ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Auszug aus M. Adam Bernds eigener Lebensbeschreibung

Bernd, Adam

Dieser Gelehrte, welcher 1676 zu Breslau von geringen Eltern geboren war, und 1748, nachdem er mehrere Jahre vorher seine Predigerstelle wegen verschiedener Irrlehren hatte niederlegen müssen, zu Leipzig starb, gehört mit zu den sonderbarsten Hypochondristen, deren Geschichte der Welt bekannt geworden ist. Er hat sein Leben selbst (Leipzig 1738. in 8) a mit Rousseauischer Genauigkeit, und zwar, wie auf dem Titel seines sonderbaren Buchs steht, den Unwissenden zum Unterricht, den Gelehrten zu weiterm Nachdenken, den Sündern zum Schrecken, und den Betrübten und Angefochtenen zum Troste beschrieben. Er erklärt sich in der langen, mit vieler Laune und Menschenkenntniß geschriebenen Vorrede zu seinem Buche noch näher, warum er es, – so viel man auch dagegen sagen werde, – herausgegeben habe: »nehmlich um den leiblichen und geistlichen Aerzten Materie an die Hand zu ge-[104]ben, bei erbärmlichen Leibes- und Seelenzufällen, so ihnen vorkommen, weiter nachzudenken, und desto geschickter zu seyn, ihre Patienten zu kuriren, und sie von ihrem jammervollen Zustande zu befreien«. »Auf meiner Seite, fährt er fort, scheint die Sache von solcher Wichtigkeit, und, wo nicht von absoluter Nothwendigkeit, doch von solchem ersprießlichen Nutzen zu seyn, daß ich nach aller Schmach und Schande nichts frage, so ich dadurch meinem Namen in größerm Maaße, als jemahls geschehen, ohnfehlbar zuziehen werde. Niemand ist geschickter, Ehre und alles zu verläugnen und in Wind zu schlagen, als der nichts mehr in der Welt sucht, und der wenig zu verlieren hat. Nun bin ich, nach Vieler Urtheil, einmahl schon vor der Welt zu Schanden worden, (er versteht hier wahrscheinlich seine Absetzung vom Predigtamte, welches er lange Zeit wegen seiner Kanzelberedsamkeit mit größtem Beifall geführt hatte,) und also werde ich nicht viel darnach fragen, ob jetzt meine Schmach noch eine höhere Staffel erreichen sollte.«

– – –

Man kann den Hypochondristen auf keiner Seite seines Buchs verkennen. Der übrige Theil seiner Vorrede ist mit vieler Animosität gegen seine Feinde geschrieben; oft stichelt er sogar auf sich selbst; noch öfter bricht er aber in laute, jammervolle Klagen über seinen unglücklichen Gemüthszustand aus; – aber diese sind es nicht, welche sein [105]Buch merkwürdig machen. Es enthält eine Menge sehr wichtiger psychologischer Bemerkungen über den Ideengang der menschlichen Seele, über die Gewalt früher Jugendeindrücke, über die Natur der Einbildungskraft und über die Schwächen der menschlichen Vernunft in sich. Doch der Verfasser mag von jetzt an selbst reden.


»Um dir Anfangs, geliebter Leser, einen generalen Begriff und summarischen Abriß von meinem miserablen und jammervollen Leben zu machen; so findest du hier ein Exempel eines Menschen, bei dem Gottes gewöhnliches und großes Hauptwerk vom zwölften Jahre an bis ins Alter, und schier bis diese Stunde gewesen, ihn zu tödten und wieder lebendig zu machen; ihn in die Hölle und wieder heraus zu führen. Oder die Sache noch mit mehrern Worten auszudrücken; so liesest du hier das Leben eines Mannes, der wegen der schrecklichen Verderbnisse, so in seiner Seele zu finden gewesen, und gegen welche er sich nicht eifrig genug gesetzt, noch männlich genug wider solche gestritten, sich durch eigene Schuld und Saumseligkeit, und Mangel der geistlichen Wachsamkeit bald selbst, so zu reden, getödtet, bald aber durch Gottes große und unaussprechliche Gnade wieder lebendig gemacht; sich bald in die Hölle schwerer Anfechtungen selbst hineingeführt, bald durch Gottes Erbarmen wieder herausgeführt worden; der bald dem [106]Tode im Rachen, und dem Satan in seine Klauen sich gestürzt, bald aber durch die mächtige Hand Gottes wieder erlöset und herausgerissen worden; dem die Sünde sein ganzes Leben, wie Lutherus redet, zu Schanden gemacht; der jederzeit die Sünde, und derselben nicht nach Wunsche los werden zu können, vor das größte Creutz der Christen auf Erden gehalten; der sich über der Sünde und bei dem göttlichenTrost, womit er wieder aufgerichtet worden, die Augen schier aus dem Kopfe geweint; der in dem Ofen des Elendes unter seltsamen Leibes- und Gemüthsplagen, ja unter den schrecklichsten Versuchungen, die nur jemahls einem Menschen begegnet oder in Büchern aufgeschrieben zu finden, beinahe Geist und Blut ausgeschwitzt«.

