ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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1.

<Der Steinleser.>

Voß, Christian Daniel

In Wolfenbüttel lebt ein Mann, Namens Lauterbach; er hat in seiner Jugend Theologie studiert und sich mit vielem Eifer auf die orientalischen Sprachen gelegt, in welchen er es zu einer nicht ganz gewöhnlichen Geschicklichkeit gebracht haben soll. a Auch hat er seine Dogmatik und die damit verwandten Wissenschaften auf das treulichste seinem Gedächtniß einverleibt, so, daß er noch jetzt manchem aufzurathen geben kann. Er ist einige funfzig Jahr alt, hat nie ein Amt bekleidet, sondern theils von einem kleinen Vermögen und den Unterstützungen seiner Verwandten, theils vom Abschreiben für Sachwalter sich genährt. Dieser Mann hat in seinem Aeußern viel Ernsthaftes und Anständiges, er kann über viele Dinge und zwar vernünftig und einsichtsvoll urtheilen; aber wenn man einige Saiten berührt, dann überstimmt ein Miston alles übrige, und der vernünftige Mann ist plötzlich in einen der seltsamsten Thoren verwandelt. Eine seiner sonderbarsten Grillen ist die, daß von der Beschaffenheit der Steine die [18]Begebenheiten in der Welt abhingen. Der eine verkündiget seiner Meinung nach Pest, der andere Krieg, der dritte Feuersbrunst, und so alle Unordnungen und Unglücksfälle, die nur immer in der Welt vorkommen. Er sondert daher solche bedeutende Steine sorgfältig, und wenn er sie alle besässe, so würde von ihm das Schicksal der ganzen Welt abhangen. Als vor einigen Jahren das große Erdbeben in Calabrien entstand, machte man ihm den Vorwurf: er wolle der Regierer der Welt seyn, und habe ein solches schreckliches Unglück nicht verhütet. Er entschuldigte sich kurz damit, daß er den Stein, von dem es abhänge, nicht habe habhaft werden können. Ist er aber in seiner Macht zu nehmen und vorzubeugen, so thut er es auch gewiß. Er kam z.B. zu einem seiner Bekannten: Sie haben da ein paar Steine auf Ihrem Hofe liegen, sagte er mit bedenklicher und sorgsamer Miene, die müssen Sie nothwendig gleich wegnehmen lassen, wenn Sie nicht wollen, daß Ihr Haus abbrennen soll. — »Aber woher wissen Sie das, und was können die Steine dazu beitragen?« — Sehn Sie, das will ich Ihnen gleich sagen, diese beide Steine hier, sind beide von sehr heißer und feuriger Natur. Wenn sie nun länger nebeneinander liegen, werden sie sich einander entzünden. Nichts natürlicher, wie das. — Oft bemerkt man ihn auf der Straße stillstehen, und seinen Blick unverwandt auf einen Stein richten. — [19]Wonach sehen Sie hier, Herr Lauterbach? »Uebel! sehr übel! wir werden bald theure Kornpreise haben. Sehen Sie nur hier diesen Stein. Es ist unvermeidlich!« —

Auf seinem Zimmer hat er eine große Sammlung von Kieselsteinen groß und klein. Diese zu berichtigen ist er unermüdet. Haben sie ihre Kraft verloren, dann wirft er sie weg und sucht andere. Er hat eine große Menge in Gestalt eines Menschenskelets gelegt, wovon ein jeder einen der innern oder äußern Theile des Menschen bedeutet. Mit Hülfe dieser (wenn er sie nehmlich alle komplet hat, welches inzwischen selten ist) kann er alle Krankheiten seiner Meinung nach kuriren. Kömmt einer zu ihm, und klagt: er habe die Schwindsucht und werde wohl seinem Grabe zu gehn müssen; so steht er ruhig auf, Hm! sagt er, die Krankheit sitzt in der Lunge, da wollen wir bald zukommen. Ich brauche nur diesen Stein hier umzudrehen, der bedeutet die Lunge. Nun können sie getrost nach Hause gehen. Ihre Krankheit wird sich gewiß geben. Hat er aber zum Unglück den Stein nicht, welcher den Theil, in dem der Sitz der Krankheit ist, bezeichnet, so sagt er es freimüthig, und entschuldigt sich, daß er nun nicht seinen Wunsch befriedigen könne. Es läßt sich hierbei gar nicht gedenken, daß dieß eine eigennützige Betrügerei sei, denn er läßt sich auf keine Weise für seine Kuren bezahlen. Auch giebt er allenthalben die untrüg-[20]lichsten Beweise seiner strengsten Rechtschaffenheit. Sein Widerwille gegen alle Vergehungen dieser Art geht so weit, daß wenn ihm von dem Advokaten Akten zum Abschreiben übergeben werden, er nur die abschreibt, deren Inhalt er für gerecht und gut erkennet. Ist aber der geringste Schein vom Gegentheil da, so schreibt er darunter, daß er die Sache für ungerecht erkenne und giebt sie unabgeschrieben zurück. Uebrigens läßt er sich auf eine Erörterung seiner Theorie von den Einwirkungen der Steine nicht ein; ohnerachtet aus ein und dem andern erhellet, daß er sich doch wohl eine gebildet haben muß.

In seinem Essen und Trinken ist er äußerst sonderbar. Meistentheils bereitet er sich selbst etwas zu. Nur selten können andere ihn bereden, mit ihnen zu speisen. Oft wenn er in zahlreicher Gesellschaft speiset, glaubt er doch, daß dieses oder jenes Gericht vergiftet sei, und weder Ueberredung noch Beispiel ist im Stande, ihn zu bewegen, davon zu essen. Sein Wasser schöpft er sich allemahl selbst, und zwar gegen den Strom. Etwas, was auf andere Weise geschöpft ist, trinkt er nie. Ich habe mir bisher vergebens Mühe gegeben, Nachricht von seiner Jugend und Erziehungsgeschichte zu erhalten. Sollte mir meine Bemühung in der Folge besser glücken, so werde ich nicht ermangeln, sie mitzutheilen.

C. D. Voß.

Erläuterungen:

a: Am 18. März 1751 immatrikulierte sich Wilhelmus Christianus Lauterbach aus Wolfenbüttel an der Universität Helmstedt (Mundhenke 1979, S. 200. Für diesen Hinweis und für Kirchenbucheinträge zum Geburts- und Sterbedatum Lauterbachs danken wir Dr. Bei der Wieden, Ltd. Archivdirektor, Staatsarchiv Wolfenbüttel.