ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


Startseite > Bandnavigation > Band: IV, Stück: 3 (1786) >  

3.

Einzelne Bemerkungen über Träume.

Voß, Christian Daniel

Mit dem innigsten Vergnügen lege ich das erste Stück dieses 86sten Jahrgangs, worin Sie eine Revision über die drei ersten Bände anstellen, aus der Hand. Unter den vielen Wichtigen und Bemerkungswerthen dieses Aufsatzes ist mir vorzüglich das, was Sie über Träume sagen, aufgefallen; weil es mit dem übereinstimmt, was ich schon mehrmahle über diesen Gegenstand gedacht habe. Ein Traum, sei er auch noch so kurz und unbedeutend, sollte, wie mir deucht, für den Psychologen immer einer der wichtigsten Erscheinungen seyn. Ich kann freilich nicht begreifen, wie es zugeht, daß ich denke, wachend und bei völligem Bewußtseyn denke; aber noch weit weniger, wie ich träume. Man hat es an Erklärung nicht fehlen lassen (wie man denn damit gemeiniglich eben nicht sehr karg ist) aber diese sind größtentheils nichts weiter, als was die meisten Erklärungen psychologischer Erscheinungen sind — künstlich versteckte Geständnisse, daß man es nicht wisse.

Ich habe mich gewundert, in Ihrem Journal bisher so wenig über diesen Gegenstand gefunden zu haben. Einige wenige Erzählungen von prophetischen Träumen, die Sie selbst in Ihrer Revision anführen. Aber diese, wenn es wirklich [80]solche giebt, würden, wie ich glaube, mehr in Rücksicht des prophetischen Gefühls unserer Seele wichtig seyn, als in so fern es Träume sind. Ich setze mit Vorbedacht hinzu, wenn es wirklich solche giebt. Träume, die in den Augen Unwissender und alter abergläubischer Weiber was bedeuten, werden gewiß in jeder Nacht viele tausende geträumt. Aber obgleich manche davon von Zeit zu Zeit wohl eintreffen, und sie sich daher gewiß noch lange in ihrem Rufe erhalten werden, so verdienen sie, ohne weitere Gründe, wohl eben nicht hieher gerechnet zu werden. Aber auch selbst die merkwürdigen, ungewöhnlichen sind und bleiben eben, wie Ahndungen überhaupt, immer unsicher, um so mehr, weil man selbst nicht einmahl der Erzählung dessen, der sie gehabt hat, als untrüglich glauben kann. Man weiß, wie sehr wallendes Blut und gereitzte Nerven auf die Einbildungskraft wirken, und wie leicht auch den Vernünftigen eine erregte Einbildungskraft täuscht; wie leicht sie halbempfundene Dinge, ohne es zu wissen, weiter ausmahlt, und eine Idee mehrere andre verwandte erweckt, und ohne sich's bewust zu seyn, mit sich verbindet. Dazu kömmt noch, daß meistens solche merkwürdige Träume erst dann erzählt werden, wenn sie schon eingetroffen sind, oder an dem sind einzutreffen, und wenn man denn den Zwischenraum der Zeit, die leichte Verwechselung der Ideen, die Täuschung unsers Gedächtnisses abrechnet, so wird manches [81]Merkwürdige zum Alltäglichen herabsinken. Gewiß würde, insbesondere auf die Rechnung des letztern, viel kommen, denn diese Schwäche, mit einer lebhaften Einbildungskraft verbunden, bringt viele und mannichfaltige Wirkungen hervor. Jeder Traum, auch der, der seines Inhalts wegen nicht vorzügliche Aufmerksamkeit erregt, ist für mich äußerst merkwürdig. Selbst der Schlaf an sich schon ist es. Der Mensch wandelte einher in Thätigkeit und Kraft — und nun ist Erschlafung, Unempfindlichkeit und Unthätigkeit über ihn hergefallen. Es ist natürlich, sagt man, der Mensch ist ermüdet. Aber bin ich nun klüger? — Woher kömmt diese Ermüdung? — Von angesträngter, anhaltender Thätigkeit? — Warum ermüdet das immer thätige Herz und der übrige unablässige Mechanismus des Körpers nicht? — Eben weil es Mechanismus ist. — Was erklärt mir das? — Der Mechanismus der Uhr hört unmittelbar auf, wenn die Federkraft nachläßt. Die Federkraft der Seele erschlaft auch nie. — Und doch vergeht Wirksamkeit der Sinne im Schlafe, doch scheinen die Verbindungswerkzeuge zwischen den äußern Gliedmaßen und der Seele gelöset, scheint sie die Faden, woran sie jene bewegt, losgelassen und wenigstens auf eine Zeitlang bei Seite gelegt zu haben.

