ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Fortsetzung der Revision des 4ten, 5ten und 6ten Bandes dieses Magazins.

Pockels, Carl Friedrich

Seelenkrankheitskunde.

Das Gutachten über den Gemüthszustand des verabschiedeten Soldaten Matthias Matthiesen und des Züchnermeisters T..., eine Schatzgräbergeschichte vom Herrn Metzger, (4ten Bandes 2tes Stück Seite 25 ff.) ist ein neuer Beitrag zu der Erfahrung, daß die Menschen sich durch nichts leichter, als durch chimärische Hofnungen künftiger Glücksgüter täuschen lassen. Die Erzählung gegenwärtiger Geschichte zeigt es ganz deutlich, wie der Soldat Matthiesen auf seine Schatz-[2]gräbergrillen gekommen ist; er war ein unwissender Mensch, der von natürlichen Dingen und ihren Ursachen wenig Kenntniß hatte, ob er sich gleich mit Chirurgie und Baderkunst abgab. In seinen Diensten bei einem herumreisenden Charletan, welcher sich für einen Kaiserl. Königl. Leibarzt ausgab, mag er seinen Kopf mit einer Menge abergläubiger Ideen vollgepfropft haben, bis er endlich durch Lesung unsinniger Bücher so weit gebracht wurde, daß er sich mit der Verbannung der Geister und mit Schatzgraben abgab.

Man hat sich oft gewundert, daß in neuern Zeiten dergleichen Leute, Schatzgräber, Geisterbanner, Geisterbesprecher, Geisterseher, und wie diese Narren alle heissen mögen, wieder so vielen Unfug zu treiben anfangen; allein sie haben ihn immer getrieben, und werden ihn treiben, so lange die Menschen sonderlich in niedern Ständen die Köpfe von unterirdischen Geistern und von verborgenen Erdschätzen noch so voll haben. Wer mit gemeinen Leuten wenig umgegangen ist, kann es kaum glauben, wie sehr der Pöbel, der Vornehme nicht ausgenommen, an jenen Possen hängt, und wie schwer er sich davon durch Vernunftgründe abbringen läßt. Ich habe oft Gelegenheit gehabt, dem Ideengange des gemeinen Mannes hierin nachzugehen, und habe fast immer gefunden, daß seine abergläubischen Grillen mit seinen schiefen Religionsbegriffen von einem Teufel in der genauesten Verbindung stehen. Außerdem [3]haben die meisten Schatzgräbergeschichten so etwas Sonderbares, Seltsames und Außerordentlichscheinendes an sich, daß sie die zügellose Einbildungskraft des gemeinen Mannes leicht fesseln, und die Liebe zum Wunderbaren ganz vorzüglich nähren.


