ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Ein Brief nebst einer Einlage von Gesichten und Erscheinungen.

Müller, Melchior Ludwig

Augsburg, den 11ten Jan. 1785.

Von der berichteten Affaire in Ihrem Magazin Gebrauch zu machen, überlasse ich Ihrem eigenen Gutbefinden, mir scheint sie in manchem Betracht [121]eines weiteren Nachdenkens und Untersuchens nicht ganz unwürdig; sie kann Aufschluß bei ähnlichen Fällen geben.

Ein hoher Grad der Einbildungs- und Vorstellungskraft abwesender und wirklicher Undinge als gegenwärtig, und so auch gehörter Stimmen, mag wohl alles verursachet haben. Demungeachtet warens doch Seelenwirkungen. —

Jene Weibsperson, die die überschickte Aufsätze verfasset, bleibt bei ihrem übrigens ganz gutem Verstande, noch auf das standhafteste dabei alles so gesehen und gehört zu haben, wie sie beschrieben hat.

Uebrigens ist sie ruhig eines sehr gesetzten Charakters, grübelt im geringsten nicht ferner nach. Ich habe manche, mir von ihr übergebene Aufsätze, noch zurück behalten, um das erste Päckchen, so ich Ihnen überschickt habe, nicht zu dicke zu machen.

Sollten Sie diese Sache einer weiteren Untersuchung werth halten, so steht alles, was ich noch in Händen habe, zu Ihren Befehlen; auch bin ich zu jeder weiterer Auskunft erbötig.

M. Ludwig Müller,

Pfarrer zum heiligen Creutz.


[122]
Die Einlage des obigen Briefes.

Wahrhaftige Anzeigung gesehener Gesichte und Erscheinungen Gottes. Von mir Unterschrieben.

Es heist bei mir: das ist meine Freude, daß ich mich zu Gott halte, und meine Zuversicht setze auf den Herrn, daß ich verkündige alle sein Thun u.s.w.

Nemlich was er an Seiten meiner von vorzüglichen Gnaden erwiesen hat, denn im vierten Jahre meines Lebens, als ich mich noch mit kindischen Spielen beschäftigte, und die Magd mit meiner seligen Schwester, die ein halb Jahr alt war, auf die Gasse ging, nachdem sie vorher in einer Bibel, in Folio, gelesen hatte und solche auf dem Tisch liegen ließ, (es war unter einer Sonntäglichen Abendspredigt gewesen) nahm ich das Buch, warf es vom Tisch auf die Bank, und wälzte es mit Händen und Füßen an einen Ort, wo ich gesessen, und stellte die Füße darauf, um desto bequemer meine Puppe an- und auskleiden zu können.

Ich hatte diese Stellung kaum eine Minute behalten, so hörte ich eine Stimme neben mir sagen: Thue gleich dies Buch wieder an seinen Ort; als ich aber niemand sahe, so that ich es nicht. Die Stimme aber sagte noch einmal ernstlich, gleich [123]sollte ich es thun, und es war als wenn mir jemand ins Gesicht faßte. Ich that es gleich mit Furcht und Zittern, konnte aber das Buch nicht auf den Tisch legen, sondern ich rief das Dienstmädchen, sie sollte geschwinde kommen, und das Buch weglegen. Als sie kam und mich allein sahe, zankte sie mit mir und sagte: wer es mich geheißen hätte, sie zu rufen, da doch Niemand da sey.

Bei zunehmenden Jahren war das meine einzige Freude und größtes Verlangen gewesen zu wissen, was doch in diesem Buche möchte enthalten seyn; und ich schäme mich nicht zu bekennen, daß ich solches in meinem Leben zweimal ausgelesen habe, allein das erstemal mit sehr schwachem Verstand und Begriff, bis es nach und nach durch öftere Anhörung der Predigten und Bücher mir begreiflicher gemacht worden.

Im siebenten Jahr meines Lebens war ich nebst meiner Schwester mit kindischen Sachen beschäftigt. Als im Sommer einsmals durch die Stubenkammerthüre eine große helle Flamme erschien, die in der Mitte länglicht weiß war, und so groß als ein sechswochen Kind; es blieb in solcher Stellung am Ofen bei einer halben Stunde, darnach fuhr das weiße Licht voran wieder durch die Kammerthüre, und das Feuer ihm nach. Wir folgten ihm auch nach, fanden aber nichts in der Kammer als meinen Vater und Mutter mit Briefeschreiben beschäftiget. Sie haben aber nichts [124]davon gesehen, und schalten uns aus und sagten: daß außer dem Kristkindlein niemals was zu sehen sei; es blieb uns aber immer im Andenken.

1770 wie ich mit meinem Mann von Straßburg wegen großer Theurung a abreiste, erschien mir Morgens um halb fünf Uhr der Erlöser wie im Traum, und redte bei einer halben Stunde mit mir, ich achtete aber nicht auf seine Reden vor großer Freude, und gedachte nur an das, was ich hernach Alles mit ihm reden wollte, als er aber ausgeredet hatte, verschwand er.

1771 im Monath December erhielte ich immer widrige Zuschriften von meinem Mann, welcher in Augsburg war, und ich in meinem Vaterlande; diese bewogen mich den Entschluß zu fassen, aufzuhören zu beten, und gedachte, es sei doch vergeblich, Gott der Herr erhöre und gedenke doch nicht an mich, und am Sonntag Abend dankte ich Gott noch vor alles zum letztenmale, war aber willens doch noch in die Kirche zu gehen, ich ging zu Bette.

