Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn
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Schack Fluur war der jüngste Sohn eines würdigen Landgeistlichen in einem Brandenburgischen Dorfe ohnweit H**. Dieser Mann, welcher sich durch einen unermüdeten Fleiß in den Wissenschaften aus einem niedern und höchstdürftigen Zustande nach und nach emporgeschwungen hatte, stand durchgehends in dem Rufe eines sehr rechtschaffenen und einsichtsvollen Predigers, und seine Gemeinde, die ihn seiner Amtsstrenge ohnerachtet wie einen Vater liebte, beweint noch jetzt den Ver-[97]lust, welchen sie vor einiger Zeit durch den Tod ihres alten treuen Lehrers erlitten hat.
Ich habe nie einen lebhaftern und feurigern Mann als ihn gesehen. Er war fast immer guter Laune, immer mit Wenigem zufrieden, und besaß die seltene Gabe, auch andern Menschen Zufriedenheit einzuflößen, indem er sie auf die gefälligste Art aufzuheitern, und durch seinen äußerst angenehmen Umgang gleichsam mit der Welt auszusöhnen wußte. Sein Haus war daher immer der Wohnsitz der Freude, der Munterkeit und jugendlicher Scherze, und jeder Vernünftige sahe gern den Mann, der bei einem sehr mäßigen Auskommen mit seiner Familie so zufrieden lebte, und durch sein heiteres Wesen, wobei er nie die Grenzen der Anständigkeit aus den Augen setzte, die trüben Launen anderer so glücklich heilen konnte. Aber seine außerordentliche Lebhaftigkeit, verbunden mit der strengsten Wahrheitsliebe, die einen der edelsten Züge seines vortreflichen Charakters ausmachte, war auch bisweilen Schuld daran, daß leicht zu beleidigende Menschen seine erklärten Feinde wurden, worunter sich sonderlich einige fromme Herren des hallischen Waisenhauses auf die unedelste Art auszeichneten. — Gemeiniglich loderte sein Feuer, wie bei allen lebhaften, aber zugleich gutmüthigen Seelen nur einige Augenblicke auf. Heftige Leute sind, wie die Erfahrung lehrt, gewöhnlich nur bei dem ersten Aufwallen ihres Bluts, in [98]der ersten Hitze des Affekts wild und jähzornig; sind diese Augenblicke, in welchen sich ohnedem die wenigsten Menschen in ihrer Gewalt haben, vorüber: so werden sie wieder die gefälligsten und besten Leute von der Welt, und sind dann oft die Ersten, welche sich über ihre Hitze Vorwürfe machen. Dieß war grade der Fall bei Schacks Vater. Er wurde leicht aufgebracht; eine Kleinigkeit konnte ihn in Flammen setzen, und ein heftiges Feuer glühete alsdenn in seinen funkelnden Augen; aber er war auch bald wieder besänftiget, sonderlich wenn er einiges Nachgeben bemerkte, — ein Umstand, wodurch so leicht die heftigsten Gemüther entwafnet werden können. Ein gutes Wort von seiner Gattin konnte ihn oft mitten in seiner Hitze zu einem Lamme machen, und er vergab alsdenn mit einer unbeschreiblichen Herzensgüte oft seinen größten Beleidigern. Von unzähligen Beispielen nur eins, wie leicht der brave Mann mit denen, die ihn offenbar gekränkt hatten, wieder ausgesöhnt werden konnte. —
Einstmahls hatte er einigen Studenten, die sich in seiner Kirche während des Gottesdienstes unanständig aufgeführt, und ihm mit einer unverschämten Burschendreistigkeit grade ins Gesicht gelacht hatten, bei seinem Heimgange aus der Kirche auf eine sehr derbe Art die Wahrheit gesagt. Die Studenten hatten, wie man leicht vermuthen kann, seine Verweise — mit Grobheiten erwie-[99]dert; waren aber doch mit einigen Zeichen der Beschämung über ihr Betragen von ihm gegangen. So hatte sich der feurige Mann in seinem ganzen Leben nicht geärgert, und er war schon auf dem Wege, sie als Stöhrer des öffentlichen Gottesdienstes förmlich zu verklagen; allein nach einigen Minuten war seine Hitze vorüber, er schickte hinter den Studenten her, ließ sie freundschaftlich zu einem Abendbrodte einladen, und brachte mit ihnen, da nun beide Partheien wieder besänftigt waren, und jene auf eine anständige Art wegen ihres Betragens um Verzeihung gebeten hatten, einige vergnügte Stunden in seinem Hause zu. — Nur einmahl blieb der gute Mann eine Zeitlang unerbittlich, als er einem seiner Kinder einen groben Fehler vergeben sollte, wodurch sein väterliches Herz zu sehr gekränkt worden war, und wovon ich unten reden werde. —
Seine Gattin war in Absicht ihres Temperaments grade das Gegentheil von ihm. Sie hatte von Kindheit an, fern von der Stadt und allen heitern Gesellschaften in dem Hause ihres Vaters, der auch ein Landgeistlicher war, eine sehr stille und fromme Erziehung genossen, hatte von ihrem zwölften Jahre an bis ins zwanzigste keine Sonntags- oder Wochenpredigt versäumt, und hatte, nach ihrem eigenen Zeugniß, binnen dieser Zeit die [100]Bibel vier- und Arnds wahres Christenthum achtmahl durchgelesen. Dadurch war sie nun das frömmste Mädchen in der ganzen Gegend geworden, und dieß hatte ihrem ganzen weiblichen Charakter so etwas ausnehmend Sanftes, Andächtiges und Unschuldiges gegeben, daß sich ihre Eltern im Besitz eines solchen Kindes unendlich glücklich fühlten, und sie immer ihrer ältern Schwester, die ihnen zu lebhaft war, und noch jetzt beinahe in einem Alter von siebenzig Jahren die Lebhaftigkeit eines jungen Mädchens hat, als das beste Muster der weiblichen Sittsamkeit vorzustellen pflegten. —