Geschichte eines sonderbaren Wahnsinnes, und dadurch am Ende verursachten Mordes, vom Herrn D. Glawing zu Brieg. (4ten Bandes 2tes Stück Seite 32 ff.) Der Mann, dessen sonderbare Geschichte hier erzählt wird, hatte schon in frühern Jahren einen Ansatz von Wahnwitz. Er entlief seinen Eltern und nährte sich vom Holzschlagen, bis an den Augenblick, als er der Mörder eines andern wurde. Er arbeitete übrigens emsig, redete öfters vernünftig, unvermuthet aber fiel er in alberne Reden. Er ging in keine Kirche, und arbeitete an Sonn- und Festtagen, wenn er nicht mit Gewalt davon abgehalten wurde. Er lästerte öfters Gott, hieß alle Menschen Hunde. Wenn er seine Mitarbeiter beten sah, wurde er unwillig, und sagte: ihr Narren! ich habe wohl einstens auch einmal im Buche gebetet, weil ich aber sehe, daß dieses Plarren zu nichts taugt; so unterließ ich dieses. (Es ist eine sonderbare Erscheinung bei vielen Wahnwitzigen, daß sie sich nichts aus dem, was Gottesdienst und Religion angeht, machen, und sich hierin oft eine auffallende Freiheit im Denken erlauben.) Zu [4]einer andern Zeit sah man ihn einen Klotz ergreifen, und sich damit an die Brust und den Kopf zu wiederholten malen dergestalt schlagen, daß andere sich davor entsazten; ja er verlangte einst von einem andern Kohlenbrenner, mit dem er im Walde arbeitete, daß er ihn todt schlagen sollte. Er aß Hunde, Katzen, Ottern und Füchse. Wenn ein Gewitter am Himmel war; so lästerte er Gott, und pflegte zu sagen: er treibe Leichtfertigkeit. Wenn ihn seine Raserey überfiel; so fing er an zu lachen, und mit sich selbst zu sprechen, sich mit einem Stück Holz oder Axt zu schlagen, und so ein Anfall dauerte oft zwei bis drei Tage, in welchem Zeitraume er sich auch bei Nachtzeit mit einem Knippel heftig zerschlug. Ja sein Wahnsinn ging öfters so weit, daß er mit einem Messer sich die Brust aufrizte, und mit einer stumpfen Axt auf den Unterleib hauete, wobei er sagte: ich wünschte, daß ich mich in kleine Stücken zerhauen könnte, ich wollte mir die Därme selbst heraus ziehen, denn aus den Stücken würde doch wieder ein Ganzes; ich habe einstens schon in der Erde tod gelegen, und bin doch wieder aufgestanden.*) 1 Einen Hund schlachtete er, warf ihn sodann in ein mit Wasser angefülltes Loch, zehrte davon vier Wochen, obgleich die neben ihm arbeiten-[5]den Kohlenbrenner es kaum vor Gestank aushalten konnten. Ein Bauer schenkte ihm ein altes abgenuztes Pferd, dieses schlachtete er, zog es ab, und speisete lange Zeit davon. — Er aß noch schmutzigere Gerüchte, und unternahm noch sonderbarere Handlungen, die man in der Erzählung des Ganzen nachlesen kann. Wie leicht wahnsinnige Leute zum Zorn gereizt werden können, und wie äußerst gefährlich es ist, sie in Freiheit herumgehen zu lassen, was doch zur Schande einer vernünftigen Polizey so oft geschieht, zeigt sein Mord, den er bloß deswegen an einem andern Bauer begieng, weil er ihn einigemahl mit Ernst Kohlen aufzuladen antrieb, und deswegen in einen Wortwechsel mit dem Bauer kam. Er ergrif plözlich seine Kohlenhacke, und schlug sie dem Bauer mit einer solchen Gewalt in den Kopf, daß sie darin stecken blieb. Der unglückliche Mann starb den andern Tag darauf an dieser Verwundung, und der unsinnige Mörder ward auf Zeitlebens ins Zuchthaus gebracht. Auch hier trieb er seine Tollheit fort, drohete oft, die andern Inquisiten zu erschlagen, forderte Hunde und Katzen zu essen, und lachte über alle Religionserinnerungen.

Der Wahnsinnige Walock Flaccus, so hieß der Mörder, gehörte offenbar zu den tollen Leuten, bei welchen das ganze Gehirn die meiste Zeit in Verwirrung gerathen ist, und die Anzahl dieser Wahnsinnigen ist die größte. Sie unternehmen täglich eine Menge alberner Handlungen, wovon man kei-[6]nen Grund angeben, und die man nicht aus einer vorhergegangenen bestimmten Idee erklären kann. Daher fallen sie im Gespräch augenblicklich von einem ins andere; der Faden ihrer Begriffe reist schon wieder, ehe sie ihn noch angeknüpft haben, und sie haben durchaus nicht mehr die Kraft, die Seele auf einen einzigen Punct mit Nachdenken zu heften. In dem Uebereinanderhineilen der Ideen, ohne daß eine in der andern einen Grund zu haben scheint, besteht der erste Anfang alles Wahnwitzes, oder auch in dem Mangel der Kraft, einen einmahl gefaßten Gesichtspunct einer oder mehrerer Ideen gar nicht mehr verrücken zu können, welches bei den Wahnsinnigen der Fall ist, die eigentlich nur an einer Idee krank liegen, übrigens aber ganz vernünftig sind, wie bei dem Mann der Fall war, der sich Gott der Vater zu seyn einbildete, und deswegen sich über die Narrheit eines andern nicht satt lachen konnte, welcher sich für Gott den Sohn hielt, weil ersterer als Gott der Vater besser zu wissen glaubte, wer sein Sohn seyn könne.

