ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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2.

Beispiel einer schnellen Liebe.

Pockels, Carl Friedrich

Es ist nichts Besonders, und eine Alltagserfahrung im menschlichen Leben, daß die Liebe oft das Werk eines einzigen Augenblickes ist. Lebhafte Leute können sich in einem Tage zehnmahl verlieben; ihr Herz steht jeder Schönheit offen, und ihre Phantasie flattert gern von einem Gegenstande der Zärt-[54]lichkeit zum andern. Aber merkwürdiger und sonderbarer scheint mir die Art Liebe zu seyn, welche nach einem langen völlig gleichgültigen Umgange zweier Personen sich, gleich eines schnellen elektrischen Schlages, ihrer Herzen bemächtigt. Hievon kann ich folgendes zuverläßige Beispiel mittheilen.

Die liebenswürdige Gattin eines unserer vortreflichsten tragischen Dichter, kannte ihren Mann lange vorher, ehe sie wußte, daß er um ihre Hand anhalten würde. Sie hatte ihn oft in Gesellschaften gesehen; aber sie hatte auch nie auf die entfernteste Art eine zärtliche Neigung gegen ihn empfunden; im Gegentheil war er ihr, da er selbst etwas kalt gegen das schöne Geschlecht zu seyn schien, auch immer ganz gleichgültig gewesen; sie hatte sich sogar oft über seinen Anstand, der selten bei großen Köpfen der beste ist, mit ihren Freundinnen lustig gemacht, und das war noch an dem Tage geschehen, als sie auf einmahl für ihn, ohne seine Veranlassung, eingenommen wurde. Er war mit ihr in Gesellschaft, die Gesellschaft hatte sich in dem Garten zerstreut, und das liebenswürdige Mädchen wollte eben die Allee hinaufgehen, als er ganz nachläßig in derselben heruntergeschlichen kam. In dem Augenblick machte er einen tiefen Eindruck auf ihr Herz, sie fühlte, daß sich ihr Gesicht mit einer plötzlichen Röthe überzog, – und wünschte ihm ihre Hand geben zu können.

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Es sind mir mehr dergleichen Beispiele bekannt. Ich kenne Frauenzimmer, die Männer gar nicht ausstehen konnten, welchen sie hernach auf einmahl aus wahrer Liebe ihr Herz schenkten. Vornehmlich hab ich das bemerkt, daß weibliche Herzen aus einer kalten Gleichgültigkeit auf einmahl in heiße Liebe übergehen können, wenn ihnen ein Heurathsantrag geschieht. Dieser schnelle unerklärbare Uebergang ihrer Empfindungen macht sie oft alsdann gegen die sichtbarsten Mängel ihrer Liebhaber – blind, für die sie vorher Argus-Augen hatten.