Schacks Mutter hatte in ihren Mädchenjahren nie eine Neigung zum Heirathen gefühlt, — eine Neigung, die doch sonst jungen Frauenzimmern sehr natürlich seyn soll; sondern hatte sichs vielmehr immer als das größte Glück gedacht, nach dem Tode ihrer Eltern als eine alte Jungfer in einem Kloster leben und sterben zu können. Ein Wunsch, der ohnstreitig durch ihr etwas kaltes Temperament, und durch das viele Lesen mystischer Bücher, welche im Hause ihres Vaters im größten Kredit standen, erzeugt worden war, und sich anfangs durch keinen Freier aus ihrem Herzen treiben ließ. Dreimahl hatte ihr nachheriger Mann persönlich, und mit aller Beredsamkeit, die ein feuriger Liebhaber nur immer für sein zärtliches Interesse anwenden kann, um ihre Hand angehalten; er hatte die herzbrechendsten Briefe an sie geschrieben; aber jedesmahl [101]unter dem besondern Vorwande abschlägliche Antwort von ihr erhalten: daß sie ihrem himmlischen Bräutigam, dem sie allein ewige Liebe geschworen, nicht untreu werden wollte und könne. —
So sehr man auch ihr, und vornehmlich ihre lebhafte verheirathete Schwester, die von einem irdischen Bräutigam bereits deutlichere Begriffe als von einem himmlischen hatte, jene schwärmerische Idee auszureden suchte: so war sie doch bisher gegen dieß Alles, und selbst gegen die männliche Schönheit ihres Liebhabers, wodurch sonst leichter, — als durch alles Andere weibliche Herzen hingerissen werden, völlig gleichgültig geblieben, bis sie auf einmahl durch einen einzigen kleinen Umstand für ihn eingenommen wurde, den ich hier, so unbedeutend er auch vielleicht scheinen mag, nicht mit Stillschweigen übergehen will, weil er mir ein deutlicher Beweis ist, daß unsere ernsthaftesten Entschließungen nicht immer von langen äußern Vorbereitungen und Veranstaltungen dazu, sondern sehr oft von der stillen Würkung der Zeit, und von denjenigen kleinen Umständen abhängen, welche die Fäden unserer Leidenschaften gerade auf der rechten Seite, — und in einem günstigen Augenblicke berühren. —
Der junge Pastor Fluur, welchem nun schon seit einem Jahre das Bild seines Mädchens un-[102]aufhörlich vor den Augen geschwebt hatte, war an einem schönen Frühlingsmorgen endlich zum viertenmahl ausgegangen, um ihr Herz zu erobern. Halb verzweiflungsvoll über alle seine bisher vergeblich angewandte Mühe, wollte er dießmahl, es koste was es wolle, den letzten zärtlichen Versuch wagen, und hatte sich heute zu dem Ende recht geflissentlich zu adonisiren gesucht. Unter andern sollten ein Paar ganz neue atlaßne schwarze Unterkleider, und eine schneeweiß gepuderte, damahls sehr modige Wolkenperucke das spröde Herz seiner Sophie bestürmen helfen. Weil er aber mit Recht befürchtete, daß jene auf einem Wege von einer starken Meile, und bei einem möglichen Sturme leicht einen Theil ihres Glanzes und ihrer Symmetrie verlieren dürfte, und ihm doch sehr viel daran gelegen war, vor seiner Geliebten dießmahl so galant als möglich zu erscheinen: so hatte er sorgfältig Kamm, Spiegel und Puder mitgenommen, um seine Wolke im Fall der Noth, noch ehe er ins Haus seiner Schönen träte, wieder in Ordnung bringen zu können. —
Nicht weit von Sophiens Wohnung lag ein kleines Wäldchen. Dieß war der Ort, wo der junge schmachtende Geistliche den Himmel schon oft um das Herz seines Mädchens angeflehet hatte; hier wünschte er sehnlichst, bald an der Seite seiner geliebten Braut wandeln zu dürfen, und hier war es nun auch, wo er dießmahl seine Toilette [103]machte, indem er seine Wolke an einem abgebrochenen Weidenstamm zu ihrer Ausbesserung aufhing. Fluur stand jetzt in der possierlichsten Figur von der Welt, im kahlen Kopfe, mit Mantel und Kragen vor seinem ungekünstelten Putztisch, und gab sich alle ersinnliche Mühe, die parallele Lage seiner Locken, welche unterwegs wirklich gelitten hatten, wieder herzustellen. Die Liebe, welche von jeher eine Tausendkünstlerin gewesen seyn soll, schien seine Finger dabei zu beflügeln; ein Puderregen, den er über sie hergoß, gab ihnen bald ihre vorige Weiße wieder, und nach einer halbstündigen Arbeit stand sie zu seiner unaussprechlichen Freude von neuem in ihrem ersten Urglanze da. —
Fluur ahndete nicht, daß ihn sein Mädchen hinter einem Strauche bei seiner sonderbaren Toilette beobachtet hatte; noch weniger konnte er vermuthen, daß dieser Anstand vielleicht allein einen für ihn sehr vortheilhaften Eindruck auf ihr Herz machen würde, — und doch verhielt sichs wirklich so. Sophie hatte grade an dem Tage einen Spaziergang von ohngefähr nach dem Wäldchen gemacht, sie hatte in der Ferne einen Mann in einer sonderbaren Attitüde darin erblickt, und war neugierig genug gewesen, das wunderliche Geschöpf näher kennen zu lernen. Sie erkannte bald zu ihrem größten Erstaunen ihren Liebhaber; allein sie konnte sich nicht enthalten, herzlich über ihn zu lachen. Mit dieser Empfindung, welche oft so son-[104]derbare und unerwartete Wirkungen in der menschlichen Seele hervorbringt, schlich sich Amor in ihr Herz. Sie vergaß ihren himmlischen Bräutigam, dem sie ewige Liebe geschworen hatte; wurde durch die Mühe, die sich ihr irdischer Bräutigam, um ihr zu gefallen, gab, gerührt, und fühlte von dem Augenblick an, daß er ihr nicht mehr wie sonst gleichgültig war. Sie schlich, ohne von ihm bemerkt zu werden, aus dem Wäldchen nach Hause; der nun völlig adonisirte Liebhaber langte auch bald darauf an, und erhielt dießmahl — leichter, als ers geglaubt hatte, das Jawort. Seine liebe Gattin konnte ihm keine frohere Stunde machen, als wenn sie ihn nachher an diese Scene erinnerte; ein heiteres Lächeln verbreitete sich denn allemahl über seine Stirne, und er schien noch im siebenzigsten Jahre ganz das zu fühlen, was er in dem Wäldchen gedacht und empfunden hatte. —
