ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins.

Pockels, Carl Friedrich

Daß die Vergleichungs- und Erfindungskraft der menschlichen Seele auch während des Schlafs fortdauert, und alsdann bei manchen Menschen mit einer ausserordentlichen Stärke wirkt, zeigen nicht nur die wahren Geschichten so mancher lebhaften Träume; sondern auch die oft nach gewissen Planen ausgeführten Handlungen der sogenannten Nachtwandler, worüber man vornehmlich Krüger's Experimentalseelenlehre a nachsehen kann. Es sind mehrere Beispiele von Gelehrten bekannt, welche im Schlafe die im Wachen vergebens gesuchte Auflösung gewisser tiefsinnigen Wahrheiten heraus-[2]brachten; andere, welche im Traume auf neue sehr wichtige scientifische Ideen fielen, woran sie im Wachen noch nie gedacht hatten. Daß dies nichts ausserordentliches sey, und daß auch im Traume die Seele nach dem einmaligen Vorrathe ihrer Begriffe, und nicht nach solchen denke und handle, welche nach der Meinung so vieler Unphilosophen von andern ausser uns befindlichen Geistern entstehen sollen, wird ein jeder leicht einsehen, welcher mit den Gesetzen des menschlichen Denkens bekannt ist. Folgende Geschichte scheint mir daher gar nichts unnatürliches zu enthalten, zumal da sie von einem glaubwürdigen Manne erzählt worden ist. (3ten Bds. 1stes Stück, Seit. 88 ff.)

Der ehemalige Professor Wähner zu Göttingen hat oft von sich erzählt, daß ihm in jüngern Jahren aufgegeben worden, einen gewissen Gedanken in zwei Griechischen Versen auszudrücken.

Er beschäftigte sich ein paar Tage damit (seine Seele war also wahrscheinlich ganz auf diesen Punkt gespannt, und angeleitet, durch einen neuen hinzugekommenen Gedankenschwung – vielleicht auch im Schlafe das Gesuchte zu finden); er kann aber den aufgegebenen Gedanken ohne Nachtheil seiner Stärke nicht in zwei Verse zwingen.

Er schläft an einem Abend unter der Bemühung, diese zwei Verse herauszubringen, ein. In der Nacht klingelt er seiner Aufwärterinn, läßt sich Licht, Papier, Feder und Dinte geben, schreibt [3]die im Schlafe nachgesuchten und gefundenen zwei Verse auf, läßt sie auf seinem Schreibtische liegen, und schläft darauf bis an den Morgen.

Da er aufwacht, weiß er von demjenigen nichts, was in der Nacht geschehen, und fängt von neuem an sich Gewalt anzuthun, um die beiden verlangten Verse zu finden; es will ihm aber nicht gelingen. Er steht mit Verdruß darüber auf, geht an seinen Schreibtisch, und findet die beiden in der Nacht verfertigten und sehr wohl gerathenen Verse, und zwar mit seiner eignen Hand geschrieben. Er ruft die Aufwärterinn, und erkundigt sich, woher das Blatt mit den zwei geschriebenen Reihen gekommen? Diese erzählt ihm dann, was in der Nacht geschehen ist. Er hat sich aber dessen nie erinnern können. – Vielleicht, oder vielmehr sehr wahrscheinlich, hatte Herr Wähner seine Verse auch wirklich des Nachts bei wachenden Augen und Sinnen gemacht, hatte sich aber wieder niedergelegt, und die ganze nächtliche Scene vergessen.*) 1


Ueber die psychologischen Bemerkungen über das Lachen, und insbesondere über eine Art des unwillkürlichen Lachens, habe ich nichts weiter zu sagen, [4]als daß ein gewisser Recensent wahrscheinlich den Aufsatz nicht mit gehöriger Aufmerksamkeit gelesen hat, wenn er die Auflösung des darin abgehandelten Phänomens verworren gefunden zu haben vorgiebt. Wer etwas Ausführliches über das Lachen und das Lächerliche lesen will, wird es vielleicht zu seiner Befriedigung und seinem Behagen in Flögel's Geschichte der komischen Litteratur 1. Theil) b finden.


Im dritten Bande, Stück 2, Seit. 63 ff. kommt eine merkwürdige Selbstbeobachtung auf dem Todtenbette vor, die von einem scharfsinnigen, durch Philosophie aufgeklärten – aber nun nicht mehr lebenden Beobachter seiner selbst herrührt, und nebst der Einleitung zu seinen philosophischen Bemerkungen besonders gelesen zu werden verdient.

