ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Fortsetzung der Revision der drei ersten Bände dieses Magazins.

Moritz, Karl Philipp

An die Aufsätze über Sprache in psychologischer Rücksicht mögen sich denn die mancherlei Erfahrungen und Beobachtungen über Taub- und Stummgebohrne, welche schon in diesem Magazin mitgetheilt sind, anschließen.

Die besondre Denkart der Taub- und Stummgebohrnen kann gewiß große Aufschlüsse in Ansehung der menschlichen Denkkraft überhaupt geben, weil man hier siehet, wie weit der Mensch es auch ohne artikulirte Töne in der Verbindung und vernunftmäßigen Zusammenstellung seiner Ideen bringen könne;

[2]

Und daß nicht die Sprache, gleichsam ein zufälliger Fund des Menschen sey, wodurch er sich vom Thier unterscheidet, sondern daß seine Denkkraft an und für sich selbst ihn schon vom Thier unterscheidet, indem sie sich selbst unter dem Mangel artikulirter Töne, so wie bei dem Taubstummen, empor arbeitet, und sich eine Sprache schaft, sie mag auch die Materialien dazu nehmen, woher sie wolle.

Jeder durchbrechende Strahl der Vernunft muß uns bei einem Taub- und Stummgebohrnen vorzüglich willkommen seyn, weil wir hieraus die Macht des menschlichen Geistes erkennen, der selbst durch die Beraubung eines ganzen Sinnes nicht unterdrückt werden, und von seinem eigentümlichen Wesen, von seiner eigentlichen vorstellenden Kraft, nichts verlieren kann — obgleich eine der Pforten, wodurch täglich eine solche Menge Ideen einströmen, gänzlich verschlossen ist. —

Wie groß aber dieser Mangel sey, läßt sich schon aus der Betrachtung abnehmen, daß durch das Ohr in eben der Zeit die vergangne oder entfernte Welt vor die Seele gebracht werden kann, in welcher die gegenwärtige sichtbare Welt ihr durch das Auge dargestellt wird. —

Ohne daß meine Vorstellung von den vier Wänden und den Fenstern meines Zimmers, welche jetzt mein wirkliches Daseyn einschließen, nur [3]im mindesten unterbrochen oder gestört wird — kann ich einer Erzählung von Bergen, Thälern, reißenden Strömen, Seetreffen und Schlachten zuhören, dabei bleiben aber meine Ideen in ihrer Ordnung.

Durch das Auge, in welchem sich nichts als die vier Wände und die Fenster meiner Stube darstellen, werde ich auf den gegenwärtigen Fleck meines Daseyns fixiert — und kann nun meine übrigen Vorstellungen sicher über Meer, Berg' und Thäler umherschweifen lassen — es steht jeden Augenblick in meiner Macht, sie auf den gegenwärtigen Fleck wieder zurückzurufen. —

Die einförmigern sich gleichbleibendern Gesichtsideen sind gleichsam der Stift, um welchen sich die ungeheure Mannichfaltigkeit der zuströmenden Gehörsideen umherdrehet. — Ich habe einen festen Mittelpunkt meiner Vorstellungen — meine Begriffe sind nicht in Gefahr, sich zu verwirren. —

Die Vergangenheit hüllt sich in das Gewand der Worte ein, um den immer neu aufsteigenden Bildern Platz zu machen, und demohngeachtet nicht zu verschwinden. — Meine ganze vorstellende Kraft ist in einer andern Lage, bei dem, was ich mit meinen Augen sehe, und bei dem, was ich nur mit meinen Ohren erzählen höre. —

Ja, es scheint, als wenn ohne das Ohr weder Vergangenheit noch Zukunft in unsrer Vorstel-[4]lung recht statt finden könnte — denn bei dem Auge ist beständige Gegenwart

durch das Auge wird

die Nebeneinanderstellung,

durch das Ohr

die Succession der Ideen bewirkt.

