ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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5.

Fortsetzung der Folge meines Lebens.

Schlichting, Johann Ludwig Adam

Nun Bruder! hab ich dich wieder. O der Wonne! daß ich dich wieder an meine Brust drücken konnte; wie süß war mir da das Leben! wie seelig, unaussprechlich seelig ergoß sich die Lust in meinen Busen, als ich an deiner Lippe hing, und ich die Freudenthränen von deinen, und du die Freudenthränen von meinen Wangen küßtest. Der seligste Moment meines Lebens, und der eben da erschien, als der Kelch meines Leidens begann voll zu werden! [110] Es war ein Tropfen Linderung herabgegossen von jenem, der noch mitten unter den schrecklichsten Erschütterungen unsers Muthes über uns wacht. Ich habe dich wieder, und erst gestern fühlte ich in deinen Armen wieder Jene Seeligkeit mit verjüngtem Seelengenuß; doch du schiedest, um mir sie einst wieder zu gönnen. Empfange nun dieses Blatt, lies die Abwechselungen unseres beschiedenen Theils, und ich fahre fort an dieser angefangenen Materie.


Ich kam mit 10 Jahren, und du, Bruder! mit 11 Jahren nach Sp..: Ich will ganz aufrichtig von der Seele sprechen. Wir sollten dort die sogenannten 5 untern Klassen studiren; du warst 2 Klassen über mir. Als wir nun unsern Geburtsort verlassen mußten, so ward mir's immer dunkler in der Seele, je weiter wir uns davon entfernten. Daß wir uns nun Vater- und Mutter-los, von den Geschwistern und dem gewöhnten freudenvollen lieben Orte verbannt, von dem Orte, der uns so theuer wegen der vielen unschuldigen Vergnügen war, die wir da im Umgange mit den kleinen Freunden und in unserm eigenen Hause genoßen, und nun auf immer missen müßten, uns in eine ganz unbekannte Lage übersetzt und an einem fremden Ort uns selbst überlassen, von Noth gedrückt, und zu ohnmächtig sehen mußten, als uns in all' dieses sobald schicken zu können: waren traurige Gedanken für mich, die meine ganze Seele beschäftigten; und würklich, das [111]weißt du noch Bruder! wie floßen nicht die drei ersten Tage die Thränen über meine Wangen! wie klagte ich laut über mein Schicksal! wie mußte ich eben so viele Nächte schlaflos mit Weinen und Jammern zubringen! und wie war ich so am ganzen Leibe krank! und gewiß, wenn du nicht bei mir gewesen wärest, oder dasselbe empfindliche Herz gehabt, mich eben den Kummer an deinem Gesichte hättest erblicken lassen; gewiß, die Krankheit wäre so lange unheilbar geblieben, bis der Grund gehoben worden wäre; es schmeckte mir kein Essen, keine Freude, kein Vergnügen; abzehrend von Harm und den quälendsten Empfindungen würde ich dem Tode entgegengegangen seyn.

Da aber konnten wir auch würklich fühlen die Größe des Verlustes all' der vergangenen Kinderfreuden und den Werth der Kindheit vor all' dem künftigen Leben, dem ein so sichtbarer empfindlicher Kontrast folgte. Du weist Bruder, wie das finstre Schicksal da schon in der Blüthe uns traf. Mangel an den Nothwendigkeiten unsers Lebens machte uns muthlos, zum Theil auch Mangel an Büchern und stetes kummervolles Streben ein Mittel aufzufinden, benahm uns alle Lebensfreuden. Mit einem Worte: wir empfanden schon das Loos der Dürftigen in seinem ganzen Umfange, auf seiner ganzen empfindlichen Seite.

Wir lernten aber auch da schon Welt und Menschen kennen; wie sichtbar war uns nicht die Ver-[112]schiedenheit des Menschenverhältnisses vom Fürsten bis zum Bettler! die vielen aufsteigenden Mittelgrade von dieser untersten Sprosse zu Jener obersten; wie sich Jeder, um sich den Weg durch dieses Leben zu erleichtern, Schätze auf Unkosten und den Schweiß seines Bruders zu sammeln sucht; wie mancher so verdienstlos, durch so niederträchtige, nichtsbedeutende Mittel sich über den Verdienstvollen, über den würdigen Stolz zu erheben sucht, und sich von ihm seinen Müßiggang bezahlen läßt.

