ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Fortsetzung der Revision des 4ten, 5ten und 6ten Bandes dieses Magazins.

Pockels, Carl Friedrich

Die fortgesetzten Bände dieses Magazins enthalten wieder eine Menge, zum Theil sehr interessanter Aufsätze zur Erfahrungsseelenlehre, und verdienen eben sowohl, wie die drei erstern, eine genaue psychologische Beleuchtung; — theils deswegen, um verschiedene Gegenstände der empirischen Psychologie, und so manches sonderbare Phänomen menschlicher Empfindungen in ein helleres Licht zu setzen; theils auch, und woran jetzt jedem Schriftsteller so viel gelegen seyn sollte, um den immer mehr einreissenden Glauben an die Einwürkung guter oder böser Geister auf das Gemüth und die [2]Handlungen der Menschen mit Gründen der Vernunft zu widerlegen, und durch Aufdeckung seiner unreinen Quellen zu beschämen.

Einige Aufsätze dieses Magazins, dessen erste und vornehmste Absicht Vernunftaufklärung über die Natur unsrer Seele, ihrer Kräfte und Empfindungen ist, haben zwar selbst das Ansehn, als ob sie wohl eher jenen lächerlichen Geisterglauben befördern, als hindern, und statt der Aufklärung Verfinsterung bewürken könnten; allein sie sind in keiner andern Absicht aufgenommen worden, als vernünftige Leser zum Nachdenken und Forschen über dergleichen Materien zu reizen, und gelegentlich neuen Stoff zur Bearbeitung noch so manches unangebauten Feldes der Psychologie zu liefern.

Ueberhaupt ist bei Fortsetzung dieses Magazins, das den Beifall der aufgeklärtesten Männer gefunden hat, und, zur Freude und Aufmunterung der Herausgeber, von vielen in Ausarbeitung psychologischer Schriften gebraucht worden ist, immer darauf Rücksicht genommen worden, — nicht sowohl eine, etwa einem oder dem andern von den Herausgebern eigene, Theorie der Seelenlehre beim Publikum geltend zu machen; sondern durch eine zweckmässige, vom sel. Mendelsohn angegebene, Zusammenstellung merkwürdiger psychologischer Phänomene, neue und interessante Materialien zum [3]Nachdenken über sich selbst zu liefern, — der Pädagogik, die ohne ein genaues Studium der empirischen und rationalen Seelenkunde, die mißlichste aller Wissenschaften ist, lehrreiche Winke zu geben, — dem Aberglauben und der Schwärmerei entgegen zu würken,— die Heilmittel gegen Krankheiten des Verstandes und der Einbildungskraft aufzufinden und zu untersuchen, — und die Speculation über die Natur unsres Geistes und seiner transcendentalen Vorstellungen zu zeigen, wie unsicher man bei jedem Raisonnement über eine immaterielle Substanz, dergleichen unsre Seele seyn soll, verfährt, wenn man dabei die Theorie der Erfahrung aus dem Auge verliert, und einer bloß abstracten Vorstellungsart, in den Untersuchungen über Form und Entwicklung der Denkkraft, folgen will. So leicht es sich auch aus einer richtigen Vergleichung der uns bekannten Eigenschaften der Materie mit der Natur des Gedankens und Selbstbewußtseyns folgern läßt, daß der menschlichen Seele eine unveränderliche, von Organisation und körperlichem Einfluß unabhängige Denkform, als letzte Bedingung der Begriffe, eigenthümlich sey, ohne welche sich nichts a priori erklären liesse: so werden wir doch bei den Handlungen unsres Geistes alle Augenblicke an den Einfluß unsrer Sinne, auf die Entstehung und Fortpflanzung unsrer Ideen und Empfindungen erinnert, und gegen jene ganz reinen Operationen der Seele, wenn sie auch als letzte Bedingungen [4]des Denkens, nach einer abstracten Philosophie ihre Richtigkeit haben sollten, mißtrauisch gemacht.