Sehr auffallend ist vornehmlich die von diesem Kranken selbst geschilderte Empfindlichkeit seiner Natur, bei aller übrigen Indifferenz gegen den anfänglichen Gedanken des Todes, und die strengste Entsagung fast aller Genüsse des Lebens. Er sagt:

»Wer nur schnell, nicht einmal laut, redete, brachte meinen Puls gleich in Unordnung. Der bloße Anblick von mehr als höchstens drei Personen in meiner Kammer erhizte mich. Diese so hochgespannte Empfindlichkeit hatte noch eine andere [5]Folge. Jeder Keim von Trieb, jeder Ueberrest eines alten bedurfte nur die geringste Veranlassung, um die ganze Seele zu seinem Eigenthum zu machen. – Die flüchtigen Regungen, welche sonst zuweilen durch die Seele fliegen, und ehe sie wahrgenommen werden, verschwinden, verwandelten sich bei mir in bleibende, ausgemachte Bilder; die unbemerkte, gefällige und mißfällige Empfindung an etwas hielt nun an, und schien die Stelle eines festen Begehrens und Verabscheuens einnehmen zu wollen; denn alles, was gereizt ward, war in der gleichgültigen Lage der Seele Herr.

Dies gab zum Theil schreckliche Phänomene. Der Gedanke, den ich verfluchte, ward Bild, annehmliches Bild. Das heftige Mißfallen an diesem entdeckten bösen Zuge, und oft gar die Unfähigkeit, ihn nur so weit zu dämpfen, daß er nicht wirklicher Wunsch ward, und bei allem diesen, Kraftlosigkeit sich zu ermannen, die Zügel der Einbildungskraft zu ergreifen, – das alles versezte die Seele in – nicht Traurigkeit, – sondern Unmuth und Verdrießlichkeit. – Ich würde mich unendlich schämen, wenn zu solcher Zeit ein Mensch meine Seele hätte sehen können.«

Offenbar lag der Grund dieser ganzen Empfindlichkeit in den geschwächten, oder auch zu sehr gespannten Nerven des Kranken, welche bei einem Schwindsüchtigen bis zu einem erstaunlichen Grade [6]der Reizbarkeit angezogen werden können. Der Kranke fühlt dann alles lebhafter und heftiger; sonst ihm gleichgültige leise Sensationen, werden jezt gewaltige Erschütterungen, und das sonst unbemerkte Vorübergehen einer Begierde, wird, zumal wenn die Seele, wie hier der Fall ist, nicht durch viele neue Ideen zerstreut wird, nun ein fast unbezwinglicher Wunsch, die Begierde zu erfüllen, zumal da bei Nervenkranken die Einbildungskraft meistentheils eine sehr große, fast überspannte Lebhaftigkeit gewinnt. Ausser diesen allgemeinen Gründen zur Erklärung jenes Phänomens, und den sehr durchdachten Anmerkungen des Herrn Einsenders darüber, muß auch noch die Jugend des Kranken hier in Erwägung gezogen werden, der in seinem 30sten Jahre starb. Alle Bilder seiner Phantasie, alle unerlaubte Regungen und Wünsche mußten schon dadurch dringender, stärker, heftiger werden, und die Reize der Sinnlichkeit sich auch wohl dadurch zudrängen, daß die lebhafte Einbildungskraft sie als nun bald nicht mehr vorhanden vorzeichnete.

»Da der Ausbruch jedes Triebes und jeder Gesinnung sich stärker auszeichnete, fährt er fort: so hätte dies bei dem Guten eben sowohl statt finden müssen. Lagen also in meiner Seele eben so viel gute, als böse Triebe schlafend: so mußten sich beide unter diesen Umständen gleich häufig entdecken; das war aber der Fall gar nicht. Es ist wahr, zuweilen überströmte ein gutes Gefühl die Seele eben [7]so gänzlich, als ein böses; aber das Gute hatte weder den Grad der Edelmuth, welchen das Böse von Niederträchtigkeit besaß, noch hatte ich so oft Ursache, mich desselben Gedankens der Tugend zu freuen.«

