Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn
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Nicht unwichtig, sondern sehr lehrreich für die Seelenkunde sind die Selbstgeständnisse des Herrn Basedow *) 1, Semler**) 2, Jung ***), 3 und Anton Reiser von ihrem Charakter, und die Erzählungen ihrer Jugend- und Männerjahre überhaupt. So leicht mit der gleichen Charakterschilderungen ein Mißbrauch getrieben werden kann, und auch wirklich seit der Zeit, daß Rousseau so viele, freylich sehr unrousseauische Nachahmer gefunden hat, damit getrieben wird; so interessant können jene Schilderungen werden, wenn sie von aufgeklärten Männern herkommen, und wirkliche philosophische Auflösungen gewisser wichtigen, geistigen und moralischen Phänomene der menschlichen Natur in sich enthalten. Durch dergleichen Auflösungen muß die Wissenschaft durchaus gewinnen, und sie werden uns oft zu einer richtigern Kenntniß des Menschen führen, als es die Speculation thun kann. Je früher jene aufgeklärten Männer sich zu beobachten angefangen haben, und je aufrichtiger sie in ih-[112]ren Bekenntnissen a sind, desto mehr werden wir durch sie einsehen lernen, welche Umstände sie gerade so und nicht anders bildeten; welche einzelne und allgemeine Eindrücke aus der frühen Kindheit sie mit in die übrigen Jahre und Geschäfte des Lebens hinüber nehmen; wie die Gewohnheit zur andern Natur bey ihnen wurde; wie sich nach und nach ihre Begriffe in Absicht des abstrakten Denkens, und ihre moralischen Gefühle bildeten; was Nachahmungstrieb, oder eigene selbständige Geisteskraft und Thätigkeit zu ihrer Entwickelung beytrug; welchen Kampf es der Vernunft kostete, nach und nach über die Sinnlichkeit Herr zu werden, und wie diese Sinnlichkeit doch mit das vornehmste Vehiculum ihrer Ausbildung wurde, indem die Vernunft sie recht zu nutzen wußte.
Jeder große Mann wird erst durch die äußern Bestimmungen groß, die seinen Geist aufwecken, und irgend auf eine Seite besonders hintreiben. Die Geniekraft des Geistes muß freylich erst zu Grunde liegen; aber sie wird ohne besondere hinzugekommene Umstände, wie bey den so viel tausend Menschen geschieht, unterdrückt bleiben, und vielleicht Jahrtausende lang schlummern. Es ist sehr wichtig, die individuellen Umstände, Lagen und Bestimmungen zu wissen, unter welchen große Männer gebildet wurden, und sie dann gleichsam Schritt vor Schritt in ihrem Ideengange zu verfolgen. Aus Schilderungen desselben, aus einer richtigen Darstellung [113]der Geistesentwicklung einzelner Menschen wird der Pädagoge die vortreflichsten Regeln der Erziehungskunst abstrahiren können, auf welche er durch bloße Speculation nie gefallen seyn würde. Sehr viele Erzieher erziehen, ohne ihre Zöglinge genau zu kennen, sie beurtheilen zu oft das Kind nach dem Aeussern, und nicht nach seinen innern Gemüthslagen, und der jedesmaligen Masse von Gefühlen, die sich in ihm schon entwickelt haben. Dadurch muß eine durchaus schiefe Erziehungsmethode entstehen, und Anton Reisers psychologischer Roman, ein Buch, von dem ich mehr sagen würde, wenn das Publicum seinen Werth nicht schon allgemein anerkannt hätte, enthält in dieser Absicht die lehrreichsten Winke in sich, wie nothwendig es sey, bey der Erziehung den jedesmaligen Gemüthszustand der Kinder zu studiren, und wie gefährlich für die Bildung junger Seelen die kleinste Abweichung von dieser Regel seyn wird.
Herrn Basedows Selbstgeständnisse sind um so viel wichtiger und lehrreicher, da sie von einem Mann von scharfer Denkkraft, enthusiastischer Herzenswärme, und kühner Unternehmungssucht kommen. Eigenschaften, die seinen Charakter und seine Leidenschaften oft auf die sonderbarste Art gestimmt haben, und bey einer so starken Anlage zu einer finstern Hypochondrie um so viel mehr stimmen mußten.
[114]»Ach wäre ich«, sagt er in einer bekannten Streitschrift, »wie vom Geize, also eben so frey von verdienten Vorwürfen unsittlicher Würkung des beym Widerspruch ruhmredigen Kraftgefühls, welches wahrlich den stärksten schwächt; und des übertriebenen Grams, wenn gemeinnützige Anschläge mißlingen; und des kurzen aber heftigen Zorns gegen Widersacher, wenn die Stärke des Getränks mit dem Gram würkt; und den Vorwürfen der Ungezogenheit, die in solchem Zustande auch wohl in der seltnen Frölichkeit deutlich zeigt, daß ich in dem Gegentheile aller Arten der guten Erziehung aufgewachsen, und daß mein bischen Politur ein zu spätes Kunstwerk sey«.