Auge — Ohr —

Mahlerei — Musik —

Nebeneinanderstellung — Succession —

Die schönen Künste sind ein Abdruck der Natur im verjüngten Maaßstabe —

Die ganze äußre Welt sowohl als unsre innre Ideenwelt zerfällt in

Mahlerei und Musik —

Bild und Wort —

Sache und Rede. —

Unsre Vorstellungen sind die Mahlerei der Welt, sie können nur darstellen, was auf einmal da ist — unsre Sprache ist die Musik unsrer Vorstellungen — sie schildert das aufeinanderfolgende, sie läßt unsre Gedanken, unbeschadet des Gegenwärtigen, in die Vergangenheit und in die Zukunft schweifen — bewahrt in dem kleinen Umfange von vierundzwanzig artikulirten Tönen, den Schatz der jedesmaligen Denkbarkeit irgend eines Stücks aus der ganzen ungeheuren Ideenwelt auf. —

[5]

Das Ohr hat bei mir die Vergangenheit immer mehr an die Gegenwart geknüpft, als das Auge. —

So oft ich an einem entfernten Orte war, und über dem Anblick der Häuser, der Thürme, des Steinpflasters alles Vergangne und Entfernte vergaß, und mich nur auf den gegenwärtigen armen Fleck meiner Existenz eingeschränkt fühlte, war es der Klang der Glocken, der mich zurückrief, und mir Vergangenheit und Entfernung wieder lebhaft vor die Seele brachte. —

Woher käme das, als weil die Succession der Ideen durch den Schall in meiner Seele angeregt und herrschend geworden war? —

Alle die sichtbaren Gegenstände um mich her schienen denn auch eine andre Gestalt anzunehmen — sie kamen mir in einem andern Lichte vor, da ich sie mit dem Vergangnen und Entfernten zusammenstellte. —

Wäre aber die mit der Vorstellung des Gegenwärtigen gleichzeitig verbundne Vorstellung des Vergangnen und Entfernten nichts als das Resultat von der Zusammenstellung zweier sinnlichen Werkzeuge, wie Auge und Ohr — so müßte bei dem Mangel oder der Unbrauchbarkeit des einen oder des andren dieser sinnlichen Werkzeuge die vorstellende Kraft gleichsam halbirt, bei dem Blindgebohrnen müßte nichts, als Succession, und bei [6]dem Taub- und Stummgebohrnen nichts als Nebeneinanderstellung der Ideen statt finden.

Arbeitet sich aber die vorstellende Kraft selbst durch den Mangel oder die Unbrauchbarkeit eines dieser sinnlichen Werkzeuge durch — und sucht sie sich selber diesen Mangel auf irgend einer Art zu ersetzen, so muß sie nothwendig mehr als das bloße Resultat der Zusammenstellung dieser sinnlichen Werkzeuge seyn. —

In dieser Rücksicht sind also sorgfältige Beobachtungen über Taubstumme gewiß von sehr großem Werth — und sind für den Denker sogar zu dessen Beruhigung nöthig — dieser kann sich nicht enthalten, sich allemal in die Stelle des unglücklichsten unter seinen Mitgeschöpfen zu setzen; und würde sich seiner eignen Vorzüge nicht wohl freuen können, sobald er glauben müßte, daß irgend eines seiner Nebengeschöpfe eigentlich vernachlässiget wäre — denn er betrachtet die Sache derselben, als seine eigne Sache. — Es liegt ihm daran, daß auch ein Taub- und Stummgebohrner das edle Vergnügen des Denkens genieße, worauf derselbe sowohl als irgend ein andres Wesen seiner Art gerechte Ansprüche machen kann.

Schrecklich wäre der Zufall der Geburt, wenn ein Taub- und Stummgebohrner nie vernünftig denken könnte. — Mein Selbstgefühl schaudert vor diesem Gedanken, wie vor dem Rande eines Abgrundes zurück. — Mir schwindelt vor dieser [7]fürchterlichen Nähe des Zufalls, dem ich durch nichts hätte ausweichen können — ich fühle mich taub- und stummgebohren — und sollte nie vernünftig denken — ein Ich ohne Ichheit — ein Wesen ohne Zweck — ein wandelnder Traum seyn? —

Kömmt nicht durch das vernünftige Denken erst Plan und Zweck in mein ganzes Leben? — würde ohne diese Eigenschaft mir nicht mein Daseyn selbst eine Marter seyn? und ist es mir nicht eine Marter gewesen, so oft ich meine ganze Denkkraft nicht wirken, und durch sie die Nebel, welche meinen Geist umhüllten, zerstreuen ließ? —

Wie unsicher stände es denn um meine eigne Menschheit, wenn es Taubstumme gäbe, die wirklich wegen Mangel der Sprache nur halb Mensch und halb Thier wären, und dieß nun einmal nothwendig seyn müßten! —

Doch der Wunsch, daß etwas so und nicht anders seyn möge, soll mich nie bei der Erforschung der Wahrheit leiten. -— Ich habe gelernt, mich der Nothwendigkeit zu unterwerfen, und werde daher bei meinen Untersuchungen und Beobachtungen nie mit ängstlichen, sondern mit festen und sichern Schritten gehen — sey denn auch das Resultat derselben, was es wolle.