Dieser zum Theil abstracter Gedanke lag diesmal gewiß ziemlich ausser dem Gebiet der sinnlich gespannten Seele des Kranken. Das Gute beschäftigt überhaupt unsre Einbildungskraft nicht so sehr, als das Schlechte, das moralisch Böse; theils, weil dieses lange nicht so einförmig, wie jenes ist; theils, weil von diesem von Jugend auf unzählige Beispiele auf uns stärker gewirkt haben; theils auch, weil ein versteckter, oder sehr offenbarer Trieb zur Sinnlichkeit in allen menschlichen Seelen, in der tugendhaftesten selbst, liegt, und wenn er durch Nervenschwäche gereizt wird, den Gedanken an Tugend vollends nicht zur Reife kommen läßt. Sehr viel kam bei den unmoralischen Gefühlen des Kranken auch darauf an, welche Bilder im Anfange seiner Krankheit und in ihrem Fortgange, theils von aussen durch Menschen, Lectüre, Gespräche, zufällig rege gemacht wurden, und die Masse sinnlicher Wünsche vergrössern halfen; theils von innen durch eine natürliche Ideenfolge angeregt wurden, deren Geschichte uns den besten Aufschluß des ganzen Phänomens gegeben haben würde. Am leichtesten würde freilich der Aberglaube sich das Ding durch Versuchungen eines bösen Geistes erklären. –

[8]

»Zur Genesung, heißt es weiter, war alle Hoffnung verschwunden, und das Bild des nahen gewissen Todes schwebte mir vor. Hier kamen einige verwickelte Phänomene zum Vorschein. Wenn ich die Frage aufwarf: ob ich lieber jetzt sterben, oder meinen siechen Körper noch ein halbes Jahr hinschleppen wollte? – so wählte ich gleich mit Empressement das Leztere.

Die Todesfurcht schien also ganz die Oberhand zu haben. Analysirte ich aber diese Wahl weiter, so fand ich, daß meine Seele nicht den Tod heut, und den Tod nach einem Jahr verglichen hatte; sondern es ging so zu: Sie dachte sich einen Schwindsüchtigen, freilich mit vielen Unbequemlichkeiten dem Grabe entgegenschleichend; der aber doch noch ein wenig reden, ein wenig gehen, ein wenig sich bewegen konnte. Ich hingegen lag ohne Hand oder Fuß zu regen, ohne ein Wort reden zu dürfen, in der unbequemsten Stellung, die mir an manchen Orten empfindliche Schmerzen machte; mein Athem drängte sich durch die beklemmte Brust, und in dieser Verfassung sollte ich die Ankunft des Todes erwarten. Da war das Bild dessen, der doch ein wenig mehr Freiheit hatte, als ich, offenbar angenehmer.«

»Die Zukunft nach dem Tode wirkte gar nicht auf mich. Kein lebhafter Gedanke von Ewigkeit, Sünde, Strafe, – nichts davon. Ein unab-[9]sehliches Blachfeld, das ich nicht kannte, auf dem ich nicht wußte, wo ich war, war alles, was ich mir von der Zukunft dachte. (Vielleicht war der Verfasser dieses Bekenntnisses durch sein Philosophiren schon an diese Art, über die Zukunft zu denken, gewöhnt.) Das Bild war nicht anziehend, aber auch nicht widrig. Was dem Unangenehmen das Uebergewicht gab, war das Schauervolle, was Ungewißheit immer mit sich führt; und hieraus entstand dann natürlich der Wunsch, lieber noch auf dieser Seite des Styx das gegenüber liegende Ufer etwas zu betrachten, als gleich überzuschiffen.«

Ein sehr natürliches Gefühl der menschlichen Seele! Es gehört eine Art Betäubung dieses Gefühls dazu, wenn uns der Gedanke von einer ungewissen Zukunft nicht beunruhigen soll; eine Betäubung, die bei den meisten Sterbenden durch die lebhaften Vorstellungen einer himmlischen Glückseligkeit, oder auch durch die Abnahme der Verstandeskräfte hervorgebracht wird, die uns endlich gemeiniglich über alle Zweifel in Absicht der Zukunft hinwegsezt, und uns einen Trost gewährt, den uns bei einem strengen Nachdenken die Vernunft nicht ganz gegeben haben würde.


[10]
Handlung ohne Bewußtseyn der Triebfedern, oder die Macht der dunklen Ideen.

Pockels, Carl Friedrich

In unzähligen Fällen handeln wir nach innern Triebfedern unsrer Seele, ganz mechanisch, ohne daß wir diese Triebfedern selbst anzugeben wissen; zum deutlichen Beweise, daß nicht immer vor der Handlung eines vernünftigen Wesens eine klare Vorstellung vorhergehen müsse. Aber darin mögen wir uns wohl oft irren, daß wir jener mechanischen Handlungsart gewisse dunkle Ideen unterschieben, die gar nicht vorhanden waren, deren Daseyn uns aber ausser allem Zweifel schien, weil sie durch einen hinterher folgenden Zufall gleichsam verificirt wurden. Grade dies ist der Fall mit den meisten Ahndungen. Es schwebt uns eine gewisse dunkle Idee von irgend einem kommenden Uebel vor – (oft war es freilich wohl nur eine Geburt der Hypochondrie, oder der Einbildungskraft überhaupt), wir haben keine Ruhe vor dem Bilde, es begleitet uns überall hin, und hinterher kommt dann auch wirklich ein Unglück, worauf sich nun jenes dunkle Gefühl bezogen haben muß, es mag einen Zusammenhang damit haben, oder nicht. Hat man sich sogar vermöge jenes Gefühls das Unglück, welches nachher kam, aus Vermuthungsgründen ziemlich deutlich vorgestellt: so scheint kein Schluß gewöhnlicher zu seyn als der, daß es uns geahndet habe.

