ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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Auszug aus einem Briefe.

Lenz, Carl Gotthold

Jena den 29sten Juni 1785.

Hier ereignete sich voriges Jahr eine sonderbare Krankengeschichte. Eines Bürgersmannes Töchterlein von neun bis zehn Jahren, deren Eltern pietistisch gesinnt waren und ihrem Mädchen fürchterlich schreckliche Begriffe von Teufel, Hölle und Verdammniß mochten beigebracht haben, beging [71]mit ihren Gespielinnen ihren Geburtstag mit kindischer Fröhlichkeit. Als sie des Abends in ihre Kammer zu Bette gehen will, erscheint ihr der Teufel und droht sie zu verschlingen; mit schrecklichem Geschrei kommt sie zurück in der Eltern Stube, und fällt todt vor ihren Füßen nieder. — Auf Herbeirufen des Arztes erholt sie sich nach etlichen Stunden wieder, erzählt, was ihr begegnet, und daß sie gewiß glaube, verdammt zu werden, verfällt in eine langwierige Nervenkrankheit, und sah noch vor einem Vierteljahr, da ich sie sahe, todtenblas aus. Die Wahrheit der Geschichte muß der hiesige Professor Starke bezeugen können, unter dessen Aufsicht die Patientin von einem jungen Studirenden kurirt wurde.

Ein paar andre Erfahrungen über eine besondre Aeußerung der Phantasie im vollblütigen Zustande theile ich Ihnen aus dem Briefe meines Vaters in Gera mit, der sie mir auf mein Bitten sendete. Ich könnte Ihnen selbst aus eigner Erfahrung einige sonderbare Ereignisse, die ich für sehr wichtig halte, erzählen, wenn ich Worte fände, unaussprechliche Dinge zu erzählen. Ungefähr von meinem sechsten bis siebenten Jahr an sahe ich öfters des Nachts eine weiße Gestalt vor meinen Augen, weinte darüber, bat das garstge Ding weg zu thun; die neben mir schlafenden sagten mir, sie sähen ja nichts, endlich — verschwand es von selbst.

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Einige Jahre drauf begegnete es mir mehrere Jahre hintereinander fast alle Nachte, daß ich, nachdem ich mich schlafen gelegt hatte, ganz sonderbare Auftritte hatte.

Dieß waren die, von denen ich mich in keiner menschlichen Sprache wegen ihrer Ungewöhnlichkeit, wegen der blos dunkeln Vorstellungen, in denen sie mir vorschweben, und wegen dem damaligen Mangel an Beobachtungsgeist über mich selbst, nicht auslassen kann. Es ging alles mit mir, wie in der Scheibe herum, (es war aber kein Schwindel) dazu gesellten sich schöpferische Vorstellungen von unendlichen, Millionenzeiten und Räumen, die ich zu durchwandern hatte, der Gedanke der Unmöglichkeit je diese Reise, dieses Unermeßliche, das ich immer wie in einem unaufhörlichen Kreise vor mir sah, zu vollenden, (und dies alles im wachenden Zustand) verursachte in mir ausserordentliche Bänglichkeit, in der ich mich oft nicht enthalten konnte, mit einem Satz aus dem Bette und ängstlichem Zurückwandern in die Stube, wo mein Vater gewöhnlich noch am Schreibtisch saß, jenen Schrecken zu entgehen.

Wenn ich mich erhohlt hatte, wuste ich selbst nicht, wie mir zu Muthe war, ich sah, daß nichts außer mir war, was mich ängstigte, und doch ging ich mit Grauen wieder zu Bette. Wenn ich mich da bei völligem Bewustseyn meiner selbst und der Nichtigkeit meiner Angst zu erhalten suchte, hatte [73]ich nichts zu befürchten: so bald mich aber in einem Halbschlummer dieses verlies, kam der vorige Feind wieder, den ich öfters nachher dadurch zu verbannen wuste, wenn ich mich nur schnell im Bette aufrichtete, dann zum Besinnen kam, und einsah, daß meine Angst eitel war.