»Mein Vater konnte zwar weder schreiben noch lesen; doch so einfältig er war, so war er gleichwohl in der Religion ein guter, oder noch vielmehr ein vollkommener Indifferentiste. Die Mutter hingegen war eine eifrige Lutheranerinn, und dem Leben nach eine rechte Pietistinn, obwohl dieser Name damahls noch nicht bekannt war. Ich durfte in ihrer Gegenwart weder als ein Knabe noch als ein Jüngling Scherz und Narrentheidung treiben, sie strafte mich deswegen allemahl mit Nachdruck. Ich besinne mich, daß es mehr denn einmahl geschehen, daß sie bei Tische auf die Juden und Papisten zu reden kam, und zu uns Kindern sagte: daß diese Leute alle einst würden verdammt werden und in [107]die Hölle kommen; mein Vater aber sprach: ihr seyd doch ein rechter Narr, daß ihr solches glaubet; es heißt: verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammt! Wüßten sie es besser; so glaubten sie anders. Gott wird ihnen ihre Unwissenheit und Einfalt nicht zurechnen, wenn sie nur bei ihrem Glauben fromm gelebt haben« (Gesinnungen, die der orthodoxe Verfasser nicht billigt, ob er gleich hinterher gesteht, daß er hoffe, daß sie seinem Vater an seiner Seeligkeit nicht würden geschadet haben.)

»Die ersten Tage meines Lebens waren wohl ein recht Vorbild aller andern Tage und Jahre meines Lebens, die darauf folgen sollten. Wie mir meine Mutter und Geschwister vielmahls erzählt; so habe ich das erste halbe Jahr auf der Welt nichts anders gethan, als Tag und Nacht geweint und geschrien«. (wahrscheinlich, weil dem armen Jungen immer etwas fehlte. Er führt im Folgenden noch andere zum Theil abergläubische Omina b seiner künftigen Leiden an, worunter das wohl das lächerlichste ist, daß er sich oft geneigt gefühlt, das Ungeziefer, womit ein Bettelweib sein Haus angesteckt, für eine Vorbedeutung seiner vielen Fehler, Verbrechen, Verderbnisse, Sünden und Unarten zu halten.)

Aus dem zwölften Jahre seines Lebens führt der Verfasser eine sonderbare Beobachtung von sich an, die einen Beweis von der ausserordentlichen Stärke unwillkürlicher Ideen abgiebt, und es [108]uns ziemlich anschaulich macht, wie natürlich in dem Innern unsrer Seele durch den Kontrast, durch dunkle sinnliche Bilder, durch die Neigung zum Verbotenen gewiße Vorstellungen entstehen können, die man wegen ihres auffallenden und garstigen Eindrucks so oft dem Teufel zuzuschreiben pflegt*) 1.

»Ich hatte, fährt der Verfasser fort, um diese Zeit (wie vorhergesagt, in seinem zwölften Jahre) einen verdrüßlichen Zufall, der mich im Gemüthe [109]sehr plagte, und den ich beinahe vor die erste schwere Anfechtung halten möchte. Es ist bekannt, was die Leute, so doch Christen heißen und seyn wollen, vor eine schändliche Gewohnheit im gemeinen Leben an sich haben, daß sie, wenn sie nur das Maul aufthun, den Teufel im Munde haben, bei demselben, als ob er ihr Gott wäre, schwören, und sich erklären, daß er sie hohlen solle, woferne sie nicht die Wahrheit reden! Ich erschrecke noch vor diesem Schwur, so oft ich ihn höre, habe auch niemahls einen Wohlgefallen daran gehabt, auch mich dessen die Zeit meines Lebens, so viel ich weiß, niemahls bedient, noch solchen Schwur weder äußerlich mit dem Munde, noch innerlich in Gedanken gethan und ausgesprochen, – und dennoch ist mir solcher damahls wider meinen Willen eine Zeitlang bei allerhand Gelegenheit öfters eingefallen, doch ohne meine Zustimmung, und so, daß er mir zu einer rechten Qual und Marter worden. Nahm ich mir etwan was zu thun vor, mit dem Vorsatz, vor Abends, oder in zwei Stunden damit fertig zu werden; so fiel mir wie ein Pfeil so schnell und wider meinen Willen ein: und wenn ich nicht fertig werde, soll mich der Teufel hohlen! Sollte ich zu jemanden um diese oder jene Zeit kommen, und ich versprach solches, und sagte mit dem Munde ja! gleich war der innere Gedanke dabei: und wenn ich nicht komme, will ich des Teufels seyn! In Summa bei allem, was ich beschloß, oder vor-[110]nahm, oder zusagte, hatte ich diese Gemüthsplage dabei, und je mehr ich vor meinen eigenen Gedanken und vor solchen Einfällen erschrack, je öfterer und ärger ward ich damit vexirt. Mir wurde dabei Angst, und ich wußte nicht, wem ich es klagen sollte; denn ich fing an in der Rede zu stocken, so oft ich etwas sagen wollte, und diesen Einfall dabei heimlich leiden mußte. Jetzt, da ich nach der Philosophie solches betrachte, kann ich es leichte aus der Natur und aus den Kräften der Imagination, wie solche bei schwachen Leibern und Gemüthern, so temperamenti melancholici und zur Furcht sehr geneigt sind, anzutreffen, auflösen. Dazumahl aber dachte ich nicht anders, als daß der Satan allein sein Spiel mit mir hätte, und mich mit solchen Einfällen quälte«.