Je mehr wir die empirische Psychologie, oder die eigentliche Naturhistorie der menschlichen Seele studiren, und dem Ursprunge unsrer Begriffe nachzuspüren suchen, je mehr lernen wir es einsehn, was und wie viel die Erfahrung in jedem Moment der Denkkraft über die Form, Bildung und Entwickelung der letztern vermag, wie wir ohne jenes Vehikel keiner einzigen Ideenaufnahme fähig sind, wie die Erfahrung nach und nach einer jeden menschlichen Seele eine eigenthümliche Dimensionskraft ihrer Vorstellungen und Empfindungen, und eine nothwendige Richtung giebt, und wie endlich die feinsten Abstractionen des Denkens selbst, und die moralischen Begriffe von unserm Willen sich vermöge der Sprache, der Imagination, und der auf Vergleichungen beruhenden Schlußkraft auf empirische Grundsätze beziehen, die in der Natur unsrer Gefühle ihren Grund haben. Das Studium der menschlichen Seele kann daher der Kenntniß unsrer Organe, ihrer Einflüsse und Würkungen auf die ganze Ideenmasse des Menschen, ihrer Krankheiten und Vollkommenheiten auf keine Weise entbehren, und dieses Studium kann für jeden nachdenkenden Kopf äusserst lehrreich und interressant werden, ohne daß man grade mit Gewißheit angeben kann, was wir vielleicht nie werden können, ob unsrer Seele das [5] Denken als einer immateriellen, oder bloß materiellen Substanz zugeschrieben werden müsse.

Nach dieser kurzen Einleitung will ich nun die verschiedenen Aufsätze in den drei letzten Bänden der Erfahrungsseelenkunde zu revidiren anfangen, welche gewisse Krankheiten und Verirrungen der menschlichen Vorstellungskraft und Imagination betreffen, und zum Theil sehr lehrreiche Winke enthalten, wie man sich vor dergleichen Uebeln sichern und davon befreien könne.


Im 4ten Bande, 1tes Stück S. 70. ff. steht ein lesenswürdiger Aufsatz von einem jungen aufgeklärten Gelehrten, Hrn. Lenz, welcher sich jetzt in Göttingen aufhält, und obigen Aufsatzes wegen mancherlei Verdrüßlichkeiten gehabt haben soll.

Daß übrigens einem jungen Mädgen von neun bis zehn Jahren, deren Eltern pietistisch gesinnt waren, und ihrem Kinde fürchterlich-schreckliche Begriffe von Teufel, Hölle und Verdammniß mogten beigebracht haben, nach einem frölich zugebrachten Geburtstage, — wobei das Blut in eine stärkere Bewegung gekommen war, — des Abends beim Zubettegehn der Teufel erscheint, und sie zu verschlingen droht, konnte sehr natürlich zugehn, indem zu der gehabten vermeinten Erscheinung schon alle [6]Bilder und Materialien in der Seele des Kindes bereit lagen, die vielleicht nur eines stärkern Blutstoßes bedurften, um mit aller Helligkeit und Lebhaftigkeit eines wirklichen Bildes hervorzutreten. Dergleichen Bilder mahlt die Seele oft mit einer unbegreiflichen Schnelligkeit in einem Augenblicke aus, und das schnelle Erscheinen des Imaginationsbildes fällt uns dann um so viel mehr auf, weil wir gar nicht daran gearbeitet zu haben scheinen. Bei einem so jungen Kinde wäre eine so lebhaft imaginirte Vision freilich nicht wohl erklärbar, wenn man, was schon vorausgesetzt worden ist, nicht theils mit Gewißheit annehmen könnte, daß die Eltern ihrem Kinde von dem Teufel so manches mögen vorgeschwatzt haben; theils auch dem Mädgen allerlei gemahlte Bilder von jenem Gespenste der Einbildungskraft vorschweben mogten.Vielleicht konnte auch einer von dem Gesinde oder den Hausleuten sich wirklich, aus Scherz, in die Gestalt des Teufels verkleidet haben, wodurch der heftige Schreck des Mädgens, und die darauf sich natürlich gründende vierteljährige Krankheit derselben veranlaßt wurde. Erfahrnen Aerzten sind sonderbare Fälle genug bekannt, welche traurige, und oft fürchterliche, Würkungen ein plötzliches Schrecken, oder eine dergleichen gehabte Vision der Einbildungskraft, sonderlich bei jungen noch nervenschwachen Leuten nach sich ziehn kann. — Uebrigens kann auch vorerwähnte Geschichte lehren, wie abgeschmackt und [7]zugleich gefährlich es sey, junge Kinderseelen, wie fast allgemein noch zur Schande der Pädagogik geschieht, mit jenen höllischen Bildern anzufüllen, und ihrer Einbildungskraft eine so schiefe und unvernünftige Richtung zu geben. Mögte man doch endlich einmal, zur Ehre der menschlichen Vernunft, die Lehre von bösen auf uns würkenden Geistern, denen so offenbar eine furchtsame und mißgeleitete Imagination ihr Daseyn gegeben hat, ganz aus der Erziehung und dem Religionsunterrichte der Menschen verbannen, und weit edlere, nutzbarere und zweckmässigere Begriffe an ihre Stelle setzen! — —