Ueberspannter Stolz und Liebe sind ohnstreitig, nebst vielerlei körperlichen Ursachen, die sich sollten richtig angeben lassen, die gewöhnlichen Quellen des Wahnsinnes, sonderlich beim andern Geschlecht; ein Beweis, daß jene Leidenschaften die allergrößten Erschütterungen des Gehirns hervorzubringen im Stande sind; den aus Stolz Verrückten geht es gemeiniglich wie den Betrunkenen; sie ver-[7]theidigen sich mit größter Lebhaftigkeit gegen alle Vorwürfe, daß sie ihren Verstand verlohren hätten, so wie diese es selten zugeben, daß sie ihr Gehirn berauscht haben. Ich erinnere mich, daß mir einst ein Wahnsinniger die Gründe genau detaillirte, daß er seinen Verstand nicht verlohren haben könne, und die Gründe waren nicht unvernünftig. Leute hingegen, die blödsinnig gebohren werden, gestehen gemeiniglich den Mangel ihres Verstandes laut ein, und ihre Verrücktheit ist selten so gefährlich, als die, derjenigen, welche ihren Verstand in spätern Jahren verliehren.


Auszug aus einem Briefe. Stralsund. (4ten Bandes 2tes Stück. Seite 38 ff.)

Enthält Beiträge zu den tausend und abermahl tausend Erzählungen von Visionen, jener so bekannten Spielereyen der menschlichen Einbildungskraft. »Die Gattin des Herrn Stadtmusikus Kahlow in Stralsund liegt in Wochen. Sie wacht. Eine menschliche Figur, als Türk oder Orientaler gekleidet, stellt sich neben die Stubenthür. Das gute Weib glaubt, ihr Mann habe sich verkleidet, sie ruft ihm, sich ihr zu nähern, allein vergebens, die Figur bleibt auf ihrem Posten stehen. Endlich fällt ihr ihr Bruder ein, den sie zärtlich liebte, und der beim Abschiede nach Constantinopel, wohin er vor mehrern Jahren gegangen, ihr gesagt hatte: Schwester! wenn ich [8]weit von dir gerissen, sterben sollte, denn überbringe ich dir selbst die Todespost. Nun erblickt sie in dem täuschenden Manne den verlohrnen Bruder, schreit auf: ach Leopold! so hieß der Bruder, und weg ist das Bild!« —

Dies Phänomen ist wohl nicht schwer zu erklären. Was ist natürlicher, als daß die Wöchnerinn ihren geliebten nach der Türkey gereisten Bruder sich öfters in orientalischer Kleidung gedacht hat, und daß sie durch einen Ideensprung auch wohl einmahl ihrem Manne ein solches Kleid andichtete, zumal da sie als Schauspielerinn, oder Täntzerinn viel so gekleidete Masquen gesehen haben mag. Der Mann antwortete nicht, da sie ihm ruft — nun fällt ihr eben so natürlich ihr entfernter Bruder ein, sie trägt seine Gesichtszüge vermöge der Einbildungskraft in das Bild über, und glaubt nun würklich ihren Bruder zu sehen; das Bild der Imagination wird so stark, als eine würklich sinnliche Anschauung, was so unzählig oft bei lebhaften Leuten der Fall ist. In allen diesen Ideenfolgen liegt nichts Ungewöhnliches. Hiezu kommt noch der vom Herrn Einsender sehr richtig bemerkte Umstand, daß sie eine Wöchnerinn, folglich eine Kranke war, deren Nervensystem angegriffen und in einer Zerrüttung war. »Einer solchen oft ganz kurz daurenden Disposition, (fährt der Verfasser sehr gründlich zu raisonniren fort,) und sonderlich der körperlichen Theile, die uns Ideen durch äußre sinnliche Vorstellungen zuführen, schrei-[9]be ich das zu, was wir Phantasmen nennen, da unserm Auge das Schreckbild als würklich dastehend scheinen kann, was unsere Imagination einst bestürmt hat, und bin daher der Meinung, daß wir, noch unbekannt mit dem Knoten des Bandes, welches Körper und Geist so dicht verknüpft, dem Geiste zuschreiben, was wir dem Körper beimessen sollten!« —