Schack Fluur war das achte Kind aus dieser Ehe, und einer der lebhaftesten Jungen, die je auf einem Steckenpferde geritten haben. Da seine Mutter ein öfteres Wochenbette, so oft sie sich auch dazu bequemen mußte, ärger als den Tod scheute: so pflegte sie auch ihre Kinder gewöhnlich lange zu stillen. Schack hatte bereits schon das zweite Jahr erreicht, und fast alle seine zweiund-[105]dreißig Zähne im Munde, als er noch Muttermilch trank. Dafür war er nun aber auch ein derber fester Junge geworden, der keine einzige von den vielen Schwächlichkeiten kannte, welchen Kinder in den Städten durch eine allzufrühe Entwöhnung von ihren galanten Müttern, noch öfter aber durch die verdorbenen Säfte verbuhlter Ammen unterworfen sind. Als Schack entwöhnt wurde, konnte er schon eine Menge Wörter aussprechen, deren einige er sich nach der Gewohnheit vieler Kinder selbst geschaffen hatte. So nannte er zum Beweis die Brust seiner Mutter, Hammeti. Traurig und unzufrieden schlich er nach seiner Entwöhnung herum, und klagte Tagelang über den Verlust seiner lieben Hammeti, bis ihn sein guter Appetit an andere Speisen gewöhnte. —
Die Schwäche der Nerven in den ersten Jahren unserer Kindheit, der Mangel am Nachdenken und Ueberlegen in diesen Jahren, und vornehmlich der einer Sprache, ohne die es uns so schwer wird, abstrakte Begriffe zu sammeln, und endlich die gleichsam noch im Schlummer liegende Gedächtnißkraft unserer Seele, sind wohl die vornehmsten Ursachen, daß wir uns so wenige Dinge aus jener Zeit zu erinnern wissen. Was wir davon noch in unserm Gedächtnisse übrig behalten haben, sind gemeiniglich dunkele Bilder, die bei ihrem Entste-[106]hen zwar deutlich seyn mochten; nachher aber durch eine Menge neuer und lebhafterer Ideen gleichsam nach und nach in den Hintergrund der Seele geschoben wurden, aus welchem sie bisweilen mit einer schüchternen Schnelligkeit hervorkommen, unser Gehirn durchkreuzen, und wieder verschwinden. Merkwürdig bleibt es immer, daß diese verloschenen Ideen, die wir in der frühesten Kindheit bekommen hatten, oft im späten Alter mit einer Deutlichkeit wieder im Vorgrunde der Seele erscheinen, als ob sie erst ganz neuerlich entstanden wären, und eine Menge wirklich neuerer Vorstellungen gänzlich verdunkeln können. — Es giebt viele Leute, die sich aus ihrer spätern Jugend weniger, oft gar keine Begebenheiten erinnern können; ob sie gleich die, aus den allerersten Jahren ihrer Kindheit mit einer vollkommenen Deutlichkeit behalten haben, deren ich ein Paar aus dem Gedächtnisse Schacks mittheilen will, weil sie allerdings mit zur psychologischen Geschichte seines Romans gehören. —
Die erste ist folgende. Schack saß einst des Mittags schräg seinem Vater gegenüber bei Tische. Es wurde eine Suppe aufgetragen, die Schack sehr gern aß, und von welcher er durchaus zuerst seine Portion haben wollte. Allein sein vernünftiger Vater hatte sichs ein für allemahl zum strengsten Gesetz gemacht, seine Kinder nie durch eine zu pünktliche Erfüllung ihrer Wünsche zu verwöhnen, [107]noch auch den jüngern vor den ältern Vorzüge einzuräumen. Er sahe es ein, daß jenes Verwöhnen eine vernünftige Erziehung unendlich erschweren, wo nicht gar fruchtlos machen, und daß dieses Einräumen gewisser Vorzüge leicht die traurigsten Erbitterungen zwischen Eltern und Kindern oft lebenslang verursachen könne. Schack bekam daher nicht zuerst von der Suppe, die er ohnedem mit so vielem Ungestüm gefodert hatte; sondern mußte zu seinem größten Verdruß warten, bis die ältern Geschwister nach der Reihe ihren Theil bekommen hatten. —
Dieß und der derbe Verweis, welchen Schack von seinem Vater bekam, und vornehmlich, daß dieser seiner Gattin den Teller aus der Hand nahm, welchen sie dem ungestümen Forderer zuerst reichen wollte, brachte ihn ganz ausser sich. Er fühlte einen innern Drang sich zu rächen, und seine Wuth fand auch bald ein bequemes Mittel dazu; er ergrif hastig den vor ihm liegenden zinnernen Löffel, und warf ihn seinem Vater ins Angesicht. Schacks Vater erschrack nicht wenig über diesen kühnen Streich seines zweijährigen Kindes. So lieb er auch den feurigen Jungen hatte, so konnte er sich doch nicht enthalten, ihn derb zu züchtigen, und diese Scene steht noch lebhaft mit allen Umständen vor Schacks Augen, ob sie gleich vor etlichen zwanzig Jahren geschehen ist. —
Ich muß ein paar Umstände anführen, welche zugleich gelegentliche Ursachen seines heftigen Zorns wurden. Es war eine Cousine bei der Mahlzeit gegenwärtig, welche er sehr liebte, und die sich jetzt auf eine launige Art über sein Betragen aufhielt. Es that ihm in der Seele weh, daß er sich in ihren Augen heruntergesetzt sah, und daß sich diese seine so geliebte Gespielin mit seinen übrigen Geschwistern zu einem spöttischen Gelächter über seine Unarten, wozu ihn sein Hunger zu legitimiren schien, vereinigte.