Im ersten Stück des ersten Bandes dieses Magazins S. 39. habe ich angefangen, einige Beobachtungen über einen Taub- und Stummgebohr-[8]nen zu liefern, mit dem ich erst einen Versuch machte, ihn reden zu lehren, und da ich mit diesem Versuch aufhören mußte, wenigstens meine Beobachtungen über ihn nachher noch lange fortgesetzt habe. Aus diesen Beobachtungen will ich nun die zweckmäßigsten herausheben, und sie hier nebeneinanderstellen:

Er wußte, daß ihm ein Sinn mangelte, indem er allemal mit dem Kopfe schüttelte, und eine betrübte Miene machte, sobald man auf das Ohr zeigte. —

Er wußte Dinge, die zu einer Art gehörten, von andern, die verschiedner Art waren, zu unterscheiden, indem ich ihn z.B. ein gläsernes Dintenfaß mit l benennen lehrte, und dann mit dem Finger auf ein Fenster, auf einen Spiegel und auf ein Trinkglas zeigte, welches er alles auch mit l benannte, da ich aber auf einen Stuhl zeigte, mit dem Kopf schüttelte, und still schwieg. —

Merkwürdig ist vorzüglich die Aeußerung seiner Gedächtnißkraft, da er sich an einen Vorfall, seit welchem schon ein Jahr verflossen war, mit allen Nebenumständen lebhaft zurückerinnerte.

Er sahe mich mit einem jungen Menschen in einem Buche lesen, und plötzlich fiel ihm ein, daß ich mit eben diesem jungen Menschen vor einem Jahre, auch zusammen mit ihm in einem Buche lesend, auf einem Kahne gefahren war, wo er gerudert hatte — er wußte sich noch des Umstandes [9]dabei zu erinnern, daß wir ihm damals ein klein Stück Geld in die Hand drückten, welches er nicht nehmen wollte. — Die vergangne Welt schien also unbeschadet der gegenwärtigen sichtbaren Welt mit allen ihren verschiedenen Gestalten dennoch in seiner Seele zu existiren — ohne, daß er die Worte rudern, Kahn, Buch oder Geld wußte, wodurch jene einzelnen Bilder gleichsam kompendiöser in seiner Vorstellung hätten zusammen gezogen werden können — wußte er doch diese Bilder aus der Masse aller übrigen herauszufinden, und sie gehörig zusammenzustellen. — Nun bleibt aber die Frage, ob hierbei gleichsam eine Scheidewand zwischen der Gegenwart und Vergangenheit bei ihm befestigt blieb, so, daß die vergangne Bilder ihrer Natur nach gegen das Gegenwärtige sich gehörig verdunkelten und im Schatten stellten, oder ob sie zu lebhaft wurden, als daß sie unbeschadet des Gegenwärtigen von ihm hätten gedacht werden können. —

Denn da er immer noch die ganzen Bilder von Buch, Kahn, rudern, Geld, zusammenlesen, u.s.w. in seiner Einbildungskraft wiederhohlen mußte, so mußte sein Gehirn dadurch gleichsam voller werden, als wenn er von allen diesen Dingen eine symbolische Erkenntniß durch Worte gehabt hätte — denn nun konnte er sich doch das Rudern nicht im Allgemeinen wieder vorstellen, sondern er mußte sich an jenes Rudern [10]mit allen seinen individuellen Beschaffenheiten, und eben so auch an jenen Kahn, an jenes Zusammenlesen in einem Buche mit allen individuellen Beschaffenheiten und Umständen erinnern. — Durch die Worte Rudern, Kahn, Buch u.s.w. hätte er jedes dieser Dinge außer dem Zusammenhange für sich abgesondert, und denn auch nach Gefallen wieder in dem Zusammenhange mit den umgebenden Dingen denken können; nun aber mußte er nothwendig sich jenen Kahn als ein Individuum und also auch mit allen begleitenden Umständen, den Leuten, die darauf sassen, dem Wasser, das darunter floß, dem Ruder, wodurch er fortbewegt wurde, u.s.w. zusammendenken.