Wahrlich ein sehr aufrichtiges und interessantes Bekenntniß! Man gehe alle diese sich selbst gemachten Vorwürfe durch, und man wird die Gegenstände dieser Vorwürfe vornehmlich in einer schlechten Erziehung des großen Mannes finden. Die Stärke ihrer Eindrücke, das rohe, unbiegsame, kühne Kraftgefühl des sich ganz fühlenden Knaben hatte er mit in seine männlichen Jahre hinüber genommen, ohne daß ihm eine vernünftige Erziehung eine bessere mit der Menschenwelt homogenere Richtung gegeben hätte, und ohne daß die zu spät hinzugekommene Cultur seinen Naturcharakter in bescheidnere Gränzen einschliessen konnte. Sobald jene ersten Eindrücke gereizt wurden, sobald sich sei-[115]ner thätigen Phantasie ein wichtiger, oder wichtig scheinender Gegenstand zeigte, sobald man ihm widersprach, und seine Plane verrückte, wich fast immer jene Cultur, jenes zu späte Kunstwerk, ganz zurück, und er handelte, wie ein isolirter sich selbst gelassener Naturmensch, der sich fühlt, handeln wird, ohne auf die Verhältnisse des uns so nothwendigen geselligen Lebens eine genaue Rücksicht zu nehmen.
»Ach wäre ich so frey«, fährt er fort, »von Vorwürfen des Spiels zu gewissen Zeiten, welches von jeher, bald mehr bald weniger meine einzige Zerstreuung war; da nur ein Zehntel der Natur in meine von Jugend auf schwache Augen fällt, da die Tonkunst mir fremd geblieben ist, und da nur wenige Arten von gesellschaftlichen Gesprächen mich unterhalten, nehmlich solche, wodurch ich merklich lernen, oder merklich lehren kann. Die von der ersten Art aber sind in meinem Alter schwer zu finden, die von der andern Art werden meinen Gesellschaftern bald unangenehm«.
Die Entschuldigungen seiner Spiellust, welche Herr Basedow hier angiebt, entschuldigen ihn sehr wegen jenes großen Hanges, der freylich leicht bey einer heftigen Gemüthsart, bey einer beständig regen Thätigkeit der Seele, die gern unausgesetzt beschäftigt seyn will, ins Uebertriebene ausarten konnte, und endlich einen hohen Grad eines unsittlichen [116]Betragens veranlassen mußte, wenn die Stärke des Getränks sein Blut in Bewegung setzte. In dieser letzten Absicht ist vornehmlich folgendes Bekenntniß sehr merkwürdig.
»Ich muß, (so ist meine Natur und Verwöhnung) wenn mir etwas gelingen soll, nicht anders arbeiten, als mit einer ausserordentlichen Anstrengung und Ausdaurung, welche zuweilen fast allen Schlaf hindert. Sonst verliehre ich gar leicht den Faden in dem Labyrinthe, in welches ich als ein Erfinder und Beurtheiler der Wahrheiten und vornehmlich der Methoden und Lehrmittel mich hinein begeben habe. Dadurch verfalle ich denn endlich in einen Zustand, daß ich eine Vernichtung aller Geisteskräfte, sogar der Vernunft, befürchten muß, wenn ich mich nicht auf eine Zeitlang gleichsam mit Gewalt losreisse und zerstreue, und gewisser Besorgnisse wegen zuweilen ausser Hauses. Eben die Würkung hat der Anfall des starken Grams. — — — Trinke ich nun in einem solchen Zustande keinen Wein, oder höchst wenig; so werden meine entweder zu arbeitsamen oder zu kummervollen Grübeleyen nicht unterbrochen, und so bleibe ich in Gefahr, gänzlich zu erliegen, davon ich den Anfang sehr trauriger Würkungen zuweilen schon erlebt habe«.
Hiezu kommt, nach meiner Meinung, noch ein anderer psychologischer Grund, den Herr Basedow nicht mitangegeben hat, nehmlich sich in der ein- [117] mal erregten Lebhaftigkeit der Ideen und Gefühle zu erhalten, was so sichtbar in der Natur einer lebhaften Gemüthsart gegründet ist. Wenn die menschliche Seele einmal von starken, viel umfassenden und heftigen Vorstellungen in Schwung gebracht ist, wenn ihre Gefühle in einer schnellen Folge sich zu erzeugen und zu unterhalten angefangen haben; so kann sie nicht gleich in ein ruhiges Gleichgewicht ihrer Empfindungen zurück kehren, sondern pflegt alsdenn neue, obgleich oft mit den erstern Gegenständen heterogene Erschütterungen aufzusuchen, und es läßt sich vermöge dieser Analogie bey sehr lebhaften Leuten der Uebergang aus starken angestrengten Speculationen in starke sinnliche Ideen und Empfindungen, so sehr beide von einander verschieden seyn mögen, leicht denken.