Ueberdem war ihm sein Vater in den ersten Jahren seiner Kindheit, wegen seiner strengen Erziehung gewissermaßen verhaßt; — so unaussprechlich er ihn auch nachher zu lieben anfing, und so innig noch jetzt seine ganze Seele an dem Bilde des Seligen hängt. Schack blieb gemeiniglich ganz gleichgültig, wenn sein Vater über Schmerzen seines Körpers klagte, ja er gönnte sie ihm oft gar; gab ihm selten im Herzen Recht, wenn er sich über andere ärgerte, beneidete ihn oft mit einen innern verbissenen Unwillen, wenn er sich das beste Stück bei Tische vorlegte, oder vom Rande des Hirsebreies die geschmolzene braune Butter für sich abstrich, und fühlte sich nie glücklicher, als wenn sein Vater nicht zu Hause war.
Dagegen liebte er seine Mutter, da sie seiner Lebhaftigkeit freiern Lauf ließ, und ihn oft — vielleicht mit zu vieler mütterlicher Zärtlichkeit gegen [109]die Strenge seines Vaters in Schutz nahm, unaussprechlich. Noch jetzt denkt er oft mit einem Gefühl der süssesten Freude, und einer Wehmuth, die ihm nicht selten heiße Thränen ins Auge gießt, an die glücklichen Stunden seiner Kindheit zurück, wo er des Umganges seiner guten Mutter genoß; wo er neben ihr über die lachenden Wiesen seines Dörfchens hüpfte, das Gärtchen mit Kohl bepflanzen half, und das Gras unter der Sichel der Mägde fallen sah, was in ihm eine sonderbare Sensation hervorbrachte. Noch schweben ihm alle die Bilder seiner kindischen Glückseligkeit vor den Augen, wenn er seiner Mutter ein Bouquet von Blumen zur Kirche bringen, mit ihr die Garben des abgemäheten Feldes zählen, den Schnittern Erfrischungen reichen, auf seinem Steckenpferde mit einem Aehrenkranz um den Arm, an dem ein rothes Bändchen flatterte, nach Hause reiten, und denn auf ihrem Schoße einschlummern konnte. Solch ein herzliches, inniges, unbeschreiblich süsses Gefühl der Glückseligkeit hat er nie wieder in spätern Jahren empfunden, und wirds auch nie wieder empfinden. —
Nichts war aber seinem Herzen schmerzlicher, und unausstehlicher, als wenn seine Mutter von ihrem Tode sprach, wovon sie immer einige Vorbedeutungen gehabt haben wollte; oder wenn sie nach ihrer Gewohnheit Lieder vom Tode und ewigen Leben sang. Er lief alsdenn entweder so schnell er [110]konnte weg, oder hielt sich die Ohren zu, oder fing auch bitterlich zu weinen an, indem er dabei seine Mutter ängstlich umarmte, und ihren Gesang mit seinen Küssen zu unterbrechen suchte. Schack hatte gegen alle diese Lieder eine erstaunliche Antipathie; sonderlich war er gegen eins: Wenn mein Stündlein vorhanden ist etc. aufgebracht; ob er gleich die Lieder mit mehrerem Vergnügen singen hörte, worin von den Qualen der Gottlosen in der Hölle die Rede ist. —
Wurde seine Mutter vollends krank: so hatte er Tag und Nacht keine Ruhe. Oft both er alsdenn, indem ihm die heißen Thränen über seine Wangen liefen, Gott um Verlängerung ihres Lebens; saß stundenlang mit geängsteter Seele, ihre Hand fest in der seinigen, vor dem Bette, und erboßte sich dabei nicht selten gegen seinen Vater, welcher ihm bei den Kränklichkeiten seiner Gattin viel zu kalt und gleichgültig zu seyn schien. Er gerieth aber alsdenn vollends in eine Art Verzweifelung, und litte unaussprechlich, wenn seine Mutter sich die Gesänge bestellte, welche bei ihrer Leiche gesungen werden sollten, welches sie fast bei dem Anfalle jeder Krankheit zu thun pflegte. — Kurz seine Mutter war ihm Alles; war ihm das höchste Gut der Erde und seine liebste Gesellschaft. Es kränkte ihm tief in der Seele, wenn sie bisweilen unzufrieden mit ihm zu seyn schien, so wie er sich hingegen unendlich glücklich fühlte, wenn sie ihm [111]einen zufriedenen Blick zuwarf, und andern seine Artigkeit rühmte. Der erste Gedanke, wenn er des Morgens erwachte, war sie, und er eilte, so viel er konnte, ihr immer das kindliche Opfer seiner Liebe zuerst mit einem herzlichen Kusse zu bringen. Er glaubte dazu ein größeres Recht als sein Vater zu haben, und es ist ihm noch sehr erinnerlich, daß er es nie ohne Unwillen und Eifersucht ansehen konnte, wenn sein Vater seiner Gattin einen Kuß gab, oder mit ihr zu scherzen anfing. —
Rousseau, dieser große Kenner des menschlichen Herzens, urtheilt sehr richtig, wenn er in seinem Emil (1. Band. 1. B. Not. 1.) a den Müttern wegen ihres größern und natürlichern Einflusses auf das Herz ihrer Kinder, auch ein größeres Recht zu ihrer ersten Bildung und Erziehung, als den Vätern einräumt, welche nach seiner Meinung durch ihre Ehrbegierde, ihren Geitz, ihre Tyrannei, ihre falschangewandte Vorsichtigkeit, ihr nachlässiges Wesen, und ihre harte Unempfindlichkeit den Kindern oft viel schädlicher, als die Mutter durch ihre blinde Zärtlichkeit werden. —