[11]

Herr Doctor Wedekind erzählt im 2ten Stück des 3ten Bandes der Seelenkunde S. 30 ff., unter obigem Titel ein dergleichen Beispiel von der Gewalt dunkler Ideen, das, es mag nun erklärt werden, wie man will, sehr lesenswürdig bleibt. Der Herr Doctor Wedekind sieht sich genöthigt zu verreisen. Er muß seine Patienten einem andern anvertrauen, worunter ihm eine Predigerfrau grade nicht am gefährlichsten zu seyn scheint, aber ihm doch, ohne daß er sich's angeben kann, was ihm so bedenklich an ihr vorkommt, sehr im Sinne liegt. Er reist dennoch ab, und ist kaum eine halbe Stunde von seinem Wohnorte Diepholz entfernt, als er sich wegen seiner Reise die größten Vorwürfe zu machen anfängt, weil er sich den Tod seiner Patientinn und Freundinn unablässig vorstellt. »So war ich nun im heftigsten Seelenkampfe beinah zwei Meilen weggeritten, sagt er, als sich meiner Brust eine so große Beklemmung bemächtigte, und mein Herz so heftig zu schlagen anfing, daß ich nicht weiter reiten konnte. Fast unwillkürlich wandte ich mein Pferd um, und jagte, so geschwind es laufen konnte, nach Diepholz zurück.« Er sieht seine kranke Freundinn, um welcher willen er zurückgekehrt ist, am Fenster stehen, und ihr war's nicht möglich, wegen seiner Rückkehr sich des Lachens zu enthalten. –

Nun reist er wieder davon, aber seine vorige Unruhe beginnt von neuem. Seine Freunde, [12] die er besucht, suchen ihn auf alle Art zu zerstreuen; allein umsonst. Er hat keine Ruhe und Rast; reist wieder aus eben der Ursach zurück, und geht über Rinteln. Hier erfährt er, daß seine Freundinn wirklich gestorben sey, u.s.w.

Das Uebrige mag man am angeführten Orte selbst weiter nachlesen, sonderlich, was von dem Abscheiden der Patientinn und ihrem versteckten körperlichen Uebel gesagt wird, wovon der Arzt nie etwas bei ihren Lebenstagen erfahren hatte.

Aber sollte ich nicht vielleicht eine dunkle Idee von einem solchen Fehler gehabt haben können? fragt der Herr Verfasser. Von etwas, woran man noch nie einmal gedacht hat, kann man auch keine dunkle Idee haben; aber ein gewisses bedenkliches Uebel konnte der Arzt wohl gemuthmaßt haben, und diese Muthmaßung war hinreichend, dem Herrn Verfasser des obigen Aufsatzes, wenn sonderlich eine hypochondrische Laune, und vielleicht ein ängstliches Temperament dazu kam, alle jene beschriebene Unruhe zu verursachen. Die Seele heftet sich in dergleichen Situationen an irgend eine starke Idee an, die sie antrifft oder auch aufsucht, und sie wird von ihr in einem Strudel von unangenehmen Empfindungen umhergetrieben, wenn die Disposition des Körpers grade zu heitern Seelengefühlen verstimmt ist. Auffallend für die menschliche Ein-[13]bildungskraft bleibt es hinterher immer, wenn das gefürchtete Uebel, gesezt daß auch nur wenige Gründe zur Furcht da waren, zufällig eintrift. Die Fragen, welche der Herr Verfasser am Ende seines lehrreichen Aufsatzes über die Freiheit der menschlichen Handlungen aufwirft, verdienen beherzigt zu werden. Wie viele mögen mit ihm hierüber einerlei Meinung haben!

Eben derselbe hat noch einen medicinischen Bericht beigefügt, worin er erzält, daß ein Fräulein von May aus Furcht vor einem Brechpulver, das sie einnehmen müssen, wahnsinnig wird. Seite 87, ff.