Er konnte keine Einschnitte in diesen festen Zusammenhang machen, wie wir durch die Sprache thun; das ganze vergangne Bild mußte im unzertrennlichsten Zusammenhange der einzelnen Bilder untereinander ganz und auf einmal vor seiner Seele darstehen. — Wie half sich nun seine Einbildungskraft da heraus — da er das Bild doch nicht außer sich hingießen konnte, nach welchen Gesetzen richtete sich die Folge seiner pantomimischen Aeußerungen, wodurch er sich verständlich zu machen suchte? Läßt sich nicht etwa das Phänomen der erstaunlichen Lebhaftigkeit und Begier, womit Taubstumme durch Zeichen etwas Vergangnes darzustellen suchen, vorzüglich daraus [11]erklären, daß ein Bild des Vergangnen auf einmal in ihrer Seele darsteht, und sie doch nicht die Kraft, obgleich den Willen haben, es auf einmal wieder außer sich darzustellen — und nun ihre Begier mit Aengstlichkeit und Unentschlossenheit verknüpft ist. —

Im zweiten Stück des zweiten Bandes dieses Magazins S. 40 steht ein sehr merkwürdiges Bekenntniß eines Tauben und Stummen von seiner verübten Mordthat — und S. 50. einige vortreffliche Bemerkungen über dieß Bekenntniß vom Herrn Oberkonsistorialrath Silberschlag — diese fügen sich von selbst an meine gegenwärtige Untersuchung an, und ich richte daher vorzüglich meine Aufmerksamkeit darauf.

Herr S. behauptet ebenfalls, »der Taubstumme könne nicht so denken, wie wir, die wir durch Zusammensetzung einzelner mit Worten verknüpfter Begriffe das Ganze einer Idee in unsrer Seele bilden. — Jeder Gedanke eines Taubstummen sey eine totale Idee, ein Bild, in welchem sich alles, was zu demselben gehört, auf einmal in seinem Zusammenhange darstellt.«

Könnten wir einen Blick in die Seele eines Taubstummen thun, so würden wir vielleicht lauter große Massen von Bildern, nichts so ins Einzelne detaillirte, als bei dem redenden Menschen entdecken.

[12]

»Die Gedanken des Taubstummen, fährt Herr S. fort, sind viel größer vom Umfange, viel lebhafter, viel schneller, nicht so zerstückt und unterbrochen, als die unsrigen.«

»Daher kömmt es, daß der Taubstumme so gern mahlt.«

Dieß stimmt mit meiner vorher geäußerten Idee, daß in der Seele des Taubstummen überhaupt mehr zusammenfassende Gemählde, als successive Vorstellungen statt finden.

Der Taubstumme mahlt gern — denn alles mahlet sich in ihm, weil es nicht in ihm tönet.

»Die Gedanken des Taubstummen sind von weitläuftigem Umfange und größerer Stärke, als die unsrigen, aber sie haben den unvermeidlichen Fehler der Schwierigkeit, abstrakte Ideen zu formiren« —

Wiederum sehr natürlich, weil die Vorstellungen, sobald sie total sind, sobald sie im Zusammenhange mit mehreren nothwendig gedacht werden müssen, eben dadurch individualisirt werden. —

Freilich kann in manchen Fällen, durch die Leichtigkeit des pantomimischen Zeichens, auch die Abstraktion einigermaßen erleichtert werden. — Ein König z.B. wird durch Bezeichnung eines Sterns auf der Brust, ein Arzt durch einen Griff an den Puls bezeichnet. — Ein solches [13]leichtes natürliches Zeichen vertritt beinahe die Stelle eines Worts.

Aber man muß nothwendig wiederum hiermit zusammennehmen, was Herr Nikolai im dritten Stück des zweiten Bandes dieses Magazins S. 90 in seinem Aufsatze über das Taubstummeninstitut in Wien, als selbstgemachte Beobachtung, erzählt: daß immer eine große unvermeidliche Schwierigkeit bei der Zeichensprache statt findet, wenn dasjenige nun selbst als Sache bezeichnet werden soll, dessen man sich sonst bloß als symbolischen Zeichens bedienet.