Eine andere Begebenheit, welche sich mit unauslöschbaren Zügen in Schacks Seele aus den frühesten Jahren der Kindheit abgedrückt hat, ist diese. Als seine Eltern und Geschwister eines Tages ru-[112]hig bei einander sassen (es war im dritten Jahre des siebenjährigen Krieges) b hörten sie auf einmahl vor der Thür einen entsetzlichen Lerm, und ehe sie sichs versahen, trat ein ungarischer Husar mit tausend Flüchen in die Stube, und forderte von Schacks Vater eine Summe Geld, die dieser, da er ohnedem schon zweimahl von den Feinden ausgeplündert war, unmöglich anschaffen konnte. Er suchte ihn zwar gleich anfangs durch eine angenommene Höflichkeit, und noch durch ein anderes Mittel zu beruhigen, wodurch er schon oft die ungestümsten Söhne des Mars in einem Augenblicke zu Lämmern umgeschaffen hatte, — indem er ihm Brandewein und Frühstück vorsetzen ließ. Der Husar trank auch das Glas einigemahl auf die Gesundheit seiner Theresel, so nannte er die Kaiserin Königin, aus; allein er fuhr demohnerachtet unter den fürchterlichsten Drohungen, indem er sogar die Flinte gegen Schacks Vater richtete, fort, die Summe von hundert Pistolen zu fordern, und die schrecklichsten Verwünschungen gegen die ketzerischen Pfaffen auszustossen. Schacks Vater hatte noch eine halbe Pistole in seinem Vermögen, diese drückte er gutmüthig dem Husaren in die Hand, und versicherte ihm heilig: daß er ihm gern mehr geben wolle, wenn ihn die Feinde nicht schon zweimahl zu einem armen Manne gemacht hätten. Allein der Bube wurde dadurch, gleichsam als ob er durch eine so kleine Gabe beleidigt worden wäre, noch mehr aufgebracht, warf [113]das Goldstück verächtlich, und mit Ungestüm auf die Erde, und zog den alten Fluur mit sich gewaltsam fort, daß er ihm das verlangte Geld durchaus von seinen Bauern herbeischaffen sollte. Schack gerieth durch den Anblick des schnurrbärtigen Kriegers, durch seine brüllende Stimme, und durch die Behandlung gegen seinen Vater in die größte Unruh. Er meinte, es sey nun gewiß um sein Leben geschehen, und fing daher aus allen Kräften zu schreien an. Der Husar wurde dadurch noch mehr in Hitze gebracht, stürzte mit einer grimmigen Miene und gezogenem Säbel auf den schreienden Knaben los, und sagte, oder brüllte eigentlich die Worte, welche Schack noch immer zu hören glaubt: Wenn Du nit schwaigst, kleine Canalge, so hau ich Dir halter den Schop herunter! Schacks Vater fiel dem tollen Kerl, welcher sich rühmte, schon manches Ketzerkind von einander gespalten zu haben, in die Arme, verwieß es ihm sehr derb, daß er seine Courage an einem unschuldigen Kinde auslassen wolle, und warf ihn endlich, ohne sich weiter vor seinen Drohungen zu fürchten, zur Thür hinaus. Dieser Kerl hat sich so tief in Schacks Seele eingeprägt, daß er ihn noch mahlen könnte. Seine kleine etwas bucklichte Gestalt, sein hageres braungelbes Gesicht, das in der Mitte durch einen, zwei griechischen Circumflexen ähnlichen großen Knebelbart durchschnitten wurde, seine Narbe auf der einem Backe, seine kleinen feurigen Augen, sein krummer [114]blitzender Säbel, kurz Alles ist ihm noch von diesem Kerl erinnerlich. —
Im dritten Jahr seines Alters wurde Schack, um ihn nur vorerst ans Stillsitzen zu gewöhnen, in die Dorfschule geschickt. Nichts war ihm unausstehlicher, als diese Einschränkung seiner bisherigen Freiheit. Er ging anfangs nie ohne Weinen dahin, und alle Mittel, selbst die Leckereien, welche man gebrauchte, um ihn zu beruhigen, waren für ihn nichts als traurige Erinnerungen an den Schulzwang, dem er sich unterwerfen mußte. Er betrachtete die Schulstube als einen Kerker, in welchem er eingesperrt werden sollte, und er konnte es nicht begreifen, warum sich eine so große Menge von Schulkindern nicht vereinigten, um auf immer diesen Kerker zu zerstöhren. Dazu kam noch das hämische Wesen seines Schulmeisters, der ihm schon lange der unausstehlichste Mensch gewesen war, und es nun noch mehr werden mußte, da er einige Gewalt über ihn bekam. —
Dieser Schulmeister, der wahrscheinlich noch lebt, war einer der größten und kaltblütigsten Schultyrannen, die je über den Rücken junger Leute geherrscht haben; ein Mensch von dem schwärzesten Charakter, und mit einer solchen sich auszeichnenden heimtückischen Judasphysiognomie, daß man ihn nur ansehen durfte, um sich über ihn zu ärgern. Es giebt Leute, die ohne Zank nicht leben können; [115]immer neue Gelegenheit dazu suchen, und immer bereit sind, andern etwas Bitteres und Unangenehmes zu sagen. Zu dieser abscheulichen Klasse von Menschen gehörte P**. Es wurde ihm leicht, durch eine dummspöttische Miene, und das boshaft satyrische Gift, welches er in seine Worte zu mischen wußte, die kältesten Leute in Wuth zu setzen. Er selbst blieb, wenn sich andere halbtodt ärgerten, kalt wie eine Bildsäule, lachte ihnen dabei höhnisch ins Gesicht, verwunderte sich auf eine beleidigende Art, daß sich sein Gegner so wenig in seiner Gewalt habe, und wußte durch seine beissenden Ironien den Aufgebrachten gemeiniglich soweit zu bringen, daß er vor innerer Wuth stillschweigen mußte, und jener also allemahl triumphirend das letzte Wort behielt. Ein Kunstgrif, wodurch es ihm gemeiniglich gelang, den lebhaften Pastor Fluur zum Stillschweigen zu bringen. An diesem Manne ließ er vornehmlich die ausgedachtesten Stückchen seiner Bosheit aus. Er hielt sich, z.B. Hunde, welche durch ihr nächtliches Bellen den Pastor Fluur im Schlafe stöhren mußten; oft sang er ganz andere Lieder, die ihm sein Prediger nicht aufgegeben hatte, so, daß dieser entweder zu zeitig, oder zu spät auf die Kanzel kam. Und ihn sogar in seiner Predigt zu stöhren, eine Bosheit, die unerhört ist, ließ er oft Viertelstundenlang eine Pfeife der Orgel heulen, welches er durch einen Zug des Registers hätte vermeiden können. Selten pflanzte sein Prediger junge Bäumchen, die er nicht [116]umknickte, oder wenigstens beschädigte. Seine Zunge war unaufhörlich geschäftig, ihn zu verläumden, und die unschuldigsten Vergnügungen, die sich der alte Fluur mit seinen Kindern machte, als Unanständigkeiten auszuposaunen; — ja er nahm sichs sogar bisweilen heraus, ihm auf eine unschickliche und grobe Art beim öffentlichen Gottesdienste zu widersprechen, wenn Fluur über die schlechte Beschaffenheit der Dorfschule klagte, und Mittel zu ihrer Verbesserung vorschlug. Kurz es ist unbeschreiblich und übersteigt allen Glauben, wie sehr dieser böse Mensch die Tage seines rechtschaffenen Predigers verbitterte, und wie vielen Schaden sein böses Herz in der Gemeine stiftete. —
