ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Aus einem Briefe. a

N-kirch

Der Recensent der Berliner Bibliothek, 69sten Bandes 1tes Stück, Seite 236 b hält es für eine Uebertreibung, daß der Gegner des Herrn Salzmann behauptet hat: daß Eltern und Erzieher, männliche sowohl als weibliche, oft nicht nur selbst das Laster der Onanie ausübten, sondern auch ihren Zöglingen beibrächten. Ein in der That abscheulicher Gedanke! – und doch will ich Ihnen hierüber eine Erfahrung mittheilen, die wahrscheinlich in Ihrem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde nicht am unrechten Orte stehen wird, und zeigen kann, auf welch eine verschiedene Art junge Leute mit jenem Leib- und Seele-verderbenden Laster bekannt werden können.

Meine Eltern haben mich freilich nicht dazu verführt, denn diese waren die keuschesten von der Welt; aber doch ein intimer Freund meiner Eltern, der sogar meines Vaters Beichtkind, und ich schäme mich es beinahe zu sagen, – ein alter Geistlicher war.

Dieser Mann wohnte nur eine kleine halbe Stunde von meinen Eltern entfernt, und ich pflegte ihn als ein Knabe oft zu besuchen, weil er mir gemeiniglich Obst oder sonst etwas zu schenken pflegte, und weil mir vornehmlich sein weißes Brod ganz [101] herrlich c schmeckte, da ich zu Hause gewöhnlich nur grobes und schwarzes Brod zu essen bekam.

Der alte Mann hatte mich sehr gern um sich, und ich mußte ihn überall hinbegleiten, wenn ich bei ihm war. Er zeigte mir dann jedesmahl den Vorrath seiner Victualien, seines Getraides, und wenn diese kleine Reise durch Stuben und Kammern gemacht war, setzten wir uns in sein kleines Stübchen, wo ich denn Obst schmaußte, während er mir allerlei Geschichtchen aus seinem Dorfe erzählte. Eines Tages kam ich zu ihm, und er empfing mich mit ausserordentlicher Freundlichkeit, gab mir Kaffe zu trinken, und bath mich, daß ich mich auf seinen Schoos setzen möchte. Ich that es mit vielen Freuden, und er fing mich darauf zu schaukeln an*) 1. Er setzte dieses Schaukeln einige Zeit fort, küßte mich, und fragte mich mit einer lächelnden und zugleich ermunternden Miene: ob ich mich nicht ein bischen entblößen wollte? Ich that es gern; was konnte ich als ein unverständiges Kind einem Mann abschlagen, der mir von je her so viel Aepfel geschenkt hatte,ob mir die Zumuthung gleich etwas sonderbar vorkam. Er schaukelte mich immer mehr, [102]ich litte seine unanständigen Berührungen, – und verlor durch ihn – meine Unschuld. Mehr Aufklärung über die Sache kann ich Ihnen nicht geben, genug daß sie sich so verhält, wie ich sie erzählt habe. Erlauben Sie mir, daß ich zum Beschluß dieses Briefes noch eine Frage an Sie thun darf. Finden Sie es nicht auch unvorsichtig, daß jetzt soviel, so laut und öffentlich von den geheimen Sünden der Jugend geschrieben wird? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen mehrere Beispiele mittheilen, daß junge Leute durch dergleichen freilich wohl gut gemeinte Bücher würklich erst jene Sünden gelernt haben. Noch unvorsichtiger und unverzeihlicher ists mir aber vorgekommen, daß unsere Herren Journalisten die Ankündigungen jener Bücher auf den bunten Umschlagstitteln ihrer Schriften so oft haben abdrucken lassen. Ueberall liegen dergleichen Journale, weil jetzt alles liest, was lesen kann, in den Stuben und auf den Toiletten herum, das Kind greift gern nach den bunten Sachen, liest, und es wird vielleicht durch diesen einzigen Umstand ein unglückliches Opfer seiner Neugierde.

N–kirch.

* * *

Fußnoten:

1: *) Eine böse böse Gewohnheit so vieler Wärterinnen und derer, welche mit Kindern umgehen. Vorsichtige Eltern sollten dies Schaukeln durchaus nicht erlauben, besonders wenn die Kinder etwas heranzuwachsen anfangen. <P.>

Erläuterungen:

a: Zu diesem Beitrag vgl. Goldmann 2015, S. 99-101.

b: 'Rezension der Schrift Ists recht über die heimlichen Sünden der Jugend öffentlich zu schreiben? Schnepfenthal 1785, beantwortet durch C. G. Salzmann.' Allgemeine Deutsche Bibliothek 69 (1786), 1. St., S. 236.)

c: Der erste Wortteil "herr-" steht als Kustode auf der vorhergehenden Seite.