ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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6.

Solamen miseris socios habere malorum. a

Pockels, Carl Friedrich

Wir glauben eine Beruhigung, einen Trost darin zu fühlen, daß andere mit uns zugleich unglücklich sind.

Da ein vernünftiges, mit Wohlwollen geschaffenes Wesen, dergleichen der Mensch ist, eigentlich kein Vergnügen an den Leiden andrer vernünftiger Wesen finden kann*); 1 so fragt sich, worin denn nun eigentlich obige Erfahrung ihren psychologischen Grund hat, und wie die Seele zu diesem Gefühl [78]kommt, welches doch ursprünglich der Rechtmässigkeit unsrer Empfindungen entgegen zu stehen scheint?

Ich glaube, das ganze Phänomen läßt sich in den meisten Fällen, die ich freylich nicht einzeln angeben kann, aus der Natur des Mitleidens erklären, obgleich auch noch andere physische und moralische Nebenursachen, die ich unten angeben will, dabey Einfluß haben können.

Wenn wir selbst leiden, die Leiden mögen nun entweder von uns, oder von andern herrühren; so werden gemeiniglich unsere wohlwollenden Empfindungen weicher, lebhafter und sanfter gemacht. Wir scheinen jetzt den Menschen näher anzugehören, mit ihren Bedürfnissen, Denkungsarten, Schicksalen in einem genauern Verhältniß zu stehen, und fühlen uns geneigt, ihre Leiden, wenn sie auch vorzüglich selbst daran Schuld seyn sollten, mit mehrerer Schonung und Billigkeit zu beurtheilen, als wir sonst zu thun gewohnt waren. Diese Weichheit unsrer Gefühle, sie mag nun entweder in unserm Körper, oder in der Association unsrer Empfindungen, oder im Körper und in der Seele zugleich liegen, macht, daß wir bey den Leiden anderer um so viel mehr gerührt werden, wenn wir selbst unglücklich sind. Wir scheinen einige Augenblicke unsern eigenen Schmerz zu vergessen, indem wir uns den ihrigen vorstellen — und desto deutlicher vorstellen, je mehr alsdenn unsere Gefühle lebhaft sind. Unsere [79]Vorstellungen werden von uns auf ein anderes leidendes Object hingewandt, und in dieser durchs Mitleiden bewürkten Zerstreuung unsrer Ideen und dem Umtausch unsrer Gefühle liegt vornehmlich jenes: solamen miseris socios habere malorum des alten lateinischen Dichters.

Man wende mir nicht ein, daß das Mitleiden selbst eine unangenehme Empfindung sey, und weil es sich auf die Idee eines uns dargestellten leidenden Objects gründe, dadurch unmöglich eine verminderte Vorstellung meines eigenen unglücklichen Zustandes hervorgebracht werden könne. Die Natur des Mitleidens besteht in einer gemischten Empfindung, so wie die meisten Affecten, die sich auf Gegenstände ausser uns beziehen; nehmlich in einem wirklich unangenehmen Mitgefühl mit dem Unglücklichen, indem wir uns in seine Stelle hineinsetzen, und uns für ihn interessiren; und in einem wehmüthigen Bewußtseyn dieser Empfindung und ihres moralischen Werths, wodurch wir gleichsam in jedem Moment der Empfindung uns für belohnt halten.

Das wirklich unangenehme Mitgefühl ist wieder nicht ganz eine reine Empfindung, indem es allemal erst durch eine schnelle Vergleichung unseres Zustandes mit dem eines andern, also in einem, obgleich oft versteckten Bezug auf uns selbst entsteht.

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Wenn wir auf uns genau Acht geben, kann es uns nicht schwer werden, zu bemerken, daß in dem Mitleiden, sonderlich bey feinen, gebildeten Seelen, eine Art Wollust liegt, die uns oft so gern und so lange bey den Gedanken an einen Unglücklichen verweilen läßt, besonders wenn wir selbst etwas zur Traurigkeit geneigt sind, und der Unglückliche uns interessirt. Wir hören einem Klagenden oft lieber zu, als einem Frölichen. Wir fühlen es deutlich, wie sich bey jenen unsre Empfindungen immer mehr heben, sich immer mehr zu ihm hindrängen. Endlich ergießt sich die Thräne des Mitleids aus unserm Auge, und es ist uns sehr wohl bey diesem Opfer, welches die Natur der leidenden Menschheit bringt.

Diese wohlthätige Empfindung der Seele, die den Menschen so weit über das Thier hinaushebt, mag nun entstehen woher sie will, aus dem stillen Bewußtseyn: daß wir jetzt eine sehr wichtige, sehr heilige, den Bedürfnissen der Menschheit so angemessene Pflicht ausüben; oder daher, daß wir uns, obwohl auf eine dunkle Art, vorstellen, wie wohl es uns war, wenn andere Mitleiden mit uns hatten, oder aus einer geheimen sympathetischen Bewegung unsrer Nerven, oder aus andern Ergüssen des Herzens und Geistes, genug, es bleibt allemal ein süsser Schmerz, und dieser ist es, welcher uns unsere eigenen Leiden selbst versüßen hilft, wenn wir uns [81] neben uns andre Unglückliche denken, zumal wenn wir in unsern Schicksalen mit den ihrigen etwas homogenes haben.

Jene aus der Vorstellung eines andern Unglücklichen entstandene Zerstreuung unsrer Vorstellungen, wodurch unsre Aufmerksamkeit von uns selbst abgewandt wird, verbunden mit dem süßen Gefühl des Mitleidens, würde ich daher immer für die vornehmste Ursach der stillen Beruhigung halten, welche wir in uns wahrnehmen, wenn andere mit uns zugleich leiden.

Doch ich bin weit entfernt, dies als die einzige Ursach dieser Erfahrung anzugeben. Eine geistige Kraft, dergleichen die menschliche Seele ist, wird durch so erstaunlich viel innere Modificationen verändert, daß der Psychologe eigentlich selten mit völliger Evidenz sagen kann: dies — und nur dies allein ist der Grund dieser und jener psychologischen Erscheinung!

Der Gedanke, daß uns in diesen und jenen Fällen ein Unglück nicht allein und vielleicht auch nur weniger trift; daß diese und jene schiefe Beurtheilung, eine uns zugedachte Schmach nicht allein auf uns fällt; daß mehrere Unglückliche auch für uns zugleich eine größere Sensation mit erregen, unsern Zustand in ein helleres Licht setzen, und sich für uns interessiren werden; daß ich bey den Un-[82]glücklichen ein größeres Mitleiden mit meiner Noth wahrnehme; daß größere, reichere, angesehenere Männer dem Schicksal so gut wie ich unterworfen sind; daß wir unsre Leiden gleichsam vervielfältigt sehen, — diese und mehrere Nebenvorstellungen können uns in etwas zu beruhigen scheinen, wenn andre mit uns zugleich unglücklich sind. Weniger oder eigentlich gar nicht beruhigend sind für uns dergleichen Gedanken, wenn wir mit andern zugleich von einem körperlichen Schmerz leiden.

Fußnoten:

1: *) Ich spreche hier im Allgemeinen, und also nicht von den einzelnen Empfindungen, welche wir bey dem Unglück derer in uns wahrnehmen, die unsre Feinde sind, oder sonst einen unangenehmen Eindruck auf uns gemacht haben.

Erläuterungen:

a: "Es ist ein Trost für Unglückliche, Leidensgenossen zu haben." Entspricht dem deutschen Sprichwort "Geteiltes Leid ist halbes Leid".