»— — Das Thier erschien.
Geh, friß dein Korn daheim und schweige!
so sprach der Fürst, und lies ihn ziehn;
und so entstunden in dem Staate
die weltlichen Kanonikate
für Esel, die auf Polstern ruhn,
und Sold beziehn, um nichts zu thun.«

Pfeffel. a

Wir sahen Menschen, wie sie bei all' ihrem Gold den leidenden Bruder hätten verschmachten sehen, so ganz ohne Rührung, seinem Elend, seinem Kummer und seinen Thränen gleichgültig zusehen können, ohne nur einen Tropfen Oel in seine Wunde zu gießen.

Es fehlte nicht viel, uns noch zu überzeugen, daß unumschränkte Habsucht und ein hartes Herz allgemeiner seyen, als ein vernünftiges, weises [113]Streben nach Gütern dieser Erde, als ein thätiges Mitgefühl; ja, daß Geitz, so wie an Abscheulichkeit, auch an Allgemeinheit alle Laster übertreffen. Wir fühlten unsere Noth und wir konnten am besten Beobachtungen über Menschenliebe und über das entgegengesetzte Laster anstellen; wir machten sie, und fanden, wie selten man die alles versüßende Würkungen der erstern, und hingegen wie herrschend die alles verbitternde Würkungen der letztern antreffe; wie wenige die Seelenwonne genießen, die eine zärtliche, innige Theilnehmung an dem Leiden des Bruders gewährt; wie viele gefühllos auf den Elenden herabblicken und dabei die stolze Prunke der verhältnismäßigen Größe ihrer Glücksumstände empfinden, ohne zu denken, daß eben so zufällig ihr Verhältniß auch Jenes seyn könne, und daß ganz ohne Hinsicht auf Verdienste das Weltglück ausgetheilet sei; ohne zu denken, daß Reichthum, Ansehen, aller äußerlicher Prunk nicht das wahre Glück des Menschen ausmachen, sondern nur Beförderungsmittel desselben seyn können; Güter sinds, und wahre Güter, wenn sie in der Sphäre dieser Bestimmung würken; sobald der Mensch ihre Subordination vergißt, so verfehlt er den Zweck seines Daseyns, anstatt glücklich wird er unglücklich. Nur du, Liebe! bist wahres einziges Mittel zum allgemeinen Schöpfungszweck, aber mißkennt von vielen, zu fremd, als daß du unter ihren kontrastirenden, Gift-kochenden Leidenschaften könntest Aufnahme [114]finden, hast du nur wenige Edle inne. Laß uns, Bruder, laß uns immer diese allbeglückende Göttinn unsere Freundin seyn, so bist du mein Bruder, und Bruder aller Menschen, aller Wesen.

Ich erhohle mich aus einem Strome dahinreißender wonniglichen Gefühle, und erinnere dich wieder, mein Lieber! an unser Sp... Mein Lehrer war ein Hectikus, jähzornig, und in der Strafe wußte er, wie es meistens geschieht, keine Mäßigung, keine Zweckmäßigkeit zu beobachten. Er hatte eine hämisch-lächelnde Miene an sich; mit diesem hämischen Wesen, das mir Leidenschaft, Befriedigung eines gallsüchtigen Herzens verrieth, konnte er Hände und Rücken der armen Jungen blutig schlagen. Seine Schule schien mehr einem Zuchthause ähnlich, die junge Leute unempfindlich und abgehärtet zu machen, als in sie ein gutes Herz und gemeinnützige Kenntnisse zu pflanzen; von der Lehrart und von der Auswahl der Lehrgegenstände will ich gar nichts melden; denn da herrschte noch der alte Schlendrian, der jetzt noch in den meisten katholischen Schulen über die junge Köpfe forttirannisirt.

Da begegnete mir in der Schule manches, das ich als ungerecht ansahe, mit dem sich gleich mein natürliches Gefühl des Unrechtleidens verband, und mir manchen Thränenguß verursachte, manchen [115]freudenlosen Tag machte. In diesen Umständen, die eben so sehr auf meinen Geist, als auf meinen Körper würkten, mußten nun auch verschiedene eben so traurige Folgen für mich gegründet werden; ich wurde schüchtern, menschenscheu, zur Melancholie geneigt, auch wohl verstellt, tückisch und mürrisch, welches Unheil in dem Character eines Menschen, welche Ausartung seines sittlichen Wesens, welche verderbende Angewöhnungen haben ihr Daseyn der vernunftlosen Behandlungsart eines Lehrers, dessen Unerfahrenheit und übler Schullaune zu verdanken!

