ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: V, Stück: 3 (1787) >  

4.

Der philosophische Landchartenhändler.

Dillenius, Friedrich Wilhelm

Am 10ten Merz dieses Jahres kam ein Landchartenhändler zu mir, und bot mir Landcharten an. Da er diejenigen nicht mehr hatte, welche ich wollte, [67]bot er mir Malers Anleitung zur Algebra an. a Ich antwortete ihm, daß ich sie nicht nöthig, indem ich schon ein solches Buch habe. »Welches«? fragte er. Ich. Clemms b — und — Er. Clemms ist nicht so vollständig und deutlich, als Malers. Ich. Ich habe auch ein vollständigers. Er. Etwa Wolffs? c Ich. Nein, Eulers. d Er. So — das kenne ich auch. Ich. Versteht Er denn die Algebra, mein Freund? Er. Den Maler da verstehe ich, auch den Wolff und Clemm. Ich. Wer hat Ihn denn die Algebra gelehrt? Er. Ich habe, halt! keinen Lehrer darin gehabt, sondern sie selbst gelernt. Ich. Wer hat Ihm denn die Bücher dazu gegeben? Er. Ich bin nach und nach dazu gekommen. Ich. War Ihm denn die Algebra nicht zu schwer? oder hat Er vorher einen andern Theil der Mathematik gelernt? Er. Zuerst hab ich Hübners Geographie e bey einem Kiefer, der auch ein Freund von Büchern war, gesehen, um die ich ihn gebeten und sie gelesen habe. Ich. Hat Er denn auch Landcharten dabey gehabt? Er. Anfangs keine. Aber da ich im Buche fand, daß man Landcharten dazu haben müsse, so ruhete ich nicht, bis ich einige auftrieb. Dann las ich den ganzen Hübner, und suchte die Länder, Städte und Dörfer etc. auf. Aber die Striche und Linien machten mir am meisten zu schaffen. Und doch hätte ich diese gern vor den Ländern kennen gelernt. Ich. Wie lernte Er denn endlich dieselben kennen? Er. [68]Ich fand bey dem Buchbinder, der mir alte Landcharten gab, Reccards Lehrbuch, f und Pfennig's Geographie, g und daraus lernte ich sie kennen. Endlich sahe ich ebendaselbst auch Büsching's Geographie, h und fragte ihn, wo man sie haben könne? Er wieß mich an einen Antiquarius, wo ich mehrere Theile davon wohlfeil bekam, und nun, so viel mir möglich war, darin studirte. Ich. Hatte Er denn schon Landcharten genug? Er. Nein, aber ich ruhete nicht, bis ich so viel hatte, als ich brauchte. Ich. Wo nahm Er denn das Geld dazu her? Er. Ich entlehnte es — und als die Zeit kam, daß ich es wieder heim geben sollte, ging ich in der Gegend herum, und suchte meine Landcharten und Bücher wieder zu verkaufen. Ich verkaufte sie auch wirklich so gut, daß ich alles entlehnte Geld wieder heimgeben konnte, und noch etwas übrig behielt. Davor kaufte ich mir neue Landcharten, und da ich sie gebraucht hatte, verkaufte ich sie wieder. Und so gerieth ich auf diesen Handel. —