So unphilosophisch hinterher unser Hypochondrist urtheilt, daß er die Mitwürkung eines Teufels bei dergleichen Zufällen keineswegs in Zweifel zu ziehen gesonnen sei, eine so richtige Anmerkung macht er bei Gelegenheit seines von einem alten Weibe mit Ungeziefer angesteckten Hauses: »daß die Obrigkeiten ein löbliches Werk thun würden, wenn sie das, was sich in einer Stadt außer dem gewöhnlichen Laufe der Natur zutrüge, vor ihr Forum zögen, die ganze Sache untersuchten, und dem Publiko und der gelehrten Welt, sonderlich den Theologen und Philosophen vorlegten, damit sie desto geschickter wären, von solchen Dingen zu urtheilen, und entweder dem heidnischen Aberglauben unter den Christen, von [111]dem sie so so lange sind geäft worden, zu steuren, oder die Grundsätze der Religion außer der Schrift auch noch durch die Erfahrung desto besser zu befestigen«.

Im Folgenden führt er einige Träume an, die richtig eingetroffen sind, und wobei er die wahre Bemerkung macht, daß eine Präscienz der menschlichen Seele durchaus etwas Unerklärbares sei, indem man darin nichts anträfe, ans welchem man den Schluß machen könne, daß sie eine natürliche Kraft habe, zu weissagen und zukünftige NB zufällige Dinge vorher zu wissen. Eine solche Präscienz, sagt er vorher mit Recht, kann nicht einmahl in Gott a priori demonstrirt werden, sondern nur a posteriori, und aus dem absurdo, so auf Seiten Gottes daraus fließen würde, daferne man solche läugnen wollte.

Das, wodurch sich das Leben unsers Hypochondristen mit am meisten auszeichnet, sind die schrecklichen Gewissensempfindungen über seine Jugendsünden*) 2, die er aber nicht hat nennen wollen, und die Mittel, welche er oft auf die lächerlichste Weise angewandt hat, sich davon zu befreien. Verschiedenemahl haben ihn Stellen aus der Bibel, sogar einmahl auch das Lied eines Bettlers beruhigt; aber er wird doch immer wieder von neuem von seinen Seelenleiden c befallen, bis er auf den Gedanken kommt, Gott ein Gelübde zu thun, und alle [112]Woche einen Tag vom Morgen bis an Abend zu fasten. (Welche alberne Grillen sich doch nicht die menschliche Einbildungskraft erfindet! und doch war grade diese Grille eins der größten Beruhigungsmittel des Verfassers.) »Der unvermuthete und erwünschte Effekt dieses Gelübdes, sagt er, ist eines von den curieusesten Avantüren meines Lebens, worüber ich jederzeit erstaunt bin, denn alsdann fing dasjenige an durch Gottes Gnade möglich zu werden, welches ich schier für unmöglich gehalten. Die Sünden ließen nach, und blieben aussen.« (Auf eine ganz natürliche Weise, weil der lebhafte Gedanke an das Gelübde, welches wöchentlich wiederhohlt werden mußte, die Gedanken an seine Sünden schwächte, und weil durch einen mäßigen Gebrauch der Speisen seine Seele, wie er selbst gesteht, immer heiterer wurde.) Aber nicht lange drauf fing die Milzsucht d in dem Verfasser wieder mit aller Stärke zu wüthen an. »Nun fährt der arme Mann fort, da die sündlichen Werke aussen blieben, und dem Verstande je mehr und mehr die Augen aufgingen, mein ehemaliges Leben recht einzusehen; so fing die Sünde mir erst an recht häßlich vorzukommen, und in ihrer schädlichen Gestalt zu erscheinen. Meine Traurigkeit wurde noch größer, als ich Lipsii Buch de constantia e in die Hände bekam, und solches durchlas. Der melancholische Stilus, in welchem das Tractätlein geschrieben, und insonderheit das Kapitel, in welchem von einem bösen Gewissen ge-[113]handelt wird, waren fähig meinen traurigen Humeur noch mehr zu erregen; und noch einen grössern Eindruck in meine betrübte und bekümmerte Seele machte das verlorne Schäflein des Herrn Scrivers. f (Daß doch alle solche abgeschmackte Bücher, welche schon manchen Menschen wo nicht ganz, doch halb verrückt gemacht haben, auf immer verbrannt werden möchten!) Das schreckliche Exempel des Menschen, der sich dem Teufel verschrieben, und kümmerlich wieder zurechte gebracht worden, und doch hernach wieder zurückgefallen, imgleichen die andern Historien von entsetzlichen Sündenfällen großer Uebelthäter, die zum Theil ein Ende mit Schrecken genommen etc., waren ein rechtes Oehl in das Feuer meines Gewissens. – Wer weiß, wie es dir noch gehen wird, dachte ich, und ob es nicht auch einmahl mit dir ein solches Ende nehmen wird. (Eine fast allgemeine Gewohnheit des Hypochondristen, sich alle die Leiden einzubilden, die Andere gehabt haben.) Eine von meinen Schwestern, fährt er fort, hatte Hochzeit. Mitten unter der hochzeitlichen Freude der andern Gäste überfiel mich eine heftige Traurigkeit. Die Wehmuth nahm je mehr und mehr bei mir zu, ich konnte unmöglich länger bei der Compagnie bleiben; sondern stahl mich von den Hochzeitgästen weg, und ging auf das freie Feld, und ließ meinen Thränen freien Lauf, die auch so häufig waren, daß ich mich darinnen hätte baden können. Es war nichts auf [114]Erden, was mich in diesem Zustande hätte erfreuen können, keine Musik ergötzte mich mehr, und kein Spiel erquickte mich mehr. Ich ging in der Hitze der Anfechtung hin und her, lief aus einer Kirche und Predigt in die andere, Trost und Linderung für meine geängstete Seele zu suchen«. Endlich wird der Verfasser in einer Predigt getröstet. »Es fehlte nicht viel, sagt er, daß ich nicht in der Kirche überlaut vor Freuden zu schreien anfing. – Da erfuhr ich das erstemahl in der That, wie einem zu Muthe, dem das Herz vor Freuden zerspringen will.«