Sie hat nicht diese Faden bei Seite gelegt. — Dieser schlafende Mensch wirft sich umher, — er bewegt einen Arm — er bewegt ihn mit Heftig-[82]keit — er weint — er lächelt — er murmelt unverständlich — er redet deutlich! — Was ist ihm? sieht er etwas, das ihn beunruhigt? — empfindet er etwas von Außen? — Nein! er träumt. — Was ist dieser Traum? — Ist es die fortgesetzte Reihe der Gedanken, mit denen er sich vor seinem Einschlafen beschäftigte? — Selten oder nie. Es ist eine Wiederhohlung, oft Jahre lang vorher erlebter Begebenheiten, oft an demselben Tage begangner Handlungen. Vorstellung derselben Handlungen und Begebenheiten, aber an ganz verschiedenen Orten, und durch ganz verschiedene Personen. — Doch sind es oft solche, die, als wir sie erlebten und thaten, keinen starken Eindruck auf unsere Seele zu machen schienen. — Was sehr merkwürdig ist: Dinge, die uns sehr nahe angehn und heftig erschüttern, werden uns nicht leicht gleich darauf im Schlafe wieder vorkommen. — Ich habe vielfache Erfahrungen, daß ein zärtliches Weib einen Gatten, ein Sohn seinen Vater, ein Liebhaber seine Geliebte verloren; — plötzlich ausgebrochne Feuersbrünste Habe und Gut verzehrt, empfindliche Beschimpfungen, Ehre und guten Nahmen gekränkt haben u.s.w. — Der Schlaf der ersten darauffolgenden Nacht, war freilich nicht der sanfteste; tausend Träume jagten einander, aber keiner war die Vorstellung des so eben erlebten. Diese erfolgte erst, nachdem sich der Sturm der Seele etwas gelegt hatte.

[83]

Oft aber ist der Traum etwas ganz anderes. Die seltsamste Zusammensetzung grotesker Ideen. Die bundschattigsten Bilder tanzen untereinander umher; und der Traum des vernünftigsten Mannes gleicht dem Wahnwitze. — Wieder andere träumen die zusammenhängendsten Geschichten, aber nicht solche, die sie wirklich erlebt haben, sondern neue, die die Seele in dem Augenblicke erst zu erfinden scheint. Wir sehn im Traume unsere Wünsche erfüllt; wir fühlen die ängstlichste Besorgniß, vor einem zu erwartenden Uebel; wir fühlen die lebhafteste Freude, gerathen in die unangenehmste Verlegenheit; empfinden Zorn und Schmerz. Merkwürdig scheint es, daß sich sehr oft dunkele Gefühle des gegenwärtigen körperlichen Unvermögens in unsere Träume mischen; z.B. ein nothwendiges Geschäft ruft uns ab, und wir können mit unsern Anzuge nicht fertig werden; — oder wir gerathen in Streit, selbst in Schlägerei, aber wir fühlen mit Unwillen, daß unsere Arme keine Kraft und unsere Schläge also von der Luft aufgefangen werden und gar keinen Nachdruck haben. —

Dieß Unvermögen merken wir nicht in Dingen, die unsern Geist betreffen. — Der Furchtsame hält hier vor großen Versammlungen Reden voll Feuer und Leben; wir reden fremde Sprachen, die wir kaum lesen können, und wachend nur zu reden wünschen, mit großer Fertigkeit; — wir halten lange zusammenhängende Gespräche, deren Inhalt [84]wir uns freilich deutlicher bewust sind, als den Inhalt des eben vorher angeführten; sind in wichtigen Aemtern, unter schweren Geschäften und verwalten sie mit Ruhm und Ehre.

Im Traume versetzen wir uns ganz aus unserer Lage, vergessen unsere Verhältnisse. Wir erdenken Begebenheiten, die schlechterdings mit unsern wirklichen Zustande gar keine Verbindung, wenigstens in so fern man es bemerken kann, haben, und wovon uns nie vorher ein Gedanke in den Sinn gekommen ist.

Alles dieses ist unendlich verschieden nach der Beschaffenheit unseres Körpers und unsers Gesundheitszustandes, und wenn wir völlig gesund sind, träumen wir gar nicht, und wenn wir recht lebhaft und viel geträumt haben, sind wir beim Erwachen müde und entkräftet.