Der Taubstumme bezeichnet z.B. einen Arzt durch einen Griff mit der Hand an den Puls, was bleibt ihm nun übrig, das wirkliche an den Puls greifen des Arztes zu bezeichnen. Das Wort Arzt besteht aus einigen an und für sich unbedeutenden Tönen, a, r, z, t, die durch die Zusammensetzung erst Bedeutung erhalten. — Man betrachtet hier das Zeichen der Sache nur in einer einzigen, nehmlich in der grammatikalischen Rücksicht, selbst als Sache — es ist aber nicht dazu bestimmt, um Sache, sondern nur um Zeichen zu seyn; als Sache findet es bloß in unsrer Spekulation statt.

Jedes der pantomimischen Zeichen hingegen kann und muß zuweilen selbst als Sache wieder betrachtet werden — und dann ist Verwirrung zwischen Zeichen und Begriff fast unvermeidlich, [14]wie Herr Nikolai auch in dem angeführten Aufsatze über das Taubstummeninstitut in Wien aus Beispielen gezeigt hat.

Wir wollen aber jetzt zur Aufklärung dieser Sache unser obiges Beispiel wieder zu Hülfe nehmen: der Stumme soll nehmlich einen Arzt durch einen Griff an den Puls bezeichnen, nun soll er durch Pantomime erzählen wollen, wie der Arzt in das Zimmer tritt, sich an das Bette des Kranken setzt, und diesem an den Puls fühlt. Weil nun der Kranke nicht wirklich da liegt, so kann der Taubstumme nur seinen eignen Puls fühlen. Der erste Griff an den Puls bezeichnete also den Arzt selbst, und war darstellendes Zeichen; der zweite bezeichnete eine Handlung desselben, und war darstellende Nachahmung. — Die Zeichensprache kann das Subjekt nicht anders als in Handlung bezeichnen — denn jede Pantomime ist schon selbst eine Art von Handlung — zur Bezeichnung der Handlungen bleiben also der Pantomime keine besondre Zeichen übrig — Nomen und Verbum fließt in eins.

Die Pantomime hat keine symbolische Zeichen für die Nomina; aber sie hat eine Nachahmung der Handlungen für die Verba — sie hört auf Sprache zu seyn, sobald sie Verba auszudrücken hat — denn wirkliche Darstellung der Sache kann ich nicht eigentlich mehr Sprache nennen.

[15]

In der Seele des Taubstummen muß es daher weit unruhiger und lebhafter als in unsrer Seele seyn. Er kann seine Ideen von den Handlungen nicht eigentlich fixiren — wenn sie angeregt werden, so müssen sie einander unwillkührlich anstoßen und sich wechselseitig in Bewegung setzen. Denn von den Handlungen existiren in der Seele des Taubstummen keine Zeichen, sondern die Sache selbst, die vollständigen Bilder — die einzelne Handlung eines Subjekts, wie z.B. das Pulsfühlen, kann wohl, aus allen übrigen herausgehoben, zur Bezeichnung des Subjektes dienen, aber was soll aus der Handlung des Pulsfühlens selbst einzelnes herausgehoben werden, um diese als einen abstrakten Begriff zu bezeichnen? —

Wenn also gleich durch die Zeichensprache Substantiva als fixirte Begriffe ausgedrückt werden können, so müssen doch die Verba immer vage, schwankende Begriffe bleiben. —

Eine einzelne aus mehreren herausgehobne Handlung eines handelnden Wesens ist ein Zeichen des handelnden Wesens; aber die Handlungen selbst haben kein Zeichen weiter, weil sie selbst nur gleichsam natürliche Zeichen von der innern Wirksamkeit eines handelnden Wesens sind.

Der Taubstumme hält ein gewisses Bild an einem kleinen Punkte in demselben fest, der ihm zum Hauptgesichtspunkte dienet. — Er bezeichnet z.B. die Person des Königs, indem er [16]sich mit dem Finger einen Stern auf die Brust zu mahlen scheint — dieser einzelne Gesichtspunkt dient ihm statt des Nahmens König.