Wenn der Herr Einsender des obigen Aufsatzes von sich erzählt, daß er von seinem sechsten Jahre an bis in's siebente öfters des Nachts eine weiße Gestalt gesehn, darüber geweint, und gebeten habe, das garstige Ding wegzuschaffen: so rührte dies unstreitig von irgend einer Erzählung von einem weisgekleideten Geiste, davon die Ammen und alten Mütterchen leider! den Kindern so viel zu erzählen wissen, her, die auf die junge Seele einen lebhaften Eindruck gemacht hatte, — so wie sich überhaupt die folgenden, an sich beobachteten, Phänomene des Herrn Lenz aus einer sehr lebhaften Einbildungskraft, aus einer von ihm selbst angegebenen Anlage zum Nachtwandeln, aus einem sehr feinen Nervensystem, und die nächst folgende Erzählung aus einer Art Schwindel erklären lassen, ob gleich der Ver-[8]fasser es nicht Schwindel nennen will. — Allein aus so frühen Jahren des Lebens kann man sich selten noch mit Gewißheit besinnen, in welchem Nebenzustande die Seele sich bei gewissen heftigen Empfindungen befunden habe.

»Einige Jahre darauf, heißt es, begegnete es mir mehrere Jahre hintereinander fast alle Nächte, daß ich, nachdem ich mich schlafen gelegt hatte, ganz sonderbare Auftritte hatte. Dies waren die, von denen ich mich in keiner menschlichen Sprache, wegen ihrer Ungewöhnlichkeit, wegen der bloß dunkeln Vorstellungen, in denen sie mir vorschweben, und wegen des damaligen Mangels an Beobachtungsgeist über mich selbst, nicht auslassen kann; es ging mit mir alles wie in einer Scheibe herum, dazu gesellten sich schöpferische Vorstellungen von unendlichen Millionen Zeiten und Räumen, die ich zu durchwandern hatte. Der Gedanke der Unmöglichkeit, je diese Reise, dieses Unermeßliche, das ich immer wie in einem unaufhörlichen Kreise vor mir sah, zu vollenden (und dies alles im wachenden Zustande), verursachte in mir ausserordentliche Bänglichkeit, in der ich mich oft nicht enthalten konnte, mit einem Satz aus dem Bette und ängstlichem Zurückwandern in die Stube, wo mein Vater gewöhnlich noch am Schreibtische saß, jenem Schrecken zu entgehn.« — Alles dies sind Phänomene eines ängstlichen Schwindels, welcher oft die son-[9]derbarsten Empfindungen und Vorstellungen in der Seele veranlaßt, die man freilich in keiner Sprache ausdrücken kann, weil es nur vorübergehende verworrene Sensationen sind. Die Bänglichkeit entstand aus der Lage des Körpers, indem das Blut sich nach dem Gehirn hindrängte, und jene Bilder erzeugen half, wie aus dem Zusatze des Herrn Verfassers selbst erhellet, daß er diese feindseligen Bilder oft nachher dadurch zu verbannen wußte, wenn er sich nur schnell im Bette aufrichtete (wodurch das Blut wieder vom Kopfe herabgeleitet wurde), dann zum Besinnen kam — u.s.w.

