ohne daß das Herz Antheil an dem Gegenstande der Erinnerung genommen hätte. Weil aber die Empfindungen in der Kindheit, die mit einer Furcht vergesellschaftet waren, gemeiniglich von einer geringern Anzahl, als die angenehmern sind, weil wir als Kinder Kum-[21]mer und Mißmuth nur noch wenig kannten, so behält auch das Zurückerinnern an fröhliche Scenen unsres frühern Lebens hernach immer die Oberhand, und daher entsteht dann das seelige Gefühl des Herzens, welches aus den Zurückerinnerungen aus unsern Kinderjahren entspringt;— ein Gefühl, dem an einer innern Herzlichkeit und Lebhaftigkeit nicht leicht eine andre Freude in spätern Jahren gleich kommt, und welches uns gewiß von der gütigen Gottheit zur Versüßung unsres mannichfaltigen Kummers in unsern spätern Jahren mitgetheilt worden ist. Wie sehr aber eine Menge unangenehmer Eindrücke in der Kindheit auf den ganzen nachfolgenden, selbst moralischen Character des Menschen würken, und ihm eine ganz eigenthümliche finstre Stimmung geben können, aus welcher er sich hernach nie wieder herausarbeiten kann, lehrt die große Anzahl düstrer, boshafter und schiefer Menschen, die in ihrer Jugend durch eine unbarmherzige Erziehung verdorben wurden.

Auszug aus einem Briefe. Haag den 15ten Dec. 1785, vom Herrn van Göns.

Dieser Brief enthält einige merkwürdige psychologische Phänomene, davon vornehmlich das erstere: Sonderbare Aeußerung der Gedächtnißkraft im Traume, unsre Aufmerksamkeit und [22]Beleuchtung verdient. Hier ist das ganze sonderbare Factum, das um so viel authentischer ist, da es der gelehrte Herr Verfasser an sich selbst beobachtet hat.

»In meinem eilften Jahre besuchte ich die lateinische Schule zu Utrecht, wo in der Klasse, in welcher ich saß, eine gewisse Rangordnung unter den Schülern statt fand, die sich nach dem jedesmaligen Beruf des Fleißes und der Aufmerksamkeit richtete, und sich also oft veränderte.

Dasjenige, worin man wetteiferte, waren bald lateinische Exercitien, bald Lectionen zum Auswendiglernen u.s.w., und unter andern auch Fragen, welche grammaticalische Regeln oder lateinische oder griechische Phrasen betrafen, und von dem Lehrer zuerst an den obersten, und wann dieser sie nicht beantworten konnte, an den folgenden u.s.w. gethan wurden; welcher denn die Antwort wußte, wurde über denjenigen gesetzt, der sie nicht wußte.

Nun träumte mir einstmals, daß ich mich in der lateinischen Klasse befand, daß der Lehrer eine Frage über den Sinn einer lateinischen Phrasis aufwarf, und daß ich grade der erste in der Reihe war, und den festesten Vorsatz bei mir empfand, diesen Platz, wo möglich, zu behaupten.

Da mir aber nun die Frage wirklich vorgelegt wurde, blieb ich stumm, und zerbrach mir [23]vergebens den Kopf, um die Antwort darauf zu finden.

Ich sahe denjenigen, der nach mir saß, Zeichen der Ungeduld von sich geben, um befragt zu werden; — ein Beweis, daß er die Antwort wußte. —

Der Gedanke, an diesen meine Stelle abtreten zu müssen, setzte mich beinahe in eine Art von Wuth; aber ich suchte vergebens in meinem Kopfe nach, und konnte den Sinn der Phrases auf keine Weise herausbringen.

Der Lehrer ermüdete endlich, mir länger Zeit zu lassen, und sagte zu dem Folgenden: nun ists an Dir.

Und der Schüler setzte sogleich den Sinn der Phrases deutlich auseinander, und diese Auseinandersetzung war so einfach, daß ich gar nicht begreifen konnte, wie ich nicht darauf hatte verfallen können.« —

Der Herr Verfasser setzt am Ende hinzu: »daß es ihm unbegreiflich sey, wie die Seele, welche mit der größten Anstrengung vergebens etwas sucht, in einer Minute, oder vielmehr in einer Secunde, die Seele werden kann, die eben dieselbe Sache sehr gut weiß, indem sie sich zugleich einbildet, es selbst nicht zu wissen, sondern es eine andre sagen zu hören.«

Ich glaube nicht, daß der Herr Verfasser den Sinn der Phrases, indem er sich ihn zu finden an-[24]strengte, damals schon wirklich wußte, und sich ihn, nicht zu wissen, nur eingebildet habe, er konnte ja ihn bei aller Anstrengung in dem Momente wirklich nicht herausbringen. Vielmehr ists mir sehr wahrscheinlich, und anders läßt sich dieß Phänomen wohl nicht erklären, — daß der junge Schüler in dem Moment, daß der andre die Frage zu beantworten anfing, die Beantwortung selbst sogleich fand, und da er sie selbst nicht geschwind genug mittheilen konnte, sie dann dem zweiten Schüler in den Mund legte. Es läßt sich nicht begreifen, daß die menschliche Seele zu gleicher Zeit etwas wissen und auch nicht wissen sollte, und es wäre ein unerhörter Grad der Einbildungskraft, daß wir uns einen Gedanken als nicht existirend in uns denken sollten, dessen Daseyn wir doch wirklich in uns wahrnehmen.