Wie viel Unerklärliches, wie viel Widersprechendes findet sich nicht in allen diesen? —

Doch ich begnüge mich, diesen wenigen hingeworfenen Bemerkungen einen Traum anzuhängen, der mir immer einiger Aufmerksamkeit werth scheint. Er ist mir von einem meiner Freunde erzählt; ich kenne die äußere Umstände genau, und kann für die Zuverläßigkeit einstehn.

Eine weitläuftige Verwandtin von ihm, eine verheirathete Frau, ohngefähr vierzig Jahr alt, in deren Haus er nur selten und nicht ohne besondere Veranlassung kömmt, erzählt ihm eines Tages fol-[85]genden Traum gehabt zu haben: O** (mein Freund) kömmt zu ihr, in ihr Haus, in die Wohnstube, wo sie sich allein befindet, und thut ihr einen bescheidenen, aber offenherzigen Heirathsantrag. Sie geräth anfangs darüber in Verlegenheit, ohne ihn jedoch abzuweisen, äußert sie Bedenklichkeiten und macht ihm Einwürfe, die die Absicht seiner Anwerbung betreffen; — er sucht diese auf eine anständige Weise aus dem Wege zu räumen und zu widerlegen, und hierdurch entsteht eine lange Unterredung, deren sie sich von Wort zu Wort erinnert. Sie läuft darauf hinaus, daß sie sich endlich entschließt, zwar immer noch mit einer gewissen Aengstlichkeit, ihm das Jawort zu geben. Er beschenkt sie darauf mit einem Ringe, und sie, um ein Gleiches zu thun, geht in ihr Kabinet, wo sich ihr Geschmeide befindet. Indem sie hier nach einem Ringe sucht, denkt sie der Sache von neuen wieder nach, und indem sie das Unschickliche dieser Verbindung (er ist etwa fünfundzwanzig Jahr alt) recht lebhaft empfindet, wünscht sie ihr gegebenes Wort wieder zurücknehmen zu können. Doch fürchtet sie auf der andern Seite wieder, er möge sich dadurch beleidigt finden, und auch das will sie nicht gern. Nachdem sie so eine Zeitlang mit sich selbst gekämpft hat, und ihre Unruhe immer größer geworden ist, entschließt sie sich endlich, noch einmahl zurückzugehn, und ihn auf den Unterschied ihres Alters und die Unannehmlichkeiten, die in der Folge daraus entstehen könn-[86]ten, aufmerksam zu machen; auf den Fall aber, daß er diesen Vorstellungen nicht Gehör geben sollte, nimmt sie einen Ring mit zurück. Inzwischen läßt er es doch zu dieser Extremität nicht kommen, er findet ihre Vorstellungen vernünftig, und sie werden am Ende dahin eins, daß sie immer seine Freundin bleibe, ihm gern mit Rath und That, wo sie könnte, beistehen wolle, aber übrigens wollten sie in dem Verhältnisse gegen einander bleiben, in welchem sie sich jetzt befänden. Und so scheiden sie friedlich auseinander. Natürlich waren ihr, bei der ganzen Verhandlung, ihr Mann und ihre Kinder, die sie beide gewiß sehr liebt, und die am Leben und gesund sind, gar nicht eingefallen. Sie war auch nicht in ihrer Vorstellung etwa Wittwe, sondern in allem Betracht frei und ledig. Auf der andern Seite ist O** gar nicht in dem Zustande, daß ihm einfallen könnte, zu heirathen; nochmehr, er hat mehrmal geäußert, daß er durch gegründete Ursachen bewogen, bis jetzt den Entschluß habe, niemals zu heirathen. Er hatte sie in seinem Leben nicht unter vier Augen gesprochen, geschweige ihr etwas gesagt, was nur auf die entfernteste Weise Beziehung dahin haben könnte. Einen Umstand muß ich doch auch anführen : Es hatte um diese Zeit ein junger Mann ein sehr reiches Mädchen geheirathet, und dadurch ein, von vielen beneidetes, Glück gemacht. Dieß hatte an diesem Orte Gelegenheit zu vielen Unterhaltungen gegeben, woran [87]auch sie häufig Theil genommen haben mochte. Doch erinnert sich O** nicht, mit ihr davon gesprochen zu haben. Ich gebe dem Beurtheiler anheim, ob dieser Umstand einiges Licht über den vorstehenden Traum werfen kann.

L. D. Voß.