ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Einige Bemerkungen über etliche im ersten Stücke des zweiten Bandes des Magazins befindliche Aufsätze.

Schlichting, Johann Ludwig Adam

Zweifel an eigener Existenz von Hrn. F. A. Stroth. Folgende Gedanken erklären mir einigermaßen die Entstehungsart dieser Zweifel. Der Fall ins Wasser, mit dem sie als Folgen verbunden waren, geschah, als Hr. St. noch ein rascher Knabe war, und in den Jahren, da das Feuer der Einbildungskraft ganz eigenmächtig herrscht, wo es ganz frei und ungehindert, nach dem jedesmaligen Verhältniß äußerer und innerer, vorhergehender und gegenwärtiger Umstände stärker oder schwächer um sich greift, seine Herrschaft über den ganzen thätigen und leidenden Menschen verbreitet, sich aller andern Ideen und Erkenntnißquellen bemächtigt und sie ihren Ausbrechungen unterordnet. Er geschah in einem Alter, da die Begriffe von Existenz, Tod und einem andern Leben so eingeschränkt, so unbestimmt, verworren und meistentheils unrichtig sind, wo Erfahrungen und so lebhafte, deutliche und währende Eindrücke des Gegenwärtigen, Vergangenen und sogar solche Eindrücke des Sinnlichgegenwärtigen zu sehr mangeln, als daß sie nicht von jedem etwas stärkern Anlaße verdunkelt und schwankend und ungewiß gemacht werden könnten.

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Alle diese Betrachtungen und vielleicht noch das Individuelle zusammengenommen, kann ich mir schon begreiflich machen, wie sich Zweifel an eigener Existenz mit dem Sturz ins Wasser und einer sehr nahen schon betäubenden Todesgefahr als Gedankenfolge verbinden könne; und wie die zuverlässigste sowohl als die natürlichste Auflösung dieser Zweifel die Veränderung des Wohnortes und also die Veränderung der alten gewohnten, und immer dieselbe Idee erweckenden Gegenstände sei. Da siehet man denn neue und immer neue Gegenstände, die eine ganz andere Modifikation in der Vorstellung und neue Eindrücke hervorbringen müssen; mit diesen kömmt die Ueberzeugung von seinem irrigen Wahne und der vorigen Täuschung; der getäuschte beginnt nun seinem Zustande näher nachzudenken, Grund, Wirkung und Wirklichkeit unbefangner nachzuforschen, und sieht das Elysium noch weit von sich entfernt.

Todesahndung.

Ein junger Mensch, eingezogen und sittsam, doch munter, bestimmte das Jahr, den Tag, die Stunde seines Todes, ohne auch nur wahrscheinliche vorhergehende Gründe. Könnte man diese Vorhersagung nicht aus folgenden Gründen erklären?

Sein Bruder starb; er fühlte den Verlust; er ging ihm sehr nahe, und lag schwerdrückend auf sei-[124]ner Seele. Ohne allen Einfluß auf diese, ohne alle Wirkung auf ihre Kräfte und Aeußerungen konnte wol die Unvergeßlichkeit dieses empfindlichen Verlustes, und das immer gleichstarke Schmerzengefühl nicht bestehen. Natürlich war es also, wenn die Phantasie ihm ähnliche Wirkungen spann, wenn Todesgefühle ihn umschwebten und seine betäubte Gedanken ins Grab sanken. Wir wissen, wie leicht unsere Träume an dergleichen phantastischem Gedränge Antheil nehmen, sich ganz nach ihnen richten, aber auch, daß sie zu der Sache immer noch etwas zusetzen, sie anwenden und mehr bestimmen. So entstand bei diesem jungen Menschen ganz natürlicherweise der Traum: du wirst auch sterben; du wirst nach drei Jahren an demselben Sterbetag deines Bruders sterben. Dies war nur Traum, aber lebhaft genug für ihn, um ihn für Wahrheit, für ein seines Ausganges gewisses Ahndungsgefühl zu halten; die Wirkung, die dieser Traum, in Hinsicht auf seine Einbildungskraft, hervorbrachte, und die sich auch aus der nachher gefundenen Aufzeichnung des ganzen Traumes vernehmen läßt, diese war hinreichend, ihn nach allmähligen Zubereitungen, Modifikationen und Schwächungen des Körpers und seiner Kräfte, den bekannten Folgen starker Eindrücke auf die Einbildungskraft gemäß, zur Wirklichkeit zu bringen. Und nun, da der Moment der Entscheidung schon nahe war, da stieg die Ueberzeugung und Gewiß-[125]heit seiner Einbildung, welche von ihrer ersten Entstehung bis jetzt ununterbrochen seine ganze Seele einnahm, nun auch zum höchsten Grad ihrer Stärke und ihres wirksamen Einflusses; brachte in kurzer Zeit die Veränderungen der Lebenskräfte hervor, von denen der Tod unzertrennlich ist; dies gaben die öfteren Paroxysmen und die offenbare Verwirrung des Kopfes deutlich zu erkennen.

So hängt oft in einiger Betrachtung ganz willkürlich die Bestimmung der Todesstunde von der Stärke der Einbildungskraft ab. Wiewohl auch wiederum bei solchen Fällen manche Betrügereien mitunter laufen können, das Subjekt mag nun für Gründe haben, welche es will, und dieser kann es gewiß mehrere haben. Es ist möglich, daß der Mensch seine Todesgeschichte in dergleichen Umstände verhüllet, die sie auf einer ganz andern Seite vorstellen, und also das Wahre nicht sehen lassen.

Z. L. A. Schl.