ΓΝΩΘΙ ΣΑΥΤΟΝ oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde

Herausgegeben von: Karl Philipp Moritz, Karl Friedrich Pockels und Salomon Maimon
Digitale Edition herausgegeben von Sheila Dickson und Christof Wingertszahn


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I.

Umriß der Krankheitsgeschichte eines zwölfjährigen Knaben.

Anonym

Ich halte es für nöthig, dieser Geschichte einige Bemerkungen über den wahrgenommenen Charakter dieses Knabens voranzuschicken, weil von diesem vielleicht auf die Krankheit selbst könnte geschlossen werden. Der Knabe ist von kleinem Wuchs und sehr dicke, zum Nachdenken und zum Mitleid sehr geneigt. Er entwirft oft Plane auf sein zukünftiges Leben, die von Einsicht zeugen und einem Jüngling Ehre machen würden. Bei Unglücksfällen der Seinigen so wie bei fremder Noth wird er ausserordentlich gerührt und scheint heimlich auf Mittel zu denken, womit er solcher abhelfen könne. Daher ist er auch überaus bestrebsam und verräth bei keiner Arbeit die ihm nutzbar dünkt, einige Ermüdung. Oft hat er sich schon über Vermögen angestrengt und vielleicht haben die bisherigen Strapazen nicht wenig Einfluß auf die jetzige Zerrüttung seiner Gesundheit gehabt. So hat er z.B. einen [101]Weg von 3 Meilen zurückgelegt, 12 Schornsteine für seinen Vater gefegt und gleich darauf ist er eben diesen Weg nach Haus gegangen.

Einige Tage vor Ostern dieses Jahres, da dieser Knabe mit seiner Mutter allein ist, kommt eine Nachbarin und erzählt der Mutter, wie eine dritte Frau in der Nachbarschaft Gott gelästert habe. Sie wiederholt nicht nur die abscheulichen Reden selbst, sondern bespricht sich auch mit der Mutter des Knabens über die schrecklichen Strafen, welche die Gotteslästerin einst in der Hölle werde auszustehen haben. Der Knabe hört ganz stille und nachdenkend zu. Des andern Tags früh erwacht er mit Weinen und Klagen und erzählt, daß ihn im Traume der Teufel verfolgt habe. Er selbst hält diesen Traum für bedeutungsvoll und die Mutter nimmt ihn zur Gelegenheit, sich mit dem Träumer über Religionswahrheiten, besonders über die Sünde und deren Strafen, zu unterhalten. Dieses Gespräch macht so großen Eindruck auf ihn, daß er die Mutter flehentlich bittet, sie möchte doch bei Gott für ihn bitten. Ja, sagt die Mutter, lieber Sohn, fremdes Gebet hilft nichts, du mußt selbst beten; darauf giebt sie ihm ein Gesangbuch und schlägt ihm ein Lied auf, dessen Anfang ich nicht behalten habe, dessen Inhalt aber auf die letzten Dinge ging. Der Knabe befindet sich zu matt zum Aufbleiben und setzt sich ins Bette, liest da das Lied, wird sprachlos und verlangt durch Zeichen Pa-[102]pier, Dinte und Feder. Als ihm dieses gereicht wird, schreibt er auf ein Zeddelchen:

»Christus ist für mich gestorben und mein Erlöser worden.«

Darauf legt er sich nieder, wird immer kränker und matter und verlangt nur bisweilen durch Zeichen etwas zu essen. Doch kann er nur wenig und nichts als Suppen zu sich nehmen, denn die Kinnladen waren zusammengeschlossen.*) 1 Nach einigen Tagen kann er auf dem einen Auge nicht mehr sehen und den folgenden ist er ganz blind. So liegt er einige Tage, nimmt wenig zu sich und wird so schwach, daß jedermann, auch sogar die Aerzte an seinem Aufkommen zweifelten. Mit einemmal aber erholt er sich durch den sich wiederfindenden Stuhlgang, der einige Tage ausgeblieben war. Er fängt an mit dem einen Auge zu sehen und nach einigen Tagen erhält er wieder den vollkommenen Gebrauch seines Gesichts. Er nimmt mehr Speisen zu sich, die er mit den Fingern an den Zähnen zerreibt. Die verlohrnen Kräfte sammeln sich wieder und nach und nach wird er wieder so stark, daß er mit seiner Mutter 7 Stunden weit hieher gehen kann. Hier habe ich ihn selbst gesehen, da er noch stumm war, und seine Gedanken durch Händezeichen mittheilte auch ziemlich unwillig ward, wenn man ihn nicht [103]verstehen konnte. Seine Mutter, die gar keine Ursach hat, die Geschichte anders zu erzählen, hat mir sie so mitgetheilt, wie ich sie hier vortrage. Von seiner weitern Genesung und der Wiedererlangung der Sprache hat mir seine Mutter folgendes erzählt.

Als er von dieser Reise 7 Stunden nach Hause kam und er immer die Aerzte sowohl als andere Leute sagen hörte, daß er würde sprechen können, sobald seine Zähne von einander gehen würden, gab er sich in der Stille alle ersinnliche Mühe, es so weit zu bringen. Einst geht er in Garten und hebt mit einem Hölzchen die Zähne von einander, so daß dieses dazwischen stecken bleibt. Voll Freuden läuft er zu seiner Mutter und zeigt ihr mit frohen Geberden den glücklichen Erfolg seines Versuchs, diese nimmt sogleich die consulirten Aerzte zu Hülfe, welche die kleine Oefnung mehr erweitern; so daß er den dritten Tag vollkommen sprechen kann. Seit der Zeit habe ich ihn einigemal gesehen und gesprochen, und man merkt keine Veränderung, nichts von seiner Krankheit übergebliebenes an ihm. Von dem Traum bis zu Ende der Sprachlosigkeit mögen ohngefähr 5 Wochen vergangen seyn.

Fußnoten:

1: *) Ein Arzt, mit dem ich mich hierüber besprach, nennte mir diese Krankheit, und sagte, daß es eben das sey, was man bei den Pferden Maulsperre zu nennen pflege.