Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn
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Ew. etc. hab' ich neulich mündlich versprochen, Ihnen die Geschichte jener Frau, welche bei jeder Schwangerschaft das erste Glied ihres Fingers verloren hat, etwas umständlich zu überschreiben, wann ich zuvor in dieser Absicht noch einst diese Frau besuchet haben würde.
Die Frau, von welcher ich reden will, ist aus der Herrlichkeit Rheda gebürtig, und wohnet seit ihrer Ehe im Kirchsprengel Harsewinkel hiesigen Hochstifts als Eigenbehörige dieses Klosters Marienfeld, eine halbe Stunde von hier. Am Sonn-[46]abend den 9ten Juli ging ich wieder zu ihr. Sie erzählte mir alles wieder so und mit den nämlichen Umständen, als sie es schon vorhin zu drei verschiedenenmalen gethan hatte.
Sie sagte, drei oder auch vier Wochen nach einem fruchtbaren (empfänglichen) Beischlaf empfinde ich einen Schuß am ersten Glied eines Fingers; dann sage ich zu meinen Mann: nun ist es wieder ins reine, (das ist, ich bin ganz gewiß wiederum in gesegneten Umständen) das Glied des Fingers fängt dann an zu schwären, mit unausstehlicher Hitze zu brennen, allgemach verwandelt sich das Geschwür in eine mit hellem Wasser angefüllte Blase; nachdem ich diese mit einer Nadel durchgestochen, scheint das Fleisch um den Knochen in Fäulniß überzugehen: endlich fällt der Knochen des beschädigten ersten Gliedes heraus, und alsdann ist in Zeit von vierundzwanzig Stunden der verstümmelte Finger ganz wieder zugeheilet. Das Herausfallen des Knochens folget vier oder fünf Wochen nach dem ersten Schwären des Fingers. Die Glieder sind in folgender Ordnung abgefallen. Bei der ersten Schwangerschaft fiel an der linken Hand das erste Glied des Mittelfingers — bei der zweiten das erste Glied am Zeigefinger — bei der dritten das am kleinen oder Ohrfinger — bei der vierten am Daumen — bei der fünften an der rechten Hand das erste Glied des Zeigefingers — bei [47]der sechsten am kleinen oder Ohrfinger — bei der siebenten am Daumen.
Die Frau hatte zwar die herausgefallenen Knochen aufbewahrt, und versprach mir schon voriges Jahr dieselbe zu geben; allein nach allem möglichen Durchsuchen konnte sie keinen finden, welches ich sehr bedauerte.
Ich zweifele sehr, ob sie noch ein Glied verlieren wird, denn wenn sie mir gleich ihr Alter nicht sagen konnte, so ist sie doch schon achtzehn Jahr im Ehestande, und dem Ansehen nach näher an funfzig als fünfundvierzig. Die sieben Kinder sind noch alle frisch und munter. Einmahl war ich gegenwärtig, als mein Freund die Frau befrug, wie viel Kinder sie habe? statt der Antwort hob die Frau beide Hände in die Höhe und zeigte meinem Freund, daß sie nur noch drei ganze Finger, nämlich in der rechten Hand den Ring- und Mittelfinger, in der linken Hand den Ringfinger unverletzt übrig hätte.
Minden den 13ten September 1785.
Kammerrath bei der Mindeschen Kr. und D. Kammer.
Sollte die Einbildungskraft solche erstaunliche Wirkungen hervorbringen können, daß diese Frau, weil ein und eben dasselbe sich etwa zweimal zufälliger Weise ereignete, nun die Wiederkehr eben desselben Zufalls bei dem, was sie für die Ursach davon hielt, so gewiß erwartete, daß diese Erwartung auch wirklich eintraf? Und also nun etwas als Wirkung und Ursach aufeinander zu folgen schien, oder wirklich aufeinander folgte, wovon vorher ein jedes für sich, ohne das andre, erfolgt seyn würde? Ein physiologischer Grund möchte doch hier wohl schwerlich aufzufinden seyn.