Gesichtspunkt

ist ein Ausdruck, dessen man sich oft bedient, ohne recht aufmerksam auf den Begriff zu seyn, welchen er bezeichnet, und welcher vielleicht einer unserer schwersten Begriffe ist. —

Zu jeder deutlichen Vorstellung gehöret gleichsam ein Mittelpunkt und ein Umkreis — setze ich nun den seynsollenden Mittelpunkt eines Umkreises nicht gerade in die Mitte desselben, so kann ich unmöglich eine deutliche Idee von dem Umkreise erhalten, der eine Theil desselben muß gleichsam aus der Sphäre meiner Betrachtung wegfallen — ich urtheile daher falsch — das Wohlgeordnete und Gerade kömmt mir schief und ungerade vor — ich habe die Sache nicht aus dem rechten Gesichtspunkte betrachtet. —

Der Mittelpunkt des Umkreises ist der Zweck, worauf sich alles übrige bezieht, wie die Radien eines Zirkels auf den Mittelpunkt desselben — nehme ich nun z.B. einen untergeordneten Zweck für den Hauptzweck, so muß mir nothwendig ein großer Theil der Dinge, die ich aus einem Gesichtspunkte betrachte, unzweckmäßig scheinen — der Cirkel ist nicht gehörig geründet — ich kann die Sache nicht fassen. —

[17]

Nun sagt man aber, gewiß aus einem dunklen Gefühl der eingeschränkten Kraft unsers Denkens, den rechten Gesichtspunkt treffen — gleichsam, als ob man nur zufälliger Weise darauf stieße, indem man ihn treffen muß, wie etwa der schwarze Punkt in der weißen Scheibe von dem geübten Schützen getroffen wird. —

Worin besteht nun aber diese Kraft, den rechten Gesichtspunkt zu treffen?

Der Schütze hat den schwarzen Punkt in der weißen Scheibe schon vor sich — er hat den Gesichtspunkt schon, es kömmt nur darauf an, daß er diesen Gesichtspunkt unverrückt erhält, damit der Schuß nicht vorbeitreffe. —

Indem wir aber unsre Ideen ordnen, so sollen wir den rechten Gesichtspunkt selbst erst finden — wir nehmen auf gut Glück einen an, und beschreiben aus demselben einen Zirkel — eine große Anzahl unsrer Ideen will sich nicht hineinfügen, und fällt außer diesem Zirkel — wir sehen zwar einige Ordnung und Beziehung in unsern Gedanken — aber alles will sich nicht in diese Ordnung hineinziehen lassen — wir wählen daher einen andern Gesichtspunkt, und kommen endlich durch mehrere mißlungne Versuche auf den rechten — so wie bei einer Art von Rechenexempeln, wo man auch erst durch eine Anzahl möglicher Fälle, die man setzt, das Verlangte herausbringt. — Wir müssen auf die Weise selbst die Wahrheit gewissermaßen nur [18]zufälliger Weise finden — und darin besteht das Wesen, die ewige Tendenz unsrer Denkkraft — den ganzen Umfang unsrer Ideen auf irgend einen Mittelpunkt zu beziehen, worin sie alle, wie die Radien eines Zirkels sich vereinigen — diesen Mittelpunkt ausfündig zu machen, dahin ist das Streben aller denkenden Köpfe in jedem Zeitalter gegangen. — Es ist das Wesen unsrer Seele, so wie es zum Wesen der Spinnen gehört, sich zu dem Mittelpunkte ihres Gewebes zu machen. — Diese Tendenz nach Wahrheit, nach Beziehung und Ordnung in unsern Gedanken und Vorstellungen ist unser Instinkt, es ist ein Bestreben, wozu wir weiter kein Motiv haben, als die Natur unsres Wesens.

Daß wir aber des rechten Gesichtspunktes auch verfehlen können, und die Natur unsres Wesens nicht bis dahin reicht, daß wir ihn nothwendig treffen müssen — dieß giebt unserm Denken Freiheit, und nimmt unsrer Denkkraft wieder das Instinktmäßige — daß wir irren können, ist daher einer unser edelsten Vorzüge — es ist uns zwar unmöglich, nach dem Irrthum zu streben — aber es ist uns möglich, demohngeachtet auf den Irrthum zu gerathen — und nachher wieder einzusehen, daß wir darauf gerathen sind — dieß giebt unsrer Denkkraft Selbstthätigkeit — sie muß ihrer Natur nach immer nach Wahrheit streben — aber sie muß sie nicht ihrer Natur nach [19]finden — sie muß das Mannichfaltige auf einen Zweck zu beziehen suchen — das heißt: sie muß aus dem Mannichfaltigen einen Gegenstand herausheben, den sie zum Mittelpunkt der übrigen macht — aber sie kann sich diesen Gegenstand selber wählen — sie kann jedes Einzelne in irgend einem Ganzen mit der Würde des Zwecks bekleiden, und dem Ganzen Beziehung darauf geben. —