Jetzt schlug meine Schulstunde. Ich brach daher die Unterredung mit dem Verspruch ab, daß ich ihm das nächstemal mehr abkaufen wolle, worauf er seines Wegs, und ich in meine Schule ging. Gegen Abend aber wurmte mir der Gedanke: »Du möchtest doch diesen besondern Mann noch weiter ausforschen«. Ich ließ also sehen, ob er noch hier wäre, und ihn ersuchen: er möchte nochmals [69]mit einigen Landcharten zu mir kommen. Endlich kam er, und entschuldigte sich, daß er nicht eher gekommen seye, weil er in seiner Schlafkammer gelesen, und der Wirth gemeynt habe, er seye schon fort. Ich. Was hat Er denn gelesen. Er. Hier Wolfs Logik. i (Er zog sie aus der Tasche.) Ich. Wie gefällt sie Ihm? Er. Recht wohl. Ich. Warum? Er. Weil sie so deutlich ist. (Wir discurirten lang von dieser Logik, und er erzählte mir, daß er alle deutsche Schriften von Wolff habe.) Ich. Hat Er auch andre Logiken gelesen? Er. Ja — Reimarus j Feders k — aber in der letztern haben mir die angebohrnen Begriffe, die er behauptet, Zweifel gemacht. Ich. Feder behauptet keine angebohrnen Begriffe, wie Er hier, (ich zeigte ihm die Stelle) selbst lesen kann. Er. Es ist wahr. Ich habe mich confundirt, und gemeynt, Feder behaupte selbst das, was er hier in der Note von andern anführt. Sonst gefallen mir Feders Bücher, besonders seine Untersuchungen über den menschlichen Willen, l recht wohl. Nur ist mir seine Logik, Metaphysik etc. zu kurz: auch bin ich nicht überall gleicher Meynung mit ihm, besonders bey der Seelenvereinigung mit dem Körper. Ich. Welche Meynung nimmt Er denn an? Er. Leibnizens vorherbestimmte Harmonie. Ich. Hält Er Leibnizen für den Erfinder derselben? Er. Ja. Ich. Geulinx hat sie dreyßig Jahre vor Leibnizen in einem Buch, das den Titel hat: [70]γνώϑι ςεαυτόν schon vorgetragen, auch das Exempel von zwey Uhren gebraucht. Er. (aufmerksam) So — — Leibniz ist also nicht der Erfinder der vorherbestimmten Harmonie? Aber — sie gefällt mir eben doch besser, als des Cartesius Meinung, die man — — (ich half ihm ein) die Hypothese der gelegenheitlichen Ursachen nennt. Ich. Warum? Er. Weil daraus folgte, daß Gott der Urheber aller Sünden wäre, und das will mir nicht ein. Ich. Was hat Er denn wider die Hypothese des physischen Einflusses einzuwenden? Er. Daß ich nicht begreifen kann, wie ein Geist in dem Körper würket. Ich. Nimmt Er denn nichts an, was Er nicht begreifen kann? Er. Als Philosoph nicht. Denn — ein Hauptsatz in der Metaphysik heißt: nichts ohne zureichenden Grund. Und ein anderer: es ist nicht möglich, daß ein Ding zugleich sey, und nicht sey. (Weil ich ihn bloß ausforschen wollte, fuhr ich weiter fort:) Welchen Beweis hält Er denn für den bündigsten für das Daseyn Gottes? Er. Den ontologischen und cosmologischen. Ich. Wie formirt Er den erstem? Er. Von Ewigkeit her war etwas, von dem dieses Universum hervorgebracht wurde. Denn, wenn ich nicht annehme, so folgt, daß es aus nichts, oder deutlicher, von selbst entstanden sey, welches absurd ist —. Denn aus nichts wird nichts. Und durch einen Zufall kann es nicht entstanden seyn— denn — nichts ist ohne zureichende Ursache. Es [71] bleibt also etwas Ewiges — oder Gott. Dieser alte Beweis nebst dem cosmologischen überzeugt mich besser, als der neue Mendelssohnische.