Zur nähern Erklärung jener Phänomene muß man auch noch die vom Herrn Verfasser selbst erzählten Umstände hinzunehmen, »daß er überhaupt etwas kränklich und engbrüstig war, daß er eine schlechte Diät beobachtete, des Abends gemeiniglich viel Kartoffeln aß u.s.w. Es ist bekannt, welche schwermüthige Träume ein überladener Magen verursachen kann. Von einer Unordnung in seinem feinen Nervensystem kamen dann auch wohl jene sonderbaren Gefühlsvorstellungen her, indem ihm oft, wenn er zu Bette war, alles, was er anfühlte, eine ganz rauhe und höckrigte Oberfläche zu haben schien. Es sey das unausstehlichste Gefühl gewesen, welches ihn oft vermogt habe, die Finger zusammen zu knebeln, um nicht die Bettdecke oder sich selbst mit den Fingerspitzen zu berühren« (wo sich bekannt-[10]lich eine Menge sehr empfindlicher Nerven vereinigen). Ich kenne jemand, der noch eine andre sonderbare Empfindung an seinen Fingern wahrnimmt. Wenn er sich zu Bette gelegt hat, scheinen sie ihm oft auf einmal anzuschwellen, und zwar mit einem heftigen Schmerz, und endlich eine solche ungeheure Länge zu bekommen, daß er sich, um sich von dieser Empfindung zu befreien, schnell aus dem Bette machen, und sich wieder ganz ermuntern muß.

Die Erscheinung der blauen Figur im Keller erklärt der Herr Einsender selbst ganz richtig dadurch, daß durch die Bewegung des Auges aus dem hellesten Tageslicht in einen dunkeln Ort im Sehnerven eine Veränderung der Farben bewürkt worden sey, und die Phantasie das Bild vollends ausgemahlt habe. Vielleicht hatten mehrere Menschen von langen Zeiten her auch einmal wegen Beschaffenheit der dortigen Luft und andrer Localumstände die nämliche Empfindung gehabt, und dadurch war dann der Volksglaube entstanden, daß sich in der Gegend eine blaue Figur sehn ließe.

Das bekannte Feuersprechen ist nichts weiter, als ein alberner Volksaberglaube, und die Facta, die man gemeiniglich davon erzählt, sind entweder ersonnen, oder das Feuer hat sich durch einen andern Umstand, aber wahrlich nicht durch das so genannte Besprechen, gelegt. Ein Landesherr sollte [11]doch durchaus nicht dem Aberglauben seiner Unterthanen auf eine solche Art fröhnen, wie von dem Grafen Reus in Gera erzählt wird! Die Formeln, welche die Feuerbeschwörer hermurmeln, und die Ceremonieen, die sie dabei beobachten, sind höchst lächerlich und unvernünftig. Es verlohnt aber der Mühe nicht, sie abzuschreiben.

Der alte Bötticher zu Gera, ein vorgegebener Feuerprophet, ist gewiß ein alter abergläubiger Mann, dem es bisweilen im Kopfe spuken mag, und der vielleicht durch eine einzige, zufällig eingetroffene, Feuerprophezeihung durch das leichtgläubige Volk in den Prophetenrang erhoben worden ist. Jede Stadt hat dergleichen alberne Menschen aufzuweisen, die sich der Pöbel zu Gegenständen seines Erstaunens und seiner Bewunderung gewählt hat, und die nicht selten eine nicht geringe Gewalt auch über den vornehmen Pöbel zu behaupten pflegen.