So wenig ich meiner Angst oft widerstehen konnte, mich wieder in die Stube zum Vater zu begeben, sobald brachte mich doch die Anrede des Vaters: Was willst du denn wieder? zum Bewustseyn.

Ich sagte nie die Ursache, weil ich fürchtete ausgelacht zu werden, da ich mich gar nicht über meine Erscheinungen erklären konnte, sondern gab gewöhnlich vor zu dursten, und nachdem ich getrunken, begab ich mich traurig wieder an den Ort des Schreckens.

Ich weiß nicht, ob in den nemlichen Jahren oder vielleicht etwas früher hatte ich eine ziemliche Anlage zum Nachtwandeln. Ich stand einsmahls um Mitternacht auf, kleidete mich etwas an, ging zum Zimmer, das ich aufschloß, hinaus, nahm auf dem Vorsaal ein Körbchen mit Kraute, und eilte zum Saale damit hinaus, um im Hofe meine Kaninchen, die ich hielt, zu füttern. Der Schall von der Klingel der Saalthüre hatte Jemanden erweckt, der mir nachlief, mich nach vielem Widersprechen zurück, und zum Bewustseyn brachte, wo ich beschämt wieder zu Bette schlich. —

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Etwas erkläre ich mir freylich von diesen Erscheinungen daher, daß ich überhaupt etwas kränklich und engbrüstig war, daß ich eine schlechte Diät beobachtete, mich des Abends hauptsächlich im Winter (wo ich am meisten mit diesen Uebeln geplagt gewesen zu seyn mich erinnere) voll Kartoffeln stopfte, bald aufs Essen schlafen ging — aber freilich das Wesentliche der oben genannten Erscheinung ist mir unerklärbar.

Zu eben der Zeit in abwechselnden Perioden hatte ich noch sonderbare Gefühlsvorstellungen. Sehr oft, wenn ich zu Bette war, schien mir alles, was ich anfühlte, eine ganz rauhe, höckrichte Oberfläche zu haben; es war das unausstehlichste Gefühl, das man sich denken kann, welches mich oft vermochte die Finger zusammen zu knebeln, um nicht die Bettdecke oder mich selbst mit den Fingerspitzen zu berühren, aber vergebens! denn nun berührte ich doch meine eigne Hand, und ich fand keine Lindrung. —

Ich glaube, im erwachsnern Alter haben sich diese sonderbaren Erscheinungen zum Theil dadurch verloren, daß ich besser die Gesundheitsvorschriften beobachtet habe. Demungeachtet kam in meinem achtzehnten Jahre jene Gefühlsvorstellung zuweilen wieder, hat mich aber nun längst gänzlich verlassen.

Noch Eines besondern Umstandes aus der Geschichte meines Lebens muß ich gedenken. Nahe [75]bei Gera ist in einem Thale, Martinsgrund genannt, ein Waldhaus, wo wir einmal in großer Gesellschaft waren. Ich werde hinunter in den Keller geschickt, um etwas herauf zu holen. Springend öffne ich den Keller, und sehe vor mir eine weibliche Figur in blauem Habit, die aber gleich wieder verschwindet. Erschrocken spring ich zurück, und erzähl es.

Als ich mehr zu Verstande kam, erklärte ich mir es sehr natürlich, ich war in vollem Sprunge aus dem hellsten Tageslicht in einen dunklen Keller gekommen, wie leicht konnte dadurch im Sehnerven eine Veränderung der Farben u.s.w. bewirkt werden, und die Phantasie trug dann das ihrige bei, das Bild auszumahlen.