Dieß hat sie auch gethan — keine Kunst, keine Wissenschaft ist wohl z.B., die nicht einmal in dem Kopfe irgend eines Menschen zum Zweck alles übrigen gemacht wäre. —

Nun kann also ein Wetteifer unter allen den verschiednen denkenden Kräften auf Erden entstehen — indem immer einer noch einen bessern Gesichtspunkt als der andre findet, woraus er die Dinge betrachtet, und man auf die Weise dem eigentlichen Mittelpunkte, oder dem eigentlichen Ziel alles menschlichen Denkens immer näher kömmt, ohne es vielleicht je ganz zu erreichen. —

Doch, ich komme von dieser Abschweifung auf meinen Gegenstand zurück — der einzelne Gesichtspunkt, woraus der Taubstumme ein Bild betrachtet, und woran er es gleichsam fest hielt, wie z.B. das Bild oder die Vorstellung von einem Könige, an dem Stern, der dessen Brust bekleidet, muß ihm statt des Worts dienen. —

Allein diese Vorstellung ist weit unbehülflicher, als die durch Worte. — Diese Zeichensprache ist [20]ohngefähr das, was die Wortsprache in ihrer Kindheit gewesen seyn mag — sie bezeichnete bloß etwas an einem Dinge, wobei man sich das übrige erinnern konnte — als z.B. an einem Pferde das Wiehern, an einem Ochsen das Blöcken. — Indem man nun dieß Geräusch durch die Stimme nachahmte, so stellte sich nach dem Gesetz der Ideenvergesellschaftung zugleich die ganze Gestalt des Thieres, das ein solches Geräusch hervorbrachte, dar. —

Aber die vorzüglichste Aufmerksamkeit fiel doch immer auf das Geräusch, und die Vorstellung von dem Ganzen litte unter der zu lebhaften Vorstellung des Einzelnen, bis man bei der fernern Ausbildung der Sprache, und da der erste Ursprung des Worts allmälig vergessen wurde, auch das Einzelne, was das Wort anfänglich bezeichnet hatte, nicht mehr in Betrachtung zog, sondern sobald man das Wort hörte, seine ganze Aufmerksamkeit auf das Ganze richtete, und es mit dem Worte gleichsam umfaßte. —

Das Zeichen hörte auf, Sache zu seyn, und wurde bloß Zeichen.

Der Ton wurde als Ton, der an sich in der Natur statt fand, gar nicht mehr in Betrachtung gezogen. Die Begriffe von Zeichen und Sache lagen in der Seele abgesondert, und konnten sich nicht mehr untereinander verwirren. —

[21]

Die ganze Masse der Zeichenbegriffe zusammengenommen wog auch nicht einen einzigen Sachbegriff, in Ansehung ihres innern Gehalts, auf— darum wurde sie nun eben ein so bequemes, behendes und leichtes Werkzeug zum Denken, welches die Masse der sichtbaren Zeichen nie werden kann.

Denn diese können nie aufhören, zugleich in andern Beziehungen als Sachen gedacht zu werden, sie können nie ganz reine Zeichen werden.

Ein Stern auf der Brust eines Königes bleibt immer außer dem Zeichen der Würde auch an sich noch etwas. —

Man kann kein Bild, keine Figur erfinden, die nicht außer der Idee des Menschen noch irgendwo in der Natur statt fände — aber die ganze Natur außer dem Menschen, die ganze Thierwelt und alle Flüsse und Winde bringen keinen artikulirten Ton hervor — dieser ist und bleibt das Eigenthum des Menschen, wodurch er sich gleichsam zum Herrn der ihn umgebenden Natur macht, und alles unter das Gebiet seiner allmächtigen Denkkraft zwingt. —

Er kann das unermeßliche Weltall, welches vor ihm steht, vermittelst dieser Zeichen in- und auseinanderwickeln — auf der Walze stehen vierundzwanzig Stifte, in denen die unendliche Harmonie dieses ganzen Weltalls mit allen ihren Melodien schlummert. —

[22]

Dieß erhabne Werkzeug des Denkens ist nun gleichsam aus der Seele des Taubstummen herausgenommen — was ist an dessen Stelle gesetzt? —