»Ich kenne in der Mischung dieses Lichts und Schattens«, sagt er weiter, »meines Gleichen nicht. Vielleicht liegt eine natürliche Ursach darinnen, daß mich ein außerordentlich lebhafter Vater gezeugt, und eine meistentheils bis zum Wahnsinne melancholische Mutter geboren hat«.
»In diesem Zustande kann ich nun schlechterdings nicht vorher errathen, wie viel oder wenig mir diene. Würkt ein unvermuthetes Erinnerungsmittel einer Kette von Ursachen des Grams, so scheint sich, wenn ich auch fernerhin Wasser trinke, (besonders wenn ich zum verdrüßlichen Reden veranlaßt werde,) [118]die Kraft des schon getrunkenen Weins zu vervielfachen. Ich rede erst wahr und derb, dann wahr und unvorsichtig, dann wahr und unsittlich, weil ich bis ins achtzehnte Jahr unter lauter sehr gemeinen Leuten durch schlechte Redensarten erzogen bin, und also, wenn ich die Feder nicht in der Hand habe, jeder unbesonnene Affect mich in diese ungeschliffene Sprache wieder zurück führt«.
»Daher wähle ich zuweilen, wenn Gelegenheit ohne mich da ist, in solchem Drange meiner Gedankennoth lieber ein die Aufmerksamkeit erzwingendes Spiel, als den Wein. Wenn ich aber nicht entweder zur Verbesserung der Wissenschaften, oder im Gram grüble, alsdann und also gemeiniglich lebe ich höchst ordentlich und enthaltsam von Wein und Spiel«.
Herrn Semlers Confessionen von seinem Charakter und seiner Erziehung, welche in seiner bekannten Lebensbeschreibung hie und da zerstreut liegen, zeichnen sich vornehmlich durch die sonderbaren Umstände einer mystischen Erziehung aus, die er von seinem frommen Vater, welcher Anhänger einer damals sehr herrschenden Secte war, bekam. Der junge Semler sträubte sich lange gegen die frommen Gaukeleyen der Wiedergebornen, endlich gab er nach, und fand an der Lebens- und Denkungsart [119]derselben Behagen. Vielleicht wäre dieser für die theologische Litteratur und Religionsaufklärung so wichtig gewordene, und wegen seiner gelehrten Verdienste so schätzbare Mann für die Welt ganz verloren gegangen, wenn ihn nicht besondere Umstände, und sein eigener thätiger, nach Wahrheit forschender Geist aus dem Pfuhle der Mystik noch zur rechten Zeit herausgerissen hätten. — So scheint doch endlich bey guten Köpfen, welche sich in irgend ein sinnlich mystisches System verwikkelt haben, die Vernunft ihre gesunden Rechte zu behaupten, und es ist mir nicht sehr wahrscheinlich, daß Mystik viel große Köpfe wirklich unterdrückt haben sollte.
Durch vieles Zureden seines ältesten Bruders (der auch ein frommer Bruder war,) und Vaters wird er endlich überwunden, in die Versammlungsstunde zu gehen, und fängt mit zweyen seiner Nebenschüler (auch von der Brüderschaft,) einen anhänglichern Umgang an. »Ich kann nicht sagen«, heißt es weiter, »daß mich in der ersten Zeit diese Stunde sehr bewegt oder gerührt hätte, sogar viel abgeschmacktes kam vor unter den Erzählungen des Seelenzustandes nach den einzelnen Tagen und Stunden; von dem Seelenfreund u.s.w. immer einerley; nur immer schlechter und gezwungener«.
Sehr natürlich! ein gesunder noch unverschrobener junger Kopf konnte unmöglich gleich Anfangs an solchen langweiligen, zum Theil albernen Unter-[120]haltungen einen Geschmack finden. Am Ende aber würkten sie doch so sehr auf den jungen Semler, daß er seine bisherige Frölichkeit verliert, seine vorigen lieben Gesellschafter vermeidet, und wenn er einmal mit einem spricht, ihn zur Nachahmung reizt. Ein Beweis, wie stark die Proselytenmachersucht mit der geglaubten Wiedergeburt verbunden ist. Diese Leute scheinen eigentlich mehr aus einem warmen Gutmeinen, als aus Ehrgeitz, andere in ihre Netze zu ziehen. Sie fühlen sich in dem dumpfen Gefühl der Gnade so glücklich, daß sie auch andern dieses Glück herzlich wünschen, und die Menschen bedauren, die sich durch die Vernunft noch bey der Nase herumführen lassen.