Noch einige Belege zu dem Aufsatze: Ein unglücklicher Hang zum Theater. 4ter Band, 1tes Stück, S. 85. ff.

Dies ist die Aufschrift einer Sammlung an sich ziemlich unbedeutender Briefe, ob ihre Herausgabe gleich in B— viel Aufsehn gemacht zu haben scheint. Für die Psychologie haben sie freilich kei-[12]nen andern Werth, als daß sie den sonderbaren Uebergang einer verschrobenen Phantasie von Comedie zur Predigt, und von der Predigt zur Comedie anschaulich machen können; ein Uebergang, der sich bei einem jungen Mann, welcher von einer lebhaften Neigung zum Theater beherrscht wird, oder irgend einmal beherrscht wurde, sehr natürlich denken läßt, zumal wenn man dazu nimmt, daß es zwischen den Actionen des Schauspielers und so manches Geistlichen eine große Aehnlichkeit giebt. Uebrigens leuchtet aus den Briefen ein gutes ehrliches Herz hervor, das nur durch gewisse Umstände, durch eine Anlage zur Hypochondrie, und wahrscheinlich durch eine unglückliche Liebe, vielleicht auch durch eine verstimmte Neigung zur Thätigkeit und Eitelkeit, die Quelle überspannter Empfindungen und jener unseligen Liebe zum Theater wurde. In einer andern Lage, unter andern Umständen, würde der junge Mann, der Talente verräth, gewiß ein sehr brauchbarer Bürger des Staats geworden seyn.

Man wird übrigens wenig lebhafte Leute finden, welche nicht einmal eine Lust zum Theater in sich bemerkt haben sollten, und es ist von einigen unsrer besten Teutschen Köpfe bekannt, daß sie alle Gründe der Vernunft nöthig hatten, um sich nicht dem Theater zu widmen, wovon ich sonderbare Beispiele erzählen könnte. Die Sache ist ganz natürlich. Die [13]menschliche Seele läßt sich erstaunlich gern auf eine angenehme Art täuschen, und die Täuschung ist ihr unzählig oft mehr werth, als Realität. Die im Schauspiel vorgestellten, in einem kurzen Zeitraum zusammengedrängten, mit den lebhaftesten Farben geschilderten Auftritte des menschlichen Lebens reissen die Einbildungskraft mit sich fort. Der Wechsel der dadurch hervorgebrachten Empfindungen gewährt der Vorstellungskraft eine leichte Thätigkeit, spannt die Seele, erhebt das Gefühl für große Handlungen und Ideen, und bringt uns gemeiniglich dahin, daß wir gern Triebfedern in der Intrigue des Stücks seyn mögten. Der erwartete und nach wenigen Augenblicken entschiedene Ausgang des Stücks, worin sich alles auf eine geschickte Art concentrirt, worauf wir vorher aufmerksam gemacht wurden, verschafft unsern Gefühlen gemeiniglich eine völlige Genugthuung. Wir sehn die ganze Scene vor Augen, anstatt daß wir im gemeinen menschlichen Leben nicht immer die Rollen ausspielen sehn, und wenn dies geschieht, durch die Länge der Zeit die gehörige Aufmerksamkeit und Spannung der Seele verlieren. Durch alle jene Umstände wird nun so äusserst leicht die Liebe zum Theater in jungen lebhaften Gemüthern erzeugt, und oft bis zur höchsten Höhe gebracht, wenn sich eine zärtliche Neigung des Herzens mit in's Spiel mischt, was beim Verfasser obiger Briefe sehr wahrscheinlich der Fall seyn mogte.

