ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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1.

Unwillkürlicher Hang zum Stehlen und Geldleihen*). 1 a

Pockels, Carl Friedrich

Folgender Aufsatz enthält die Charakterzüge eines der sonderbarsten Menschen, welcher bei uns in B– lebt, und dessen Handlungen zum Theil stadtkundig sind. Dieser Mensch ist einige dreißig Jahr alt, klein und hager von Person, und auf seinem Gesichte drücken sich die Folgen einer heimlichen Leidenschaft ab, deren Ausschweifungen schon so viel tausend junge Leute entweder früh ins Grab [22]stürzten, oder zu kraftlosen, trägen und unnützen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft machten. Sein höchstmageres aus Haut und Knochen zusammengesetztes Gesicht, seine tiefliegenden, matten Augen, seine bleichen Wangen, und seine ganze knöcherne Figur flößen Mitleiden gegen ihn ein, und das um so viel mehr, da ihm sein übertriebener hundischer Geitz nicht von einem ansehnlichen Vermögen Gebrauch zu machen erlaubt, wovon er sehr anständig und bequem leben könnte. Jener hohe Grad des Geldgeitzes, womit sein unwiderstehlicher Hang zum Stehlen und Geld zu borgen verbunden ist, macht den Hauptzug in dem Charakter dieses sonderbaren Menschen aus, welcher mit Recht einen Platz in der Erfahrungsseelenkunde verdient.

Ohnerachtet dieser Mensch von seinen Pflegeltern, die man ihm zur Aufsicht gegeben hat, und wegen der Unfähigkeit seine Begierden zu beherrschen, und sich selbst zu leiten, geben mußte, täglich so viel Speise und Trank bekommt, daß er gewiß nie hungern oder dursten darf; so sind doch seine Taschen ein beständig angefülltes Magazin von Speisen, die er heimlich bei Tische einsteckt, und entweder vergräbt, oder des Nachts, weil er selten ruhig schlafen kann, verzehrt. Man hat alle Mittel hervorgesucht, dieses Wegtragen seiner Speisen zu verhindern; man hatte noch neulich seine Taschen geflissentlich zunähen lassen; aber nun steckte er das [23]entwandte Fleisch in seine Beinkleider, oder in die Ermel seines Rocks, oder verbarg es gar unter seinen Haaren. Die lächerlichste Scene fiel vor Kurzen zwischen ihm und seinem Haushunde vor. Er sahe diesen an den ihm vorgeworfenen Knochen nagen, begann mit ihm einen blutigen Krieg, und ruhete nicht eher, bis er dem Hunde seine Knochen geraubt und sie in seinen Vorrathswinkel getragen hatte.

Dieser Vorrathswinkel, welchen er immer wieder anfüllt, wenn er auch noch so oft ausgeleert und gereinigt wird, gleicht einem wahren Saustalle. Verschimmelte Brodrinden, Zucker, faule Knochen, stinkendes Fleisch, Speck, Wurst, Butter, Wein und Kaffe unter einander gegossen, Neigen von Bier und Suppe, Kuchen, Arzeneien liegen da in größter Unordnung unter einander, und er ist nie glücklicher, als wenn er in diesem stinkenden Winkel stundenlang einsam seine Zeit verträumen kann.

Seine Begierde Geld zu leihen ist eine Folge seines unersättlichen Geitzes. Wenn ihm einer seiner Bekannten begegnet, pflegt er ihn gemeiniglich um eine Kleinigkeit an Gelde anzusprechen, und weiß nicht selten auf eine listige Art die dringendsten Gründe seiner Bitte anzugeben. Oft bittet er auch ganz fremde Leute um Geld, und verspricht es ihnen bei erster Gelegenheit wieder zu zu stellen, was er aber nie gethan hat. Er kann diese Begierde Geld [24]zu fodern schlechterdings nicht unterdrücken, wenn er auch positiv weiß, daß er nichts bekommt. Tausendmahl hat er die Magd des Hauses schon um Geld gebeten, er weiß, daß sie ihm durchaus nichts geben darf, und doch ist gewöhnlich sein erstes Wort beim Aufstehen des Morgens eine an die Magd gerichtete Bitte, ihm Geld zu leihen.

Neulich war ich selbst ein Zeuge von dieser seiner unwillkürlichen Begierde zur Bettelei. Er kam, einem jungen Ehepaar, das mit ihm verwandt ist, zu gratuliren. Ich saß bei Tische ihm gegenüber, und hatte also die beste Gelegenheit, ihn selbst zu beobachten und mit ihm zu sprechen, und meine Leser werden aus diesem Gespräch bemerken, daß es diesem Menschen, den man nach dem, was ich bisher von ihm gesagt habe, für völlig unklug halten könnte, nicht an gesundem Verstande fehlt.