Das 2te Jahr bekam ich einen andern Lehrer, der sein Geschäft besser verstand, seine Schüler nicht so eigensinnig, sondern vernünftiger behandelte; Er war freier von Partheilichkeit, von Vorurtheilen, minder anhänglich an schulgerechte Meinungen; hatte eine angemessenere Lehrmethode, weniger üble Launen und Kathederstolz; Er brauchte nur selten körperliche Strafen, und da mußte er wichtige Gründe haben. Er ermunterte den Fleiß, machte die Trägheit zu Schande, hatte Nachsicht mit der Schwachheit; er ließ sich zu der Fassungskraft eines jeden herunter; sein aufgereimtes Wesen machte dem Trägen sowohl als dem Wißbegierigen die Schule angenehm. In seiner Gesellschaft verlor sich der Eigensinn und das mürrische Wesen, auch des starrsinnigsten Schülers; besonders flößte er uns tolerante Gesinnungen ein, suchte uns den Re-[116]ligionshaß zu benehmen, den man in den vorigen Jahren einsog, und der in einer Stadt, wie Sp.. ist, so nachtheilig und gefährlich seyn konnte. Diesen Lehrer hatte ich 2 Jahre, und da ich auch eines nähern Umganges mit ihm genoß, so ward ich wieder freier, offener, umgänglicher und munterer, doch nicht so ganz aufgeräumt mehr, daß mich nicht zuweilen eine trübe Stunde überfiel, eine Folge des vorigen Jahres. Dieser Mann fiel, wie ich nachher hörte, in die unseelige Krankheit, Hypochondrie, und ist jetzt der unglücklichste Mensch; dieser Mann, der immer von dem heitersten Gemüthe, von der besten Laune war, stürzt nun auf einmahl in das entgegengesetzte Extrem, wo er sich überall Verfolgungen und Scenen erdenkt, die nie existiren, wo er um sich her nichts als Gift und Dolche, sich auf allen Seiten von Feinden umrungen glaubt; er bildet sich ein: jeder Mensch suche ihn zu verderben; er hat daher nirgends eine bleibende Stätte, und da er ein Mönch ist, so wandert er von einem Kloster zum andern. Indessen leidet er weder von seinen Mitbrüdern noch von seinen Vorgesetzten eine Bedrückung oder harte Begegnung; man ist vielmehr gegen ihn äußerst gefällig und nachgiebig; man sucht alles auf, ihn von seinem Irrwahn zu überführen; alle Bemühung aber ist fruchtlos. Der offenbarste Kontrast zwischen 2 Extremen, ein Fall, der mir eben so unerklärbar, als er contrastirend ist.

[117]

Nach diesem Lehrer, den ich nun 2 Jahre hatte, kamen wieder andere Lehrer zum Vorschein, die zugleich die alte Schulform wieder aufstellten; was soll nun aus dem Menschen werden, der sich unter so vielen Abwechselungen, die man mit seiner Bildung vornahm, und immer so entgegengesetzt waren, leidend wie ein Ball verhalten mußte? so gings mir. Was mußten nicht da für Schattirungen, für Mischungen des Characters entstehen? welcher Wirrwarr, und schiefe, unrichtige, unvollkommene Ideen mußten das Gehirn durchkreutzen? Ist es ein Wunder, wenn so der Schwärmer erzeugt wird? Soll daraus nicht erklärbar seyn, was sich mit mir von dieser Zeit an zugetragen hat. Diese Veränderung der Lehrer und der Schulform brachte wieder all' die traurigen Anfälle jener unglücklicher Characterstimmungen zurück.

Aber oft, wenn das Schicksal schwer über mir lag und meine Seele mit Kummer, Mißmuth und trübem Nachdenken erfüllte; wenn ich dann mir eine Bewegung machte, die auf etwas anderweitiges als auf den traurigen Pfad dieser alles verbitternden Gedanken führte; dann ward mirs so wohl und leicht, und Friede herrschte in meiner Seele, und mit frohem Sinne unternahm ich jedes mir aufstoßende Geschäft, wobei mich nur süßes, glückliches Wonnegefühl begleitete.