Der gute Fluur klagte sein Leiden oft den Inspektor des Kirchsprengels Frosch; aber er wurde nicht gehört. Der Inspektor war der hohe Gönner aller Schulmeister, die ihm allerlei Neuigkeiten von seinen Predigern brachten, auch P** war sein Spion, und Fluur konnte also nichts ausrichten. —
Der Inspektor gehörte unter diejenigen verachtungswürdigen Menschen, welche in ihrer Jugend allen Ausschweifungen ergeben sind, und im Alter Heuchler und Pietisten werden. In Jena hatte Frosch das liederlichste Leben geführt, war aber demohnerachtet durch das Ansehn seines Vaters gleich nach seiner Zurückkunft von der Akademie Prediger geworden, und hatte bald darauf die Aufsicht über eine wichtige deutsche Schulanstalt erhalten, über [117]welche er mit einem unerhörten theologischen Despotismus zu herrschen anfing. Die Lehrer und Schüler derselben zitterten schon vor seinem Nahmen. Sein Wink war ein strenger Befehl; alles gehorchte, ohne zu widersprechen, so unpädagogisch auch oft seine Befehle und Einrichtungen waren. Die kleinsten Fehler, oft ganz unschuldige Vergnügungen derer, welche auf der Schulanstalt keine Pietisten waren, das heißt, eigenes Haar, Manschetten, blanke Knöpfe, und farbige Kleider trugen, den Kopf nicht hingen, und die Worte Gnade und Wiedergeburt nicht alle Augenblicke seufzend im Munde führten, wurden gemeiniglich mit der größten Strenge, und nicht selten wider alle Gerechtigkeit und Menschenvernunft mit der Cassation bestraft. Destomehr Gewalt hatten die frommen Creaturen des Inspektors. Diese waren seine rechte Hand; aber eben so viel kleine Tyrannen, die einen jeden, der nicht so wie sie heuchelte, verfolgen und bestrafen durften, wenn sie seiner habhaft werden konnten. Zum Theil waren es schwache einfältige Köpfe, die durch eine mystische Frömmigkeit, welche ihnen den Gebrauch der gesunden Vernunft in Religionssachen untersagte, auch nach und nach allen Geschmack am Schönen und Edeln verlohren hatten, sobald es mit ihrer mystischen Religion in keiner Verbindung stand. Ihr ganzer Anzug verrieth die Absicht, warum sie zu existiren glaubten, nehmlich alles [118]Weltliche von sich abzulegen und an nichts, als an ihren Herren Jesum zu denken, den sie beständig im Munde führten, und zum Deckmantel ihrer innern heimlichen Büberei machten. Sie trugen braune Röcke, ungepuderte Perucken, schwarze Unterkleider und — keine Manschetten, welche sie für untrügliche Zeichen eines ausgearteten Weltsinnes hielten. Auf der Straße schlichen sie dicht an den Mauern der Häuser hin, sahen dabei gemeiniglich fern auf die Erde, und seufzten laut, wenn sie ein eitel angekleidetes Frauenzimmer, einen offenen Busen, oder einen Mann in einem mit Tressen besetzten Kleide erblickten. In des Inspektors Hause, wohin die Vornehmsten wöchentlich ein Paarmahl zu einer Betstunde zusammenkamen, spielten sie eben solche lächerliche Rollen. Sie traten mit Seufzen in sein Haus, und mit einer Ehrfurcht in seine Stube, die mehr an Abgötterei gränzte. Kaum wagten sie es, ihr geistliches Oberhaupt anzusehen, und sie schätzten sich unendlich glücklich, wenn sie zum Handkuß des Inspektors gelangen konnten, welcher sie gemeiniglich mit den Worten: der Herr segne Sie! anzureden pflegte. Dieß war der Gruß für seine Söhne in Christo, wie er seine Creaturen nannte. Gegen die sogenannten Ungläubigen betrug er sich ganz anders. Er begegnete ihnen mit einer Steifigkeit und einem Stolze, der nicht seines Gleichen hatte. Alle Prediger seines Kirchsprengels, die nicht zu den Gläu-[119]bigen gehörten, waren jener übermüthigen Behandlung ausgesetzt. Oft würdigte er sie nicht einmahl seines Anblicks, sondern ließ sie durch seinen Sekretär, einen der größten geistlichen Schurken, abweisen, welcher sich dabei ein nicht geringes despotisches Ansehn zu geben wußte, und in der That einen großen Einfluß in die Direktion des Kirchsprengels hatte. —
Der Schulmeister P** hatte den Ton der Frömmigkeit, der in des Inspektors Hause herrschte, abgelernt. Er wußte seine Stirne so heilig zu falten, und seine Augen so andächtig zu verdrehen, daß ihn Frosch für einen kreutzbraven Mann hielt, ob er gleich diesen kreutzbraven Mann gebrauchte, einen armen Prediger zu kränken, der keinen Beruf in sich fühlte, zur Zahl seiner Gläubigen zu gehören. Alle Bubenstücke des Schulmeisters blieben also ungestraft, und der alte Fluur mußte sie — ohne Rettung, tragen. —
Es ist unglaublich, wie hämisch und ungerecht manche Inspektoren mit den armen Landpredigern umgehen, und wie weit sie ihre Begriffe von Subordination über sie ausdehnen. Ich habe die rechtschaffensten und würdigsten Landgeistlichen gekannt, welche von jenen auf die unedelste Art verfolgt und zurückgesetzt wurden, weil sie nicht ihrem Stolze fröhnen, und ihrer Küche dienen wollten. Hingegen hab' ich andere gefunden, welche nicht die Stelle eines Kirchhüters, geschweige eines Predi-[120]gers verdienten, und doch von ihren Inspektoren auf alle Art begünstigt wurden, weil sie niederträchtig zu kriechen, und für die — Speisekammer der Frau Inspektorin, oder der Frau Räthin zu sorgen wußten. —