Morgens erwachte ich, ich wuste nicht, welche Zeit es war. Mit einemmale wurde es heller Tag zu meiner größten Verwunderung, und neben meinem Bette saß eine himmlische Mannsperson von etliche sechzig Jahr alt im blauen Gewande. Sein Angesicht war wie weiß und rother Crystall, sein Haar lichthell; er sahe mich sehr beweglich an, und sagte: halt an, halt ein, halt aus; ich redete kein Wort, sondern gedachte, wie muß ich das ver-[125]stehen, da gab mir auf der andern Seite eine junge Person von achtzehn Jahren zur Antwort, die auch so schön war, halt an am Gebet, halt ein im Vertrauen gegen Gott, halt aus in deinen Anfechtungen. Während daß sie so redeten, war es wie ein Sonnenschein an der Diele gewesen, der ging hin und her, und hernach in die Kammer; als er fort war, war es als wenn man mir Haare ausraufte, es war aber erträglich. Der Schein kam wieder, und der Schmerz verging; er ging wieder dahin, da war mirs am Rücken als wenn man mir mit Zangen das Fleisch herunterrisse; er kam wieder, da wurde es wieder besser. Der Schein ging wieder weg, da wars, als wenn man mir die Schulterblätter auseinanderrisse und das Herz aus seiner Stelle nahm, und solches zwischen den Schultern sterben ließe; ich gedachte, das ist gewiß die Stunde des Todes, und da ließ sich noch neben der jungen Person der Teufel sehen; er kam hinter der Bettstelle am Rücken hervor, ich sahe aber nur einen Arm, zwei Spannen dicken Schwanz, wie eine Schlange, und so den Hals und halben Kopf. Ich hatte ihn nicht ganz gesehn, denn die junge Person stieß ihn mit dem Ellbogen zurück. Sie hielte mit der einen Hand die Hauptnath und die andere streckte sie gegen die Fußnath; so ausgespannt stund sie von Anfang bis zu Ende. Da kam der Schein wieder, und beide Personen sahen ihn sehr traurig an, und die [126]junge Person sagte zu ihm: Herr, laß es genug seyn! und wiederholte es dreimahl; in während er dieß sagte, sahe ich an ihm grosse weiße Flügel wie Blitz, und wuste also, daß es ein Engel Gottes war; darnach ging der Schein weg, die Personen verschwanden, und der Tag wurde wieder in die Nacht verwandelt, und mir wurde das Herz wieder in seine Stelle gesetzt, und der Schmerz verging und ich stund gleich auf. Da war es fünf Uhr.

1772. Vor meiner Abreise von Lindau hatte ich die gnädige Erscheinung des Erlösers wieder gehabt, Morgens um halb fünf Uhr, auch wie im Traume und allemal weiß in der Kleidung und Person.

1773. Als ich nun mein Vaterland wieder verließ und zu meinem Ehegatten hinkam, machte er mir das Leben so bitter, denn er glaubte, daß ich daran sterben sollte; da entschloß ich mich, wider meine Gemüthsart, mit ihm zu raufen und zu schlagen, welcher dann zuerst todt ist, der sei todt, denn ich dachte, ich könnte Lebenslang eine solche widrige Ehe mit ihm haben, (wie es nachgehens auch geschehn war) und es stehe wohl in der heiligen Schrift: dieser Zeit Leiden ist nicht werth der Herrlichkeit, die an uns soll offenbahrt werden, aber mein Leiden sei grösser, und ging, wie allemahl, mit vielen Thränen zu Bette; Morgens erwachte [127]ich um vier Uhr. Da war es einsmal, als ob ich in Lindau in meiner Eltern Haus auf der Diele stand, und sahe am Himmel einen Pudelhund gehn. Als er vorbei war, so that sich der Himmel auf bis herunter zu mir, und meine Augen wurden mir geändert, solche Klarheiten zu sehen, denn ich sahe viele 100000 Meilwegs weit; die Wohnung Gottes war in der Mitte mit blauen Wolken umgeben, und ringsherum lauter Klarheiten von so schönen Farben, die die Welt nicht hat, und in einer jeden Farbe standen viele Millionen Menschen, gekleidet, wie die Klarheiten waren; z.E. in der rothen roth, in der gelben gelb, und sie sahen alle der Wohnung Gottes zu. Darnach kam ein sehr schönes Frauenzimmer aus dieser Wohnung heraus, gekleidet mit vielerlei Himmelsglanz und eine Krone auf dem Haupte, und von drei Engeln begleitet; einer führte sie an der rechten Hand und der andere an der linken, der dritte ging nebenher und zeigte ihr die Personen, die in den Klarheiten standen; sie sahen sie alle an. Hernach wurde der Himmel wieder zugeschlossen, und in einer Minute wieder aufgethan, wie vorhin, allein das Frauenzimmer und die Engel waren nicht mehr zu sehen, sondern der Erlöser kam mit einem Gefolge aus der Wohnung Gottes heraus zu mir herunter durch alle die Klarheiten, und sahen mich, wie der Erlöser, lächelnd an; sie waren alle, wie er, weiß gekleidet, und wo sie gingen, war weiße Klarheit. [128]Als er so nahe bei mir war, daß ich mit der Hand seinen Fuß reichen konnte, erschrack ich, und war in meinem Bette. Es war halb fünf Uhr, und ich stand auf, und gedachte, daß mein Leiden nichts sey gegen jene Herrlichkeit.


Erläuterungen:

a: Der siebenjährige Krieg hinterließ eine wirtschaftliche Katastrophe. Hohe Getreidepreise trieben viele in den Hungersnot. Vgl. Erl. zu II,1,45.