Daß das Gehirn der Wöchnerinnen sehr oft durch die Geburt auf eine außerordentliche Art angegriffen wird, lehret nicht nur eine Menge auffallender Beispiele von Verstandesverrückungen bei gebährenden Weibern, sondern noch sehr viel andere sehr merkwürdige Phänomene ihrer verworrenen Einbildungskraft. Bonnetus erzählt von einer Frau, welche im Wochenbette in eine solche Unsinnigkeit gerieth, daß sie sich für eine unterirdische Furie ausgab, plözlich aus dem Bette aufsprang und mit grimmigem Gesichte ausrief: Ich bin die höllische Tisiphone, ich bin ein brennender Geist! und fiel mit den Nägeln ihrer Hände das Gesicht und die Augen ihres Mannes an.


Die zweite im gegenwärtigen Briefe vorkommende Vision hat der Herr Einsender dem Herr Professor M. in G... nacherzählt, und dieser soll das Factum von einem sehr glaubhaften und unverwerflichen Zeugen, dem es wiederfahren ist, gehört haben. »Einer seiner Freunde (des Professor M..) der es ihm mit der größten Ueberzeugung erzählt, so daß er auch in Betracht [10] der Glaubwürdigkeit des Erzählers kein Mißtrauen in die Wahrheit des Vorfalls setze, sey einst Abends aus einer Gesellschaft, in der man bis zur Munterkeit ein Glas Wein getrunken, zu Hause gekommen, und weil sein Bedienter grade nicht zu Hause gewesen, selbst in die Küche gegangen, um sich eine Pfeiffe anzuzünden. Die heitere Stimmung seines Herzens, da er kurz zuvor eine Gesellschaft scherzender Freunde verlassen hatte, konnte also gar nicht Ideen der Art in ihm erwecken, die seinem Auge ein so trauriges Bild vorgerückt hätten, als er beim Hinübergehen über die Diele erblickte. Hier sahe er eines seiner Kinder in völliger Todenkleidung im Sarge liegen. Er schrickt zurück, und schweigt, um abzuwarten obs Täuschung sey. Eben dieses Kind aber, das er als Todten sahe, wird, wo ich nicht irre, in Zeit von acht Tagen krank, stirbt, und wird auf dieselbe Stelle, und in derselben Kleidung hingesezt!« —