[14]
Geständnisse über das Vermögen künftige (zufällige) Dinge vorherzusehen. 4ter Band, 1tes Stück, S. 110. ff.

Von einem Frauenzimmer eingeschickt. Ich habe mich über jenes vermeinte Vermögen, welches der Natur der menschlichen Seele, in so fern es sich auf bloß zufällige Dinge erstreckt, gradezu widerspricht, schon öfter erklärt. Freilich bleibt es immer auffallend, wenn eine gewisse Vorhersage (vielleicht im Scherz oder Zorn gesagt), hinterher zufälliger Weise, und wohl gar genau eintrift; allein dies beweist für jenes Vermögen nichts.


Auszug aus einem Briefe. Seite 113. ff. Speier etc. Dieser Brief rührt von einem jungen Gelehrten, Herrn Schlichting in Wien her, welcher mehrere sehr lehrreiche und interessante Aufsätze in dieses Magazin geliefert hat. Gegenwärtiger Brief ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Empfindungen, und ein Belag, wie frühzeitig schon das menschliche Herz einer gewissen religiösen Schwärmerei fähig sey, je nachdem die Seele mit dahin gehörigen Bildern frühzeitig angefüllt wurde. Herr Schlichting erzählt von seinem Bruder folgendes: »Mit dem eilften Jahre ging er (sein Bruder) mit einem Schulfreunde um, der desselben Temperaments war. — — Beide [15]lesen seit einiger Zeit her ausrufende Asceten und märchenvolle Lebensbeschreibungen der Heiligen. Unter andern zog die Lebensart und der heilige romantische Wandel der Waldbrüder ihre Aufmerksamkeit auf sich. Nichts lieber und ergötzender war ihnen, als ein Geschichtchen zu lesen, wie ein frommer Mensch sich entschloß, aus der Welt zu reisen; wie er sich ein ödes Plätzchen tief in der Wildniß unter den Wohnungen von Löwen, Bären, Tiegern, Schlangen, Wölfen und andern wilden Thieren auswählte; da sich aus vier Stangen ein Hüttchen baute, rohe wilde Kräuter zum Mittagsmahl speiste, den ganzen Tag zum Himmel erseufzte, und den Rücken blutig schlug, oder in Dornen zur Abkühlung des Fleisches sich wälzte. (Dieser hohe Grad mönchischer Schwärmerei war aber wohl bei jenen jungen Leuten noch nicht anzunehmen, da in diesen Jahren die Abneigung vor Schmerz noch so stark ist, und das eingebildetverdienstliche jener strengen Ausübungen der Seele des Kindes noch nicht einzuleuchten, wenigstens sie nicht zu gleichen Handlungen zu stimmen scheint. Die beiden jungen Schwärmer, davon Herr Schlichting erzählt, mogten andre Gründe, die Schilderungen des glücklichen ungebundenen Lebens des Einsiedlers; die Freiheit vom Joch elterlicher Erziehung; die Bilder des Abentheuerlichen, welches so leicht die Seele mit sich fort reißt, vielleicht auch ein gefühlvolles Herz für die Schönheiten der Natur, und [16]andre Local- und Gemüthsumstände der jungen Leute zu dem Entschluß, Einsiedler zu werden, bewegen.)

Sie fingen an, an einem einsamen Ort eine Stube auszuzieren; bald hing sie voll Bilder erdichteter Scenen und Personen. — — Endlich wurden die Bilder der Phantasie (vornehmlich durch ascetische Schriften des Jesuiten V—) in ihrer Seele so lebhaft, stark und dringend, daß sie sich nun schon aller ihrer übrigen Vorstellungen bemächtigte, und in dieser siegenden Darstellung nur nach ihrer Realität, sich nur nach wirklicher Befriedigung sehnten. — Sie entschlossen sich, dem Beispiel ihrer Heiligen zu folgen, packten Kleider und Wäsche ein, und Bücher, die von ihrer künftigen Lebensart handeln. Zur Nahrung wollten sie nichts bei sich haben, da ihnen die nächste beste Wurzel Speise war. — Sie bestimmten endlich die Zeit ihrer Pilgrimmsreise, und zwar die Nacht. Sie werden entdeckt, und die Eltern hindern natürlicher Weise den schwärmerischen Plan.« —