[118]

Wenn ich dann nachforschte: warum ist dein Gemüth so heiter, so freudig? warum hat Frölichkeit die Würkungen deines Elendes, die du erst unmittelbar in ihrer Betrachtung so betrübt, so schmerzlich fandest, besiegt? dann both sich die Empfindung dar: du kanst ja noch deinem Leiden entgehen, du kannst die unselige Quelle deines Leidens fliehen, und so ihre Würkungen auf deine Empfindung verhindern, du kannst weggehen, den Ort, die Verbindung verlassen, die der Grund deines Kummers sind; und dann wallte in mir ein verworrenes Entschlossenheitsgefühl auf, all' dieses zu thun, und diese unbekannte Entschlossenheit war die wohlthätige Hand, die jenes behagliche Wesen eines erleichterten Schicksals, jene Wollust in meine auflebende Seele goß.

So war öfters mein Gemüthszustand auf den Schulen, und nur äußere Hindernisse, die damit verknüpft waren, hinderten die Würklichwerdung meines Vorsatzes. Oefters auch empfand ich diese erfrischende Wehungen in einem meiner letzten Verhältnisse, von dem ich am Schlusse dieses Aufsatzes etwas erwähnen werde; freylich wurden sie jetzt stärker und anhaltender, da sie meine nachherige Bestätigung fanden, und ich ihnen durch meine Gründe nachhalf.

Andächtelei wurde nun der herrschende Ton bei dem Studenten in Sp..; ein Wesen, das [119]Wahrheit und Rechtschaffenheit zerstört; ein Wesen, das Bosheit und Gift unter das Gewand der Heuchelei verbirgt; das alles Gute, alles Streben der Seele verstimmt, den Grund legt zum verdorbensten und gemeinschädlichsten Menschen. Wo Andächtelei herrscht, ist der gesunde Menschenverstand Sünde, und der Gebrauch desselben Ketzerei; da man sie als die Grundfeste, als das Wesentliche der Religion ansieht, so macht sie den rechtschaffensten Mann, den Mann, der Wahrheit lieb hat und sichs merken läßt, zum Ketzer, zu einem Gegenstand ihres Hasses, dessen Antheil Fluch und Scheiterhaufen sind.

In der Schule wurde das Herz mit Intoleranz und Aberglauben erhitzt, der Kopf mit Dummheit und Seichtheit angefüllt; wie konnten sich andere als eben diese leidige Folgen in dem Character des Jünglings anlegen? Eine besondere Etiquette war's, am letzten aus der Kirche zu gehen. Da ich einstens eine Lobrede auf den h. Aloiß hörte, so ward meine Einbildungskraft durch die ausschweifende Erhebungen der Tugenden dieses Heiligen so schwärmerisch entzündet, daß ich mir augenblicklich vornahm, ein eben so großer Heiliger zu werden, mir eben so Abbruch zu thun, mich eben so zu quälen als Aloiß, und einstens fähig zu werden, Wunder zu würken, und gewiß eben diese Gabe Wunder zu würken war mir die schmeichelhafteste Aus-[120]sicht, der hauptsächlichste Antrieb zu diesem Entschluß; es war mein größter Ernst, nicht eher nachzulassen, bis ich einmal Wunder würken könnte, mit denen Gott immer so freigebig war*) 1 In dieser Absicht geiselte ich mich täglich dreimal, schlug mich bis aufs Blut; fastete strenge; vergoß ganze Thränenströme; seufzete unaufhörlich; betete Tag und Nacht auf der Straße und zu Hause; legte bei der Nacht Steine oder Bretter unter mein Haupt; schlief auch wohl auf der Erde; gab mir alle Mühe, auch andere zu einem eben so heiligen Lebenswandel zu bekehren u.s.f. Dies dauerte einige Wochen, bis der Eifer von selbst erkaltete.

Mit jenen Ideen, einstens ein Wundersmann zu werden, verband sich als Folge, Stolz und Intoleranz. Was kann man nicht alles aus einem jungen Herzen modeln! welche unseelige Verstimmungen und Zerrüttungen,die öfters so lange Zeit und durch so viele Mühe nicht können wieder gut gemacht werden, gründen Aberglauben und Vorurtheile! Für Religionsschwärmerei steht besonders das junge Herz offen, wie ich ebenfalls schon ein Beispiel im 1ten Stück des 4ten Bandes dieses Magazins geliefert habe.