Ich läugne, daß der Freund des Herrn Professor M.. bei seiner Nachhausekunft aus einer fröhlichen Gesellschaft durchaus so gestimmt gewesen seyn müsse, daß ihm ein solches Schrekbild nicht habe in die Seele kommen können, — solches Phantasma der Einbildungskraft, denn für eine würkliche Sensation von aussen wird man doch das Ding nicht halten können, man müßte denn verzweifelt abergläubig seyn. Wenn wir im Genuß der Freude auf uns Acht geben, sonderlich, wenn das fröhliche [11] Geräusch um uns her still zu werden anfängt; so werden wir oft bemerken, daß unsere Seele allerley schwarze Bilder durchkreutzen. Wir wissen nicht woher sie kommen, und wohin sie wieder verschwinden, obs gleichwohl ausgemacht ist, daß sie abgerissene Zweige einer verstekten Ideen association seyn müssen. Ist die Vorstellungskraft nun just sehr lebhaft gemacht worden, was nach einem Glase Wein sehr wohl geschehen kann, kommt die Dunkelheit der Nacht hinzu, so scheint es mir sehr natürlich, daß ein Vater sein Kind im Sarge vor sich liegen sehen kann, ohne einmal hinzu zu nehmen, daß vielleicht einige Zeit vorher, vielleicht in der fröhlichen Gesellschaft selbst, von einem todten Kinde gesprochen worden ist, daß man einer ähnlichen Vision erwähnt, oder daß vielleicht eine Veränderung in Sehnerven ein dergleichen unangenehmes Bild hervorgebracht hat. Es kommen bei solchen Visionen gemeiniglich so viel Umstände zusammen, die sie zweifelhaft machen, daß man oft nur wenig Prüfungsgeist haben muß, um die Sache von ihrer täuschenden Seite kennen zu lernen, wozu aber die getäuscht worden, selten geschikt sind, weil sie im Augenblik der Ueberraschung nicht über sich selbst und die mitwürkenden Nebenumstände nachdenken können, und die Lebhaftigkeit des imaginirten Bildes auch hinterher als geglaubte würkliche Erfahrung ihnen alles Raisonnement über die Sache ekelhaft macht. Daß das Kind einige Zeit nachher würk-[12]lich krank wird, und stirbt, scheint nun freilich etwas außerordentliches zu seyn, allein es entstehen hier wieder eine Menge Fragen. War das Kind nicht überhaupt schon kränklich; hat die Erzählung der Erscheinung wo nicht unmittelbar auf das Kind, aber doch vielleicht durch die Mutter, durch die Amme auf dasselbe würken können, herrschte nicht grade damahls eine Epidemie? — oder was mir auch sehr wichtig scheint, glaubte nicht der gute Vater, als er sein todtes Kind würklich vor sich liegen sahe, vorher einen solchen Anblick des Nachts gehabt zu haben, den er nicht gehabt hatte; so wie wir oft nach einer auffallenden Begebenheit darauf schwören sollten, daß wir schon vorher davon gewisse Empfindungen gehabt hätten, die wir doch gewiß nicht gehabt haben. Die menschliche Seele transferirt oft gegenwärtige Sensationen durch die Einbildungskraft auf längst vergangene Zustände ihrer Existenz, und glaubt hinterher Sachen vorher gesehen zu haben, die ihr vor dem Factum nicht in den Sinn gekommen sind. (Ich wünschte daß dieses Capitel der Seelenlehre von einem scharfsinnigen Kopfe einmal genau abgehandelt werden möchte.) Daß der Vater das Kind in der nehmlichen Todtenkleidung sahe, als es ihm vorher erschienen war, ist wohl nichts besonders, da ein Sterbe-Hemd, unter welchem man sich die Todten gemeiniglich denkt, der gewöhnliche Putz ist, den man uns in die Erde mit giebt. Auch werden die [13]Todten an den meisten Oertern auf die Diele gestellt.


Im 3ten Stück des 4ten Bandes hat uns in Absicht der Seelenkrankheitskunde vornehmlich das merkwürdig geschienen, was von dem ohnlängst verstorbenen Lauterbach in Wolfenbüttel erzählt wird. Dieser Mann, welcher sich in seiner Jugend auf die Theologie und Orientalischen Sprachen gelegt hatte, übrigens ein einsichtsvoller, verständiger Mann war, gehörte zu der Classe wahnsinniger Leute, welche an einer gewissen einzelnen Haupt-Idee krank liegen, die bei ihm darinn bestand, daß von der Beschaffenheit der Steine die Begebenheiten in der Welt abhingen. Der eine verkündigte nach seiner Meinung Pest, der andere Krieg, der dritte Feuersbrunst, und so alle Unordnungen und Unglüksfälle, die nur immer in der Welt vorkommen. Er sonderte daher alle solche bedeutende Steine sorgfältig von einander, und wenn er sie alle besäße; so würde von ihm das Schiksal der ganzen Welt abgehangen haben. Als vor einigen Jahren das große Erdbeben in Calabrien entstand, machte man ihm den Vorwurf: er wollte der Regierer der Welt seyn, und habe ein solches schrekliches Unglük nicht verhütet. Er entschuldigte sich kurz damit, daß er den Stein, wovon es abhänge, nicht habe habhaft werden können. Oft bemerkt man ihn auf der Straße [14]still stehen und seinen Blik unverwandt auf einen Stein richten. Er prophezeihet theure Kornpreise und andere Uebel daraus.