Unter diesen Gesprächen wurde es Nachtessenszeit. Ich ersuchte ihn, mit mir vorlieb zu nehmen, welches er auch nach einiger Weigerung that. Während dem Essen fragte ich ihn: wann er denn studire? (Dies Wort brauchte er selbst.) Er antwortete mir: unter dem Marschiren von Ort zu Ort, wenn es schön Wetter ist, da nehme ich einen Paragraphen, (denn ich lerne vorher einen recht verstehen, ehe ich weiter gehe,) lese ihn etlichemal durch — stecke dann mein Buch wieder in die Tasche, und denke über das Gelesene so nach, daß ich meine schwere Küste nicht mehr auf dem Buckel spüre. Wenn ich denn einen mathematischen oder philosophischen Satz recht im Kopf habe, dann lese ich weiter. Bey Nacht im Bett repetire ich's, und stelle mir dann ganze Seiten von Zahlen, Figuren u.s.w. so lebhaft vor Augen, wie sie im Buch stehen. Da freut mich's, wenn ich alles so deutlich beweisen kann. Ich. Dies ist wahrhaftig eine vortrefliche Art zu studiren, die zwar von vielen erkannt, aber von wenigen, besonders Jünglingen, beobachtet wird. Sonst würden wir gewiß mehr junge gründliche Gelehrte haben. Manche kommen erst durch viele Umwege und Fehltritte dahin, wo Er gleich war. Er. (lächelnd) Ja, anders thue ichs nicht, bis ich eine Sache recht [72] deutlich verstehe. Aber dies hat mich schon viel Kopfzerbrechens gekostet, besonders in der Mathematik, die ich vorzüglich liebe. Z.E. in der Trigonometrie konnte ich mich lang nicht in die Sinus und Tangenten finden — aber ich ließ nicht nach, bis ich alles verstand — und — nun gehts, wie geschmiert. Ich habe auch schon selbst ein Büchlein über die Planimetrie und Stereometrie geschrieben, worin ich vieles deutlicher ausgeführt habe, als ich es in manchen Büchern fand. Ich. Hat Er das Büchlein nicht bey sich? Er. Nein — ich hab's zu Bruchsal an einen Geistlichen, der mir's abschwäzte, vor drey Groschen verkauft. Ich. Das ist nicht viel — wenn es gut war. Wie stark war es denn? Er. Es war etwa zwölf Bogen stark. Ich werde es aber, sobald ich Zeit habe, wieder schreiben, denn ich habe es ganz im Kopf, und getraue mirs von Wort zu Wort wieder herauszuschreiben. Ich. Wann hat Er's denn geschrieben? Etwa auch auf der Reise? Er. Nein! Das habe ich zu Hause geschrieben, wenn ich zur Frühlingszeit zu Haus war, und meine Weinberge geschafft hatte. (Er ist ein Weingärtner, wie sein Vater und seine Brüder.) Auch habe ich manches am Sonntage gezeichnet und geschrieben, wenn andre meines Gleichen im Wirthshaus waren. Ich. Warum legt Er sich denn so sehr auf diese Sachen, die Er nicht nöthig hat? Er. Weil dies mein einziges Vergnügen ist, wenn [73]ich allemal wieder einen mathematischen Satz herausgebracht habe, und recht deutlich beweisen kann, o! das freut mich!! Ich. Hat sein Vater nichts dagegen, wenn Er zu Haus so viele Bücher liest? Er. (Lachend:) Nein — er liest selber gern, aber nur geistliche Bücher, die ich ihm allemal mit heim bringe. Von den Meinigen aber mit den vielen Strichen und Buchstaben will er — nichts. Auch lachen mich andre Weingärtner aus, wenn sie mich über solchen Büchern antreffen. Aber, ich lasse sie lachen, und denke, sie verstehens nicht besser. Mein Bruder liest gern in Hübners Zeitungs- ich aber lieber im Naturlexicon. m Aber da wird oft auf Walchs philosophisches Lexicon n gewiesen — und das möchte ich doch auch sehen!! Ich. Er soll es sehen, ich will's gleich bringen. Doch kamen wir wieder in Discurs von seinen Weinbergen, der Qualität seines Weins u.s.w. daß ich vergaß, es gleich zu holen. Ihm aber mochte es wohl nicht aus dem Sinne gekommen seyn, denn bald erinnerte er mich wieder an mein Versprechen. Da ich's brachte, verschlang er's fast, und sagte nach einiger Zeit: dies Buch müsse er auch haben — nächstens wolle er sichs anschaffen. Ich. Kann Er sich in seinem Geburtsort mit niemand über seine Lieblingswissenschaft unterhalten? Kommt Er nicht zum Pfarrer? Er. Nicht viel. Ich glaube auch nicht, daß er ein Liebhaber von der Mathematik und Philosophie ist — denn — er läßt [74]sich in kein Gespräch mit mir darüber ein — — —. Ich. Trägt ihm sein Landchartenhandel auch was ein? Er. Ich bin schon damit zufrieden. Denn in den acht Jahren, in welchen ich ihn treibe, habe ich mir doch vom Profit etliche Weinberglen kaufen können, die ich selbst baue, und, wenn dies geschehen ist, wieder meinem Handel nachgehe. Ich. Wollte Er mir nicht seinen bisherigen Lebenslauf und eine weitere Beantwortung meiner Fragen schriftlich aufsetzen? Er. O ja — ich will auch einen mathematischen Aufsatz dazufügen — und dann mitbringen, wenn ich wiederkomme. (Erhalte ich etwas, so werde ichs bekannt machen.) Indessen wurde es spät, und er nahm mit den Worten von mir Abschied, daß er sein Versprechen gewiß halten wolle.—