Dieser qualvolle Gemüthszustand des Verfassers dauerte noch einige Zeit fort, und wurde wahrscheinlich durch die Abwechselung und Neuheit der Gegenstände in Leipzig, wohin er sich bald darauf des Studirens wegen begab, erhalten. Hier studirte er sehr fleißig, und wurde endlich mit vielem Beifall Magister. Aber die Rückfälle der Hypochondrie sind bei gemüthskranken Leuten gemeiniglich stärker und heftiger, als ihre vorhergehenden Anwandelungen, und so ging es auch unserm Verfasser. Seine Gewissensangst trat auf einmahl wieder mit der größten Wuth ein, und das Entlaufen eines Famulus aus seinen Diensten, von dem er nicht wußte, wo er hingekommen war, mußte Veranlassung dazu werden. Er hatte diesen Menschen wegen seiner Lüderlichkeit mit Worten hart bestraft, der Bube war darauf davon gelaufen, und dem armen Bernd lag es nun immer in dem Sinne, [115]daß er an allem Elende, welches jenen treffen könne, Schuld sey; noch mehr geräth er aber in Unruh, da er die Nachricht bekommt, daß sich ein Junge ohnweit Leipzig ersäuft habe, ein Umstand, welcher den gesetztesten Mann, geschweige einen an Leib und Seele kranken Milzsüchtigen erschüttern mußte. »O mein Gott! hebt der unglückliche Mann an, was soll ich von dem folgenden 1704ten Jahre sagen, und welche Feder ist fähig, die Seelennoth und Höllenangst zu beschreiben, in welche ich gerathen bin. Ich hatte einen habituellen, eifrigen, beständigen, täglichen Vorsatz, etwas nimmermehr einzugehen; und siehe! so sehr ich neben diesem guten Vorsatz auch eifrig gebetet, in einer gewissen Sache mein Jawort nicht dazu zu geben; so wurde ich doch bei der sich dazu ereignenden Gelegenheit schnelle, und in der Hitze des Affects willens, meinem Vorsatze conträr zu handeln.« Der Verfasser nennt dieses Etwas eigentlich nicht; wahrscheinlich war es die aus seinen Erzählungen sehr hervorleuchtende Neigung zu heimlichen Sünden. Er geht, um sich von seiner Seelenangst zu befreien, zum heil. Abendmahl, und zwar nicht bei seinem gewöhnlichen Beichtvater, bei welchem er erst vor 6 Wochen gebeichtet hatte, und dem er durch ein so oftes Abendmahlgehen nicht gern als ein frommer Sonderling vorkommen wollte; allein durch den Gebrauch des Abendmahls wurde seine Angst noch größer, weil er es unwürdig genossen zu haben [116]glaubte. »Essen und Trinken, fährt er fort, schmeckte mir nicht mehr, und wenn ja die große Angst des Gemüths zuweilen Hitze und Durst im Leibe machte; so hatte ich zum wenigsten doch vor den Speisen einen Ekel. Dachte ich, mein Lager sollte mir's lindern; so erschreckte mich Gott durch Träume. Bald schwamm ich in großen Wassern, bald brannte mir mein Hauptküssen, oder ich befand mich sonst in Feuersnoth, bald soff ich die allerabscheulichsten Getränke im Traum. –Ich fing an abscheulich im Gesichte auszusehen, so daß ich nicht mehr das Herz hatte, in den Spiegel zu sehen. Meine Schüler erschracken über meine Gestalt. Einer meiner Auditoren hatte gar das Urtheil von mir gefällt: daß ich im Gesichte aussähe, wie man die Verdammten in der Hölle manchmahl zu mahlen pflegte, welches mich schrecklich peinigte, und welches ich als lauter Merkmahle meiner Verdammniß ansahe«. Durch eine Predigt, die er zu halten übernimmt, wird er wieder etwas ruhig; aber er sinkt in seinen traurigen Zustand bald wieder zurück, da er eine melancholische Magd trösten will, die neben ihm an wohnt. »Ich erschrack über sie, sagt er, daß mir alle Glieder meines Leibes zu zittern und zu beben anfingen. Es war, als spräche jemand zu mir, oder der Satan selbst: du unterstehest dich Andere zu trösten, und steckst selbst im Koth der Sünden bis über die Ohren, ich will sie verlassen, und dich baß g plagen! Ich konnte [117]fast kein Wort mehr reden, absonderlich da sie abscheuliche Gotteslästerungen ausstieß. – Ich fing schon an auf der Gasse zu erschrecken, wenn mir Leute von häßlichem Angesichte vorkamen, und zu denken, als ob es