ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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1.

Beyspiel einer sonderbaren Ohnmacht.

Pockels, Carl Friedrich

Ein junges Frauenzimmer, Kammerfrau bey der Fürstinn von **, hatte an einer heftigen Nervenschwäche lange krank gelegen, und war endlich allem menschlichen Ansehen nach gestorben. Ihre Lippen waren bleich, ihr Gesicht hatte eine völlige Todtenfarbe, und ihr Körper war kalt. Man brachte sie aus dem Zimmer, worin sie gestorben war, legte sie in einen Sarg, und bestimmte den Tag, wenn sie begraben werden sollte. Der Tag erschien, es wurden, nach der Gewohnheit des Landes, Sterbelieder vor der Thür gesungen, und man wollte eben den Sarg zunageln und wegtragen, als man auf der Leiche einen Schweiß entdeckte, der lau war, und immer heftiger hervordrang, — endlich beobachteten die Umstehenden sogar einige schnelle Muskelbewegungen an Händen und Füßen des verstorbenen Frauenzimmers. Nach einigen Minuten, währender Zeit sie noch andere Zeichen des Lebens von sich gegeben hatte, schlug sie mit einem erbärmlichen kreischenden Geschrey die Augen auf, [16]und bekam die heftigsten Convulsionen. Es wurden geschwind Aerzte herbeygerufen, und nach einigen Tagen war sie schon ziemlich wieder hergestellt, und lebt wahrscheinlich noch.

Sehr sonderbar ist die Beschreibung, welche sie von ihrer Ohnmacht selbst machte, und einen bemerkenswürdigen Beitrag zur Psychologie abgiebt. »Sie gestand nämlich, es sey ihr wie im Traume vorgekommen, als ob sie wirklich gestorben wäre; aber sie habe doch gleichwohl alles deutlich vernommen, was außer ihr während des schrecklichen Todtenschlafs vorgegangen. Sie habe ihre Freundinnen am Sarge reden und über ihren Verlust klagen gehört, habe es gefühlt, als man ihr das Todtenhemd und die Handschuh angezogen, und sie in den Sarg gelegt hätte. Dieses Gefühl sey aber mit einer unbeschreiblichen Seelenangst verbunden gewesen. Sie habe rufen wollen, aber ihre Seele habe durchaus keine Kraft gehabt, auf den Körper zu würken; es sey ihr vorgekommen, als ob sie in demselben, aber auch nicht in demselben mehr wohne. Eben so wäre es ihr nicht möglich gewesen, sich zu bewegen, die Arme auszustrecken, oder die Augen zu öffnen, wenn sie es gleich beständig gewollt habe. Ihre innere Seelenangst hätte aber den höchsten Grad von Marter erreicht, als das Chor Sterbelieder zu singen und man den Sarg zuzunageln angefangen hätte. Der Gedanke: daß sie lebendig begraben werden solle, habe ihrer Seele [17]den ersten Stoß von Würksamkeit auf den Körper gegeben, und diese habe sich mit den Muskelbewegungen ihrer Hände und Füße und mit dem kreischenden Geschrei wieder zu äußern angefangen, nachdem sie vor innerer Seelenangst den schrecklichsten Schweiß geschwitzt.«

Ich habe die Erzählung dieses Factums aus dem Munde der glaubwürdigsten Personen, welche mit jenem Frauenzimmer Umgang gehabt, und es von ihr selbst als einer ernsthaften und wahrheitsliebenden Person gehört haben. An sich ist die Sache auch nichts weniger als unwahrscheinlich, da wir mehrere Beispiele von Ohnmachten haben, wobey die Seele noch einiges Bewußtseyn behält, ob sie gleich nicht, wie sonst, auf den Körper würken kann. Wer mit ängstlichen Träumen geplagt ist, wird oft die Erfahrung gemacht haben, daß man oft schreien, um Hülfe rufen will; daß man es aber bey aller Anstrengung und innern Angst durchaus nicht dahin bringen kann.

Zugleich ist aber auch obiges Beispiel eine Warnung, wie vorsichtig man bey dem Begraben der Leichen verfahren muß, daß sie nicht zu früh begraben werden, und wie leicht es bey starken Ohnmachten geschehen kann, daß Leute lebendig begraben werden.

P.