Doch will es immer noch nicht recht mit ihm zum Durchbruch kommen. »Kein Winkel im Hause war übrig«, sagt er, »wo ich nicht, um gewiß allein und unbemerkt zu seyn, oft gekniet und viele Thränen geweinet habe, Gott möge mich der grossen Gnade (die Versiegelung, daß ich ein Kind Gottes sey,) würdigen. Allein nun fehlte mir das, was jene Glauben nannten. — Ich blieb also unter dem Gesetz, in einem gesetzlichen Zustande, wie es hieß. Ich untersuchte mich aufs alleraufrichtigste, ob ich wissentlich noch einer geistlichen Unart nachhinge, oder einen Bann behielte. Ich besann mich, daß ich zwey- oder dreymal einen Sechser behalten, und einen Pfennig oder Dreyer in die Ar-[121]menbüchse des Sonntags gesteckt hätte. Ich sagte es meinem Vater, und bat um so viel Groschen, die ich nächstens mit großer Freude einsteckte. — Ich hatte aus unvorsichtigen lateinischen und griechischen Asceten wirklich Principia von eigener Büßung und Genugthuung im Kopfe, und bey dieser innerlichen Unruhe war die selbst dictirte Strafe und Erniedrigung wirklich eine innerliche Beruhigung«.
Diese Schilderung kommt mir wichtig vor, und man sieht daraus, wie die Menschen auf eigene Büßungen und Casteiungen gefallen sind, und darin erhalten werden. Der Gedanke, daß man sich selbst Martern anthut, um sich zu bessern, daß man sich also eines sehr guten Willens bewußt zu seyn glaubt, und die damit verbundene sich selbst genugthuende Phantasie, die alle Religiösen geisselt, muß ganz natürlich ein inneres angenehmes Behagen erzeugen, daß bey aller Demüthigung, die es vorauszusetzen scheint, doch immer noch in einem geistigen Eigendünkel seinen Grund haben mag.
»Ich rechnete es«, fährt er fort, »zur Aufrichtigkeit und meiner Schuldigkeit, recht traurig zu seyn. Mehrere Monate war ich in diesem Hange zur steten geistlichen Betrübniß«. Auch auf der Academie dauert dieser Zustand durch den Umgang mit zwey seiner mystischen Freunde fort. Sie rathen ihm das unselige Studiren wegzuwerfen, der [122]Heiland könne besser lehren, als Menschen. »Es entstund eine seltsame Unruhe in mir, ein ängstliches Mißfallen an mir selbst, an allen noch so rechtmäßigen und unschuldigen Handlungen. — In den Collegiis war ich fast lauter Gebet und Application; kam von bösen Menschen vor in Psalmen oder Historie: so sagte ich mir immer, so böse waren die doch nicht, als ich. Recht gut weis ich es noch, daß, als ich einst ganz allein Abends aus dem Collegio auf dem großen Platze des Waisenhauses spazieren ging, in tiefer Betrübniß wünschte: o wäre ich dieser Klumpe Eis, dieses Stück Holz!«
Die alte Liebe zu den Humanioribus erwacht in ihm wieder, und er kauft sich die scriptores rei rusticae. — Sein schwärmerischer Freund ist unzufrieden über den Kauf eines weltlichen Buchs, und Semlern wird dadurch die ganze Freude verbittert. Endlich reißt ihn doch jene Liebe zu den Alten, und der Umgang mit Baumgarten aus dem mystischen Wesen heraus u.s.w.
Die damaligen frommen Brüder waren Leute von einer besondern Gattung, und unterscheiden sich sehr von den heutigen Schwärmern dieser Art, weil auch diese klüger geworden sind, als ihre Vorgänger. Jene bestanden aus einem Haufen dummer unwissender Menschen, die eine alberne Frömmigkeit selbst auf den Straßen an den Tag legten, und in einem [123]Aufzuge einherzogen, woran man ihre Abneigung von allem, was weltlich heißt, erkennen sollte. Sie verachteten alles eigentliche Studiren, beteten halbe Tagelang in ihren Zusammenkünften, und rühmten sich eines innern glücklichen Gefühls, das sie freylich nie definiren konnten, und Gnade genannt wurde. Es ist bekannt, wie viel ein berühmtes deutsches Erziehungsinstitut zur Ausbreitung eines solchen albernen mystischen Wesens beygetragen hat.
(Die Fortsetzung folgt.)
a:
Bezug auf Rousseaus
Les Confessions, dt. Die Bekenntnisse
(Rousseau 1782-1789.)