der Teufel selbst wäre. Dienstags frühe konnte ich vor Schwermuth nicht zu Hause bleiben, sondern lief vor Angst in das philosophicum, und die Disputation, so gehalten wurde. Es war mir höchst heiß um den Kopf, und das Herze auf das höchste zusammengepreßt. Ich stehe und höre der Disputation zu, und siehe, ehe ich michs versahe, so kriege ich die Idee und das Bild eines Messers, das mir an die Gurgel gesetzt wird. Nicht als ob ich, (wie Menschen etwa aus Ungeduld, die des Lebens überdrüssig sind, zuweilen thun mögen) bei guter Ueberlegung gedacht und beschlossen hätte: weil du in so schreckliche Noth und Angst gerathen, so willst du dich umbringen, so kommst du von der Marter los! Keinesweges, sondern dieß begegnete mir schnell, wie ein Pfeil, ohne alles Denken, Raisonniren, ohne allen Schluß und Vorsatz, und wollte es dir eher mündlich erklären und zeigen, wie dies zugeht, als mit Worten beschreiben. Wie einem etwa, der ein Lied oder ein musikalisch Stück gehört, hernach, ehe er sichs versiehet, ohne Vorsatz und Entschluß daran wieder zu denken, ihm doch solches wider seinen Willen wieder einfällt, so schnell entstund ein dergleichen schreckliches Bild in meinem Gehirne. So stark, [118]so unvermuthet, und so lebhaftig diese Idee und Einbildung war, so tief schnitte sie in das Gehirne ein, und legte einen Grund zu dem Gedanken und zu der Furcht, das zu thun, wofür ich doch den größten Abscheu hatte, mit der ich hernach lange Zeit bin geplagt worden. Je mehr ich vor diesem selbstmördrischen Bilde erschrack, je tiefer imprimirte es sich, und je öfter mußte es mir natürlicherweise wieder einfallen. Doch blieb es nicht blos bei dieser Gattung und Specie; sondern ich wurde eben so stark hernach mit den Ideen von stürzen, ersäufen und hängen gemartert, wobei ich am Leibe abzehrte, und ganz zu verdorren anfing. Immer war eine unaussprechliche Furcht da, daß dergleichen noch geschehen möchte, und durch diese Furcht aus Aberglauben entstand die festeste Einbildung, daß es noch geschehen und dazu kommen werde. Man hat keine Lust und Reitzung dazu, wie einer, der zum Stehlen oder zum Ehebruch gereitzt wird, und solches zu begehen Lust bekommt; sondern man hat die größte Furcht und Abscheu vor der Sünde des Selbstmordes, und gäbe die ganze Welt darum, um nur versichert zu werden, daß solches nicht geschehen würde*) 3. – Doch das war noch nicht alles. Zu [119]allem Unglück erzählte mir die Bettfrau (auf dem rothen Collegium zu Leipzig) h eine Historie von einem, welcher sich am Charfreitage selbst umgebracht habe. Kaum hatte ich diese Historie mit Furcht und Zittern angehört, so überfiel mich den Augenblick die Angst, Furcht und Einbildung, es würde mit mir auch dahin kommen, daß ich an diesem Tage auf eine so miserable Weise mein Leben enden würde. Mein Gott! dachte ich oft bei mir selbst, sollst du an dem Tage so jämmerlich sterben, an welchem du Gott allezeit am inbrünstigsten geliebt, und Gottes [120]Liebe im hohen Maße geschmeckt hast! Doch das half nichts. Das zaghafte Fleisch und Blut und das aufgewachte Gewissen wollte sich solches nicht ausreden lassen. Ich konnte nicht leicht ein Messer sehen, ohne davor zu erschrecken, und wenn ich aß, so mußte ich es mit ganzer Gewalt feste halten, damit ich nicht schnelle zuführe, oder wenn die Speisen zerschnitten, solche mit der Hand fassen und in den Mund stecken. Die Feder, mit der ich schrieb, das Federmesser, womit ich die Feder besserte, die Tobackspfeiffe, die ich in den Mund nahm, die Lichtscheer, i womit ich das Licht schneutzte, den Degen, den ich ansteckte, die Thurmspitze, die ich sahe,– ja den Finger, [121] den ich nahe zum Munde brachte, setzte ich mir durch einen schnellen Gedanken, der schneller als ein Pfeil entstand, an den Hals. Des Nachts deuchte mich oft halb wachend und halb schlafend, als ob die Kammer ganz voller Messer wäre, und als ob ich sie klitschen j hörte«. – – –