Sein Aeusseres verspricht gar nicht viel. Im Gegentheil hält man ihn für einen einfältigen Mann, wenn man bloß aus seinem Gesicht und seiner rauhen Sprache urtheilen will. Es bestätigt sich also auch hier, was Herr Prof. Meiners in seinen Briefen über die Schweiz schreibt, daß scharfe und feurige Augen nicht allemal ein Genie, und matte und schwache nicht allemal einen Dummkopf anzeigen. o

In den Osterferien, 1787.

Fried. Wilh. Jon. Dillenius,
Oberpräceptor zu Urach im Wirtemb.

Erläuterungen:

a: Maler 1761. Erschien in vielen neuen Auflagen.

b: Clemm 1764. Erschien in vielen neuen Auflagen.

c: Wolff 1710. Erschien in vielen neuen Auflagen.

d: Wahrscheinlich ist Euler 1770 gemeint.

e: Johann Hübners Lehrbuch (Hübner 1693) erfuhr zu seinen Lebzeiten und nach seinem Tod zahlreiche Neuauflagen. Sein gleichnamiger Sohn bearbeitete eine Neuauflage unter neuem Titel (Hübner 1730/1731), die ebenfalls vielfach neu aufgelegt wurde.

f: Reccard 1765.

g: Pfennigs Werke erfuhren jeweils zahlreiche neue Auflagen (Pfennig 1765, Pfennig 1769.)

h: Büschings bahnbrechendes Werk (Büsching 1754-1792) erschien in vielen Ausgaben und Raubdrucken. Das Werk wurde nach seinem Tod von anderen weitergeführt.

i: Wolff 1713, auch Deutsche Logik genannt. Erschien in vielen Auflagen.

j: Reimarus 1756.

k: Feder 1769.

l: Feder 1779-1793.

m: Reales Staats- und Zeitungs-Lexicon [...] Nebst einem zweyfachen Register und Vorrede Herrn Johann Hübners erschien ab 1704 in Leipzig, bearbeitet von Sinold genannt von Schütz, ab der dritten Auflage 1708 mit dem Titel Reales Staats-, Zeitungs- und Conversations-Lexicon. Das Werk wurde aber allgemein Johann Hübner zugeschrieben, dessen Namen als Einziger auf dem Titelblatt stand. Ab 1712 erschien als Ergänzung Curieuse Natur-Kunst-Gewerck- und Handlungs-Lexicon, bearbeitet von Paul Jacob Marperger, das ebenfalls eine Vorrede von Hübner auf dem Titelblatt aufwies und ebenfalls als 'Hübners Lexicon' bekannt wurde.

n: Walch 1726.

o: Meiners 1784-1790, Bd. 1, S. 307.