Ich fragte ihn gleich anfangs, da ich bemerkte, daß er sich mit mir in ein Gespräch einlassen wollte: womit er sich bei seiner geschäftslosen Lebensart die Zeit vertriebe? und er antwortete mir: mit Lectüre. Ich hörte bald zu meinem größten Erstaunen, daß er mit einer Menge der besten deutschen Schriften bekannt war, noch mehr befremdete es mich aber, daß er sie ziemlich richtig beurtheilte und dabei ein reines Deutsch sprach, ob er gleich nie studirt hat. Er nannte mir sogar französische und englische Schriftsteller, die er gelesen hätte und noch läse, worauf er mit mir, wahrscheinlich um zu zeigen, [25]daß ich ihm hierin Glauben beimessen könne, französisch zu sprechen anfing.

Weil mir vornehmlich darum zu thun war, von ihm vielleicht selbst zu erfahren, wie in ihm nach und nach seine unmäßige Geldbegierde entstanden sei, so lenkte ich unvermerkt mein Gespräch dahin, zumahl da ich sahe, daß er einiges Zutrauen gegen mich gefaßt hatte, indem er mich zu seinem Hofmeister zu haben wünschte, und erhielt darauf aus seinem eigenen Munde folgendes sonderbare und freie Geständniß vor der ganzen Tischgesellschaft:

»Geitz und Geldbegierde, hub er an, sind mir gleichsam angeboren, und es ist mir durchaus nicht möglich, sie abzulegen. Ein innerer, unwillkürlicher Instinkt, wovon ich sehr gut weiß, daß er unrecht ist, treibt mich zum Stehlen an, und macht mich höchst unruhig, solange ich den Gegenstand, zu dessen Besitz ich einige Hofnung habe, noch nicht erlangen kann.«

Ich dachte still über dieses sonderbare Phänomen bei mir nach, als er sich auf einmahl mit leiser Stimme zu mir wandte, und mit sichtbarer Aengstlichkeit im Gesicht fragte: ob ich ihm wohl einige Groschen leihen wolle? Ich war schon vorher von der Gesellschaft gewarnt worden, ihm, im Fall er mich um etwas bitten sollte, durchaus nichts zu geben, daher ich ihm auch seine Bitte mit den Worten: daß er ein reicher Mann sey und von mir nichts bedürfe, geradezu abschlug. Dieß setzte ihn aber [26]nicht in die mindeste Verlegenheit, er schien mir sogar heitrer und ruhiger als vorher zu seyn, und er betheurte mir darauf, daß er nicht leicht mit jemanden ernstlich sprechen könne, ehe er nicht etwas Geld von ihm bekommen hätte, oder ihm sein Gesuch rund abgeschlagen worden wäre.

Was mir ausserdem noch an diesem sonderbaren Menschen auffiel, war dieß, daß er mit einer unbeschreiblichen Ruhe und Gleichgültigkeit hunderdterlei Anecdoten von sich in der Gesellschaft erzählen hörte, und wenn sich der Erzähler in irgend einem Umstande zu irren schien, ihn hinterher gleich zu corrigiren pflegte. – Wie er aber nach und nach einen so gewaltigen Hang zum Geitz angenommen habe, konnte oder wollte er mir nicht sagen; sondern wieß mein weiteres Nachforschen mit einem ernsthaften Gesicht und mit den Worten ab: Mein Vater bestimmte mich zum Kaufmann, und ein Kaufmann muß durchaus geitzig seyn, wenn er durch die Welt kommen will!

Endlich war die Zeit gekommen, daß er von seinem Führer, den man ihm immer mitgeben muß, damit er nicht öffentlich vor den Thüren bettelt oder davon läuft, nach Hause gebracht werden sollte. Er schien die Gesellschaft sehr ungern zu verlassen, zumahl da ein schönes Mädchen nicht weit von ihm saß; hörte einigemahl auf das Dringen seines Onkels nicht, der ihn gern nach Hause schicken wollte, und ließ sich immer wieder mit mir in [27]neue Gespräche über die Litteratur ein. Endlich entschloß er sich zu gehen; aber in dem Augenblicke überraschte ihn wieder seine Geldbegierde. Er fragte die Gesellschaft recht angelegentlich: ob einer darunter ihm vielleicht einige Groschen geben wollte? Alle schrien: nein! Darauf wandte er sich noch einmahl an mich, sah mir ängstlich in die Augen, und fragte: aucune espérance? Ich versicherte ihn aber gleichfalls, daß er nichts von mir bekommen würde. »Wohl! erwiederte er, nun bin ich ruhig. Verzeihen Sie mir aber meine Zudringlichkeit; wenn einmahl mein Körper gesunder und fester werden sollte; so werde ich auch gewiß mehr Herr meiner Begierden seyn können.« Er nahm darauf von der ganzen Gesellschaft anständig Abschied, empfahl sich meiner Freundschaft, und entfernte sich, nachdem er vorher noch ein Stück Kuchen von einem Nebentische heimlich zu sich gesteckt hatte.