»Auf die selbstmörderischen Gedanken, oder auch zu denselben kamen nun auch die abscheulichsten und unflätigsten Gedanken, so von natürlichen Dingen und Excrementis hergenommen, und, welches erschrecklich zu sagen, auf göttliche Dinge im Gemüthe schnell applicirt wurden. Ich mag sie nicht specificiren, um keines Menschen Imagination dadurch zu vergiften und etwa anzustecken. Die, so mit dergleichen Plagen behaftet, werden schon wissen, wie diese garstigen und abscheulichsten Gedanken, vor welchen das ganze Herz erschrickt, und schon bebet, wenn man sie auch nur von Ferne sieht aufsteigen und anmarschieret kommen, beschaffen gewesen. Es fallen mir auch zuweilen noch jetzt dergleichen Gedanken, Kraft der Imagination bei gewissen Gelegenheiten, insonderheit wegen schwächlicher Disposition meines Kopfs wieder ein, nur daß ich es nicht mehr achte, noch wie dazumahl davor erschrecke«.

Der Verfasser suchte sich nun allerlei Zerstreuungen zu machen, um seine finstern Grillen zu bekriegen; aber alles war vergeblich; seine Phantasie war einmahl im höchsten Grade erhitzt. Man höre nur, wie der arme Mensch seinen ferner Gemüthszu-[122]stand beschreibt. »So geschickt ich nun auch sonst war ziemlich fertig zu reden, so oft ich docirte und Andere lehrte, so turbirten mich doch ungemein sehr die gewöhnlichen schrecklichen Gedanken, die mir mitten im Dociren einfielen, (er hatte ein Collegium hebraicum zu lesen angefangen) und die schier der Verzweiflung immer mehr den Weg bahnten. Sagte ich etwa im collegio hebraico und unter dem Dociren: diese Litera wird im Lesen absorbirt, gleich fiel mir auf die lebendigste Weise ein, wie du von der Hölle wirst absorbiret werden. Sprach ich: finale abjicitur, den Augenblick hörte ich, als ob es jemand anders als ich selbst in mir spräche: so wie du von Gott weggeworfen bist. Sprach ich: künftigen Montag wollen wir v.g. zum 6ten Capitel schreiten, den Augenblick fiel mir ein: ja den Montag wirst du schon in der Hölle seyn. Sagte ein Anderer: Uebermorgen wollen wir da und dorthin spatzieren gehen und den Herrn Magister abholen, gleich dachte ich: ja da werdet ihr mich in meinem Blute liegend antreffen«.

»Mein höchst schwaches Haupt und Imagination war auch Ursache, daß mir Bilder von andern Thaten und Werken einfielen, die ich mit gutem Gewissen nicht hätte thun können, auch zu thun keinen Vorsatz noch Lust, sondern den größten Abscheu davor hatte, so daß ich mich recht zwingen mußte, nicht nach dem deutlichen Bilde zu handeln, was mir vorkam. Wenn auch mein Zustand sonst leidlich war; [123]so durfte ich keinem Ofen zu nahe kommen; denn ich hatte eine solche lebendige Idee und Bild bei aller sonst ruhigen Gemüthsdisposition, als ob ich mit dem Kopfe wider denselben liefe, daß ich mir auch den Kopf mit der Hand, oder etwas vor dem Kopf im hin- und hergehen vorhalten mußte, damit ich nur den Ofen nicht sehen dürfte. Wäre damahls der Verstand durch schlaflose Nächte, oder durch andere Ursachen verloren gegangen; so bin ich gewiß, daß ich mechanice und brutaliter nach diesem Bilde der Imagination würde agirt und gewürkt haben, v.g. wider den Ofen gelaufen seyn, so man mich demselben nahe kommen lassen, und der Natur der Lauf wäre gelassen worden. Denn wo keine Vernunft ist, da agirt ein Thier mechanice und physica necessitate nach den Bildern, die ihm eingedrückt sind. So lange aber noch Verstand und Vernunft vorhanden, so hat ein Mensch noch Macht, durch dieselbe die Phantasie zu überwinden, und doch nicht nach dem Bilde zu handeln, das er im Gehirne hat; es müßte denn die allzulebhafte Vorstellung eine Uebereilung verursachen. Saß ich damahls, oder stand nahe bei Einem, so mußte ich mir oft den Mund zuhalten, daß ich ihn nicht anspiee, wenn er gleich mein Freund war, und ich alle Liebe zu ihm hatte, so daß ich gar nicht wußte, warum ich ihn anspeien sollte; denn das Anspeien kam mir so deutlich vor, als ob es geschähe; oder ich schlug ihn in Gedanken mit der Hand in's Ange-[124]sicht, so daß ich die eine Hand mit der andern halten mußte, damit es nur nicht würklich geschehen möchte. Ich konnte nicht ohne innerlich Auffahren eine große Ziffer sehen v.g. eine 6 oder 9; ein Spatium, wo drei oder vier Bücher gestanden, machte mir schon Aengstlichkeit, und konnte ich nicht ruhen, bis der Raum wieder mit Büchern ausgefüllt wurde. Ich bebte vor einem Zeddel, wenn derselbe auf einem Fenster lag, wo er sonst nicht zu liegen pflegte, und konnte nicht ruhen, bis ich ihn an seinen ordentlichen Ort wieder gelegt. Ich betete, doch meistens ohne sonderbare Bewegung, und zuweilen, wenn ich dazu schritte und niederkniete, wurde mir das Angesicht wider meinen Willen in eine solche Gestalt gebracht, wie diejenigen haben, denen ein Ding lächerlich vorkommt«.