Auf seinem Zimmer hat er eine große Menge Kieselsteine groß und klein. Diese zu berichtigen ist er unermüdet. Haben sie ihre Kraft verlohren, dann wirft er sie weg, und sucht andere. Er hat eine große Menge in Gestalt eines Menschenskelets gelegt, wovon ein jeder einen der innern oder äußern Theile des Menschen bedeutet. Mit Hülfe dieser, wenn er sie nämlich alle komplet hat, welches inzwischen selten ist, kann er alle Krankheiten seiner Meinung nach kuriren. Kommt einer zu ihm und klagt: er habe die Schwindsucht; so steht er ruhig auf. Da kann man sagt er bald zu kommen, ich brauche nur diesen Stein hier umzudrehen, der bedeutet die Lunge, nun können sie getrost nach Hause gehn, ihre Krankheit wird sich gewiß geben. Hat er aber zum Unglük den Stein nicht, welcher den Theil, in dem die Krankheit sizt, bezeichnet; so sagt er es freymüthig und entschuldigt sich, daß er nicht des andern Wunsch befriedigen könne.

Noch einige andere sonderbare diesen seltsamen Mann betreffende Umstände kann man in der Erzählung des Herrn Voß selbst nachlesen. Es läßt sich, da man die Geschichte dieses Mannes nicht genauer kennt, nicht leicht entscheiden, wie die Idee, daß von den Steinen die Begebenheiten der Welt abhingen, zur Hauptanlage seines Wahnwitzes geworden [15]ist. Ohne alle Veranlaßung ist sie gewiß nicht entstanden. Vielleicht hat er in physisch-mystischen Büchern allerlei von der geheimen Kraft der Steine gelesen, vielleicht haben ihn symbolische Ausdrücke und Bilder, die in der Bibel von Steinen vorkommen, zuerst auf seine Grille gebracht. Es ist schwer von dergleichen Leute selbst zu erfahren, wie sie auf ihre albernen Meinungen gekommen sind, gemeiniglich wissen sie es auch selbst nicht, da jeder Wahnsinn eine überraschende und urplözliche Ursach zum Grunde hat, die eine oder mehrere verworrene Ideen zur herrschenden in der menschlichen Seele macht.


Die Seite 21 erzählte hypochondrische Grille ist nicht von Bedeutung. Ein milzsüchtiger Mann kann sich sehr leicht einbilden, daß er vergiftet worden sey. Wichtiger ist das, was der Herr K.. Gemeinheits-Commissarius Gädicke in Camin von sich selbst erzählt. Eine der bekannten Spaldingschen ähnliche Erfahrung.

H.. G.. geht aufs Feld, mit einer heitern Gemüthsstimmung, um zu sehen ob seine Arbeitsleute seine Befehle befolgt haben. Vergnügt kommt er bei ihnen an; aber nach einer viertel Stunde da er einem und dem andern etwas zur Arbeit gehöriges, wie gewöhnlich gelassen, in Erinnerung bringen und sagen will, findet er sich unfähig, seine Gedanken durch die gehörige Zusammenfügung der [16]Worte, nach der wahren Folge, ordentlich vorzubringen. Vielmehr kommt das hinterste Wort bald vorn, das mittelste bald hinten, das vorderste bald in die Mitte, und auch umgekehrt. Keiner seiner Leute konnte verstehen, was er eigentlich haben wollte. Aber seiner Vernunft war er indeß gewiß vollkommen mächtig. »Ich dachte, fährt er fort, ganz richtig, sahe dieses Auffallende nebst den Beurtheilungen von meinen Leuten ein, ich ließ mir aber doch von meiner Verlegenheit nichts merken; — sondern ging nach Hause zurük.« Auch auf dem Heimgehen dauerte diese Sprachverwirrung bei vollenkommnem gesunden Bewustseyn fort, bis ein Aderlaß die richtige Wortfolge wieder herstellte, und dem sonderbaren Zustande ein Ende machte.