Je mehr Schwärmer man bei einer Religionssecte antrift, je schwärmerischer, die Einbildung nährender, sinnlicher und bildlicher pflegt dann auch das System ihrer Lehren zu seyn; ob gleich auch dies nicht allemal der Fall ist. Eine einzige sehr stark und lebhaft gedachte Idee ist fähig, ein lebhaftes, oder auch schwermüthiges Gemüth bis zu [17]einem erstaunlichen Grade von Fanatism hinaufzuspannen, und es darin zu erhalten, so lange nicht jene Idee verwischt wird, oder sich unter einer Menge ganz neuer anziehender Vorstellungen so verliert, daß die Seele nicht mehr die ganze Aufmerksamkeit auf sie richten kann. Doch gewöhnlich kommen mehrere Hauptvorstellungen, und also auch mehrere Leidenschaften zusammen, die den Schwärmer bilden, und ihn zu jeder Seelenkur unfähig machen, sobald er sich in seiner Gemüthslage glücklich fühlt, und je größer er sich in einer Art von Weltverachtung vorkommt; — denn eine versteckte Eitelkeit liegt doch gemeiniglich zum Grunde, die sich nicht selten bis auf gewisse glänzende Vorzüge des Schwärmers in einer andern Welt beziehen; nicht zu gedenken, daß sehr viele Enthusiasten, Fanatiker, fromme Brüder, und wie sie alle heissen mögen, sich deswegen aus der Welt zurückzogen, weil sie in derselben verkannt wurden, und darinn nicht glänzen konnten. Ueberdem hat der stille Umgang mit Gott und himmlischen Wesen, das Gefühl einer innern Erbauung, das Lesen ascetischer Schriften, das Bekämpfen äußerer Versuchungen, etwas erstaunlich Hinreissendes für den menschlichen Geist, sobald er sich von den Geschäften des geselligen Lebens abgesondert, und sich ganz in sich selbst hineingesenkt hat, und es hat Menschen genug gegeben, die bei aller Aufgeklärtheit des Geistes endlich, freilich wohl sehr oft durch einen gewissen äussern Umstand zur [18]Schwärmerei übergingen, weil alles Forschen und Denken, weil Wissenschaften und gelehrte Kenntnisse ihnen jenes behagliche Gefühl des in sich selbst versunkenen Gemüths nicht verschaffen konnten. Die Schwächen des Alters und der Nerven, die beunruhigenden Zweifel über Religionswahrheiten, die so häufig mit wahrem ernstlichen Forschen nach Wahrheit verbunden sind, die Sehnsucht des Herzens nach einer innern Ruhe bei so vielen Ungewißheiten der Religionssysteme, und vornehmlich der heisse Wunsch, ein in der Jugend geführtes zügelloses Leben gleichsam wieder gut zu machen, sind sehr geschickt, die Neigung zur Schwärmerei anzufachen und zu unterhalten, und es ist nicht leicht ein Mensch vor ihren Anfällen sicher, wenn er sich nicht immer in dem Gefühl von dem hohen Werthe einer gesunden Vernunft zu erhalten weiß.


Seite 120. steht ein Brief, nebst einer Einlage von Gesichten und Erscheinungen, die Herr Pfarrer Müller in Augspurg eingeschickt hat. Da ich mich hierüber im ersten Stück des gegenwärtigen sechsten Bandes der Erfahrungsseelenkunde weitläuftig erklärt habe; so brauche ich's nicht hier zu thun.

C. F. Pockels.

(Die Fortsetzung folgt.)