»Doch meine Plagen waren damit noch nicht alle, sondern es war noch die Spitze und der höchste Grad der Anfechtung zurücke. Nun folgten auf die mörderischen und unflätigen Gedanken die gotteslästerlichen. Es fand sich im Herzen wie ein heimlicher Grimm gegen Gott, daß ich selbst nicht wußte, ob es mein Ernst wäre, oder nicht. Ein kleiner Trost, der dabei noch übrig blieb, war, daß ich mich darüber entsetzte, und wünschte, daß dieser Grimm mit allen lästerlichen Gedanken wieder vergehen möchte. Doch das geschahe nicht bald, sondern es währte wohl bis 3 Wochen, daß mir oft wider meinen Willen unversehens einfiel: Verflucht [125]ist etc. – so daß ich alles verfluchte und verwünschte. Ich mag das Objectum dieser innerlichen Action nicht ausdrücken, um niemanden damit zu erschrecken oder einem Schwachen einen Anstoß zu geben. Die Imagination stellte mir diese Gedanken so lebhaftig in meiner Seele vor, daß ich mir oft den Mund mit der Hand zuhalten mußte, damit mich das lebendige Bild nicht verleitete, die Lästerung auszusprechen. Weil ich vielmahl gehört, daß dieses die Verdammten in der Hölle einst thun würden, so fing ich an mich schröcklich zu fürchten, daß dieses nicht Vorboten der völligen Verzweiflung und der ewigen Höllenpein seyn möchten. Wenn die Angst und das Herzdrücken am größten war, so fiel mir zuweilen wider meinen Willen schnell ein: Ja! wenn du nur schon in der Hölle wärest, so wüßtest du doch, wie viel es wäre, was du jetzt noch zu fürchten hast; welches derjenige Einfall ist, der unter allen andern meiner Seele am wehesten gethan. Donnerstag oder Freitag vor Trinitatis, k ehe ich einschlief, kriegte ich einen lebendigen Eindruck vom höllischen Feuer. Es schien, als ob ich nichts als Feuer um mich sähe, und da es mir vorkam, als ob nun die Gluth um und um über mich zusammenschlagen wollte, so fing ich an zu schreyen: O Jesu hilf mir, nun ist es Helfenszeit! In dem Augenblick aber fiel ich in den tiefsten Schlaf, und ich nahm es, da ich wieder erwachte, vor eine handgreifliche Hülfe Gottes und Merkmahl an, daß er [126]mich noch nicht ganz verworfen hätte. Inzwischen ließ ich nicht ab, Gott inbrünstig im Gebet, obwohl mit beklemmtem und hartem Herzen anzurufen, und nach meiner Erlösung zu seufzen. Ach mein Gott! sprach ich oft, wenn wird doch der Knabe kommen und mir sein Stäblein reichen, und mir aus der tiefen Grube helfen, aus welcher ich keinen Ausgang finden kann. Denn vor den Feiertagen träumte mir einstens zur Nacht, als ob ich in einer tiefen Grube steckte, und nicht die geringste Möglichkeit sähe, heraus zu kommen. In der Angst arbeitete ich, und kletterte bald hier, bald dahin; aber alles Bemühen war vergebens. Indem deuchte mich, als ob auf der Grube und am Rande ein kleiner schöner Knabe stünde, der mir ein Stäblein reichte, unter dem Schein, als ob er mich damit heraushelfen wollte. Ach du armes Kind, fing ich an, mit diesem Stäblein wirst du mich nicht herausziehen; ich würde dich eher zu mir herunterreißen. Es sagte aber: ich sollte mich nur anhalten, es würde schon angehen. Kaum hatte ich das äußerste Ende seines Stabes angerührt und gefaßt, so wußte ich nicht, wie mir geschahe; denn in dem Augenblick befand ich mich außer der Gruben oben bei dem Knaben«. Dieser Traum, noch mehr aber die sonderbare Beichtabsolution, die ihm ein Leipziger Prediger ertheilt, fing auf einmahl unsern unglücklichen Hypochondristen zu beruhigen an. Sein Herz fängt jetzt wieder ruhiger zu schlagen an, seine [127]bisherigen Schreckbilder der Phantasie verlassen ihn, – und zwar auf eine lange Zeit, er vergießt Freudenthränen, seine Gestalt wird wieder menschlicher, – und das alles aus einem sehr richtigen psychologischen Erfahrungsgrunde: daß die Seele nach langem ausgestandenem Kummer oft in dem Augenblicke, da sie noch davon gedrückt wird, durch eine Art eigener Spannkraft sich davon befreiet, und nun in einen desto stärkern und lebhaftern Genuß der Freude übergeht. Daß die Seele dazu erst gewiße Veranlassungen, gewiße Hülfsbilder haben müsse, ist natürlich; – aber unnatürlich wäre es, wenn man annehmen wollte, daß der Uebergang von Seelenleiden in ruhigere und angenehmere Gefühle durch unmittelbaren Einfluß der Gottheit verursacht würde.

