ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Auszug aus einem Briefe.

Schlichting, Johann Ludwig Adam

Speier den 29sten December 1785.

Mein Bruder, ein Jahr älter als ich, hatte eine Imagination, die sehr lebhaft und empfänglich war, und deswegen auf einem Vorwurf nicht lange aushielt, die alte Idee von jeder neuen sinnlichern und also reitzbarern verdrungen wurde; überhaupt war ihm der Eindruck in seiner Einbildungskraft von minder interessierenden Gegenständen und Vorstellungen, in dem Moment eines fühlbarern dahinreißendern, nur augenblicklicher Eindruck — nur vorbeistreichende Lüftchen, und sein Blick blieb nur so lange auf demselben, bis ein plötzlicher stürmischer Windstoß das alte Gebäude der Phantasie erschütterte und den Grund zerstörte.

Mit eilf Jahren ging er mit einem Schulfreunde um, der desselben Temperaments war; dieselbe Viertelstunde zum ersten Erscheinungsmoment unter den Erdesöhnen hatte; dieselbe Milch zur Nahrung sog. Beide lasen einige Zeit her ausrufende Aszeten und mährchenvolle Lebensbeschreibungen von Heiligen.

Unter andern zog die Lebensart und der heilige romantische Wandel der Waldbrüder ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Nichts lieber und ergötzender war ihnen, als ein Geschichtchen zu lesen: wie ein frommer Mensch sich entschloß aus der Welt zu reisen; wie er sich [114]ein ödes Plätzchen tief in der Wildniß unter den Wohnungen von Löwen, Bären, Tiegern, Schlangen, Wölfen und andern wilden Thieren auswählte; sich da aus vier Stangen ein Hüttchen bauete; rohe wilde Kräuter zum Mittagsmal speißte; den ganzen Tag zum Himmel verseufzte und den Rücken blutig schlug, oder in Dornen zur Abkühlung des Fleisches sich wälzte; wie er bald diese, bald jene Versuchung vom Teufel ausstehen mußte, der ihm nun in seiner wahren anerkannten Gestalt, mit Hörnern, einer Adlersnase, mit Schwanz, zottigen Geisenfüssen und Drachenflügeln; ein andermal in der Maske eines schönen, reitzenden Weibes, eines verstellten Seraphs, oder eines alten Mannes, und wer weiß, in wie vielen tollen durch Aberglauben erzeugten Gestalten noch erschien; dann in seinem Grabe schlief; die wildesten Thiere zu seinen Freunden hatte, und also aus Haß gegen das Menschengeschlecht, aus dem dümmsten Mißverständnisse und der unverschämtesten Schwärmerei, den Menschen auszog, auf allen Vieren kroch, und seine Vernunft zur Bestialität herabstimmte. — Genug, solche Geschichtchen, die sie für göttliche Wahrheiten hielten, waren ihnen die anzüglichsten — ihre Lieblingsgedanken und Beschäftigungen.

Sie fingen an, an einem einsamen Orte eine Stube auszuzieren; bald hing sie voll Bilder erdichteter Scenen und Personen; und sammelten [115]Lebensbeschreibungen der vierzehn Nothhelfer und der übrigen Heiligen.

Die ersten hatten einen redlichen Jesuiten, die andern den berühmten ehrwürdigen Kapuziner Martin B.. zum Verfasser, treflich gewählt! aber sie in ihrer Schwärmerei nur mehr zu stärken; Und so wurde in feierlicher Stille, in geistlichen Versenkungen der größte Theil des Tages durchgebracht, und die Phantasie durch immer mehr sich vermehrende, angenehme schmeichelnde Geburten des zügellosesten Wahnsinnes, auch allmälig zu höherm Grade von Lebhaftigkeit angefeuret.