Vielleicht war auch das erste Wort, das der zweite Schüler aussprach, und das die Seele des ersten dem andern auch wohl nur zufällig in den Mund legte, eine gelegentliche Ursach, daß durch eine Association der Ideen der Sinn der Phrases vom Verfasser hinterher gefunden wurde; eine Erscheinung, die nichts ungewöhnliches im Traume ist. Wir träumen, daß der andre etwas wissen könne, was wir sonst gewußt haben, worauf wir aber in dem Augenblick uns nicht gleich besinnen können — und lassen dann durch eine Verwechselung unsrer Person mit einer andern, ihr (der letztern) etwas [25]finden, was wir doch selbst gefunden hatten. Daß oft die einfachsten Probleme von uns im Traume nicht aufgelöst werden können, ist etwas sehr gewöhnliches, weil das Gedächtniß oft seinen Faden so sehr verloren hat, daß es sich nicht einmal auf die alltäglichsten Dinge besinnen kann. Aus diesem Gedächtnißmangel, der wohl vornehmlich durch die im Schlaf entstandene Erschlaffung der Gehirnfiebern herrühren mag, entstehen dann die sonderbarsten Umtauschungen von Vorstellungen und Empfindungen, und die häufigen Transgressionen der Einbildungskraft in idealische Welten, wozu es in der wirklichen kein Urbild giebt.

Unempfindlichkeit gegen ihren Zustand bei Wahnwitzigen,
von eben dem Verfasser. Seite 91.

Herr van Göns hatte verschiedene Jahre lang ein Mädchen von vierunddreißig bis sechsunddreißig Jahren beobachtet, die so rasend war, daß man sie nackend lassen mußte, weil sie alle ihre Kleider sogleich zerriß.

»Ich habe, sagt er, dieß arme Geschöpf, welches schon nichts als Haut und Knochen war, mehr als hundertmal nackend auf dem Stroh liegen gesehen, in einer Kammer, die nichts als ein eisernes Gitter hatte, wodurch das Licht hereinfiel, und [26]ohne Fenster war, weil sie die Fensterscheiben, so wie alles zerbrechliche, gleich zerbrach.«

Dieses Mädchen bekam endlich ihren Verstand wieder. Herr van Göns befragte sie nachher wegen der physicalischen Empfindungen, die sie in Absicht ihres Zustandes gehabt hätte, und sie gab ihm zur Antwort, daß sie sich vollkommen erinnerte, nie die geringste Empfindung von Kälte, oder sonst einer Ungemächlichkeit gehabt zu haben; ausgenommen bei Gewittern, wo sie viel Schrecken und Angst ausstand, und sich allemal tief ins Stroh verbarg, oder in einen Winkel verkroch. — »So wahr ists, setzt der Herr Verfasser am Ende hinzu, daß es sowohl von Seiten der physikalischen Empfindlichkeit, als von Seiten der Moral selbst, in den Situationen, die uns oft am schrecklichsten vorkommen, Schadloshaltungen giebt, die bewundernswürdig sind.«

»Ich habe, sagt van Swieten in seinem Commentar zu Börhavens Aphorismen, B. III. S. 521, a einen Tollen gesehen, der alle seine Kleider zerriß, und mehrere Wochen lang nackend auf dem Stroh an einem gepflasterten Orte bei dem heftigsten Winter lag. Er aß zuweilen acht Tage hindurch nichts, darauf schluckte er alles, was man ihm gab, mit Heftigkeit, und sogar seinen eigenen Koth hinein, falls ihm auch die besten Speisen im Ueber-[27]fluß gegeben wurden. Er blieb viele Wochen lang Tag und Nacht wachend u.s.w.« —


Herr van Göns führt S. 94 eine Erinnerung aus den frühesten Jahren seiner Kindheit an, die in der That sehr selten ist. Er erinnerte sich nehmlich eines Besuchs, wozu ihn seine Anverwandten mitgenommen hatten, des Hauses, worin er war, und mehrerer Umstände, und zwar aus einer Zeit, wo die meisten Kinder noch ganz unfähig sind, Gedächtnißeindrücke zu behalten; er war nehmlich damals ungefähr anderthalb Jahr alt. Wir wünschen sehr, daß der Herr Verfasser fortfahren möge, zur Bereicherung der Seelenlehre mehrere Beobachtungen dem Publico mitzutheilen, da er, nach seiner Versicherung, schon lange angefangen hat, Materialien zu einer Experimentalseelenlehre zu sammeln.

C. F. Pockels.

Die Fortsetzung folgt.

Erläuterungen:

a: Erste Ausgabe van Swieten 1742-1772. Bd. 3 erschien 1755 in dieser Ausgabe. Es gab aber viele Ausgaben und Nachdrucke und das Werk wurde ins Englische und ins Deutsche übersetzt (van Swieten 1755-1775).