Eine große Menge Anecdoten von dem Geitze dieses Unglücklichen und seiner Neigung zum Stehlen sind bei uns stadtkundig, und zeigen zum Theil unwidersprechlich, daß er sie nicht ablegen kann, weil seine Seele durchaus keine Gewalt mehr über eine angenommene Gewohnheit zu haben scheint. Neulich wurde ein Prediger bestellt, der ihm das heilige Abendmahl reichen sollte, weil er einiges Verlangen darnach bezeigt hatte. Der Prediger kam, und gab sich alle ersinnliche Mühe, ihm seine Lieblings-[28]neigungen in ihrer ganzen abscheulichen Gestalt vorzustellen. Der unglückliche Mensch fühlt sich auf einmahl gerührt, gestand es seinem Beichtvater selbst ein, daß er sich durch seine Fehler bei allen Menschen verächtlich mache, und versprach mit reuigen Thränen in den Augen, sich gewiß zu bessern; – aber, kaum sollte man es glauben, wenn es mir nicht auf die glaubwürdigste Art erzählt worden wäre, – in dem nehmlichen Augenblick entdeckte der Prediger die Hand des beichtenden Sünders in der Zuckerdose seines Wirths, die er während daß der Prediger mit ihm sprach, heimlich plündern wollte.

Oft treibt der Geitz den armen Menschen so weit, daß er keine Lebensgefahr, keine Beschimpfung achtet, wenn er dadurch nur einige Pfennige gewinnen oder ersparen kann. Er hat einigemahl bei ungestümen Wetter vor den Thoren der Stadt auf platter Erde Nächte hindurch zugebracht, weil er das geringe Thorgeld nicht bezahlen wollte, welches die zu spät Ankommenden, um eingelassen zu werden, erlegen müssen. Oft hat er für seine Diebereien Prügel bekommen, und er ist sonst überhaupt sehr strenge wegen derselben behandelt worden; allein alles dieß hat seinen Hang zum Stehlen nur gleichsam vermehrt. Fast täglich stiehlt er seinen Pflegeltern noch Kleinigkeiten, als Messer, b Gabeln, Bouteillen u.s.w. weg, und trägt sie, wenn er entwischen kann, oft des Abends unter seinem [29]Schlafrock zum Verkauf aus; ja er sucht sogar die Kinder der Nachbarschaft zu bereden, daß sie ihre Eltern heimlich bestehlen und die Beute mit ihm theilen sollen. Verschiedenemahl ist er heimlich entlaufen, und man hat ihn in den Dörfern um die Stadt herum mit niedergeschlagenem Huthe und umgewandten Kleidern bettelnd gefunden. Ueberhaupt ist seine Begierde zu entlaufen oft sehr stark, er hat schon verschiedentlich die Fenster deswegen eingeschlagen, und Briefe auf die Gasse geworfen, welche an einen Bürgermeister der Stadt addressirt waren, der ihn aus seiner vermeintlichen Gefangenschaft befreien sollte.


Man müßte mit der Erziehungsgeschichte dieses unglücklichen Menschen, und mit allen moralischen und physicalischen Umständen, welche auf seine Bildung einen nähern oder entferntern Einfluß hatten, genau und vom Anfang an bekannt seyn, wenn man c die psychologischen Gründe seines sonderbaren Characters vollkommen richtig angeben wollte. Ich habe nur einzelne Data darüber von seinen Anverwandten erfahren können, und ich will sie so umständlich, als es mir nöthig dünkt, meinen Lesern mittheilen.