Endlich wurden die Bilder der Phantasie in ihrer Seele so lebhaft, stark und dringend, daß sie sich nun schon aller übrigen Vorstellungen bemächtigten; und in dieser siegenden Darstellung nur nach ihrer Realität, sich nur nach wirklicher Befriedigung sehnten; mit Ungestüm die Hülle des drangvollen Herzens, des phantasierenden Kopfes, in die Hülle von Wirklichkeit, von sinnlichen Befriedigungen auszugießen.

Sie entschloßen sich, dem Beispiel ihrer Helden zu folgen, ihnen ihre Thorheiten, ihren religiösen Unsinn thätig nachzumachen, so wie sie, Menschen, Welt und allen Freuden des gesellschaftlichen Lebens zu entsagen, und unter Thieren im Walde als Thier zu leben. Sie entschloßen sich, Kleider und etwas Wäsche zusammenzupacken; und Bücher, die von ihrer künftigen Lebensart handel-[116]ten, durften ja nicht zurückbleiben; denn aus diesen wählten sie ihre Vorgänger zum Muster und unverbrüchlichen Siegel ihrer Handlungsweise, ihres Wandels, und ihrer ganzen Einrichtung.

Von Kleidungsstücken sollten sie nur etwas weniges mitnehmen; denn was brauchen sie viel in ihrer Wildniß, und im Nothfalle giebt es ja Thierhäute, Pflanzen und Blätter.

Zur Nahrung wollten sie nichts bei sich haben, da ihnen die nächste beste Wurzel Speise war.

Nun sahen sie schon mit Entzücken vor sich hin, wie bald ihr Leben heilig, Gott und die Engel ihre Freunde und Gesellschafter seyn würden! wie sie bald durch himmlische Gesichter und Entzückungen begnadigt, die Himmelsseeligkeiten schmecken, und in ruhigen, einsamen, geistlichen Unterredungen, in ungestörter Andacht und in den frommen, seeligen Empfindungen bei aszetischen, schwärmerischen Betrachtungen zufrieden und glücklich seyn würden, dann getrost und wonnevoll die Stunde der Auflösung hienieden, ihrer Aufnahme unter die schon verklärten Mitbrüder und der allgemeinen Verehrung ihrer Verdienste und Heiligkeit, zu umarmen! Romanenmäßiger konnte ihr wirklicher Gemüthszustand nicht seyn.

Sie wollten nun als religiöse Donquixote auf moralische Abentheuer ausziehen.

Sie bestimmten also die Zeit ihrer Pilgrimsreise, und zwar die Nacht.

[117]

Nun kam sie herbei die Nacht, und ein Zufall verhinderte die Ausführung des ganzen Projektes.

Mein Bruder hatte das, was er zusammenpackte, hinter eine Bude in das Kelterhaus gesteckt; gegen Abend kam der Eigenthümer des Hauses aus irgend einer Ursache hieher, und entdeckte zuletzt den Bündel; Sogleich zeigt er's meinen Aeltern an, diese den Aeltern seines Gesellschafters, und so wurden an demselben Abend alle ihre wonnereichen Aussichten untergraben, ihre Freuden und Hoffnungen zernichtet.

Nachher kam ihnen der Gedanke nicht wieder; denn man nahm ihnen ihre erbaulichen Bücher, und folglich verlöschte das Feuer, da es an Nahrung mangelte.

Nur ein und eine halbe Stunde weit bewohnte auch ein Waldbruder einen mit Wildniß bedeckten Berg bei H...ch; dieser Umstand mochte auch noch viel zur Bestättigung ihres Entschlusses beigetragen haben.

Sie wollten erst zu dem gehen, um sich von ihm wegen der gewählten Lebensart berichtigen, und näher belehren lassen; dann über Berg und Thal, über Wald und Heiden ihre Wallfahrt bis zu einem für ihren Aufenthalt bequemen Ort fortsetzen. —

Uebrigens sieht man aus diesem jugendlichen Fragmente, wie das Kind so alles sinnlichen empfänglich ist, wie seine Anlagen in Hinsicht auf ihre entwickelte Richtung durch jeden der Einbildungs-[118]kraft schmeichelnden Eindruck stimmbar sind, wie aber auch schwärmende Vorstellungen in dem Kreise eines religiösen Interesses alle andere verdunkeln, und über den ganzen Menschen siegen.