Ist es etwas von dem ungeheuren Umfange der chinesischen Bilderschrift ähnliches, statt der simpeln Buchstabenschrift? —

So müßte es dem Taubstummen eben so erstaunlich schwer werden, jemals schnell und geläufig zu denken, als dem Chineser schnell und geläufig zu schreiben und zu lesen. —

Das Werkzeug des Denkens bei dem Taubstummen würde stets zu unbehülflich bleiben, sich der umgebenden Welt damit zu bemächtigen — die umgebende Welt würde sich vielmehr seiner bemächtigen, sie würde sich mehr in ihm darstellen, als daß er sich dieselbe vorstellte. — Seine Denkkraft verhielte sich immer mehr leidend, als thätig. — Wie soll sie sich unter diesem Druck, unter diesem Mangel emporarbeiten — auf welche Art wird die Denkkraft in dem ganzen Leben eines Taubstummen erhöht?

Sie kann nicht anders erhöht werden, als durch ein beständiges Streben nach Simplifizirung der Zeichen, vermöge deren der Taubstumme, die ihn umgebende Welt in seinem Kopfe zu ordnen sucht — erlangt er nun gleich durch dieses Streben nie seinen Zweck, so ist doch dieß unwillkührliche Streben selbst schon eine unmerkliche Uebung der Denkkraft — und wenn es vorzüglich [23]auf Erhöhung derselben ankömmt, so ist es gleichviel, wodurch sie erhöht wird. —

Indem der Taubstumme, durch das Bedürfniß, sich andern verständlich zu machen, genöthigt wird, Zeichen zu erfinden, bei denen andere sich irgend ein Ganzes denken sollen, so wie er es sich dabei denkt, und indem er zu dem Ende irgend einen Theil eines Ganzen zum Zeichen des Ganzen macht — so lernt er unvermerkt, das einzelne mit beständiger Rücksicht auf das Ganze, und das Ganze mit beständiger Rücksicht auf das Einzelne, betrachten. — Und daß wir dieß, sey es auch auf noch so verschiedene Weise, lernenscheinet doch der eigentliche Endzweck unsres Erdenlebens zu seyn.

Kein denkendes Geschöpf, bei dem dieser Endzweck, sey es auch, auf welche Art es wolle, erreicht ist, scheint mir vernachläßiget zu seyn.

Nehme ich dieses zum letzten Zweck bei der Schöpfung der Geisterwelt an, so lösen sich mir alle Räthsel in der moralischen Welt auf — ich sehe nichts, als Plan, Ordnung und Zusammenhang, wo ich sonst nur zweckloses Streben, Unordnung und Verwirrung sahe.

In diesem letzten großen Gesichtspunkte müssen alle übrigen zusammentreffen — und jede andere Betrachtung muß sich in dieser verlieren. —

Es kömmt, in der allerletzten Rücksicht, nicht sowohl auf den Gegenstand des Denkens, als [24]auf das Denken selber, und die dadurch erworbnen bleibenden Fertigkeiten der Seele an. —

Ob nun der Taubstumme seine Denkkraft an der Sache selber oder an den Zeichen übt, wodurch er, vom Bedürfniß sich verständlich zu machen, gedrungen, die Vorstellungen von den Sachen selbst in seinem Kopfe zu ordnen sucht, das ist in Ansehung der eigentlichen Veredlung seines Wesens dasselbe. —

Der gegenwärtige Gebrauch unsrer Denkkraft scheint nach diesem allen noch nicht Zweck zu seyn, sondern es scheint, als ob sie durch denselben nur gleichsam zu einem höheren Gebrauch erst geschliffen werden soll. —

Dieser Gedanke beruhigt und tröstet mich beim Anblick der moralischen Welt — ich betrachte sie als Gerüste um ein Gebäude — das einst aus dieser Entstellung rein geglättet und majestätisch emporsteigen wird, wenn das unbrauchbar gewordne Gerüste umher wegfällt. —

Der Taubstumme übt seine Denkkraft, indem er von dem Bilde des Königes den Stern auf der Brust desselben heraushebt, und ihn zum Zeichen des Ganzen macht — ich übe meine Denkkraft, indem ich über diese Bezeichnungsart des Taubstummen Betrachtungen anstelle — und wir sind beide unvermerkt dem Ziele der Erhöhung unseres Wesens näher gerückt.

(Die Fortsetzung künftig.)