Ich habe mich schon einmal bei Gelegenheit der Spaldingischen Erfahrung über dergleichen Seelenzustände erklärt, und will hier nur noch dies hinzusetzen. Bekanntlich denken wir durch Hülfe symbolischer Zeichen, vornehmlich der Worte, die jedesmal das Gedächtniß dem Gedanken, welcher ausgedrukt werden soll, wieder zuführt; aber die Seele denkt sich einen Satz, kann sich ihn denken, ohne daß sie sich die Verbindung seiner symbolischen Zeichen in der ordentlichen Wortfolge vorstellt, vorausgesezt, daß jener Satz ihr schon oft gegenwärtig gewesen ist, und sie eine deutliche Uebersicht seiner Bedeutung gehabt hat. Es giebt demnach jedesmal ein doppeltes Bewustseyn der Seele — des Satzes, [17] oder eigentlich des Sinnes des Satzes, und des Ausdruks, oder der Ausdrücke dieses Sinnes. Geht nun eine Verwirrung in den Gehirnfiebern vor, verliehrt das Gedächtniß die Kraft zu einem gewissen Gedanken seine ihm eigentliche Wortfolge herbeizuführen; so wird der Gedanke immer deutlich in der Seele vorhanden seyn, aber unwillkürlich werden sich die Worte untereinander werfen, gerade so wie der Herr Verfasser von sich erzählt. Wenn wir auf uns Acht geben, so werden wir oft bemerken, daß wir uns ein gewisses Object deutlich vorstellen können, ohne seine symbolischen Ausdrücke behalten zu haben, ob wir gleich immer ein Bedürfniß fühlen, den symbolischen Ausdruk ins Gedächtniß zurük zu bringen. Hiebei fällt mir ein, was Bonnetus von sich erzählt, daß er nehmlich, ob er gleich lange die Kräuterkunde gelehrt hatte, sich niemals auf das Wort Pimpinelle besinnen konnte, wenn er auch gleich dieses Gewächs vor sich sahe, und sonst ein gutes Gedächtniß besaß. Geßner führt in seinen neuesten Entdeckungen in der Arzneigelahrtheit. B. 1. S. 137 ff. a unter der Rubrik: Krankheiten der innern Sinne, ein merkwürdiges Beyspiel von Vergessenheit an, welches hier aufgezeichnet zu werden verdient. Ein Mann von 73 Jahren empfand im Anfang des Jänners (1770) einen Krampf in den Muskeln des Mundes, und ein Kützeln, wie vom Kriechen der Ameisen. Den 20ten Jänner bemerkte man bei einiger [18]Verwirrung der Gedanken einen besondern Fehler der Sprache an ihm. Er sprach zwar leicht und fließend; brauchte aber ganz ungewöhnliche selbgemachte Worte, die kein Mensch verstand. Die Anzahl dieser Worte ist nicht groß, aber sie werden oft nach einander wiederhohlt. Bisweilen gehen einige verlohren, und werden mit neuen ersezt. Auch spricht er Zahlen aus, wenn er schnell reden will. Gewöhnliche Worte braucht er mehrentheils in der rechten Bedeutung. Er weiß, daß er unverständlich spricht. Schreiben und Reden ist gleich unrichtig. Er kann seinen Namen nicht richtig schreiben. Schreibt er; so kommen eben solche neugemachte sinnlose Worte aufs Papier, als er ausspricht. Auch kann er nicht lesen, ob gleich mehr sinnliche Gegenstände die gehörigen Begriffe in ihm erwecken.

Noch ein anderes Beispiel dieser Art.

Ein Schulmann erkannte nach einer starken Apoplexie zwar Buchstaben und Worte, aber wenn er sie aussprechen wollte; so kamen ihm immer andere in den Mund, so groß auch sein Bestreben war, seinen Vorstellungen gemäß zu sprechen.


Die Seite 26 (3tes Stük 4ten Bandes) erzählte Genesungsgeschichte betraf doch wohl nichts anders als eine körperliche Krankheit.