Als einen Beitrag zur Seelenheilkunde setze ich noch folgendem Aufsatz aus meinem Tagebuche bei: er ist vom 20sten December 1785.

Der Himmel war trübe, und dichte Luft umnebelte die Aussicht. Aus dieser Ursache war es ein unangenehmer finsterer Tag. Gegen Abend begann es kalt zu werden, und die Nacht wurde schneedrohend.

So gegen die Abenddämmerung ging ich an den Rhein spatzieren. Alles sah da so feierlich aus; so still umher forderte alles mein Augenmerk. Die Bäume entblättert, die ganze Flur kahl; bei diesem Anblick entzückte mich ein heiliges Ehrfurchtsgefühl für die Natur, die auch im Winter nicht nachläßt, uns zu überzeugen, wie eine gute, liebevolle, zärtliche Mutter sie ist!

Wie sie bei jeder ihrer Veränderungen das Geschöpf noch mit tausend der reinsten, sättigendsten Freuden zu vergnügen sucht! wie sie Liebe und Glück über ihre Kinder in ewigen Ergießungen verbreitet! wie sie jedem mit offner, segenvoller Brust entgegeneilt, und in ihre beglückende Arme einschließt!

[119]

Noch leere Schiffe, der am Mastbaume klatternde Booze, noch andere um ihn beschäftigte Schiffer; die dahin wallende Fluthen des Rheines, die durch den Wasserfall genährte gegenüberstehende Insel; die schauervolle hie und da von einem Hofe unterbrochene Aussicht; das graue, halbdunkle der sich endigenden Dämmerung; dann meine zwei kleinen stillen Begleiter. —

Dieses alles mit vorerwähnten Gefühlen leitete mich zur entscheidenden Einrichtung und Einschränkung meiner Geschäfte und meiner Aussichten in das Künftige; brachte mich zur Bestimmung der Anzahl und der Auswahl der Gegenstände meiner Arbeiten; flößte so meiner Seele Beruhigung ein, die den tröstlichsten Ausgang und die schmeichelhaftesten Folgen meinen Augen darlegte; erregte Begierden, aber auch schnellen Entschluß zur Ausführung oder Stillung derselben.

So waren sie gleich befriedigt, und ich hatte den vergnügtesten Abend; denn so still und ruhig alles um mich herum war, so war es auch in meiner Seele. Alles ging mit so vieler Gleichheit, Deutlichkeit und Geläufigkeit vor, daß keine Leidenschaft eine andere störte, keine das Maas überschritt und Empörung im innern verursachte, mich des glücklichen Zustandes, indem ich mich befand, entriße, und Verworrenheit oder Unzufriedenheit in meine Züge brachte.

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Und immer werde ich nun die Natur umarmen, wenn aufbrausende Leidenschaften mich bestürmen, wenn eitle, stolze, unumschränkte Begierden mich beunruhigen, wenn innere anwandelnde Finsterniß, unüberwindliche düstere Temperamentslage, alles verbitternder Gram und Kummer des Herzens, leidige hypochondrische Schwermuthsgefühle mir mein Leben unerträglich und freudenlos machen.

Immer will ich da dieß göttliche Mittel anwenden, von meiner Krankheit geheilt, meinen Schmerzen entrissen zu werden; und mich wieder in dem Kreise der Lebenden zu sehen; wieder mein Blut im Körper so sanft und gesund hinwallen zu fühlen — zu fühlen, daß meine Organen wieder offen und zur Empfänglichkeit der Freude gestimmt sind.

Joh. Ludw. David Schlichting.