Die Eltern dieses Unglücklichen waren Kaufleute in einer kleinen B–schen Stadt, und sehr gute Oekonomen, ob man ihnen gleich keinen übertriebnen Geitz Schuld geben konnte. Ihr Sohn wurde [30]von ihnen von Kindheit an zur größten Ordnung in allen seinen Geschäften, und auch vornehmlich in seinen Kleidern angehalten, jedes mußte seine angewiesene Stelle haben, und er wurde ernstlich bestraft, wenn er darin eine Nachlässigkeit blicken ließ. Nicht weniger aufmerksam waren sie, ihn an eine strenge Sparsamkeit im Geldausgeben zu gewöhnen, und täglich wurde ihm die Lehre vorgepredigt: daß ein Kaufmann ohne eine genaue Oekonomie nicht in der Welt fortkommen könne. Der Knabe war hierin seinen Eltern so gehorsam, daß er schon in seinem zwölften Jahre der ordentlichste Junge von der Welt war.

Seine Garderobe war klein, aber täglich wurde sie mit größter Sorgfalt gesäubert, und es durfte kein Federchen auf seinem Kleide sitzen. Wer ihm daran was verdorb, war sein Todfeind. Diese genaue ängstliche Ordnungsliebe, die ihn seine Eltern lehrten, und ihr eigenes Beispiel in Absicht des sparsamen Geldausgebens scheint mit eine von den gelegentlichen Ursachen seines nachher so stark gewordenen Geitzes gewesen zu seyn, seine Neigung zur Bettelei aber soll, wie mir sein Onkel erzählte, vornehmlich durch folgenden Umstand in ihm rege geworden seyn.

Als er nach B– in die Lehre gethan worden war, pflegte er, so oft es seine Geschäfte erlaubeten, in den fürstlichen Schloßgarten zu gehen, um den Hof an öffentlicher Tafel speisen zu sehen. Er [31]wurde von dem Anblicke einer solchen Tafel, noch mehr aber von den aufsteigenden Wohlgerüchen wie bezaubert, und er wünschte nichts mehr, als einmahl von dem Uebriggebliebenen etwas kosten zu dürfen. Sein Appetit war auch eines Tages so ausserordentlich stark danach geworden, daß er es wagte einen Bedienten der fürstlichen Tafel um etwas Fleisch anzusprechen, welches er auch erhielt. Diese Bettelei setzte er nun von Tag zu Tage fort, und war zufrieden, wenn ihm die Bedienten auch nur bloße Knochen hinwarfen. Was er nicht verzehren konnte, trug er nach Hause, und damahls soll er zuerst sein Speisemagazin zu errichten angefangen haben.

Offenbar bemerkt man bei einiger Aufmerksamkeit an dem armen Menschen eine Lähmung und Schwäche der Seele, welche ohngefähr in seinem vierzehnten Jahre angefangen haben soll, um welche Zeit er oft Schwindel bekam, und bei Tische oft halbe Stundenlang, ohne auf die ihm vorgelegten Fragen zu antworten, still saß. Man sieht es ihm an, daß ihm ein zusammenhängendes Denken nicht selten schwer wird, so gern er sich auch mit andern zu unterhalten pflegt, daß sich seine Begriffe confundiren, und sich unwillkürlich von einander trennen, welches wahrscheinlich alles Folgen seiner äusserst geschwächten und nervenlamen Natur sind.

In dieser seiner geschwächten Natur liegt auch ohnstreitig der Grund, daß er seine Begierden zum [32]Stehlen nicht beherrschen kann, und daß sein Herz so leicht jedem Vorsatze sich zu bessern ausweicht; – ob ich gleich nicht bestimmen kann, in wie fern seine durch heimliche Ausschweifungen erregte Seelenschwäche grade ihre Richtung zu seinem Geldgeitze genommen hat. Ein Tagebuch, welches man über den ganzen Gang seiner Empfindungen und Leidenschaften mit Aufmerksamkeit gehalten hätte, würde vieles aufgeklärt haben, welches mir an ihm noch ganz unbegreiflich vorkommt. Die Aerzte setzen seine Krankheit zugleich mit in ein Austrocknen des Rückgradmarks, eine Krankheit, worin so oft ihre Kunst Schiffbruch gelitten haben soll. Künftig von diesem sonderbaren Menschen ein mehreres.

Fußnoten:

1: *) Man hat mehrere Beispiele eines solchen unwillkührlichen Hanges zum Stehlen. D. Semler erzählte einst in seinen Vorlesungen von einem berühmten reformirten Geistlichen, und zwar, wenn ich nicht irre, von Saurin, daß er gemeiniglich an den Oertern, wo er zu Tische eingeladen war, silberne Messer, Löffel und anderes Geschirr heimlich in seine Tasche gesteckt, und es nachher allemal mit tausend Entschuldigungen an den Eigenthümer zurückgesandt habe.
P.

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Wingertszahn 2011, insbes. S. 103-108.

b: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

c: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].