[19]

Die Fragmente aus dem Tagebuche des verstorbenen R... S. 33. welche auch im 5ten Bande fortgesezt worden, enthalten manche wichtige Winke für junge Leute und für Eltern — wie gefährlich eine in die Seele gelegte Empfindsamkeit sonderlich durch den unnatürlichen Mißbrauch gewisser Triebe werden könne, und wie das Laster der Selbstbefleckung von so vielen aus Unwissenheit und Mangel einer genauen Kenntniß des menschlichen Körpers getrieben wird. Schilderungen über die Entstehung und Entwickelung unsrer Empfindungen, wie im gegenwärtigen Beitrage vorkommen, können manchen unbedeutend scheinen, weil sie zu individuell sind, indeß glaube ich, stiften sie für aufmerksame Leser doch gewiß den Nutzen, auf sich bei ähnlichen Gelegenheiten, sonderlich bei Anlagen zur Empfindsamkeit sehr Acht zu haben. Zeigen dergleichen Aufsätze zugleich die traurigen Folgen anfangs unbedeutend scheinender Triebe; so können sie bei der Erziehung der Kinder sehr lehrreiche und warnende Beispiele werden.


Verrückung aus Liebe. S. 43. Man wird bei dergleichen schreklichen Beispielen von der Heftigkeit dieser Leidenschaft immer bemerken, daß schon in früherer Jugend, in einer fehlerhaften Erziehung, der erste Grund ihrer nachherigen Ausbrüche liegt. Das Mädchen, dessen Geschichte hier erzählt wird, [20] wurde in ihrer Kindheit verzärtelt, zu einem eigensinnigen, mürrischen und empfindsamen Geschöpf erzogen. Wurde zu keiner weiblichen Arbeit angehalten, las beständig, und sie wurde bald eine fromme Empfindsame, die immer betete und sang. Starkes Getränke als Caffee, ferner häufiges Sitzen, und guter Appetit machten ihren Körper stark und beim Erwachen neuer Gefühle sehr reizbar. Sie verliebte sich auf einem Ball in einen Officier, (weswegen schon manches Mädchen toll geworden ist) aber sie bekömmt ihn nicht wieder zu sehen. Ein anderer Freier stellt sich ein, und sie muß auf Zudringen der Eltern ihm ihr Jawort geben. Ihr Gemahl gewinnt bald ihre ganze Liebe; aber endlich kommt ihr der Officier wieder in den Kopf— und endlich ist eine gänzliche Verrückung da. Beispiele der Art sind gar nicht selten; aber sie bleiben immer sehr traurige Beweise von der Heftigkeit weiblicher Leidenschaften.


Das Sonderbarste, was in diesem 3ten Stük des 4ten Bandes unter der Rubrik: Seelenkrankheitskunde etwas uneigentlich vorkommt, ist das, was Herr Kammerrath Tiemann von einer gewissen Frau erzählt, welche bei jeder neuen Schwangerschaft ein Glied eines ihrer Finger verlohren haben soll. Sie sagte: »drei oder vier Wochen nach einer neuen Empfängniß empfinde ich einen Schuß [21]am ersten Gliede eines Fingers. Das Glied des Fingers fängt denn an zu schwüren, mit unausstehlicher Hitze zu brennen; allgemach verwandelt sich das Geschwür in eine mit hellem Wasser angefüllte Blase; nachdem ich diese mit einer Nadel durchstochen, scheint das Fleisch um den Knochen in Fäulniß überzugehen. Endlich fällt der Knochen des beschädigten ersten Gliedes heraus, und alsdann ist in Zeit von vier und zwanzig Stunden der verstimmelte Finger ganz wieder zugeheilt.« Sie hat 7 Kinder und folglich auch 7 Glieder an verschiedenen Fingern verlohren. — Ich überlasse gern den Aerzten die Auflösung dieses physiologisch-psychologischen Rätzels.

C. F. Pockels.

(Die Fortsetzung künftig.)

Fußnoten:

1: *) Ein sonderbares Beispiel von einer Frau, welche glaubte daß sie gestorben sey, und sich wunderte, daß sie zu Zeiten auflebte kommt unten vor.

Erläuterungen:

a: Geßner 1778, S. 137f.