Die Würkungen der Furcht über die menschliche Seele sind von sehr manigfaltiger Art, und sie ist eine der heftigsten und betäubendsten Leidenschaften des Gemüths. Viele verlieren dadurch auf einmal ihre ganze Besonnenheit, ihr Nachdenken stockt, alle ihre Empfindungen erstarren, und sie ist gleichsam das für den Geist, was ein heftiger Schlagfluß für den Körper ist. Die lebhaftesten Köpfe gerathen durch sie in Verwirrung, und es zeigt eine große Seele an, welche sich nicht von ihr bemeistern läßt. Andre Menschen macht sie kühn und beherzt, und dies ist eine ihrer sonderbarsten Würkungen.

[14]

Ich habe, sagt Montagne *) 2 im Capitel von der Furcht, viele Leute gesehen, die vor Furcht unsinnig geworden sind. Auch bei den richtigsten Gemüthern verursacht sie, so lange ihr Anfall dauert, schreckliche Verirrungen. Ich rede nicht blos von dem Pöbel, welchem sie bald seine aus den Gräbern hervorkommenden und in ihr Schweistuch eingehüllten Vorfahren, bald Währwölfe, Kobolte und andre Ungeheure vorstellt; wie oft hat sie nicht sogar den Soldaten, wo sie doch am wenigsten Plaz finden sollte, eine Heerde Schaafe in eine Geschwader Kürassiere, Rohr und Schilf in Geharnischte und Lanzenknechte, unsere Freunde in unsre Feinde u.s.w. verwandelt – bald macht sie uns Flügel an die Fersen, bald nagelt sie uns die Füße an. – »Ich meines Theils, sezt er sehr naiv hinzu, fürchte mich vor nichts so sehr, als vor der Furcht.«

Je lebhafter unsre Einbildungskraft, und je geschickter sie ist, den gefürchteten Gegenstand zu vergrößern, je weniger Fassungskraft und innere Stärke der Seele uns eigen ist, und je leichter unsre Nerven erschüttert werden können, je mehr pflegen wir auch von jener Leidenschaft beunruhigt zu werden. Jeder Mensch sollte an sich mit allen Kräf-[15]ten der Vernunft arbeiten, diese Furie der menschlichen Seele zu bekämpfen, weil sie so leicht die ganze Thätigkeit der Denkkraft und unsrer Willensfreiheit aufhält, und uns durch ein niedriges Betragen, unzählig oft unter die Würde unsrer Natur herabsezt. Ich würde, um das menschliche Herz von dieser betäubenden und schändlichen Krankheit der Furcht zu heilen, vornehmlich folgende Mittel vorschlagen. 1) Man suche das gefürchtete Uebel genau nach allen seinen Seiten kennen zu lernen, und es hierbei auch von seiner weniger furchtbaren Seite zu betrachten. Schon das Nachdenken, das bei sich selbst Raisonniren über ein kommendes Uebel, flößt uns Muth ein, indem es unsre Seele zerstreuet und von dem Punkte wegziehet, den sie so gern mit starren Empfindungen allein betrachten möchte. 2) Uebe man sich selbst dann, wenn uns nichts Böses bevorsteht, in Untersuchungen: wie wir uns in dieser und jener unglücklichen Lage, die uns überraschen sollte, benehmen würden, und als vernünftige Menschen benehmen müßten. 3) Hüte man sich ja vor allen Schwächungen und Verzärtelungen des Körpers. Ein gesunder Körper giebt der Seele Kraft und Muth, ein kranker macht uns furchtsam. 4) Man gewöhne sich immer mehr durch Nachdenken über die Menschen und unsre Schicksale, und durch die Gewalt über unsre Einbildungskraft an die so nöthige Gegenwart des Geistes, und lasse den ersten Eindruck eines furchtbaren Ge-[16]genstandes nicht zu tief eindringen. 5) Meidet die Gesellschaft und den Umgang mit furchtsamen und hypochondrischen Menschen, weil ihre Denkungsart uns leichter, als man glaubt, inficirt; – selbst der häufige Umgang mit dem andern Geschlecht, sagt ein alter Weltweise, macht uns furchtsam. Hingegen flößt uns der Umgang mit muthigen und gesezten Leuten auch Muth und Entschlossenheit ein.

C. F. Pockels.

(Die Fortsetzung künftig.)

Fußnoten:

1: *) Ein ähnliches Beispiel vom Prof. Reusch in Jena siehe 3ten B. 3tes St. Seit. 108.

2: *) Montagne's Versuche c enthalten die lehrreichsten Beiträge zur Psychologie, sind aber bisher von unsern Psychologen viel zu wenig genuzt worden.
P.

Erläuterungen:

a: Krüger 1756.

b: Flögel 1784-1787.

c: Montaigne 1753/1754, Bd. 1, Kapitel 18.