Aber wie erstaunte ich, als ich mehrere Jahre drauf hörte, was noch nie jemand in unsrer Familie gewust hatte, es sei eine alte Sage, es ließe sich in der Gegend eine blaue Figur, die man den Blaumantel nennte, sehen! —

Was soll man wohl zu dem Besprechen oder Versprechen des Feuers denken? Der itzige reg. Graf Reuß in Gera war immer in Ruf, dieses zu können. Ich weiß es selbst, daß so oft auf seinen Gütern Feuer war, er (und wenn es um Mitternacht war) mit seinem Husaren zu Pferde dahin eilte. Sobald er kam, war alles froh, seinen Retter zu sehen. Er ließ in aller Geschwindigkeit um das brennende Gebäude rund herum einen Platz zum [76]Vorbereiten machen, wo er dann mit Blitzesgeschwindigkeit herumsprengte, und — das Feuer griff dann nie weiter um sich. Sollte hierbei etwas die plötzliche Zertheilung der Luft oder die Isolirung des im Brand stehenden Hauses thun? Man sagt, bei diesem Umreiten müsse der Reuter so schnell als möglich vorbeieilen, weil das Feuer ihn ordentlich zu verfolgen schien. — Schade, daß unser Graf, da er vor mehrern Jahren einmal gestürzt ist, kein Pferd mehr besteigt und also auch seine heilsame Kunst nicht mehr in Ausübung bringt!

Noch eine merkwürdige Anekdote aus meiner Vaterstadt Gera, die dort notorisch ist! Ein noch lebender alter Bötticher pflegte von Zeit zu Zeit bevorstehende Unglücksfälle vorher zu sagen, die nach der Sage des Volks immer eingetroffen wären. Er glaubte, die Anzeigen davon in der Christnacht zu bekommen! Einmal prophezeihte er auch mit Namen des Tages, der Straße, und der Zeit Feuer in unsrer Stadt. Es war an einem Herbsttage, als wir gegen Abend in unsrer Gasse überall Truppe Leute stehen, und herumirren sahen. Bald darauf erschien der Stadtknecht, der dem in unserm Hause wohnenden Burgermeister meldete, daß so viele Leute zusammenliefen, und alle sprächen, es werde Feuer diesen Abend in der Gasse auskommen. Nach gegebnen Befehlen Wache und Spritzen herbei zu schaffen, weil man nicht wissen könne, ob nicht Diebe Feuer angelegt haben möchten, wurde der [77]Knecht entlassen. Bald darauf kam er zurück, und da wir mit ihm noch im Vorhaus sprechen, entsteht ein Feuerlerm. Wir fahren schnell in die Stube, und sehen schon die ganze Gasse von Feuer erleuchtet. Es war in eines Kaufmanns Hobelspänkammer durch Verwahrlosung einer mit dem Licht hineingehenden Magd ausgekommen, und brannte das Trockenhaus ab. Ein Glück war es, daß so viele Menschen und Spritzen schon zum Löschen bereit da waren! — Man zog den Böttiger gefänglich ein, konnte aber durch alles Ausfragen nichts sicheres von ihm erfahren, woher er seine Kunst habe?

Acht Tage vor dem großen Geraischen Brande kamen Sprützen fünf Stunden weit von Gera dahin, weil in der Ferne ihnen Gera in Brand zu stehen geschienen hatte. Nach der Hand legte man dieses als eine Vorbedeutung des bald darauf erfolgten Brandes aus. Allein die Sonne, welche an jenem Tage einen über der Stadt befindlichen Nebel niedergedrückt hatte, mochte die Gestalt des mit Feuer vermischten Dampfes in der Ferne gebildet haben, und hatte noch mehrere Menschen getäuscht. Aber sonderbar gnug ists, daß man noch mehrere Geschichten der Art erzählt und wirklich in unsrer Gegend weiß, wo auf die nehmliche Weise vor einem Brande die Erscheinung des in Flammen stehenden Gebäudes vorhergegangen. Mehrere Anzeigen des Geraischen Brandes, welche theils vorher schon auf ein bevorstehendes Unglück gedeu-[78]tet worden, theils erst nachher dahin gezogen worden, übergehe ich geflissentlich.

Carl Gotthold Lenz,

der Philosophie Beflißner in Jena.