[121]

Bestimmtere Züge, die entweder minder interessant und bemerkbar oder zu wenig ausdaurend waren, sind theils für ihre Darstellung zu verwirrt oder obliterirt, als daß ich sie hier anführen sollte. So war also ohngefähr mein Zustand, in dem immer eine Modification Ursach und Würkung war, die Zeit, als du bei mir warst, Bruder! und als N.. bei mir war, 5 Jahre durch; dein flüchtiger, leichtsinniger Character stimmte freilich nicht mit meinem schwermüthigen, trüben, leutscheuen Geiste so ganz überein; doch, wir waren 3 Jahre beisammen, und ich wünschte, daß wir uns nie hätten trennen dürfen; denn wir theilten mit warmem Herzen einander unser Leben und die frühen, harten Schicksale desselben; und als du mich verließest, um zu B. Philosophie zu studiren, da wie blos fühlte ich mich nun dem Wellenspiele überlassen! wie erfüllte dein Verlust meine Gedanken mit Wehmuth und mein Leben mit Ueberdruß! Obschon ich wieder unsern N.. zu mir bekam, so warst du mir doch schon so alles geworden; du kanntest mein Verhältniß, meine Bedürfnisse, und so innig war ich mit dir verbunden, daß ich in deinem Umgange von allem, was mich widriges umgab, die Hälfte nicht empfand; nun mußte ich allein die Bürde tragen, bis ich endlich nach B.. kam.

[122]

Da fühlte ich nichts von Kummer, nichts von Unglück; denn glücklich war ich da, wenn ich Nahrung, Kleider hatte und mein Studium gut voranging. Eine gute Schuleinrichtung und Aufklärung überhaupt hatte in B.. schon ziemliche Fortschritte gemacht; Licht hatte schon allmählig die Finsterniß verscheucht, und Wahrheit über Aberglauben, Sophysterei und Barbarei gesiegt.

Nun ging eine Veränderung mit den häuslichen Umständen unserer Eltern vor, dabei ich das meiste zu thun hatte; ich mußte unter den rauhesten Winterstürmen, ohne Schonung meines Körpers, Reisen thun, die nicht nur ganze Tage, sondern noch manche Nacht mitnahmen; oft floh mit mir mein Pferd durch die ödesten Gegenden, durch Eisbäche und starre Wälder hin, wo ich nur noch den einzigen Gedanken zu meinem Trost hatte: du thust es für deine Eltern. Aber auch die Folgen davon waren, daß ich in eine tödtliche 6 Wochen-lange Krankheit fiel und gleich nach meiner Genesung ein Recitiv bekam; dieser Zustand dauerte wieder 8 Wochen; der Herr Geheimerath Frank, der sich durch seine medicinische Policei so viel Verdienste sammelte, rettete mich vom Tode.

Und hier fängt die Epoche meines Lebens an, die je den wichtigsten Einfluß auf dasselbe hatte; [123] die so viele nachfolgende Scenen, die auf dem Schauplatz meines Individuums erschienen, bestimmte; die so vielen Aufschluß über meinen Character, über meine Selbsterkenntniß verbreitete; die der Grund so mancher physischen und moralischen Phänomene in dem kleinen Bezirke meiner Existenz und meiner jetzigen bestimmten Ichheit ist.

Doch, Freunde der Wahrheit! verarget mir's nicht, wenn ich sage, ich muß schweigen; wenn ich sage, ich hätte die ganze Materie nicht angefangen, wenn meine damalige Lage die jetzige gewesen wäre; aber nun war ich gezwungen, wenigstens sie so weit fortzusetzen, um nicht ganz nutzenlos zu seyn. Und dich, Bruder! der du auch das weitere schon in Händen hast, bitte ich, es zu verbergen, und um Mitternacht es mit einer Schaufel voll schwarzer Erde zu bedecken. — Ich bin ruhig, sei auch du ruhig, Bruder — und lebe wohl, nimm den zärtlichsten Bruderkuß von deinem ewig guten Bruder.

Wien am 17ten Januar 1787.

J. L. A. Schlichting.

Fußnoten:

1: *) freygebig gewesen seyn soll. Gott ist und kann nicht freigebig mit Begebenheiten seyn, die der ewigen Weisheit seiner Plane entgegen stehen.
P.

Erläuterungen:

a: Pfeffel 1783.