In der Schule tyrannisirte der Schulmeister P** wie ein afrikanischer Prinz über seine Sklaven. Vornehmlich traf sein Bakel, so nannten die Kinder mit einer unbeschreiblichen Ehrfurcht seinen glatt wie Elfenbein geschlagenen Präceptorstock, diejenigen, deren Eltern ihm keine außerordentlichen Geschenke machten, oder ihn nach seiner Meinung nicht ehrerbietig genug grüßten. Ein anderes Instrument, das er beständig bei der Hand hatte, war eine birkene Ruthe, die alle Morgen, um ihr zu ihren pädagogischen Funktionen destomehr Geschmeidigkeit und Elasticität zu geben, in Wasser eingeweicht wurde. Mit dieser wurden die kleinern Kinder gezüchtigt. Die Ehre, mit dem Bakel geschlagen zu werden, genossen die Größern nur vorzugsweise, und daher entstand die sonderbare pädagogische Eintheilung seiner Zöglinge, in die, welche unter dem Bakel, und die, welche unter der Ruthe standen. —
Ich will noch einiges von seinem Schulunterrichte sagen, welcher der unvernünftigste von der Welt war, und gewiß noch viel seinesgleichen auf dem Lande haben mag, so viel auch seit einiger Zeit von einsichtsvollen Pädagogen zur bessern Einrich-[121]tung der Landschüler, und sonderlich von dem verdienstvollen Herrn von Rochow geschrieben worden ist, dessen Lehrbücher wegen ihrer anerkannten Zweckmäßigkeit und Deutlichkeit, und wegen des sichtbarsten Nutzens, den sie da stiften, wo man sie gebraucht, in allen Dorfschulen Deutschlands eingeführt zu werden verdienten. —
Sobald die Schulkinder des Morgens, ohngefähr sechzig an der Zahl, zusammengekommen waren, trat der Herr Ludimagister mit einer ernsten Miene in die Schulstube, wurde allgemein begrüßt, wobei er nur mit einem Kopfnicken dankte, und begann alsdenn ein Morgenlied, welches aus dem abscheulichsten Geplärr untereinander disharmonirender grober und feiner Stimmen bestand, worin jeder den andern zu überschreien suchte, und zwischen welchen sich ein schnarrender durch die Nase gezogener Baß des Schulmeisters hören ließ. Wer noch nie so etwas gehört hat, kann sich keinen Begrif davon machen, wie unregelmäßig und unanständig die Kinder ins Gelag hineinschrien, — und man kann leicht denken, wie wenig durch einen solchen Gesang das wahre und innige Gefühl der Andacht und Gottesfurcht in den Herzen junger Leute erregt werden mochte. Nach dem Liede folgte ein langer sogenannter Morgensegen, den eins von den größern Kindern vorbetete, und welchen jedes andere, so gut als es konnte, nachmurmeln mußte, so, daß man nichts anders, als einen sausenden Bienenschwarm [122]zu hören glaubte. Dieses Gebet war so wie das Morgenlied voll von unverständigen Ausdrücken und mystischem Unsinn, und nichts weniger als nach den Begriffen junger Leute eingerichtet. —
Nach Endigung dieser sogenannten gottesdienstlichen Uebung nahm der eigentliche Schulunterricht seinen Anfang. Der Schulmeister schlug alsdann gemeiniglich mit seinem Bakel heftig auf den Tisch, und gab dadurch ein allgemeines Zeichen, daß nun jedes Kind aufmerksam zu werden anfangen sollte. Die größern Kinder griffen nach ihren Bibeln, die kleinern nach dem Catechismus oder dem Abcbuch. Jene wurde auch hier, wie in den meisten Schulen — freilich wider allen gesunden Menschenverstand, vom ersten Buch Moses bis zur Offenbarung Johannis ganz durchgelesen, und täglich wurde daraus von dem Schulmeister ein Kapitel erklärt. P** glaubte hierin sehr stark zu seyn, und er ließ sichs oft deutlich merken, daß der Pastor diese und jene biblische Stelle nicht recht, wenigstens nicht so gut wie er, zu erklären wisse. —
Seine große Bibel in der linken Hand, die Feder hinterm Ohr, und den Bakel in der rechten, ging der Schulmonarch während des Erklärens mit einer hochweisen Miene zwischen den Reihen der Kinder einher, fragte bald diesen und jenen mit einem lauten Ausruf seines Namens: ob er ihn verstanden hätte? Machte bald einen andern durch einen unvermutheten Stockschlag aufmerksam; bald ließ er [123]sich gemächlich in seinem ledernen Polster, welchen der stolze Narr sein Catheder nannte, nieder, und beschloß endlich seine exegetische Stunde, c sonderlich wenn er guter Laune war, mit einem lustigen Histörchen, dergleichen er immer verschiedene in Bereitschaft hatte, und die er Erläuterungen seines Textes zu nennen pflegte. Eulenspiegel war vornehmlich sein Held, und durch ihn söhnte er gemeiniglich die Kinder wieder mit sich aus, welche er gezüchtigt hatte. Sobald er Eulenspiegels Namen nannte, war die ganze Schule aufmerksam, einer gebot dem andern tiefes Stillschweigen, ein heiteres Lächeln schwebte auf jedem Gesichte, und die um ihn sassen, streichelten ihm das Kinn, oder drückten ihm schon im Voraus mit Dankbarkeit die Hand. — Ein Beispiel eurer Erbsünde, ihr gottlosen Krabben! sagte er denn gemeiniglich, daß ihr Till Eulenspiegel lieber als Gottes Wort hört! —