P.

(Die Fortsetzung folgt.)

Fußnoten:

1: *) Ich kenne mehrere recht brave und gute Leute, die mit solchen garstigen und unwillkürlichen Ideen sehr oft wider ihren Willen geplagt, und oft in ihren ernsthaftesten und frömmesten Geschäften, z.B. beim Gebet, beim heil. Abendmahl, davon überrascht werden. Ich habe selbst einmahl lange den Namen der Gottheit nicht ohne gewisse schmutzige Epitheta denken können, ich habe mir alle Mühe gegeben, ihren Eindruck aus meiner Seele zu tilgen; allein, ehe ich michs versahe, stand der häßliche Ausdruck wieder vor meinen Augen; um ihn nicht so lebhaft zu fühlen, fing ich als Knabe oft erstaunlich geschwind mein Gebet abzuplappern an, und ich glaubte damahls so gut, wie der Hypochondrist Bernd, daß der böse Feind sein Spiel mit meinem Gehirn haben müsse. Neulich gestand mir noch ein gescheuter, sehr angesehener Mann, daß er seinen Glauben an einen Teufel gleich aufgeben wolle, wenn man ihm unwillkürlich böse Gedanken auf eine natürliche Art in Absicht ihres Ursprungs erklären würde.
Anm. des H.

2: *) Man erräth leicht, daß es heimliche Sünden der Wollust gewesen sind. <P.>

3: *) Es ist aus unzähligen Erfahrungen bewiesen, daß wir in gewißen Gemüthszuständen eine Sache sehr verabscheuen, und sie doch zu gleicher Zeit begehren können; Erfahrungen, welche dem psychologischen Satze eben nicht günstig sind: daß wir nur das begehrten, was wir für gut, vollkommen oder angenehm hielten. Der menschliche Wille wird offenbar nicht immer nach den Schlüssen der Vernunft von der Vollkommenheit oder Unvollkommenheit einer Sache; sondern sehr oft von dunkeln Instincten, von Ueberraschungen unserer Leidenschaften, von unwillkürlichen Bildern der Phantasie bestimmt, ohne alle vorhergegangene Ueberlegung und Reflexion. Die Neigung zum Selbstmord, wenn auch die Seele auf der einen Seite den größten Abscheu dagegen vermöge gewisser Vernunftgründe haben kann, wird mir vornehmlich durch ein inneres Bestreben der Seele nach Freiheit, nach Entfernung der Lasten, die uns drücken, wogegen die Vernichtung unserer Existenz das beste Mittel zu seyn scheint, sehr erklärbar. Der Hypochondrist fühlt, daß er im höchsten Grade unglücklich ist, alle Bilder, die sich seine Seele schafft, sind fürchterlich und schwarz, er denkt nur, um sich zu quälen, er wünscht lieber, einige Augenblicke nicht zu existiren, und wie leicht ist die Neigung erweckt, sich auf einmahl von allen Uebeln zu befreien. Ganz natürlich stellt ihm seine Vernunft den Selbstmord als etwas Abscheuliches vor, seine Liebe zum Leben, die nie in einem vernünftigen Wesen ganz verlöscht, spricht auch wenigstens dunkel dazwischen; – er findet seine mörderischen Gedanken verachtungswürdig; aber er kann nicht Herr über sie werden, denn sein Freiheitstrieb, sein Wunsch, sein Sehnen nach Ruhe ist stärker als seine Vernunft, und aus diesem abwechselnden Zustande muß nothwendig eine solche Gemüthslage entstehen, wie sie uns der unglückliche Verfasser geschildert hat, und mit welcher die Einbildung: du wirst dich gewiß noch einmahl umbringen, natürlich verbunden ist.
P.

Erläuterungen:

a: Bernd 1738.

b: Lat. Plural von 'Omen'.

c: Korrigiert im Druckfehlerverz., MzE V,3,[125].

d: Die Hypochondrie (Adelung 1811, Bd. 3, Sp. 213).

e: Lipsius 1584

f: Scriver 1672

g: Veralteter Komparativ von 'besser' (Adelung 1811, Bd. 1, Sp. 743).

h: Gebäudekomplex der Universität Leipzig.

i: Lichtschere oder Lichtputze: "ein Werkzeug in Gestalt einer Schere, woran der eine Arm hohl ist, das Licht damit zu putzen, d. i. die Schnuppe von dem Lichte wegzunehmen" (Adelung 1811, Bd. 2, Sp. 2054).

j: klatschen (DWb Bd. 11, Sp. 1211).

k: Dreifaltigkeitsfest (DWb Bd. 22, Sp. 545).