Nach der exegetischen Stunde fingen die größern Kinder zu schreiben, und die kleinern zu buchstabiren an. Dieß war das einzige Gute, was Schack in der Dorfschule lernte, und worin er bald glückliche Fortschritte machte. Das Buchstabiren geschah hier, wie in allen Dorf- und Winkelschulen nach einem Abcbuch, welches Schack wegen der darin enthaltenen Holzschnitte sehr lieb hatte, und worin eine Menge einzelner Silben, und in ihre Silben zertheilter Wörter befindlich waren. Ein Kind wurde nach dem andern vor dem Schulmei-[124]ster gerufen, um seine Lektion aufzusagen. Jedes brachte zu dem Behuf einen hölzernen sogenannten Griffel mit, wodurch es jede laut auszusprechende Silbe bezeichnen mußte, indem die andern Kinder die nehmliche Silbe nachriefen. Dieses laute und deutliche Abrufen der Silben, welches ohnedem noch oft wiederhohlt wurde, hatte offenbar den Nutzen, daß sie sich dem Gedächtnisse des Kindes leicht imprimirten, und ihm also das Zusammensetzen der Silben zu ganzen Wörtern, oder das eigentliche Lesen viel leichter werden mußte. Diese einfache Methode, buchstabiren und lesen zu lernen, welche freilich nur in der Gesellschaft mehrerer Kinder, und durch den, bei allem Unterricht so nothwendigen, wenn auch nur mechanischen Trieb der Emulation anwendbar gemacht werden kann, hat viele Vorzüge vor so vielen neuern Methoden, wodurch man den Kindern auf eine spielende Art das Lesen beizubringen sucht. Ich habe bemerkt, daß Kinder auf dem Lande, welche nach jener Methode unterrichtet werden, bei ganz mittelmäßigem Fleiß früher und richtiger zu lesen anfangen, als Kinder in vornehmen Häusern, bei denen man oft Jahre mit den mancherlei Lesemethoden verschwendet, — und doch nichts ausrichtet. Der übrige Theil der Zeit wurde mit Auswendiglernen biblischer Stellen, oder des Catechismus zugebracht. Eher hielt man ein Kind nicht für fähig, die Schule ganz zu verlassen, bevor es nicht die Sonntagsevangelien und [125]Episteln, nebst dem ganzen Catechismus, und den Bußpsalmen auswendig hersagen konnte. Für den Geschicktesten wurde der gehalten, welcher überdem noch ein halbhundert Gesänge auswendig wußte. Dieses Auswendiglernen geschahe gemeiniglich laut. Eins von den Kindern betete vor, und alle schrien una voce nach, welches in einem sonderbaren singenden Tone geschah. —
Nach einem drei- bis vierstündigen Schulzwange, wobei die Kinder oft keinen einzigen deutlichen Begrif gefaßt, die Zeit mit unnützen Auswendiglernen zugebracht hatten, und mancher braun und blau geschlagen war, wurde ein Schlußlied in der Manier des Morgengesanges gesungen, welches gemeiniglich aber noch geräuschvoller war, weil die Freude über den Beschluß die jauchzende Kehle der Kinder füllte. Schack erinnerte sich immer noch mit Vergnügen an dieses Schlußlied. Er gab seine Stimme dazu, ohne daß er etwas von dem Gesungenen verstand, und sein Herz pochte je mehr, je näher man dem Ende des Liedes kam, welches ihn auf ein paar Stunden von dem Kerker der Schule befreite; — aber zu Schacks großem Verdrusse hatte denn bisweilen die Schule noch nicht ihr Ende erreicht, indem es dem Schulmeister noch oft im Kopf kam, ein Gebet aus dem Herzen zu beten, wozu ihn der Inspektor Frosch zuerst aufgemuntert hatte. Nach und nach hatte sich P** eine solche Fertigkeit im Beten aus dem Herzen er-[126]worben, daß er sich für einen großen Meister in dieser Kunst hielt. Sein Prediger machte es ihm hierin nie ganz recht. P** betete daher auch in der Kirche gemeiniglich nicht mit, sondern machte sich bald etwas an der Orgel zu schaffen, oder musterte die Jungen auf dem Chore, oder las sich die Federchen vom Rocke. — Fast so wie der Vormittagsunterricht war der des Nachmittags beschaffen. Es wurde wieder auswendig gelernt, wieder etwas vom Schulmeister erklärt, und zuletzt das Zählen mit den kleinern Kindern vorgenommen, welche die von eins bis hundert auf einer großen Tafel geschriebenen Ziffern laut hersagen, und zusammensetzen lernen mußten. — Eigentlich war aber der Schulmeister selten des Nachmittags in der Schule gegenwärtig. Eine seiner Töchter führte alsdenn das Vicerektorat, und nun hatten die Kinder freilich gute Zeit, indem sie die Vicerektorin mit allerlei kleinen Geschenken zu bestechen, und in ihre Spiele mit zu impliciren wußten. — Unterdessen ging der Schulmeister seiner gewöhnlichen Handthierung nach — bestahl die Obstgärten der Bauern, fing ihnen die Tauben weg, oder setzte Klagen gegen seinen Prediger auf, die er dem Inspektor Frosch bringen wollte. —
Schacks Vater sahe es mehr als zu deutlich ein, wie schlecht und nachlässig die Kinder seines Dorfs unterrichtet wurden. Er hatte dem Schul-[127]meister bessere Methoden vorgeschlagen, hatte seinen Verstand durch allerlei gute Schriften allmählig aufzuklären gesucht; allein alles vergeblich. P** hielt sich einmahl für einen unverbesserlichen Schulmeister, und er widersprach daher seinen Prediger in allen Stücken. Kam sein Prediger, die Schule zu visitiren, wozu die Landgeistlichen im Brandenburgischen ausdrückliche Ordre haben, so ging P** gemeiniglich sogleich aus der Schulstube hinaus, oder fing mit seinem Vorgesetzten oft zu zanken an, so daß dieser fast allemahl unverrichteter Sache wieder weggehen mußte.
Schacks Vater hatte dem Inspektor Frosch von Zeit zu Zeit von allem Nachricht gegeben, und sich einigemahl die Erlaubniß zur Einführung besserer Lehrbücher in der Dorfschule ausgebeten; allein er wurde von ihm immer unter dem elenden Vorwande abgewiesen, daß man sich an alten Einrichtungen nicht vergreifen — und keine Neuerungssucht verrathen müsse, und so blieb es denn auch hier, wie an so vielen andern Orten, wo die furchtsame Behutsamkeit gegen hergebrachte Gewohnheiten für eine heilige Pflicht gehalten wird — beim Alten.
(Die Fortsetzung folgt.)